02.03.2013 Aufrufe

Mitglieder-Brief Nr. 85 19. März 2009 - freudlacan

Mitglieder-Brief Nr. 85 19. März 2009 - freudlacan

Mitglieder-Brief Nr. 85 19. März 2009 - freudlacan

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

abgewiesen: dem Gericht ist nicht bewiesen,<br />

dass der Tod der Antigone, des Haimon (und<br />

auch der Eurydike deren Tod hier nicht Ge‐<br />

genstand der Anklage war) unmittelbar dem<br />

Angeklagten zur Last gelegt werden kann: die<br />

genannten Personen verloren ihr Leben durch<br />

Suizid, der im modernen Recht selbst keine<br />

strafwürdige Tat darstellt 35 ; eine moralische<br />

Schuld könnte dem Angeklagten höchstens<br />

dann zugesprochen werden, wenn er die ge‐<br />

nannten Personen außer vielleicht Antigone<br />

durch seine Handlungen zum Selbstmord<br />

getrieben hat; doch eine Schuld im Sinne eines<br />

Verstoßes gegen das StGB liegt nicht vor.<br />

D) Die Anklage wegen Verstoßes gegen<br />

das Bestattungsgesetz gemäß §§ 167‐168 StGB<br />

ist im vollen Sinne zu bejahen: die Totenruhe,<br />

d.h. die ordentliche Bestattung einer Leiche ist<br />

zu gewährleisten. Dabei handelt es sich heute<br />

nicht mehr um eine göttliches, sondern um ein<br />

menschliches Gebot, das unter allen Umstän‐<br />

den einzuhalten ist (Hygiene. Ansteckung, To‐<br />

tenruhe usf.). Dennoch ist das Gericht zu dem<br />

Ergebnis gekommen, dass die persönlichen<br />

Verluste, die der Angeklagte erlitten hat Tod<br />

der Gattin, Tod des Sohnes so groß sind, dass<br />

von einer Bestrafung abgesehen werden kann:<br />

der Angeklagte ist nach seinen eigenen Aussa‐<br />

gen (siehe oben) genug bestraft.<br />

Festzustellen ist insgesamt, dass gegen‐<br />

über den Aussagen in der Tragödie die münd‐<br />

lichen Vernehmungen des Angeklagten eine<br />

gewisse Verschiebung, um nicht zu sagen:<br />

Verhärtung zu erkennen gegeben haben; es ist<br />

zu hoffen, dass hier eine Belehrung durch das<br />

Gericht dem Angeklagten für die Zukunft hilf‐<br />

reich sein kann: Die einsichtslose Verabsolutie‐<br />

rung staatlichen Rechts ruft unweigerlich das<br />

„andere Recht“ auf den Plan; das hat der blin‐<br />

de Teiresias treffend und ironisch formuliert:<br />

35 Wie Cellist Miller in Friedrich Schillers „Kabale und Liebe“<br />

treffend formuliert, ist der Selbstmord nicht strafwürdig, weil<br />

ja „Tod und Missetat zusammenfallen“. Dennoch soll nicht<br />

verschwiegen werden, dass eben dieser Selbstmord früher<br />

strafbar war; so nach dem nach § 90 des österreichischen Gesetzes<br />

über schwere Polizeiübertretungen: „Bei vollbrachtem<br />

Selbstmorde soll der Körper blos von einer Wache begleitet,<br />

außer dem Leichenhof durch gerichtliche Diener verscharrt<br />

werden.“ (Pidde, S.66) Auch das kanonische Recht verweigert<br />

dem Selbstmörder die Ruhe in geweihter Erde (s. c. 9-12 c.23<br />

qu.5, cap. 11.12. X de sepult.). Und selbst das preußische Landrecht<br />

forderte noch: „Ist bereits ein Strafurtheil ergangen, so<br />

soll dasselbe, soweit möglich, anständig und zur Abschreckung<br />

dienlich am todten Körper vollzogen werden.“ (§ 803) (Pidde.<br />

ebda) Das Gericht kann sich allerdings Gedankengänge in<br />

dieser Richtung ersparen, sowohl weil der Bezug zum Christentum<br />

im vorliegenden Drama abwegig ist als auch diese Regelungen<br />

nicht ins Strafgesetzbuch Eingang gefunden haben.<br />

57<br />

MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />

„Nur Eigensinn verfällt der Schuld des Unver‐<br />

stands. Gib nach dem Warner: stich nach dem<br />

Erschlagnen nicht! Den Toten nochmals töten <br />

welcher Heldenmut!“ (1028‐1030) Es sei Kreon<br />

eine Warnung, dass die Tat, die er dem Ande‐<br />

ren zugedacht hat (d.h. den nochmaligen Tod),<br />

gerade ihn zuletzt selbst trifft (vgl. „Dem To‐<br />

ten gabst du nochmals den Tod.“ 1288).<br />

Ein weiteres Problem, das hier zur Spra‐<br />

che kam, aber nicht juristisch zu bewerten war,<br />

besteht darin, dass ein gewisser Verdacht auf‐<br />

kommen konnte, dass die Annahme des Kö‐<br />

nigsamtes sowie dessen Ausübung wohl nicht<br />

so selbstlos zum „Wohle des Staates“ diente,<br />

wie das bei der Vernehmung bekundet wor‐<br />

den ist: einerseits stellt sich durchaus die Fra‐<br />

ge, warum Kreon das Amt des vertriebenen<br />

Bruders Ödipus übernommen hat, obgleich es<br />

leibliche Erben des vormaligen Königs gibt<br />

(Ismene und Antigone; vgl.: „Sehet, ihr Edlen<br />

aus Thebens Volk, die letzte, die blieb vom<br />

Königsgeschlecht!“ (940f.)); die Begründung,<br />

dass das Königtum nicht in weiblicher Linie<br />

vererbbar sei, lässt sich zwar für die Vergan‐<br />

genheit begründen, nicht aber für die Zukunft:<br />

das Volk und der Senat Thebens hätten durch‐<br />

aus die Möglichkeit gehabt, eine weibliche<br />

Thronfolgeregelung zu schaffen, wenn Kreon<br />

das Amt abgelehnt hätte. Vielleicht war aber<br />

auch Kreon nicht von einer gewissen Macht‐<br />

gier frei, die seiner Enttäuschung entstammt,<br />

dass er nach dem Tod des Königs Laios nicht<br />

sogleich selbst zum König ausgerufen wurde<br />

und Ödipus, der „Fremde“ also, vorgezogen<br />

wurde. Jedenfalls scheint die Unbarmherzig‐<br />

keit seines Handelns gegenüber den Kindern<br />

des Ödipus zu zeigen, dass auch ein Ressenti‐<br />

ment gegenüber dem Rivalen (Ödipus) um<br />

den Thron weiter bestand und an dessen Kin‐<br />

dern abreagiert worden zu sein scheint; wie<br />

sonst wäre sein Generalverdacht gegenüber<br />

Ismene zu erklären: „Du, die im Haus wie eine<br />

Schlange mich beschlich und heimlich aussog!<br />

Und ich habe nicht gemerkt, dass ich zwei<br />

Schäden nährte zum Verderb des Throns! Nun<br />

sprich! Bekenne, dass auch du bei diesem Grab<br />

geholfen! Oder schwörst du, dass du nichts<br />

gewusst?“ (531‐535) Vgl. auch: „Die beiden<br />

Mädchen sind wahnsinnig; eine ward es eben<br />

jetzt, die andre war’s von Anfang an.“ (561f.)<br />

Auch ließ Kreon Antigone ein Ressentiment<br />

gegenüber der Verwandten spüren, das darauf<br />

verweist, dass das Ressentiment gegenüber<br />

Ödipus und dessen Kinder bei Weitem noch

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!