Mitglieder-Brief Nr. 85 19. März 2009 - freudlacan
Mitglieder-Brief Nr. 85 19. März 2009 - freudlacan
Mitglieder-Brief Nr. 85 19. März 2009 - freudlacan
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
ten ausgedrückt werden; die kollektiven sym‐<br />
bolischen Systeme, mit denen sich die Kranken<br />
herumschlagen und über die wiederum andere<br />
(und hier vor allem die Therapeuten) ihren<br />
«Deutungen» Sinn zu geben versuchen; oder<br />
auch die sozialen Institutionen, die diese Be‐<br />
ziehungen regeln und die die Sprechakte kon‐<br />
stituieren.<br />
Das ist ein riesiges Unterfangen. Es geht<br />
demnach nicht nur um eine strenge Theorie,<br />
sondern auch um die Wirksamkeit, ja sogar<br />
um die Ethik der Behandlung. Wenn man<br />
glaubt, das psychische Leiden sei nur der äu‐<br />
ßere Ausdruck substanzieller Veränderungen<br />
in den Nervenbahnen, dann würde man den<br />
Wahnsinnigen auf sein Gehirn reduzieren und<br />
völlig vergessen, auf seine Stimme, auf sein<br />
Wort zu hören und damit «den machtvollen<br />
Ruf in der psychotischen Erfahrung glattho‐<br />
beln». Sieht man aber, umgekehrt, in der «An‐<br />
kündigung eines Wahns» nur Wirkungen ge‐<br />
sellschaftlicher Kräfte und Mächte, wie das in‐<br />
nerhalb einer bestimmten Foucault’schen Or‐<br />
thodoxie getan wird, dann würde das verken‐<br />
nen, dass die Psychiatrie eben nicht ausschließ‐<br />
lich durch soziale oder politische Normen be‐<br />
stimmt, wenn nicht durch diese sogar manipu‐<br />
liert ist: Sie trägt auch zur Konstruktion wis‐<br />
senschaftlicher Normen bei. Beide symmetri‐<br />
schen Irrtümer, so Castel, verkennen den Sinn,<br />
den die Hauptakteure ihren Handlungen bei‐<br />
messen.<br />
Das Ineinander so vieler Disziplinen und<br />
Hilfskonstruktionen machen die Gedanken‐<br />
gänge des Buches manchmal zu einem regel‐<br />
rechten Labyrinth und die Lektüre wird von<br />
daher oft anstrengend und erfordert große<br />
Geduld, auch wenn Castels Diskurs dabei<br />
niemals in der Sackgasse einer Konfusion lan‐<br />
det. Ganz im Gegenteil: seine Darlegungen<br />
sind meist treffend, oft auch langatmig, sie<br />
finden aber zu dem ihnen innewohnenden Zu‐<br />
sammenhang in der Art und Weise, wie er be‐<br />
harrlich bestimmte zentrale traditionellen<br />
Probleme der reinen Philosophie herausarbei‐<br />
tet, die er zugleich neu denkt. So etwa auch die<br />
alte Frage des Zusammenhangs von Körper<br />
und Geist (der neuerdings im Angelsächsi‐<br />
schen unter dem Begriff «mind‐body‐problem»<br />
fungiert), die Natur des Selbstbewusstseins<br />
oder auch der Zusammenhang von Denken<br />
und Sprache. Das lässt sich nicht besser als in<br />
den Worten von Henri‐Pierre Castel selbst<br />
formulieren: wenn «die Menschheit ein fortge‐<br />
30<br />
MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />
setztes Experiment ist», wie er schreibt, dann<br />
ist das auch der Fall mit der wirklichen Philo‐<br />
sophie. Stéphane Legrand<br />
Aus: Le monde des livres vom 12. Februar<br />
2010, S.6. ‒ Aus dem Französischen von H.‐P.<br />
Jäck.<br />
‒ Slavoj Žižeks neue Sicht auf den Kapitalismus<br />
Éric Aeschimann: Slavoj Žižek und der Aus‐<br />
weichschritt des Kommunismus ‐ Die Affäre<br />
Madoff, der chinesische Boom… der slovenischePhilosoph<br />
wirft einen schrägen Blick auf den Kapitalismus und entdeckt<br />
dessen fetischistischen Kern<br />
Slavoj Žižek: Après la tragédie: la farce! ou comment<br />
l’histoire se répète, Paris (Flammarion, Bibliothèques<br />
des savoirs) 2010, 141 S., 20 Euro<br />
Der slovenische Philosoph und Neo‐<br />
Kommunist Slavoj Žižek ist allseits wegen sei‐<br />
ner Witzchen bekannt, mit denen er seine Vor‐<br />
träge und Bücher krönt. Aber ein wenig sind<br />
es inzwischen immer dieselben, endlos taucht<br />
dabei der allgemeine Gedanke von der umge‐<br />
kehrten Welt immer wieder auf: dass eine Sa‐<br />
che ohne Weiteres in ihr Gegenteil umschlagen<br />
kann. Auch in seinem neuen Buch «Après la<br />
tragédie, la farce!» greift er die alte Anekdote<br />
vom Fetisch (ohne sie, wie wir noch sehen<br />
werden, kindisch zu finden!) wieder auf, wo‐<br />
nach sich ein Gast überrascht zeigt, als er ein<br />
Hufeisen an der Eingangstür des Landhauses<br />
des berühmten Physikers findet, der ihm na‐<br />
türlich sagt, dass er keinesfalls abergläubisch<br />
sei, aber: «Ich habe mir sagen lassen, dass das<br />
trotzdem wirkt, auch wenn man nicht daran<br />
glaubt!» So gehe das, nach Meinung von Žižek,<br />
auch mit dem Kommunismus: niemand glaubt<br />
mehr daran, aber es könnte vielleicht dennoch<br />
funktionieren!<br />
Žižek ist von seiner Ausbildung her<br />
Lacanianer; sein Doktorvater war Jacques‐<br />
Alain Miller. Der Glaube ist für ihn der Eck‐<br />
stein des menschlichen Geistes, das<br />
alleranfänglichste Begehren, das die Wünsch<br />
zu Worten werden lässt, ihnen Gestalt und<br />
Kraft verleiht. Es ist gerade der Zyniker, der an<br />
nichts glaubt, der sich täuscht ‒ wie etwa Hen‐<br />
ry Kissinger, der sich im Sommer 1991 mit den<br />
Putschisten gegen Gorbatschow treffen wollte,<br />
und nicht wissen konnte, dass dieser Putsch<br />
nach drei Tagen jämmerlich in sich zusam‐<br />
menbrach. «Als die sozialistischen Regime mehr<br />
tot als lebendig waren, glaubte dieser Kissinger, ei‐<br />
nen langfristigen Pakt mir ihm eingehen zu kön‐<br />
nen! […] Die Zyniker sind die „non‐dupes qui<br />
errent“; ihnen entgeht der symbolische Effekt der<br />
Illusionen. […] Was ihnen entgeht, ist ihre eigene