Mitglieder-Brief Nr. 85 19. März 2009 - freudlacan
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Deutschland lockt. Mit der stolzen Summe von<br />
3,5 Millionen Euro über fünf Jahre ist die<br />
Humboldt‐Professur dotiert. Es ist ein großer<br />
Gewinn für die Universität Mannheim. Deren<br />
VWL‐Dekan Enno Mannen freut sich, nun ge‐<br />
linge „der Sprung in die Gruppe der führen‐<br />
den Zentren für empirische Wirtschaftsfor‐<br />
schung und Ökonometrie”. Aber es sei auch<br />
eine neue Erfahrung. „Die Uni muss sich erst<br />
einmal daran gewöhnen, dass es da jetzt eine<br />
Person mit sehr viel Geld und ohne Lehrver‐<br />
pflichtung gibt”, sagt van den Berg [Mann‐<br />
heim‐Karlsruhe‐Frankfurt am Main]. Seine ers‐<br />
te Professur erhielt er 1996 an der Freien Uni‐<br />
versität Amsterdam. Seitdem hat er sich inter‐<br />
national einen Ruf als stark mathematisch und<br />
empirisch ausgerichteter Ökonom gemacht.<br />
Nun ist er in Mannheim angekommen. Mit<br />
dem vielen Geld plant der Arbeitsmarktfor‐<br />
scher, einige „Post‐Docs” — also promovierte<br />
Mitarbeiter — einzustellen und zudem „ganz<br />
viele Daten einzukaufen”. Die Daten sind Basis<br />
großangelegter ökonometrischer Studien. Van<br />
den Berg hat dabei zwei Forschungsschwer‐<br />
punkte: die Wirkung von aktiver Arbeits‐<br />
marktpolitik und der Zusammenhang zwi‐<br />
schen Arbeitslosigkeit und Gesundheit der Be‐<br />
völkerung. So hat er nachgewiesen, dass Men‐<br />
schen, die in einer Rezession geboren wurden,<br />
ein signifikant höheres Risiko von Herzkrank‐<br />
heiten haben. Gründe dafür sind die schlechte‐<br />
re Ernährung und die schlechtere Hygiene in<br />
wirtschaftlich harten Zeiten. „Zudem verur‐<br />
sacht die Sorge der Eltern um ihren Job einen<br />
starken Stress den die Kinder offenbar schon<br />
vor der Geburt mitbekommen.” Rezessions‐<br />
kinder haben noch siebzig Jahre später ein<br />
deutlich höheres Herzinfarktrisiko oder leiden<br />
häufiger unter Kreislaufschwierigkeiten.<br />
Van den Bergs ökonometrische Studien zur<br />
Wirkung der deutschen Arbeitsmarktpolitik<br />
brachten ernüchternde Ergebnisse: „Die meis‐<br />
ten Maßnahmen des Staates funktionieren lei‐<br />
der nicht gut”, sagt er. Die Milliarden, die der<br />
Staat für Fortbildungskurse ausgibt, haben nur<br />
wenig direkte Effekte. In puncto Qualifikation<br />
bringen sie fast nichts, ergaben van den Bergs<br />
Untersuchungen. Es gibt aber unerwartete Ne‐<br />
benwirkungen: Hatten sie die Aussicht, an ei‐<br />
nem Kurs teilnehmen zu müssen, so beschleu‐<br />
nigte dies die Suche der Arbeitslosen nach ei‐<br />
ner Stelle. „Viele Leute haben offenbar keine<br />
Lust, noch mal einige Wochen in die Schule zu<br />
gehen, da suchen sie lieber intensiver nach ei‐<br />
45<br />
MB der AFP <strong>Nr</strong>. <strong>85</strong>/<strong>März</strong> 2010<br />
nem Job.” Ein fragwürdiger Erfolg, findet der<br />
Ökonom.<br />
PHILIP PLICKERT<br />
Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23,<br />
November <strong>2009</strong>.<br />
[Vgl. dazu auch oben: Medienschau, Abschnitt<br />
SOCIOLOGICA; d.sekr.]<br />
6.<br />
Jacques Lacan<br />
Welche Funktionen kann die Psychoanalyse<br />
in der Kriminologie erfüllen?<br />
Eine theoretische Einführung<br />
(1950) (I‐II)<br />
Vortrag auf der XIII. Konferenz der französisch‐<br />
sprachigen Psychoanalytiker (29. Mai 1950) in<br />
Zusammenarbeit mit Michel Cénac<br />
I. Auf dem Weg zur Wahrheit in den Humanwis‐<br />
senschaften<br />
Die Naturwissenschaften haben ihrer Theo‐<br />
rie nach niemals die Forderung nach ihrer in‐<br />
neren Kohärenz aufgegeben; dieses Ansinnen<br />
ist auch die Bedingung des Wegs der Erkennt‐<br />
nis selbst. Deshalb vermögen auch die Hu‐<br />
manwissenschaften der Frage nach ihrem Sinn<br />
nicht auszuweichen: sie können auch nicht da‐<br />
von absehen, dass die Antwort darauf sich der<br />
Frage der Wahrheit stellen muss; denn sie sind<br />
Teil des wirklichen Verhaltens ihres For‐<br />
schungsgegenstands.<br />
Dass die menschliche Wirklichkeit den Pro‐<br />
zess dieser Enthüllung in sich trägt, ist der<br />
Grund, weshalb einige Philosophen den Ge‐<br />
schichtsprozess als eine der Materie einge‐<br />
schriebenen Dialektik ansehen; kein «behavio‐<br />
ristisches» Schutzritual des Subjekts gegenüber<br />
seinem Forschungsgegenstand kann dieser<br />
Wahrheit diesen schöpferischen und vergäng‐<br />
lichen Stachel nehmen; jeder Wissenschaftler,<br />
der sich der «reinen» Erkenntnis verpflichtet<br />
sieht, zeichnet sich in allererster Linie durch<br />
seine Verantwortung hinsichtlich dieser<br />
Wahrheit aus.<br />
Niemand weiß das besser als der Psycho‐<br />
analytiker; im Wissen um das, was ihm sein<br />
Subjekt anvertraut, und in der Technik der Be‐<br />
handlung von konditionierten Verhaltenswei‐<br />
sen, übt er sein Handwerk aus auf der Basis<br />
der Erkenntnis, dass die Wahrheit allein Wir‐<br />
kung zeitigt.<br />
Ist aber die Suche nach Wahrheit anderer‐<br />
seits auf dem Gebiet der Jurisprudenz nicht