Mitglieder-Brief Nr. 85 19. März 2009 - freudlacan
Mitglieder-Brief Nr. 85 19. März 2009 - freudlacan
Mitglieder-Brief Nr. 85 19. März 2009 - freudlacan
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
elle Evolution? Das menschliche Gehirn ist<br />
der Hauptakteur, und dieses ist genau durch<br />
eine ständige Aktivität charakterisiert, einen<br />
Sinn auf die es umgebende Welt zu projizie‐<br />
ren, auch wenn es sich dabei oft, um die Aus‐<br />
drucksweise von Godelier aufzugreifen, um<br />
nicht validierbare Abstraktionen durch die täg‐<br />
liche Praxis handelt. Es gibt eine Überproduk‐<br />
tion des Sinns durch das menschliche Gehirn,<br />
und von dieser Tatsache her die Notwendig‐<br />
keit einer Selektion. Die ʺBlindheitʺ der kultu‐<br />
rellen Evolution hängt meines Erachtens damit<br />
zusammen, dass die durch die <strong>Mitglieder</strong> der<br />
sozialen Gruppe getroffene Auswahl (Selekti‐<br />
on) die konkrete Realität des individuellen<br />
Überlebens mit der Referenz auf ein nicht<br />
überprüfbares Symbolisches vermischt, das<br />
von einer Kultur zur anderen zu variieren<br />
vermag. Von daher die interkulturellen Kon‐<br />
flikte und die vielfältigen Veränderungen des<br />
gemeinschaftlichen Lebens. Von daher auch<br />
die von mir gemachten Vorschläge, diese Kon‐<br />
flikte zu überwinden und auf eine harmoni‐<br />
schere Allgemeinheit abzuzielen. Ich bin nicht<br />
so sehr an den ʺEndsieg des Sinnsʺ gebunden<br />
als an einen bescheidenen Beitrag des ʺgesun‐<br />
den Menschenverstandesʺ zugunsten einer<br />
harmonischen Zukunft der Menschheit ... und<br />
ich denke, dass die Kunstwerke ein allgemein‐<br />
gültigeres und trächtigeres Formenuniversum<br />
darstellen als jede andere kulturelle Repräsen‐<br />
tation.<br />
C.M.: Was trägt der neuro‐ästhetische Gesichts‐<br />
punkt zum Kunstwerk bei?<br />
J.‐P.C.: Ein besseres Verständnis dessen,<br />
was das Kunstwerk ist und was es repräsen‐<br />
tiert. Das erscheint mir ganz selbstverständlich<br />
zu sein!<br />
C.M.: Was bedeutet für Sie das ʺSammelnʺ? Kön‐<br />
nen Sie von Ihrer Sammler‐Erfahrung sprechen<br />
und sie zu Ihrer wissenschaftlichen Praxis in Be‐<br />
ziehung setzen?<br />
J.‐P.C.: Ich habe seit meiner frühesten Ju‐<br />
gend zuerst, wie alle Kinder, <strong>Brief</strong>marken ge‐<br />
sammelt, dann Insekten, Pflanzen und Fossi‐<br />
lien... Ich glaube, dass das eine sehr wirkungs‐<br />
volle Art ist, die uns umgebende Welt im De‐<br />
tail zu kennen, in dem Maße natürlich, dass es<br />
sich dabei nicht einfach um eine zwanghafte<br />
Tätigkeit handelt. So lernt man auf rationale<br />
und systematische Weise ‐ und auf der Basis<br />
von bestimmten Kriterien ‐ zu klassifizieren<br />
und zu organisieren. Das ist ein erster Versuch<br />
von wissenschaftlicher Praxis gewesen, der<br />
53<br />
MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />
mich überdies als Heranwachsen‐der mit den<br />
Forschern des naturgeschichtlichen Museums<br />
in Kontakt gebracht hat und mich soz. auf die<br />
Ochsentour der biologischen Forschung ge‐<br />
bracht hat.<br />
Schlussfolgerung<br />
C.M.: Glauben Sie an eine neue interdisziplinäre<br />
Zusammenarbeit (von Biologie, Neurowissenschaft,<br />
den Wissenschaften vom Menschen, der Gesell‐<br />
schaft und der Geschichte der Zivilisationen) und<br />
was sollte sie versuchen auszuarbeiten?<br />
J.‐P.C.: Das ist nicht eine Glaubensangele‐<br />
genheit, sondern eine feste Überzeugung. Ich<br />
betrachte es als unbedingt erforderlich, das<br />
Ideal der ʺEnzyklopädieʺ wieder aufzunehmen<br />
und zu erneuern, indem man gegen die Auf‐<br />
spaltungen der Disziplinen, bei gleichzeitiger<br />
Respektierung ihrer Besonderheiten, kämpft.<br />
Ich mag das Wort ʺinter‐disziplinärʺ nicht und<br />
spreche lieber von ʺPluriʺ‐Disziplinarität. Es ist<br />
unbedingt erforderlich, jede Disziplin an den<br />
Wissensfortschritten in den anderen Wissens‐<br />
bereichen teilhaben zu lassen. Man muss eine<br />
Einheit des Wissens konstruieren und ständig<br />
weiterentwickeln lassen. Ich glaube nicht, dass<br />
man an einen dauerhaften Frieden unter den<br />
Menschen denken kann ohne diese fundamen‐<br />
tale Bedingung.<br />
Aus: La Quinzaine littéraire vom 15.‐31. Ok‐<br />
tober <strong>2009</strong>, S.4‐6. – Aus dem Französischen<br />
von Thomas Mahlow, Heilmannstr. 9 c, 81479<br />
München.<br />
Herzlichen Dank für das Auffinden des Artikels und für die<br />
Übersetzungsmühe! d.sekr.<br />
‒ Pädagogik und Hirnforschung<br />
Das Kind als Aktenordner<br />
Können Pädagogen von Hirnforschern lernen?<br />
Mancher Erziehungswissenschaftler sagt. Nein!<br />
Von Walter Schmidt<br />
Der Versuch, einer Waschmaschine das<br />
Würstchen‐Grillen beizubringen, scheitert in<br />
aller Regel. Ihre Speicherchips enthalten dafür<br />
einfach kein taugliches Programm. Ist der Job<br />
des Lehrers ähnlich aussichtslos, wenn er Kin‐<br />
dern und Heranwachsenden et‐was beibringen<br />
will? Ist es dann nicht oft schon viel zu spät?<br />
Sind die Schüler‐Hirne dann nicht bereits so<br />
stark vorgeprägt und Nervenverschaltungen<br />
so fest fixiert, dass die Würfel längst gefallen<br />
sind? Längst festgelegt ist, ob das einzelne<br />
Kind wissbegierig, lernbereit und also ausrei‐<br />
chend motiviert ist, Anregungen als Heraus‐<br />
forderungen wahrzunehmen?