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Mitglieder-Brief Nr. 85 19. März 2009 - freudlacan

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die Loggien nah „des Trostes wegen, der in ih‐<br />

rer Unbewohnbarkeit für den liegt, der selber<br />

nicht mehr recht zum Wohnen kommt”.<br />

Durch den Vergleich mit Marcel Proust und<br />

Ernst Bloch verleiht Palmier Benjamins Eigen‐<br />

tümlichkeit zusätzlich Konturen. Für Proust<br />

bedeutet Erinnerung die Suche nach verborge‐<br />

nen Augenblicken des Glücks, für Bloch sind<br />

Erinnerungen Sammellinsen für utopische<br />

Stoffe.<br />

Für Benjamin dagegen sind die Augenbli‐<br />

cke der Kindheit solche eines Scheiterns, das<br />

entziffert werden muss, eines Versprechens,<br />

das das Leben nicht gehalten hat. Die Bewah‐<br />

rung der eigenen Kindheit gewinnt für Benja‐<br />

min in genau dem Moment einen historischen<br />

Sinn, in dem das Tragische seines Lebens und<br />

das der Geschichte miteinander verschmelzen.<br />

„Das Kind und der Unterdrückte”, so in‐<br />

terpretiert Palmier die politische Seite von Ben‐<br />

jamins Verhältnis zu seiner Kindheit, „sind<br />

Teil derselben Geschichte: derjenigen, die ,aus<br />

Sicht der Verliererʹ geschrieben wird. In Ben‐<br />

jamins theologisch‐politischer Vision ist das<br />

Kind, das er war, identifiziert mit der Ge‐<br />

schichte selbst, ihrem unerlösten Leid. Die<br />

,Erinnerungenʹ verkörpern die gleichen messi‐<br />

anischen Erwartungen [...], die aber ,die<br />

Flamme der Hoffnung entfachenʹ muß.”<br />

Die einfühlend‐kritische Hal‐<br />

tung Palmiers und sein Interesse am originär<br />

politischen Benjamin bewähren sich, gleich‐<br />

viel, ob es um Benjamins Verhältnis zu Scho‐<br />

lem, Adorno, Bloch, Kracauer, Brecht oder<br />

dem Frankfurter Institut für Sozialforschung<br />

geht oder um Themen wie Mimesis, dialekti‐<br />

sches Bild, Phantasmagorie, Aura, um Erneue‐<br />

rung der Literaturkritik, die Rolle der Intellek‐<br />

tuellen, die Vereinbarkeit von Marxismus und<br />

Theologie oder die Politisierung der Kunst.<br />

Jeder, der etwa Benjamins erkenntniskriti‐<br />

sche Vorrede zum Trauerspielbuch zu verste‐<br />

hen suchte, wird mit Dankbarkeit und Gewinn<br />

lesen, was Palmier über Benjamins Praxis be‐<br />

richtet, für je‐den seiner großen Essays er‐<br />

kenntnistheoretische Grundannahmen zu‐<br />

40<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

sammenzustellen, die durch die Vielfalt ihrer<br />

Quellen verblüffen.<br />

Benjamins Interesse am Universitätsbetrieb<br />

und an den philosophischen Strömungen sei‐<br />

ner Zeit war gering. Einzig in Lukácsʹ „Ge‐<br />

schichte und Klassenbewusst‐sein” sah er die<br />

Aporien der klassischen Erkenntnistheorien<br />

mit ihrem Ausgang von einer Subjekt‐Objekt‐<br />

Spaltung philosophisch aufgehoben. Im Übri‐<br />

gen holte er sich Anregungen bei der Roman‐<br />

tik und dem Judentum, bei vergessenen Auto‐<br />

ren und Außenseitern. „Diese Marginalität<br />

Benjamins”, so Palmier, „dieser ,Schritt zurückʹ<br />

hinter die Begriffsbildungen seiner Zeit, ist die<br />

Bedingung seiner Originalität.”<br />

Dazu gehörte auch das Prägen eigener Be‐<br />

griffe bzw. die Ersetzung von Begriffen durch<br />

Bilder, Konstellationen sinnlicher Objekte, Stil‐<br />

figuren wie die Allegorie. So praktizierte Ben‐<br />

jamin auf seine Weise den „Tigersprung ins<br />

Vergangene”, der die Gegenwart erhellen soll‐<br />

te.<br />

Palmiers Führung durchs Labyrinth von<br />

Benjamins Welt ist bewundernswert, und es<br />

fehlt dabei auch nicht an Hinweisen auf den<br />

politischen und intellektuellen Kontext, in dem<br />

Benjamins Leben, Denken und Dichten sich<br />

abspielte. Doch sich derart intensiv wie Pal‐<br />

mier auf ein Leben und Denken einzulassen,<br />

das so wie das Benjamins in Gestalt von Texten<br />

– weitaus mehr unveröffentlichten und nicht<br />

zur Veröffentlichung gedachten als veröffent‐<br />

lichten — existiert, das hat auch einen be‐<br />

klemmenden Effekt. Es entsteht eine geschlos‐<br />

sene Welt, in der das „sollte”, diese merkwür‐<br />

dig imperativische Vorwegnahme der bekann‐<br />

ten Zukunft, auffallend häufig auftritt. Unbe‐<br />

fangene Einschätzungen werden dann schwie‐<br />

rig.<br />

Ein Beispiel dafür ist, wie Ludwig Klages<br />

bei Palmier vorkommt. In einer Fußnote er‐<br />

wähnt er Benjamins Bewunderung für den Au‐<br />

tor der Bücher „Vom kosmogonischen Eros”<br />

und „Der Geist als Widersacher der Seele”,<br />

doch nichts, was diese Bewunderung ver‐<br />

ständlich machen könnte. Statt über den 1914<br />

erschienenen Aufsatz „Vom Traumbewusst‐<br />

sein” informiert zu werden, um dessen Fort‐<br />

setzung Benjamin Klages bat, erfährt man nur,<br />

dass Klages „ein echter Vorläufer des national‐<br />

sozialistischen Irrationalismus und notorischer<br />

Antisemit” gewesen sei, von dem Benjamin<br />

sich erst unter dem Einfluss Adornos endgül‐<br />

tig losgesagt habe.

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