Mitglieder-Brief Nr. 85 19. März 2009 - freudlacan
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er mehr zu erfahren und einen Vergleich auf‐<br />
stellen zu können, möchte ich zuerst nach dem<br />
Gebrauch der Regel bei Wittgenstein fragen,<br />
etwa in der Darstellung eines Robert B. Bran‐<br />
dom, einem der führenden angelsächsischen<br />
Philosophen der Gegenwart. Er unterscheidet<br />
drei Anwendungsbereiche der Regel bei Witt‐<br />
genstein: einmal sagen die Regeln „explizit,<br />
was man zu tun hat“; zum zweiten besagt Re‐<br />
gel „alles, was diejenigen leitet …, deren Ver‐<br />
halten beurteilt wird, gleichgültig, ob es dis‐<br />
kursiv oder begrifflich gegliedert ist“; schließ‐<br />
lich ist von Regel die Rede, „wenn ein Verhal‐<br />
ten Gegenstand normativer Beurteilung ist,<br />
wenn also eine Verantwortlichkeit zugewiesen<br />
wird, gleichgültig, ob derjenige sich dessen<br />
bewusst ist, wenn er entscheidet, was zu tun<br />
ist.“1 Ich will diese Darstellung nicht weiter<br />
diskutieren. Ähnliche Fragen stellen sich bei<br />
der Formulierung der Grundregel, für die der<br />
Bezug zur Sprache, ebenso wie bei Wittgens‐<br />
tein, ausschlaggebend ist. Es handelt sich um<br />
die Bedingungen der Ausübung der Psycho‐<br />
analyse schlechthin.<br />
Eine erste Formulierung der Grundregel<br />
finden wir bereits in den „Studien über Hyste‐<br />
rie“, eine Vorstufe eigentlich, deren Wortlaut<br />
aber sich in der Folge nicht wesentlich geän‐<br />
dert hat. Freud versucht die Hypnose, die an<br />
die Grenzen der Erinnerungsfähigkeit des Pa‐<br />
tienten gestoßen war, durch einen „kleinen<br />
technischen Kunstgriff“ zu ersetzen oder zu<br />
„verstärken“, wie er annimmt, indem er einen<br />
Druck auf die Stirn des Patienten ausübt und<br />
ihn dazu auffordert, das Bild oder den Einfall,<br />
der sich einstellt, mitzuteilen, „was immer das<br />
sein möge. Er dürfe es nicht für sich behalten,<br />
weil er etwa meine, es sei nicht das Gesuchte,<br />
das Richtige, oder weil es ihm unangenehm<br />
sei, es zu sagen. Keine Kritik, keine Zurückhal‐<br />
tung, weder aus dem Affekt noch aus Gering‐<br />
schätzung! Nur so könnten wir das Gesuchte<br />
finden, so fänden wir es aber unfehlbar.“2 Be‐<br />
merkenswert an der Formulierung ist, das sie<br />
fast gleichbleibend, mit nur kleinen Varianten,<br />
Freuds Werk durchzieht. Der Wortlaut insti‐<br />
tuiert, wie ein Basisaxiom, die Grundregel als<br />
das eigentlich Invariante des psychoanalyti‐<br />
schen Diskurses, der Psychoanalyse als Dis‐<br />
kurs. Sie ist der gemeinsame Bezugspunkt, bei<br />
1 Robert B. Brandom (1994), Expressive Vernunft, Suhrkamp<br />
Verlag, Frankfurt a. M. 2000, S.1<strong>19.</strong><br />
2 Sigmund Freud (1895), Studien über Hysterie, G.W. I, S.270.<br />
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MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />
den mannigfaltigsten Orientierungen der Psy‐<br />
choanalyse in mehr als einem Jahrhundert.<br />
Die Grundregel pro‐<br />
duziert den Einfall, eine Funktion des Neuen,<br />
unter der Voraussetzung der „Aufrichtigkeit“<br />
und „Kritiklosigkeit“ dessen, was sich bisher<br />
der Erinnerung und dem Wissen entzogen hat.<br />
Wie konnte Freud jedoch annehmen, dass da‐<br />
bei etwas Anderes als bloßer Unsinn heraus‐<br />
komme? Seine Antwort, die uns noch heute in<br />
Staunen versetzt, besteht in der Umkehrung<br />
der logischen Wertigkeit: der Unsinn ist der<br />
beste Beweis, der Hinweis nämlich, dass wir<br />
das Gesuchte gefunden haben; Freud meint:<br />
das „Richtige“. Es geht um das Finden, Auf‐<br />
finden und um das Richtige, Wahre. Die Psy‐<br />
choanalyse wird von Anfang an als eine Heu‐<br />
ristik definiert, deren Bedingungen die Grund‐<br />
regel festlegt, ein für allemal, wie es scheint. Es<br />
ist der Grundpfeiler, der die Psychoanalyse im<br />
Realen verankert; alles Andere ist theoretischer<br />
Überbau in den verschiedensten Ausrichtun‐<br />
gen. Damit meine ich, dass die Entwicklung<br />
einer Logik des Unbewussten und einer Ethik<br />
der Psychoanalyse stets eine Heuristik voraus‐<br />
setzt.<br />
Die Psychoanalyse ist Erfindungskunst, be‐<br />
vor sie zur Deutungskunst wird. Die eine ist<br />
ohne die andere nicht denkbar. Ihr oberstes<br />
Prinzip ist die Auffindung des Neuen, und nur<br />
unter dieser Bedingung findet Deutung statt.<br />
Wahrscheinlich ohne es zu wissen, jedenfalls<br />
ohne es je hervorgehoben zu haben, macht sich<br />
Freud die talmudische Inspiration zu eigen:<br />
chidush, die Auffindung des Neuen, ist die ein‐<br />
zige Sicherheit, über die wir bei der Deutung<br />
verfügen. Nur unter dieser Voraussetzung fin‐<br />
det sie statt. Es „kann“ also nicht alles gedeutet<br />
werden, ganz im Gegensatz zur Behauptung<br />
eines Karl Popper, der die Psychoanalyse der