Mitglieder-Brief Nr. 85 19. März 2009 - freudlacan
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der kulturellen Evolution und insbesondere<br />
des künstlerischen Schaffens (cf. p.226 und<br />
p.320 von ʺDer Mensch der Wahrheitʺ). Ich un‐<br />
terbreite dort, dass unser Gehirn imstande ist,<br />
gewissermaßen wie erworbene Operatoren<br />
Verbindungs‐Dispositive zu benutzen, die fä‐<br />
hig sind, die Produktion der Vor‐<br />
Repräsentationen zu bezwingen ‐ sie gleich‐<br />
sam in einem Rahmen einzufassen ‐ und somit<br />
gegen die kombinatorische Explosion zu<br />
kämpfen, die durch den außergewöhnlichen<br />
Reichtum der zerebralen Verbindungsfähigkeit<br />
(Kopplungsfähigkeit) hervorgerufen wird. Jene<br />
(die Verbindungspositive) sind gewiss biolo‐<br />
gisch verwurzelt, können aber mit angebore‐<br />
nen Dispositiven korrespondieren, die von der<br />
biologischen Evolution beerbt wurden, wie<br />
z.B. die Regeln der Invarianz der Farben oder<br />
des Klangs, aber auch mit jenen erworbenen<br />
Produktionen, die einer Kultur oder sogar ei‐<br />
nem Künstlerstil eigentümlich sind. Die gene‐<br />
tische Kombinatorik erweitert sich durch die<br />
neuronale, epigenetische Kombinatorik. In die‐<br />
sem letzten Fall hat sich der Erwerb der Regel<br />
auf bewusste Weise einstellen müssen, dann,<br />
einmal routinemäßig geworden, konnte ihr<br />
Gebrauch nicht‐bewusst werden. Aus diesem<br />
Grunde zögere ich, Ausdrücke wie ʺGesetz des<br />
Unbewusstenʺ zu verwenden. Im Gegensatz<br />
dazu finde ich es interessant, wenn man ver‐<br />
sucht, in dieser Kombinatorik das Erworbene<br />
des Eigenen der Gattung als auch das Bewuss‐<br />
te des Nicht‐Bewussten zusammenzufügen.<br />
Die ʺStrukturenʺ und die neuronale Plastizität<br />
C.M.: Von da komme ich zu einer meiner Ansicht<br />
nach der wichtigsten Fragen, die nochmal die Be‐<br />
ziehung zwischen ʺmentalem Darwinismusʺ und<br />
ʺStrukturalismusʺ betrifft. Würden Sie akzeptie‐<br />
ren, die durch Selektion, dann durch synaptische<br />
Stabilisierung erreichten Konfigurationen, die An‐<br />
lass zu kulturellen Formen geben (logisches Den‐<br />
ken, Urteile, Theorien, Bräuche, Glauben, Kunst‐<br />
werke) ‐ ʺStrukturenʺ anzusehen?<br />
J.‐P.C.: Wie ich eben gesagt habe, habe ich<br />
den Ausdruck ʺepigenetische Regelʺ benutzt,<br />
um diese kulturellen Formen zu kennzeichnen,<br />
und ich sehe keinen Gegensatz zu dem, dass<br />
Sie sie mit den ʺStrukturenʺ des Strukturalis‐<br />
mus gleichsetzen. Aber ich vermeide das Wort<br />
Struktur in diesem Kontext. In den biologi‐<br />
schen Wissenschaften hat das Wort Struktur<br />
eine ‐ oder vielmehr sehr unterschiedliche ‐<br />
Sinnbedeutungen, was viel Verwirrung nach<br />
sich ziehen kann.<br />
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MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />
C.M.: Welche Konsequenzen sind aus der Applika‐<br />
tion der zerebralen Epigenese auf die soziale Evolu‐<br />
tion zu ziehen? Welche Rolle spielt die Plastizität<br />
in dieser Entwicklung?<br />
J.‐P.C.: Ich habe die Bedeutung der Epige‐<br />
nese ‐ und folglich der zerebralen Plastizität ‐<br />
in der sozialen Evolution seit dem Buch ʺDer<br />
neuronale Menschʺ ausgiebig diskutiert, das ist<br />
schon mehr als 25 Jahre her, ohne dass das un‐<br />
sere Kollegen der Human‐ und Sozialwissen‐<br />
schaften besonders interessiert hätte ..<br />
In Frankreich sind die Spaltungen zwischen<br />
den Disziplinen bedauernswert. In dem Uni‐<br />
versum der Wissenschaften vom Menschen<br />
und der Gesellschaft konnte ich feststellen,<br />
dass ‐ noch in unseren Tagen ‐ das Gewicht<br />
der Ideologien sehr groß ist. Sich mit den Bio‐<br />
logen zusammenzutun, ist für einen Soziolo‐<br />
gen eine ideologische Stellungnahme, was<br />
wichtiger zu sein scheint als der Fortschritt des<br />
Wissens! Eine erstaunliche Tatsache im Land<br />
der Aufklärung, dass die kulturelle Welt die<br />
Wissenschaftler bewusst aus ihrer Mitte in ei‐<br />
nem Maße auszuschließen scheint, dass in den<br />
großen Tageszeitungen jene sogar nicht als ʺIn‐<br />
tellektuelleʺ angesehen werden. Es gibt noch<br />
viel zu tun, um die geistigen Einstellungen zu<br />
verändern... Es zeigen sich da die Grenzen der<br />
zerebralen Plastizität unserer Mitbürger!<br />
Das Beispiel des Kunstwerks<br />
C.M.: Ich habe in meiner Rezension bei Ihnen auf<br />
einen gewissen evolutionistischen Optimismus<br />
hingewiesen. Als ob der mentale Darwinismus zu<br />
der Einrichtung einer besseren Welt führen würde!<br />
So sagen Sie in Ihrem letzten Werk: ʺDas Schöne<br />
würde so unter der Form von einzigartigen und<br />
harmonischen Synthesen zwischen Gefühl und Ver‐<br />
stand befördert werden, die das soziale Band ver‐<br />
stärken würden; das Gute bestünde in der Verfol‐<br />
gung eines glücklichen Lebens in der Gesellschaft;<br />
schließlich wäre das Wahre die ständige Suche nach<br />
objektiven, rationalen, allgemeinen und kumulati‐<br />
ven Wahrheiten, mit beständiger kritischen Infra‐<br />
gestellung und dem auf diese Weise hervorgebrach‐<br />
ten Wissensfortschrittʺ (p.514).<br />
Sind Sie nicht zu sehr noch an die Teleologie, an<br />
den schließlichen Sieg des Sinns gebunden? Unter‐<br />
stellt man dem Kunstwerk einen solchen Sieg? Gibt<br />
es nicht, wie Darwin sagte, eine Abwesenheit des<br />
Sinns bei der natürlichen Auswahl?<br />
J.‐P.C.: Selbstverständlich teile ich Darwins<br />
Standpunkt hinsichtlich der biologischen Evo‐<br />
lution und der Sinn‐Absenz bei der natürli‐<br />
chen Auswahl. Gilt das Gleiche für die kultu‐