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Mitglieder-Brief Nr. 85 19. März 2009 - freudlacan

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ten ausgedrückt werden; die kollektiven sym‐<br />

bolischen Systeme, mit denen sich die Kranken<br />

herumschlagen und über die wiederum andere<br />

(und hier vor allem die Therapeuten) ihren<br />

«Deutungen» Sinn zu geben versuchen; oder<br />

auch die sozialen Institutionen, die diese Be‐<br />

ziehungen regeln und die die Sprechakte kon‐<br />

stituieren.<br />

Das ist ein riesiges Unterfangen. Es geht<br />

demnach nicht nur um eine strenge Theorie,<br />

sondern auch um die Wirksamkeit, ja sogar<br />

um die Ethik der Behandlung. Wenn man<br />

glaubt, das psychische Leiden sei nur der äu‐<br />

ßere Ausdruck substanzieller Veränderungen<br />

in den Nervenbahnen, dann würde man den<br />

Wahnsinnigen auf sein Gehirn reduzieren und<br />

völlig vergessen, auf seine Stimme, auf sein<br />

Wort zu hören und damit «den machtvollen<br />

Ruf in der psychotischen Erfahrung glattho‐<br />

beln». Sieht man aber, umgekehrt, in der «An‐<br />

kündigung eines Wahns» nur Wirkungen ge‐<br />

sellschaftlicher Kräfte und Mächte, wie das in‐<br />

nerhalb einer bestimmten Foucault’schen Or‐<br />

thodoxie getan wird, dann würde das verken‐<br />

nen, dass die Psychiatrie eben nicht ausschließ‐<br />

lich durch soziale oder politische Normen be‐<br />

stimmt, wenn nicht durch diese sogar manipu‐<br />

liert ist: Sie trägt auch zur Konstruktion wis‐<br />

senschaftlicher Normen bei. Beide symmetri‐<br />

schen Irrtümer, so Castel, verkennen den Sinn,<br />

den die Hauptakteure ihren Handlungen bei‐<br />

messen.<br />

Das Ineinander so vieler Disziplinen und<br />

Hilfskonstruktionen machen die Gedanken‐<br />

gänge des Buches manchmal zu einem regel‐<br />

rechten Labyrinth und die Lektüre wird von<br />

daher oft anstrengend und erfordert große<br />

Geduld, auch wenn Castels Diskurs dabei<br />

niemals in der Sackgasse einer Konfusion lan‐<br />

det. Ganz im Gegenteil: seine Darlegungen<br />

sind meist treffend, oft auch langatmig, sie<br />

finden aber zu dem ihnen innewohnenden Zu‐<br />

sammenhang in der Art und Weise, wie er be‐<br />

harrlich bestimmte zentrale traditionellen<br />

Probleme der reinen Philosophie herausarbei‐<br />

tet, die er zugleich neu denkt. So etwa auch die<br />

alte Frage des Zusammenhangs von Körper<br />

und Geist (der neuerdings im Angelsächsi‐<br />

schen unter dem Begriff «mind‐body‐problem»<br />

fungiert), die Natur des Selbstbewusstseins<br />

oder auch der Zusammenhang von Denken<br />

und Sprache. Das lässt sich nicht besser als in<br />

den Worten von Henri‐Pierre Castel selbst<br />

formulieren: wenn «die Menschheit ein fortge‐<br />

30<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

setztes Experiment ist», wie er schreibt, dann<br />

ist das auch der Fall mit der wirklichen Philo‐<br />

sophie. Stéphane Legrand<br />

Aus: Le monde des livres vom 12. Februar<br />

2010, S.6. ‒ Aus dem Französischen von H.‐P.<br />

Jäck.<br />

‒ Slavoj Žižeks neue Sicht auf den Kapitalismus<br />

Éric Aeschimann: Slavoj Žižek und der Aus‐<br />

weichschritt des Kommunismus ‐ Die Affäre<br />

Madoff, der chinesische Boom… der slovenischePhilosoph<br />

wirft einen schrägen Blick auf den Kapitalismus und entdeckt<br />

dessen fetischistischen Kern<br />

Slavoj Žižek: Après la tragédie: la farce! ou comment<br />

l’histoire se répète, Paris (Flammarion, Bibliothèques<br />

des savoirs) 2010, 141 S., 20 Euro<br />

Der slovenische Philosoph und Neo‐<br />

Kommunist Slavoj Žižek ist allseits wegen sei‐<br />

ner Witzchen bekannt, mit denen er seine Vor‐<br />

träge und Bücher krönt. Aber ein wenig sind<br />

es inzwischen immer dieselben, endlos taucht<br />

dabei der allgemeine Gedanke von der umge‐<br />

kehrten Welt immer wieder auf: dass eine Sa‐<br />

che ohne Weiteres in ihr Gegenteil umschlagen<br />

kann. Auch in seinem neuen Buch «Après la<br />

tragédie, la farce!» greift er die alte Anekdote<br />

vom Fetisch (ohne sie, wie wir noch sehen<br />

werden, kindisch zu finden!) wieder auf, wo‐<br />

nach sich ein Gast überrascht zeigt, als er ein<br />

Hufeisen an der Eingangstür des Landhauses<br />

des berühmten Physikers findet, der ihm na‐<br />

türlich sagt, dass er keinesfalls abergläubisch<br />

sei, aber: «Ich habe mir sagen lassen, dass das<br />

trotzdem wirkt, auch wenn man nicht daran<br />

glaubt!» So gehe das, nach Meinung von Žižek,<br />

auch mit dem Kommunismus: niemand glaubt<br />

mehr daran, aber es könnte vielleicht dennoch<br />

funktionieren!<br />

Žižek ist von seiner Ausbildung her<br />

Lacanianer; sein Doktorvater war Jacques‐<br />

Alain Miller. Der Glaube ist für ihn der Eck‐<br />

stein des menschlichen Geistes, das<br />

alleranfänglichste Begehren, das die Wünsch<br />

zu Worten werden lässt, ihnen Gestalt und<br />

Kraft verleiht. Es ist gerade der Zyniker, der an<br />

nichts glaubt, der sich täuscht ‒ wie etwa Hen‐<br />

ry Kissinger, der sich im Sommer 1991 mit den<br />

Putschisten gegen Gorbatschow treffen wollte,<br />

und nicht wissen konnte, dass dieser Putsch<br />

nach drei Tagen jämmerlich in sich zusam‐<br />

menbrach. «Als die sozialistischen Regime mehr<br />

tot als lebendig waren, glaubte dieser Kissinger, ei‐<br />

nen langfristigen Pakt mir ihm eingehen zu kön‐<br />

nen! […] Die Zyniker sind die „non‐dupes qui<br />

errent“; ihnen entgeht der symbolische Effekt der<br />

Illusionen. […] Was ihnen entgeht, ist ihre eigene

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