Mitglieder-Brief Nr. 85 19. März 2009 - freudlacan
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zu zeigen. Auch die Wiederholung der Tat<br />
(erneutes Beerdigen der Leiche) weist in diese<br />
Richtung, was auch durch die Zeugenaussage<br />
des Wächters bestärkt wird: „Und wir gewah‐<br />
ren’s, eilen hin und greifen sie sofort, und sie<br />
erschrak nicht, und wir klagten sie der frühern<br />
Tat sowohl wie dieser neuen an. Doch sie<br />
stand da und leugnete mitnichten ab.“ (432ff.)<br />
Als Geständnis lässt sich die Aussage werten:<br />
„Ja, ich bekenne, dass ich’s tat, und leugne<br />
nicht.“ (443) In beiden Aussagen spiegelt sich<br />
ein Todeswunsch, der zugleich allerdings tief<br />
in die Familiengeschichte der Labdakiden zu‐<br />
rückreicht: Laios entschied sich, aufgrund des<br />
Orakels den eigenen Sohn Ödipus zu töten,<br />
und diese Tat gebiert nun immer neue Unge‐<br />
heuerlichkeiten wie der Chor in „Antigone“<br />
offenbart: „Vieles ist ungeheuer, nichts unge‐<br />
heurer als der Mensch“ (332f.): der Mord des<br />
Ödipus an seinem Vater Laios, der Inzest des<br />
Ödipus mit seiner Mutter Jokaste, der an der<br />
Wiege der Kinder Eteokles, Polyneikes, Ismene<br />
und Antigone steht, schließlich auch die Hyb‐<br />
ris des Ödipus, seine Blendung und der<br />
Selbstmord seiner Frau und Mutter Jokaste.<br />
B) Die Anklage wegen des Verdachts der<br />
gemeinschaftlichen Gründung einer terroristi‐<br />
schen Vereinigung gem. §§ 129‐129a StGB wird<br />
im vollen Umfang abgewiesen: die als Mitver‐<br />
schwörerin verdächtigte Ismene hat klar dar‐<br />
gestellt, dass sie das Ansinnen einer gemein‐<br />
schaftlich zu begehenden Tat weit von sich<br />
gewiesen hat; dass Ismene nach der Tat sich<br />
mit der Schwester solidarisch erklärt, ist<br />
durchaus aus falsch verstandener Schwestern‐<br />
liebe zu erklären: „Wenn sie es tat, so tat ich’s<br />
mit: Ich geb’ es zu und habe teil daran und<br />
trage mit die Schuld.“ (536ff.) Demgegenüber:<br />
„Ich werde beten zu den Unterirdischen, dass<br />
sie verzeih’n: ich beuge mich ja nur dem<br />
Zwang. Denen, die an der Macht sind, füg’ ich<br />
mich: es hat ja keinen Sinn, zu handeln übers<br />
Maß hinaus.“ (65‐69)<br />
C) Die Anklage wegen Beleidigung reli‐<br />
giöser Gefühle nach § 167 StGB wir abgewie‐<br />
sen. Es kann zwar nicht ausgeschlossen wer‐<br />
den, dass die Berufung auf ein göttliches Recht<br />
als bloße Schutzbehauptung (vgl. Punkt A) zu<br />
bewerten ist und dass bei der Tat noch andere<br />
Motive mit hinein spielen; auch der Nachweis<br />
der Staatsanwältin, dass die Angeklagte dem<br />
König Kreon fälschlicherweise unterstellt, er<br />
folge dem göttlichen Recht nicht, weist in diese<br />
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MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />
Richtung; dennoch ließ sich letzten Endes die‐<br />
ser Verdacht nicht erhärten.<br />
D) Die Anklage wegen Volksverhetzung<br />
gem. § 130 StGB in Tateinheit mit Landesverrat<br />
gem. § 82 StGB wird abgewiesen: Die Verneh‐<br />
mung der Zeugen (Chor) hat erbracht, dass<br />
das Volk von Theben zwar anfangs gänzlich<br />
zum rechtmäßigen Herrscher stand wenn es<br />
auch eine recht distanzierte Haltung zu dessen<br />
autokratischen Regierungsführung einnahm <br />
vgl. „Dir, des Menoikeus Sohn, beliebt es, so<br />
zu tun, wenn’s einer übel oder wohl meint mit<br />
der Stadt, und jede Satzung anzuwenden steht<br />
bei dir: auf die Verstorbnen wie auf uns, die<br />
Lebenden.“ (211ff.); vgl. auch der Wächter:<br />
„Wie schlimm, wer urteilt und ein falsches Ur‐<br />
teil fällt“ (324) und schließlich Antigone selbst:<br />
„Die alle hier, sie fänden es wohl lobenswert,<br />
wenn ihnen nicht die Furcht die Zunge fessel‐<br />
te. Doch ist die Tyrannei mit vielem ja be‐<br />
glückt: ihr steht auch zu, zu tun, zu reden, was<br />
sie mag!“ (504ff.); doch der Gesinnungswandel<br />
des Volkes/Chores und seine Abkehr von<br />
Herrscher wurde nicht von Antigone herbeige‐<br />
führt, sondern entstammen der Einsicht: „Uralt<br />
im Geschlechte der Labdakos‐Enkel seh’ ich<br />
Leiden immer auf andere Leiden sich stürzen:<br />
nie befreit ein Spross diesen Stamm; doch dar‐<br />
nieder reißt ihn ein Gott, der kein Erlösen<br />
kennt.“ (594ff.) Letztlich ist der Gesinnungs‐<br />
wandel des Volkes ganz allein dem Wahrsager<br />
Teiresias zuzuschreiben: „Seit ich dies weiße<br />
Haar anstatt des dunklen trage auf dem grei‐<br />
sen Haupt, hat er [sc. Teiresias] mit keiner Lü‐<br />
ge je die Stadt getäuscht.“ (1092ff.)<br />
Abschließend sei nochmals hervorgeho‐<br />
ben, dass die Freisprüche zwar nach juristi‐<br />
scher, nicht aber in moralischer Hinsicht, als<br />
Wertung zu rechtfertigen sind. Den Freige‐<br />
sprochenen hofft das Gericht die Notwendig‐<br />
keit einer Katharsis vor Augen geführt zu ha‐<br />
ben, die wohl auch die Zuschauer von »Anti‐<br />
gone« in klassischer Zeit erfasst haben könnte:<br />
Jede Verabsolutierung des Gesetzes bricht mit<br />
der Verpflichtung gegenüber einer Gerechtig‐<br />
keit, die der ursprünglich gewalttätigen<br />
Rechtssetzung eine gewisse Legitimität ver‐<br />
schaffen kann und fordert gerade dadurch den<br />
dialektischen Umschlag in ihr Gegenteil her‐<br />
aus; dabei ruft sie jenes Dritte auf den Plan,<br />
das die versteinerte Statik einer so gearteten<br />
Hypostasierung des Gesetzes wieder in Bewe‐<br />
gung bringt und das gerade zum Nachteil<br />
eines ungezügelten Umgangs mit dem Gesetz.