Mitglieder-Brief Nr. 85 19. März 2009 - freudlacan
Mitglieder-Brief Nr. 85 19. März 2009 - freudlacan
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apeut zu, schon einmal mit einer Patientin in‐<br />
tim gewesen zu sein, betont Eichenberg.<br />
Triebfedern der meisten regelmäßig miss‐<br />
brauchenden Therapeuten sind laut Becker‐<br />
Fischer Wunscherfüllung oder Rache. Vieles<br />
spreche dafür, „dass bei bestimmten Thera‐<br />
peuten in der Begegnung mit sexuell ausge‐<br />
beuteten Patienten eigene Traumata aus der<br />
Kindheit reaktiviert werden”. Viele seien Wie‐<br />
derholungstäter, älter, sehr erfahren, „sie sit‐<br />
zen oft in Führungspositionen, sind Lehrthe‐<br />
rapeuten oder gar <strong>Mitglieder</strong> von Ethikkom‐<br />
missionen.”<br />
Möglich ist das nur wegen der begleitend<br />
auftretenden Persönlichkeitsspaltung: „Der er‐<br />
fahrene, oft renommierte Therapeut realisiert<br />
nicht, was seine andere Seite Stunden später<br />
mit der Patientin auf der Couch macht. Es ist<br />
ihm nicht unbewusst, aber er kann das nicht<br />
zusammenführen.”<br />
Es sei alarmierend, dass Traumatisierungen<br />
der angehenden Therapeuten in deren Lehr‐<br />
therapien offenbar nicht oft genug auffallen,<br />
sagt Becker‐Fischer: Viele hätten Angst, dass<br />
sie nicht Therapeut werden können, wenn sie<br />
zu‐geben, dass sie Schlimmes erlebt haben.<br />
„Die Ausbildungsinstitute müssen hier auf‐<br />
merksamer werden.” Doch Becker‐Fischer<br />
kennt viele schwarze Schafe unter den Institu‐<br />
ten: „Man weiß, dass Grenzüberschreitungen<br />
dort an der Tagesordnung sind”.<br />
Auch Eichenberg berichtet von einem Fall,<br />
wo der Lehranalytiker „mit einer Lehranaly‐<br />
sandin et‐was angefangen hat: Als sie sich<br />
verwirrt an einen Kollegen wandte, empfahl<br />
der ihr, das Institut zu wechseln.” Ärgerlich<br />
nennt sie das: „So wird verschleiert.”<br />
Becker‐Fischer fordert deshalb dringend,<br />
„eine bessere Aufklärung des gesamten Be‐<br />
rufsstandes der Psychotherapeuten und Psy‐<br />
choanalytiker, eine Sensibilisierung für grenz‐<br />
wertiges Verhalten und klare Regeln, was zu<br />
tun ist, sobald man vom Missbrauch im Kolle‐<br />
genkreis erfährt”. Außerdem appelliert sie an<br />
ihre Kollegen, Patientinnen, die von sexuellem<br />
Missbrauch in der Therapie berichten, künftig<br />
mehr Glauben zu schenken.<br />
Wie Edith, der von ihrer Folgetherapeutin<br />
so lange zugesetzt wurde, bis sie ihren Thera‐<br />
peuten vor Gericht entlastete und prompt<br />
wieder in ein Verhältnis mit dem Mann rutsch‐<br />
te. Sie brauchte vier Monate in einer Klinik, bis<br />
sie wie‐der Lebensfreude empfinden konnte.<br />
„Man muss den Täter zwingen, Verantwor‐<br />
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MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />
tung zu über‐nehmen, seine eigenen Traumata<br />
aufzuarbeiten. Ich habe zu lange gedacht, ich<br />
könnte ihn mit meiner kindlichen Liebe heilen,<br />
aber das ist Schwachsinn.”<br />
Monika Becker‐Fischer, Gottfried Fischer: Sexuelle Übergriffe<br />
in Psychotherapie und Psychiatrie, Asanger Verlag 2008, 222<br />
Seiten<br />
Bei Befragungen von Psychotherapeuten, ob sie in ihrem Leben je<br />
sexuelle Kontakte zu Patienten hatten, bejahen das rund zwölf<br />
Prozent der männlichen Therapeuten und etwa drei Prozent der<br />
weiblichen Therapeuten, so die Psychotherapeutin Monika Becker-<br />
Fischer. US-Haftpflichtversicherer schätzen, dass rund 20 Prozent<br />
der Therapeuten mindestens einmal in ihrer Laufbahn sexuelle Intimitäten<br />
mit Patienten aufnehmen. „Wir gehen davon aus, dass<br />
mindestens zehn bis 20 Prozent der Patientinnen mindestens einmal<br />
Opfer von sexuellem Missbrauch sind”, so Becker-Fischer. 90<br />
Prozent der missbrauchen-den Therapeuten seien Männer. In einer<br />
Studie der Psychologin Christiane Eichenberg, die auf der Forschung<br />
Becker-Fischers fußt, gaben fast 30 Prozent der Befragten<br />
an: „Die Täter waren Frauen.”<br />
Fast immer seien die Täter selbst traumatisiert. Hier gibt es<br />
zwei Tätertypen:<br />
Rache steht bei einem Teil der Täter im Vordergrund: „Er<br />
wehrt sein Kindheitstrauma ab, indem er sich mit dem damaligen<br />
Täter identifiziert und schützt sich so vor der Erinnerung an die<br />
eigene Hilflosigkeit und Ohnmacht”, so Becker-Fischer. Ihn beherrsche<br />
die Wunschphantasie des Allmächtigen, der nie in eine verletzende<br />
Lage geraten kann. Deshalb meidet er intensivere Beziehungen.<br />
Eichenberg zufolge neigt er zu Gewalt.<br />
Der Wunscherfüllungstypus verwickelt die Patientin in eine<br />
exklusive Zweierbeziehung und teilt mit ihr die Phantasie, dass<br />
nur er sie retten kann. Im Gegenzug rutscht er allmählich selbst in<br />
die Rolle des Hilfsbedürftigen und macht die Patientin zu seinem<br />
Rettungsengel - sexuelle Hilfeleistung inbegriffen.<br />
Nicht immer müssen laut Becker-Fischer Traumata bei den<br />
Tätertherapeuten zugrunde liegen: Machtbedürfnisse, sadistische<br />
Neigungen oder auch Naivität und Unerfahrenheit seien in einzelnen<br />
Fällen Hintergrund der Taten.<br />
Mit Haft bis zu fünf Jahren können Therapeuten belegt werden,<br />
die sexuelle Kontakte mit Patienten haben. Das steht seit 1998<br />
im Strafgesetzbuch. Eichenbergs Studie belegt: „Die meisten Betroffenen<br />
wissen nichts von dem Gesetz.”<br />
Missbrauch in der Therapie muss dringend in den Lehrplan<br />
der Psychotherapeuten-Ausbildung, fordert Eichenberg. An Beispielen<br />
müsse Patienten per Handzettel klar gemacht werden, welches<br />
Verhalten unethisch und welches in Ordnung sei. Auch fehle in<br />
Deutschland eine Anlaufstelle nach dem Vorbild der Lizenzbehörden<br />
in den USA. fra<br />
Eine Infobroschüre gibt es im Internet: www.<br />
bmfsfj.de/Kategorien/Publikationen/Publikationen,did=25588.html<br />
Aus: Frankfurter Rundschau vom<br />
23.‐24. Januar 2010, S.14‐15.<br />
‒ Pierre‐Henri Castel: Krankheit des Geistes<br />
Manche reduzieren den Wahnsinn auf eine neuronale<br />
Disfunktion. Andere sehen sie in Beziehung zur Macht. Einen dritten<br />
Weg schlägt Pierre-Henri Castel in einem subtilen Essai vor.<br />
Pierre‐Henri Castel: L’Esprit malade ‒ Cerveaux, folies, indivi‐<br />
dus, Paris (Ithaque «Philosophie, anthropologie, psychologie»)<br />
2010, 353 S., 25 Euro<br />
Das neue Buch des Philosophen und Psy‐<br />
choanalytikers Pierre‐Henri Castel leitet eine<br />
neue Reihe im Verlag Ithaque ein, und zwar in<br />
jeglicher Beziehung: es ist hierzu das erste<br />
Werk, doch man könnte auch glauben, dass es<br />
den Beginn eines neuen Stils in der französi‐<br />
schen Philosophie des Geistes ankündigt. Zu‐<br />
nächst allerdings scheint diese Essai‐<br />
Sammlung mit dem Titel L’Esprit malade nur