Mitglieder-Brief Nr. 85 19. März 2009 - freudlacan
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Lacan ‒ hat sich unaufhörlich mit der Schat‐<br />
tenseite des menschlichen Subjekts beschäftigt;<br />
sie ist zum Schluss gekommen, dass ausge‐<br />
hend von dieser Seite, das Reale selbst nie<br />
transparent sein kann. Es lässt sich nur über<br />
das Fantasma zugänglich machen. Wajman<br />
kritisiert deshalb offen jegliche Anstrengungen<br />
der Neurowissenschaften, das menschliche<br />
Gehirn auf einen «sichtbaren» Mechanismus<br />
zurückführen zu wollen. Darunter versteht er<br />
aber auch bestimmte «Vorhersehbarkeiten»<br />
menschlichen Verhaltens, wie z.B. die Vorher‐<br />
sicht von Verbrechen auf der Basis der «Be‐<br />
obachtung» unserer Allerjüngsten bis hin zur<br />
Datenerfassung der gesamten Bevölkerung. Er<br />
illustriert diese Logik mit Hilfe von Science‐<br />
fiction‐Filmen, wie z.B. Minority Report von<br />
Steven Spielberg. Die Originalität dieses Essais<br />
beruht in der Tat auf den Rückgriff auf die<br />
Analyse von Kinofilmen und amerikanischen<br />
Fernsehserien, die, wie in einer hypermoder‐<br />
nen Mythologie, die neuen Gestalten einer<br />
Medusa oder eines alles sehenden Argus, dem<br />
Riesen mit hundert Augen, deutlich werden<br />
lassen.<br />
«L’ŒIL ABSOLU» müsste demnach noch<br />
genauer bestimmt werden, doch es dürfte klar<br />
sein, dass es sich wesentlich von jenem be‐<br />
rühmten Modell des «Panopticon» eines Ben‐<br />
tham unterscheidet, das von Foucault in Über‐<br />
wachen und Strafen genauer untersucht worden<br />
ist: Im Zentrum des Panoptikums sitzt der<br />
Herr und sieht alles; doch sein Blick bleibt den<br />
Blicken des Subjekts, das er überwacht, ver‐<br />
borgen. Das ist nun heute in unseren «Kont‐<br />
rollgesellschaften» nicht mehr der Fall: der<br />
Blick hat es nicht mehr nötig, verborgen zu<br />
bleiben, um seine Gewalt auszuüben. Er ist<br />
mitten unter uns, könnte man sagen. Walter<br />
Benjamin hatte das schon auf seine Art vor‐<br />
hergesehen, als er von einer Menschheit ge‐<br />
sprochen hat, die sich selbst beobachtet, nach‐<br />
dem sie nicht mehr unter dem Blick göttlicher<br />
Transparenz stand.<br />
Dennoch scheint Gérard Wajman in dieser<br />
«Gesellschaft des Blicks» mehr als ein Bild zu se‐<br />
hen; er skizziert ein Paradox: wenn die Kamera<br />
gottähnlich geworden ist, so deshalb weil sich<br />
Gott die Kamera hat stehlen lassen. Anders ge‐<br />
sagt: es bleibt aufzuklären, warum ein «absolu‐<br />
tes Auge» seine Macht ohne einen bestellten Big<br />
Brother auszuüben vermag. Es geht demnach<br />
um die kollektive Aneignung der Visionsin‐<br />
strumente, da jeder sich gleichzeitig vor und<br />
33<br />
MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />
hinter der Kamera befindet. So etwas bedürfte<br />
allerdings eines kreativen opaken Bildpotenzi‐<br />
als, hinter dem man sich von neuem gegen die<br />
durstige Begierde eines «absoluten Auges» nach<br />
Transparenz verbergen könnte. Einige hierzu<br />
zitierten Künstler, wie etwa Bruce Nauman<br />
und seine Installationen zur Enttäuschung des<br />
Narzissmus (man schreitet voran und glaubt<br />
sein eigenes Bild zu sehen, doch das entfernt<br />
sich von uns…), könnten diese Möglichkeit er‐<br />
hellen. Neben dieser Apokalypse des im vollen<br />
Lichte stehenden Blicks, wie sie Wajman be‐<br />
schreibt, bliebe demnach noch eine politische<br />
Theorie der Eklipse zu schreiben. David Zerbib<br />
Hinzuweisen ist noch auf den Essai von Markos Zafiropoulos:<br />
L’ŒIL DÉSESPÉRÉ PAR LE REGARD, Paris (Éd. Arkhè), 128 S.,<br />
14,90 Euro, der einen anderen psychoanalytischen Zugang zum<br />
heutigen «Blick» als solchem und zum «skopischen Trieb» im<br />
Besonderen eröffnet.<br />
Aus: Le monde des livres vom 12. Februar<br />
2010, S.6. ‒ Aus dem Französischen von H.‐P.<br />
Jäck.<br />
‒ Irvin D. Yalom, Psychoanalytiker, USA<br />
Ein guter Therapeut braucht selbst Therapie<br />
Der US‐amerikanische Autor und Psychiater Irvin D.<br />
Yalom spricht über Nietzsches Tränen, Lou Salomé,<br />
Freud, Breuer und den Tod<br />
Sie haben in zwei Bereichen Karriere gemacht ha‐<br />
ben – als Psychotherapeut und als Schriftsteller:<br />
Was macht einen guten Schriftsteller aus, und wo<br />
treffen Therapeut und Schriftsteller aufeinander?<br />
Gute Frage! Ich habe eine persönliche Re‐<br />
gel, an die ich mich beim Schreiben halte: Ich<br />
schreibe nie über etwas, das ich selbst nicht<br />
ganz verstehe.<br />
Tun das Ihrer Meinung nach viele andere Autoren?<br />
Es gibt doch einige, die eine unnötig kom‐<br />
plizierte und hermetische Prosa schreiben. Ein<br />
sehr gutes Beispiel dafür ist Martin Heidegger.<br />
Von ihm stammen viele tiefe Einsichten, aber<br />
er schreibt in einem unzugänglichen Stil. Die‐<br />
sen Zugang zum Schreiben verstehe ich nicht.<br />
Ich denke darüber im Moment viel nach, weil<br />
ich gerade einen Roman über Spinoza schreibe,<br />
der sehr schwer zu fassen ist, weil er so unend‐<br />
lich komplex ist. Ich selbst möchte im Schrei‐<br />
ben klar und konzise sein. Und ich bemühe<br />
mich darum, interessante Geschichten zu er‐<br />
zählen. Auch in meinen Lehrbüchern wie<br />
„Theorie und Praxis der Gruppenpsychothe‐<br />
rapieʺ...<br />
…das sich allein in den USA über 700 000 Mal<br />
verkauft hat...<br />
Ja, es ist einer meiner größten Erfolge. Der<br />
Grund ist, glaube ich, dass es für die Studenten