Mitglieder-Brief Nr. 85 19. März 2009 - freudlacan
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abgewiesen: dem Gericht ist nicht bewiesen,<br />
dass der Tod der Antigone, des Haimon (und<br />
auch der Eurydike deren Tod hier nicht Ge‐<br />
genstand der Anklage war) unmittelbar dem<br />
Angeklagten zur Last gelegt werden kann: die<br />
genannten Personen verloren ihr Leben durch<br />
Suizid, der im modernen Recht selbst keine<br />
strafwürdige Tat darstellt 35 ; eine moralische<br />
Schuld könnte dem Angeklagten höchstens<br />
dann zugesprochen werden, wenn er die ge‐<br />
nannten Personen außer vielleicht Antigone<br />
durch seine Handlungen zum Selbstmord<br />
getrieben hat; doch eine Schuld im Sinne eines<br />
Verstoßes gegen das StGB liegt nicht vor.<br />
D) Die Anklage wegen Verstoßes gegen<br />
das Bestattungsgesetz gemäß §§ 167‐168 StGB<br />
ist im vollen Sinne zu bejahen: die Totenruhe,<br />
d.h. die ordentliche Bestattung einer Leiche ist<br />
zu gewährleisten. Dabei handelt es sich heute<br />
nicht mehr um eine göttliches, sondern um ein<br />
menschliches Gebot, das unter allen Umstän‐<br />
den einzuhalten ist (Hygiene. Ansteckung, To‐<br />
tenruhe usf.). Dennoch ist das Gericht zu dem<br />
Ergebnis gekommen, dass die persönlichen<br />
Verluste, die der Angeklagte erlitten hat Tod<br />
der Gattin, Tod des Sohnes so groß sind, dass<br />
von einer Bestrafung abgesehen werden kann:<br />
der Angeklagte ist nach seinen eigenen Aussa‐<br />
gen (siehe oben) genug bestraft.<br />
Festzustellen ist insgesamt, dass gegen‐<br />
über den Aussagen in der Tragödie die münd‐<br />
lichen Vernehmungen des Angeklagten eine<br />
gewisse Verschiebung, um nicht zu sagen:<br />
Verhärtung zu erkennen gegeben haben; es ist<br />
zu hoffen, dass hier eine Belehrung durch das<br />
Gericht dem Angeklagten für die Zukunft hilf‐<br />
reich sein kann: Die einsichtslose Verabsolutie‐<br />
rung staatlichen Rechts ruft unweigerlich das<br />
„andere Recht“ auf den Plan; das hat der blin‐<br />
de Teiresias treffend und ironisch formuliert:<br />
35 Wie Cellist Miller in Friedrich Schillers „Kabale und Liebe“<br />
treffend formuliert, ist der Selbstmord nicht strafwürdig, weil<br />
ja „Tod und Missetat zusammenfallen“. Dennoch soll nicht<br />
verschwiegen werden, dass eben dieser Selbstmord früher<br />
strafbar war; so nach dem nach § 90 des österreichischen Gesetzes<br />
über schwere Polizeiübertretungen: „Bei vollbrachtem<br />
Selbstmorde soll der Körper blos von einer Wache begleitet,<br />
außer dem Leichenhof durch gerichtliche Diener verscharrt<br />
werden.“ (Pidde, S.66) Auch das kanonische Recht verweigert<br />
dem Selbstmörder die Ruhe in geweihter Erde (s. c. 9-12 c.23<br />
qu.5, cap. 11.12. X de sepult.). Und selbst das preußische Landrecht<br />
forderte noch: „Ist bereits ein Strafurtheil ergangen, so<br />
soll dasselbe, soweit möglich, anständig und zur Abschreckung<br />
dienlich am todten Körper vollzogen werden.“ (§ 803) (Pidde.<br />
ebda) Das Gericht kann sich allerdings Gedankengänge in<br />
dieser Richtung ersparen, sowohl weil der Bezug zum Christentum<br />
im vorliegenden Drama abwegig ist als auch diese Regelungen<br />
nicht ins Strafgesetzbuch Eingang gefunden haben.<br />
57<br />
MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />
„Nur Eigensinn verfällt der Schuld des Unver‐<br />
stands. Gib nach dem Warner: stich nach dem<br />
Erschlagnen nicht! Den Toten nochmals töten <br />
welcher Heldenmut!“ (1028‐1030) Es sei Kreon<br />
eine Warnung, dass die Tat, die er dem Ande‐<br />
ren zugedacht hat (d.h. den nochmaligen Tod),<br />
gerade ihn zuletzt selbst trifft (vgl. „Dem To‐<br />
ten gabst du nochmals den Tod.“ 1288).<br />
Ein weiteres Problem, das hier zur Spra‐<br />
che kam, aber nicht juristisch zu bewerten war,<br />
besteht darin, dass ein gewisser Verdacht auf‐<br />
kommen konnte, dass die Annahme des Kö‐<br />
nigsamtes sowie dessen Ausübung wohl nicht<br />
so selbstlos zum „Wohle des Staates“ diente,<br />
wie das bei der Vernehmung bekundet wor‐<br />
den ist: einerseits stellt sich durchaus die Fra‐<br />
ge, warum Kreon das Amt des vertriebenen<br />
Bruders Ödipus übernommen hat, obgleich es<br />
leibliche Erben des vormaligen Königs gibt<br />
(Ismene und Antigone; vgl.: „Sehet, ihr Edlen<br />
aus Thebens Volk, die letzte, die blieb vom<br />
Königsgeschlecht!“ (940f.)); die Begründung,<br />
dass das Königtum nicht in weiblicher Linie<br />
vererbbar sei, lässt sich zwar für die Vergan‐<br />
genheit begründen, nicht aber für die Zukunft:<br />
das Volk und der Senat Thebens hätten durch‐<br />
aus die Möglichkeit gehabt, eine weibliche<br />
Thronfolgeregelung zu schaffen, wenn Kreon<br />
das Amt abgelehnt hätte. Vielleicht war aber<br />
auch Kreon nicht von einer gewissen Macht‐<br />
gier frei, die seiner Enttäuschung entstammt,<br />
dass er nach dem Tod des Königs Laios nicht<br />
sogleich selbst zum König ausgerufen wurde<br />
und Ödipus, der „Fremde“ also, vorgezogen<br />
wurde. Jedenfalls scheint die Unbarmherzig‐<br />
keit seines Handelns gegenüber den Kindern<br />
des Ödipus zu zeigen, dass auch ein Ressenti‐<br />
ment gegenüber dem Rivalen (Ödipus) um<br />
den Thron weiter bestand und an dessen Kin‐<br />
dern abreagiert worden zu sein scheint; wie<br />
sonst wäre sein Generalverdacht gegenüber<br />
Ismene zu erklären: „Du, die im Haus wie eine<br />
Schlange mich beschlich und heimlich aussog!<br />
Und ich habe nicht gemerkt, dass ich zwei<br />
Schäden nährte zum Verderb des Throns! Nun<br />
sprich! Bekenne, dass auch du bei diesem Grab<br />
geholfen! Oder schwörst du, dass du nichts<br />
gewusst?“ (531‐535) Vgl. auch: „Die beiden<br />
Mädchen sind wahnsinnig; eine ward es eben<br />
jetzt, die andre war’s von Anfang an.“ (561f.)<br />
Auch ließ Kreon Antigone ein Ressentiment<br />
gegenüber der Verwandten spüren, das darauf<br />
verweist, dass das Ressentiment gegenüber<br />
Ödipus und dessen Kinder bei Weitem noch