Mitglieder-Brief Nr. 85 19. März 2009 - freudlacan
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von Anfang an, noch bevor er begonnen hat zu<br />
schreiben, eindeutig zu identifizierende Figu‐<br />
ren vor sich!» Robert Maggiori<br />
Jean‐Luc Nancy : Identités. Fragments, Paris<br />
(Galilée), 2010, 80 S., 14 Euro.<br />
Aus: Libération Livres vom 11. Februar 2010, S.I.<br />
‒ Aus dem Französischen von H.‐P. Jäck.<br />
C) SOCIOLOGICA<br />
Matthias Becker: Ungleichheit macht krank<br />
„Gleichheit ist Glück”: Zwei englische Mediziner haben<br />
erforscht, dass für die Gesundheit der Menschen Reich‐<br />
tum weniger wichtig ist als Verteilungsgerechtigkeit<br />
„Manches, was man heute als Armut be‐<br />
klagt, wäre in meiner Kindheit beinahe klein‐<br />
bürgerlicher Wohlstand gewesen.ʺ Viele den‐<br />
ken wie der ehemalige Bundeskanzler Helmut<br />
Schmidt, der immer wieder betont, dass es den<br />
Unterprivilegierten hierzulande so schlecht<br />
nicht gehen könne, schließlich besäßen fast alle<br />
einen Fernseher, Videorecorder oder ein Auto<br />
— Dinge, die noch in den 70er Jahren für viele<br />
Facharbeiter unerreichbar waren. Falsch, sagen<br />
Richard Wilkinson und Kate Pickett, zwei eng‐<br />
lische Epidemiologen, deren Buch „Gleichheit<br />
ist Glück” gerade auf Deutsch erschienen ist.<br />
Zumindest in den entwickelten Ländern sei<br />
das Schlimme an der Armut nicht Mangel,<br />
sondern Kränkung.<br />
Wilkinson und Pickett untersuchen seit Jah‐<br />
ren, welche Faktoren das Wohlergehen der<br />
Menschen bestimmen. Sie sind überzeugt, dass<br />
Gesundheit und Lebenserwartung in einer Ge‐<br />
sellschaft unmittelbar davon abhängen, wie<br />
gleichmäßig der Reichtum verteilt ist. Un‐<br />
gleichheit dagegen „führt zu geringerer Le‐<br />
benserwartung, zu geringerem Geburtsge‐<br />
wicht und höherer Säuglingssterblichkeit. Die<br />
Menschen erreichen eine geringere Körpergrö‐<br />
ße, sie sind anfälliger für Infektionskrankhei‐<br />
ten und Depressionen”. Es kommt demnach<br />
gar nicht so sehr darauf an, ob jemand über ei‐<br />
nen Fernseher verfügt oder nicht. Wichtig ist,<br />
ob die anderen einen haben. In den USA ver‐<br />
fügen 80 Prozent der nach offizieller Definition<br />
Armen über eine Klimaanlage, 75 Prozent über<br />
ein Auto und 33 Prozent über Computer,<br />
Zweitwagen oder Geschirrspülmaschine. Den‐<br />
noch leiden sie häufiger unter Krankheiten als<br />
Menschen mit dem gleichen Konsumniveau in<br />
anderen Gesellschaften. Wilkinson und Pickett<br />
43<br />
MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />
zeigen, dass derselbe Lebensstandard unter‐<br />
schiedliche Folgen hat — je nachdem, wie hoch<br />
der Lebensstandard der anderen ist.<br />
Der wichtigste Grund dafür ist der „sozia‐<br />
len Psychosomatik” von Wilkinson und Pickett<br />
zufolge, dass Ungleichheit chronischen Stress<br />
erzeugt. Besonders die vermehrte Ausschüt‐<br />
tung des Hormons Cortisol führe in den ent‐<br />
wickelten Ländern zu Herz‐Kreislauf‐<br />
Erkrankungen, Schlaganfällen und Fettleibig‐<br />
keit.<br />
Keine Angst vor Unpopulärem<br />
Deshalb führe ab einem bestimmten Ni‐<br />
veau der Gesundheitsfürsorge mehr Wohl‐<br />
stand nicht zu einer entsprechenden Steige‐<br />
rung der durchschnittlichen Lebens‐zeit, wie<br />
gemeinhin angenommen wird. Das Pro‐Kopf‐<br />
Einkommen in Portugal beispielsweise ist nur<br />
halb so groß wie in den USA. Die Lebenser‐<br />
wartung aber liegt in beiden Ländern bei un‐<br />
gefähr 75 Jahren.<br />
Anders gesagt: Je gleichmäßiger die Vertei‐<br />
lung, desto weniger Reichtum ist nötig, um<br />
das gleiche Maß an Lebenszeit und Lebensqua‐<br />
lität zu erreichen. Dabei geht es wohlgemerkt<br />
nicht um „Chancengleichheit”, um faire Start‐<br />
bedingungen beim Wettlauf um Einkommen<br />
und Status, sondern um Gleichheit im Ergeb‐<br />
nis: ein politischer Standpunkt, der heute völ‐<br />
lig marginalisiert ist.<br />
Aber die beiden Mediziner haben keine<br />
Angst, Unpopuläres auszusprechen. Lapidar<br />
stellen sie fest, Gleichheit könne durch geringe<br />
Lohnspreizung wie durch staatliche Umvertei‐<br />
lung erreicht werden; der Effekt für den<br />
Gesundheitszustand der Bevölkerung sei der‐<br />
selbe.<br />
Der Untertitel der englischen Originalaus‐<br />
gabe — „Warum es egalitäreren Gesellschaften<br />
fast immer besser geht” — zeigt den Geist, der<br />
hier weht: Zwei Naturwissenschaftler, die<br />
ebenso fest an ihre Forschungsergebnisse wie<br />
an den kollektiven Erkenntnisfortschritt glau‐<br />
ben, aufrichtig bis zur Naivität — beispiels‐<br />
weise wenn sie versuchen, die Begüterten da‐<br />
von zu überzeugen, dass weniger individueller<br />
Besitz in ihrem eigenen wohlverstandenen<br />
(Gesundheits‐)Interesse wäre.<br />
Wilkinson und Pickett argumentieren fast<br />
ausschließlich mit Statistiken, die Zahlen<br />
kommen von den UN, Unicef oder der WHO.<br />
Mit diesem Material können sie eindrucksvoll<br />
belegen, wie eng der Zusammenhang zwi‐<br />
schen Gesundheit und Gleichheit ist. Im Detail,