Mitglieder-Brief Nr. 85 19. März 2009 - freudlacan
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Bald behandelt ja Nietzsche Breuer mindestens ge‐<br />
nauso wie Breuer Nietzsche. Ist in der Art von<br />
Psychotherapie, die Sie die beiden durch ihre Ge‐<br />
spräche miteinander entwickeln lassen, auch Ihre<br />
Kritik an der Freudschen Psychoanalyse enthalten?<br />
Mein Hauptkritikpunkt an Freud war im‐<br />
mer, dass das Psychosexuelle so sehr im Mit‐<br />
telpunkt seiner Theorien steht. Also habe ich<br />
mir eine Geschichte und eine Personenkonstel‐<br />
lation einfallen lassen, bei denen der Kern der<br />
Entwicklung der Psychotherapie eher in der<br />
Existenzphilosophie liegt.<br />
Hat Ihnen die Auseinandersetzung geholfen, Ihre<br />
eigene Angst vorm Tod zu bewältigen?<br />
Zweifellos. Als ich als Therapeut begonnen<br />
habe, wollte ich unbedingt mehr Erfahrung auf<br />
diesem Gebiet haben. Ich habe also begonnen,<br />
unheilbar kranke Krebspatienten zu behan‐<br />
deln. Das war damals noch sehr ungewöhn‐<br />
lich, weil der Tod ein solches Tabu war. Ich<br />
habe dabei sehr viel gelernt – auch über meine<br />
eigene Angst.<br />
Was bedeutet Ihnen der Nietzsche‐Satz „Stirb zur<br />
rechten Zeit”, den Sie auch zitieren?<br />
Er bedeutet, dass man sein Leben auch tat‐<br />
sächlich führen, dass man es buchstäblich kon‐<br />
sumieren und voll auskosten muss. Nur dann<br />
stirbt man, ohne noch sehr viel ungelebtes Le‐<br />
ben mit sich herum‐zutragen. Niemand möch‐<br />
te am Ende seines Lebens feststellen, dass er<br />
immer nur auf dem Wartegleis gestanden ist.<br />
Interview: Julia Kospach<br />
ZUR PERSON<br />
Irvin D. Yalom, geboren 1931 als Sohn russischer Einwanderer in<br />
Washington D.C., gilt als einer der einflussreichsten Therapeu‐<br />
ten der USA. Als Autor von Romanen und Erzählbänden („Und<br />
Nietzsche weinte”, „Die rote Couch”, „Die Schopenhauer‐Kur"),<br />
die in erster Linie im Milieu der Psychoanalyse angesiedelt sind,<br />
erreichte er international ein Millionenpublikum. Yalom war als<br />
Professor an der Stanford‐Universität tätig und lebt im kaliforni‐<br />
schen Palo Alto. ksp<br />
Aus: Frankfurter Rundschau vom<br />
21./22. November <strong>2009</strong>, S.36‐37.<br />
‒ Volkmar Sigusch/G. Grau: Personenlexikon<br />
zur Sexualforschung<br />
Christine Pries: Das erste seiner Art ‐ V.<br />
Siguschs und G. Graus „Personenlexikon der Se‐<br />
xualforschung”<br />
Arthur Kronfeld zum Beispiel wäre einer<br />
breiteren Öffentlichkeit für immer unbekannt<br />
geblieben, hätten Volkmar Sigusch und Günter<br />
Grau ihn jetzt nicht in ihr „Personenlexikon<br />
der Sexualforschung” aufgenommen. Von den<br />
Nazis ins Moskauer Exil getrieben, nahm sich<br />
Kronfeld, der sieben Jahre lang an Magnus<br />
Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft tä‐<br />
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MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />
tig und in der Weimarer Republik recht be‐<br />
kannt gewesen war, 1941 während der Herbst‐<br />
offensive der deutschen Wehrmacht das Le‐<br />
ben. Im Dritten Reich wurde seine Arbeit tot‐<br />
geschwiegen, und nach 1945 wurde sie kaum<br />
rezipiert, bevor zu Beginn der 1980er Jahre ein<br />
Psychotherapeut Nachforschungen über<br />
Kronfeld anzustellen begann. Über den Ver‐<br />
bleib von Kronfelds Nachlass ist bis heute<br />
nichts bekannt, und auch die neuerliche Aus‐<br />
einandersetzung mit seinem Werk steht noch<br />
ganz am Anfang.<br />
Ein besonderes Augenmerk dieses Lexikons<br />
liegt denn auch auf den jüdischen Wissen‐<br />
schaftlern, die aus Deutschland und dadurch<br />
häufig aus der Wahrnehmung überhaupt ver‐<br />
trieben wurden, wodurch eine ganze Traditi‐<br />
on, in deren Zentrum Deutschland gestanden<br />
hatte, zum Abbruch kam. Es wäre jedoch irre‐<br />
führend, das Projekt, in das die Herausgeber<br />
nach eigenem Bekunden 30 Jahre Arbeit inves‐<br />
tiert haben, auf dieses Anliegen zu reduzieren.<br />
Der Anspruch ist enzyklopädisch, und na‐<br />
türlich finden sich neben nahezu vergessenen<br />
und noch wiederzuentdeckenden Forschern<br />
wie eben Kronfeld auch die großen Namen<br />
von Sigmund Freud, Wilhelm Reich oder auch<br />
Alfred C. Kinsey. Das Buch, das nur verstor‐<br />
bene Forscherinnen und Forscher berücksich‐<br />
tigt, birgt aber auch Überraschungen, wenn<br />
zum Beispiel Georges Bataille, Michel Foucault<br />
oder Niklas Luhmann ganz selbstverständlich<br />
— und selbstbewusst — als Sexualforscher<br />
verzeichnet sind.<br />
Beteiligt sind 60 teils internationale Auto‐<br />
ren, die für rund 200 (aus ursprünglich 500 an‐<br />
gedachten ausgewählte) Einträge unter‐<br />
schiedlicher Länge verantwortlich zeichnen.<br />
Die Texte sind nicht medizinisch orientiert und<br />
daher auch für den Laien verständlich. Das<br />
„Personenlexikon der Sexualforschung” ist das<br />
erste seiner Art und krönt, so kann man ohne<br />
Übertreibung sagen, nach Siguschs letztjähri‐<br />
ger „Geschichte der Sexualwissenschaft”<br />
(ebenfalls Campus, vgl. FR vom 18. Juni 2008)<br />
das Lebenswerk des renommierten Frankfurter<br />
Sexualwissenschaftlers.<br />
Volkmar Sigusch/Günter Grau (Hrsg.): Personenlexikon der Se‐<br />
xualforschung. Campus Verlag, Frankfurt/M. <strong>2009</strong>, 816 S. mit<br />
150 Abb., 149 Euro.<br />
Aus: Literatur‐Rundschau der Frankfurter Rund‐<br />
schau vom 8. Dezember <strong>2009</strong>, S.A13.