Mitglieder-Brief Nr. 85 19. März 2009 - freudlacan
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igkeit wird umgangen, indem der statistische<br />
Mittelwert zur Norm und anschließend zur<br />
Normalität erhoben wird. So gleitet die Norm<br />
zum Normativen. Ein Schritt weiter wird der<br />
Mensch, der von dem statistischen Mittelwert<br />
abweicht, a‐normal: abweichend! So werden<br />
neue Pathologien geschaffen: die „Dys“ (gra‐<br />
phie, lexie, praxie, etc) bei Kindern, von der<br />
„Hyperaktivität“ ganz zu schweigen. Die Ju‐<br />
gend Frankreichs wird so ausgegrenzt, ausge‐<br />
schlossen, disqualifiziert. Diese Norm hat mit<br />
dem psychoanalytischen Symptom nichts ge‐<br />
mein: das Symptom ist ‐in psychoanalytischer<br />
Sicht‐ ein Sprachfaktum, das eine zu entschlüs‐<br />
selnde Wahrheit beinhaltet. Die Evaluation in<br />
den Abteilungen für Kinderpsychiatrie stellt<br />
einen Kodex wie eine binäre Sprache auf: alles<br />
ist erfassbar. Wir haben alles, was Sie brauchen<br />
vorrätig! So gibt es keinen Mangel mehr, die<br />
Kinder können ihre Frage nicht stellen, weil<br />
die normative Antwort schon vorgegeben ist,<br />
bevor sie zum Sprechen kommen. Die psycho‐<br />
analytische Praxis hält sich an die Regel, dass<br />
jeder Fall einzeln angehört werden muss. (Der<br />
passage‐à‐l’acte und das acting‐out; Beispiele für<br />
Gewalttaten in Institutionen)<br />
Die Evaluation, die vorgibt, Qualität durch<br />
Quantifizierung zu bewerten, lässt den Betei‐<br />
ligten vorschweben, dass es eine Metasprache<br />
gibt, die alles erfasst. Die Sprache ist aber un‐<br />
endlich durch ihre bildlichen Ausdrücke<br />
(métaphorisation) und ihre Doppelsinnigkeit,<br />
keine Begrenzung zeichnet sich durch eine<br />
Ausnahme von der Regel ab. Es gibt kein<br />
übergreifendes Prinzip, keine Metasprache, die<br />
über die Zweideutigkeit entscheiden könnte.<br />
Den „Anderen des Anderen“ gibt es nicht.<br />
(siehe Geneviève Morel, „La loi de la mère“, Pa‐<br />
ris, Economica, Anthropos, 2008, S.327).<br />
5. Hat sich Ihre psychoanalytische Tätigkeit<br />
in der Vergangenheit durch die Änderung der<br />
Haltung und Werte verändert, insbesondere<br />
von Ihren Patienten ausgehend? Können Sie<br />
diese Änderungen beschreiben?<br />
Die Mutter eines zwölfjährigen Mädchens,<br />
das ich für verschiedene Phobien empfang,<br />
fragte mich anlässlich einer gemeinsamen Sit‐<br />
zung fünfmal (!): „Wie können Sie die Fort‐<br />
schritte der Therapie meiner Tochter bewer‐<br />
ten?“ Sie bestand in Anwesenheit ihrer Tochter<br />
auf einem wissenschaftlich medizinischen Dis‐<br />
kurs, als ob die Entwicklung des anwesenden<br />
Kindes wie ein lebloses Objekt quantifiziert<br />
werden könne. Die Therapeutin sollte ihre Ar‐<br />
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MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />
beit rechtfertigen, ihre Arbeit wurde bei dieser<br />
Gelegenheit auch beurteilt. Es war eine Art<br />
Qualitätskontrolle durch den Kunden, seine<br />
Kundenbefriedigung. Und dass diese Sitzun‐<br />
gen bei einer Ärztin stattfanden, stellte keine<br />
„Garantie“ dar. Die Autorität der Ärzte, der<br />
Wissenschaftler und der Lehrer wird bis auf<br />
Universitätsebene in Zweifel gezogen. Nach‐<br />
dem die an der Universität tätigen Psychiater<br />
sich als „richtige“ Mediziner verstehen wollten<br />
und sich in den Neurowissenschaften und der<br />
Pharmakologie wohler fühlten als in der Diag‐<br />
nostik psychischer Erkrankungen, nachdem<br />
die epidemiologischen Mittel als Notwendig‐<br />
keit in Kauf genommen wurden, um die Pro‐<br />
duktivität des Gesundheitssystems zu verbes‐<br />
sern, frisst jetzt die rationalisierende Revoluti‐<br />
on ihre Kinder und wertet das Universitäts‐<br />
wissen selbst ab. (Zusätzliches Beispiel: die<br />
Expertise von Anne T.: eine Liste von medizi‐<br />
nischen Symptomen ohne Diagnose DSM und<br />
CIM).<br />
5. Welche Rolle spielen die psychoanalyti‐<br />
schen Gesellschaften in Ihrem Land, was die<br />
oben genannten Probleme und Fragen betrifft?<br />
Besteht eine offene Diskussion über diese Fra‐<br />
gen, finden Sie Unterstützung für eine kriti‐<br />
sche Beleuchtung, oder existiert im Gegenteil<br />
eine Tendenz, weitere restriktive Normen still‐<br />
schweigend hinzunehmen?<br />
Die französischen psychoanalytischen Ver‐<br />
einigungen haben die Öffentlichkeit schnell<br />
alarmiert und viel Unterstützung in der Presse<br />
erfahren. „Le Manifeste pour la Psychanalyse“<br />
organisierte öffentliche Versammlungen. Auf<br />
Universitätsebene wurde Stellung genommen.<br />
Gleichzeitig zu dieser Kontroverse haben Be‐<br />
wegungen für die Klinik (Sauvons la clinique!),<br />
gegen die Evaluation der drei‐jährigen Kinder<br />
in der Vorschule (Pas de zéro conduite!), für die<br />
psychiatrische Versorgung (La nuit sécuritaire)<br />
und gegen die Sicherheitshaft (Non à la<br />
perpétuité sur ordonnance) stattgefunden.<br />
Die Bücher von Marie‐Noël Godet und von<br />
Agnès Aflalo sind stimulierend, erfrischend.<br />
A. Aflalo hat unter anderem der Unterschei‐<br />
dung des Triebs von Freud und dem<br />
konditionnierten Reflex von Skinner ein langes<br />
Kapitel gewidmet (S.56ff.).<br />
Die Befürchtungen für die Zukunft sind:<br />
Dass der medizinischen und immer weni‐<br />
ger humanistischen Psychiatrie die Verschrei‐<br />
bung der Psychotherapien und der Psychoana‐<br />
lyse zukommt, dass der Meisterdiskurs allein