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Foto: Annette Breuel<br />
2 <strong><strong>Mainz</strong>er</strong> <strong>Neustadt</strong>-Anzeiger · Januar 2013<br />
Stolpern im Kopf und im Herzen<br />
Die Stolperstein-AG <strong>de</strong>s Frauenlob-Gymnasiums<br />
Am 9. November 2012 stellten einige Schülerinnen die Arbeit <strong>de</strong>r FLG-AG in <strong>de</strong>r Synagoge vor, hier<br />
zusammen mit <strong>de</strong>m ehemaligen FLG-Lehrer Reinhard Frenzel, <strong>de</strong>r das Projekt mit angestoßen hat,<br />
rechts Lehrerin Mechthild Frey.<br />
(ldm) „Hier holte Rosemarie Oppenheimer geb.<br />
1924 ihre große Schwester von <strong>de</strong>r Schule ab.<br />
Rosemarie wur<strong>de</strong> am 24.9.1943 in Auschwitz<br />
ermor<strong>de</strong>t.“<br />
Diese Inschrift auf einem gelben Zettel<br />
haben Schüler <strong>de</strong>s Frauenlob-Gymnasiums<br />
(FLG) in einer Plastikhülle auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n im<br />
Schuleingang geklebt. Damit wollen sie auf<br />
eine Arbeitsgemeinschaft aufmerksam machen,<br />
die seit diesem Schuljahr 2011/2012 das<br />
Schicksal ehemaliger Schülerinnen erforscht,<br />
die in <strong>de</strong>r Zeit <strong>de</strong>s Nationalsozialismus verfolgt<br />
und ermor<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>n. Auch an an<strong>de</strong>ren Stellen<br />
im Schulgebäu<strong>de</strong> fin<strong>de</strong>n sich ähnliche Zettel im<br />
Stil <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>m Kölner Künstler Gunter<br />
Demnig gestalteten Stolpersteine.<br />
Seit zwanzig Jahren setzt sich Demnig<br />
dafür ein, mit kleinen, quadratischen Steinen,<br />
die oben mit einer beschrifteten Messingplatte<br />
versehen sind, an das Schicksal von NS-Opfern<br />
zu erinnern. Die Ge<strong>de</strong>nksteine wer<strong>de</strong>n meistens<br />
vor <strong>de</strong>r letzten frei gewählten Wohnung in <strong>de</strong>n<br />
Gehweg eingelassen. In etwa 750 <strong>de</strong>utschen<br />
und europäischen Städten gibt es bereits über<br />
35.000 solcher Steine, womit sich das Projekt<br />
zum weltweit größten <strong>de</strong>zentralen Mahnmal<br />
entwickelt hat. Auch in <strong>Mainz</strong> sind schon an<br />
15 verschie<strong>de</strong>nen Stellen, in <strong>Mainz</strong>-Kastel an<br />
vier Orten, Stolpersteine zu sehen. Da die<br />
Steine bündig in das Pflaster eingelassen sind,<br />
besteht natürlich keine Gefahr, dass irgendjemand<br />
hinfällt. Das Stolpern soll ja „im Kopf<br />
und im Herzen“ passieren, darauf aufmerksam<br />
Auszug aus <strong>de</strong>r HMS-Klassenliste <strong>de</strong>s Schuljahrs 1933/34<br />
machen, dass hier jemand gewohnt hat, <strong>de</strong>r<br />
grausam verfolgt und <strong>de</strong>ssen Leben durch <strong>de</strong>n<br />
nationalsozialistischen Rassewahn zerstört<br />
wur<strong>de</strong>.<br />
Auf Initiative <strong>de</strong>s ehemaligen Geschichtslehrers<br />
Reinhard Frenzel am FLG und <strong>de</strong>s<br />
<strong><strong>Mainz</strong>er</strong> Vereins für Sozialgeschichte hat sich<br />
die Stolperstein-AG am FLG zum Ziel gesetzt,<br />
möglichst Anfang nächsten Jahres 18 neue<br />
Stolpersteine in <strong>Mainz</strong> verlegen zu lassen, die<br />
an das Schicksal ehemaliger Schülerinnen <strong>de</strong>s<br />
FLG erinnern. Bis dahin bedarf es jedoch<br />
mühe v oller Kleinarbeit. Bisher bemühen sich<br />
acht Schülerinnen <strong>de</strong>r neunten und zehnten<br />
Klasse, möglichst viel über das Leben <strong>de</strong>r<br />
Schülerinnen in Erfahrung zu bringen, die ab<br />
1933 plötzlich aus <strong>de</strong>n Klassenlisten verschwan<strong>de</strong>n.<br />
Neben diesen Klassenlisten sind<br />
ihre wichtigsten Informationsquellen die<br />
Jahresberichte <strong>de</strong>r jüdischen Gemein<strong>de</strong> in<br />
<strong>Mainz</strong>, die Belegungslisten <strong>de</strong>r so genannten<br />
„Ju<strong>de</strong>nhäuser“, Listen über die Deportation in<br />
Konzentrationslager und schließlich die Datenbank<br />
über die nationalsozialistische Ju<strong>de</strong>nvernichtung<br />
<strong>de</strong>r Ge<strong>de</strong>nkstätte Yad Vashem in<br />
Jerusalem.<br />
Die Originale <strong>de</strong>r Klassenlisten entgingen<br />
vor einigen Jahren durch Zufall <strong>de</strong>r Ver nichtung.<br />
Für je<strong>de</strong>s Schuljahr wur<strong>de</strong>n hier jeweils<br />
sämtliche Schülerinnen <strong>de</strong>r Höheren Mädchen-<br />
Schule (HMS), wie das Frauenlob-Gymnasium<br />
damals hieß, eingetragen, u. a. mit Namen,<br />
Geburtsdatum und -ort, Religion („ev.“, „kath.“<br />
o<strong>de</strong>r „isr.“), <strong>de</strong>n Noten aller Fächer und Ver -<br />
setzungsvermerk. Ab 1933 wur<strong>de</strong> dann außerhalb<br />
<strong>de</strong>r vorgedruckten Spalten eine neue<br />
Kategorie eingeführt: Am rechten Rand<br />
erscheint bei je<strong>de</strong>r Schülerin <strong>de</strong>r Eintrag „A“<br />
für arisch o<strong>de</strong>r „S“ für semitisch. Die Zeilen für<br />
mit „S“ gekennzeichnete Schülerinnen sind<br />
dann ohne weiteren Kommentar rot durchgestrichen.<br />
1934 wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>r israelitischen<br />
Gemein<strong>de</strong> in einem Nebengebäu<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Synagoge<br />
in <strong>de</strong>r Hin<strong>de</strong>nburgstraße eine jüdische<br />
Bezirksschule eingerichtet, um <strong>de</strong>n jüdischen<br />
Kin<strong>de</strong>rn, von <strong>de</strong>nen immer mehr die staatlichen<br />
Schulen verlassen mussten, eine Schulausbildung<br />
zu ermöglichen. Die Arbeit <strong>de</strong>r<br />
Bezirks schulen ist auch Thema <strong>de</strong>r jüdischen<br />
Jahresberichte.<br />
Ab Kriegsbeginn 1939 mussten die meisten<br />
Ju<strong>de</strong>n ihre eigenen Wohnungen und Häuser<br />
verlassen und wur<strong>de</strong>n in so genannte Ju<strong>de</strong>nhäuser<br />
eingewiesen. Unter an<strong>de</strong>rem war <strong>de</strong>r<br />
zivilrechtliche Kündigungsschutz für Ju<strong>de</strong>n<br />
aufgehoben wor<strong>de</strong>n, wovon mancher Vermieter<br />
gerne Gebrauch machte. In <strong>Mainz</strong> gab es solche<br />
Zwangsquartiere in <strong>de</strong>r Adam-Karrillon-<br />
Straße, Margaretengasse, Kaiserstraße, Frauenlobstraße<br />
und Taunusstraße.<br />
Vorletztes Kapitel <strong>de</strong>r grausamen Ver folgung<br />
war die Deportation in <strong>Mainz</strong> verbliebener<br />
Ju<strong>de</strong>n in Konzentrationslager, über die <strong>de</strong>r<br />
zum Mittelsmann zwischen <strong>de</strong>n NS-Offiziellen<br />
und <strong>de</strong>r jüdischen Bevölkerung eingesetzte<br />
Michel Oppenheim akribisch Buch zu führen<br />
hatte.<br />
Jenny und Celine erforschen das Schicksal <strong>de</strong>r<br />
Familie von Hannelore Baumgarten<br />
Vom 31. Oktober bis zum 8. November<br />
2011 informierte die Stolperstein-AG mit einer<br />
kleinen Ausstellung im ersten und zweiten<br />
Stock <strong>de</strong>s FLG über ihre bisherigen Arbeitsergebnisse.<br />
Kurzbiografien, Fotos und Dokumentenauszügen<br />
stellen das Schicksal u. a. <strong>de</strong>r<br />
Familien <strong>de</strong>r Schülerinnen Hannelore Baumgarten,<br />
Liesel Silber, Gisela Mannheimer o<strong>de</strong>r<br />
Aenne Hirsch dar. Zur Einordnung in <strong>de</strong>n historischen<br />
Rahmen wer<strong>de</strong>n eindrucksvoll die<br />
Phasen <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>nverfolgung von <strong>de</strong>r stufenweisen<br />
Ausgrenzung aus <strong>de</strong>m öffentlichen Leben<br />
und Entrechtung bis zur systematischen Vernichtung<br />
beschrieben. Sehr berührend ist die<br />
Geschichte von Johanna Sichel, einer langjährigen<br />
beliebten Lehrerin an <strong>de</strong>r HMS. Eine ihrer<br />
Schülerinnen an <strong>de</strong>r HMS war Netty Reiling,<br />
die sich später Anna Seghers nannte. (Ihrer<br />
Mutter Hedwig Reiling ist <strong>de</strong>r Stolperstein am<br />
Fischtorplatz 23 gewidmet.) In <strong>de</strong>r Erzählung<br />
„Der Ausflug <strong>de</strong>r toten Mädchen“ setzte Anna<br />
Seghers ihrer Lehrerin ein literarisches<br />
Denkmal. Johanna Sichel, geboren 1879 als<br />
Tochter einer jüdischen Familie mit zwölf<br />
Kin<strong>de</strong>rn, konvertierte 1919 zum Katholizismus.<br />
1933 wur<strong>de</strong> sie in Anwendung <strong>de</strong>s Gesetzes zur<br />
„Wie<strong>de</strong>rherstellung <strong>de</strong>s Berufsbeamtentums“<br />
aus <strong>de</strong>m Schuldienst entlassen, durfte als<br />
Konvertitin dann allerdings auch in <strong>de</strong>r jüdischen<br />
Bezirksschule nicht unterrichten, wur<strong>de</strong><br />
1942 nach Piaski <strong>de</strong>portiert und anschließend<br />
in einem Vernichtungslager ermor<strong>de</strong>t.<br />
In <strong>de</strong>r Arbeitsgemeinschaft haben jeweils<br />
zwei Schülerinnen die „Betreuung“ einer<br />
Familie übernommen, über die sie alle verfügbaren<br />
biografischen Details zusammentragen.<br />
Die Verifizierung eines teils aus sehr wenigen<br />
verfügbaren Mosaiksteinen zusammen gesetzten<br />
Gesamtbilds ist, so berichtet auch die<br />
betreuen<strong>de</strong> Lehrerin Mechthild Frey, ein mühsamer<br />
und mit <strong>de</strong>r einen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Enttäuschung<br />
verbun<strong>de</strong>ner Prozess. Nur für wenige<br />
<strong>de</strong>r jüdischen Schülerinnen gibt es so<br />
anschauliche und reichhaltige Informationen<br />
wie über Gerti Meyer-Jorgensen geb. Salomon.<br />
Ihre anrühren<strong>de</strong>n und spannen<strong>de</strong>n Lebenserinnerungen<br />
„Hier sind meine Wurzeln, hier<br />
bin ich zu Haus“ wur<strong>de</strong>n 2010 als Son<strong>de</strong>rheft<br />
<strong>de</strong>r <strong><strong>Mainz</strong>er</strong> Geschichtsblätter veröffentlicht.<br />
An das Schicksal ihres Vaters Fritz Salomon,<br />
<strong>de</strong>r 1939 freiwillig aus <strong>de</strong>m Leben schied, und<br />
ihrer Mutter Anny Salomon, die 1942 in<br />
Treblinka ermor<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>, erinnern zwei Stolpersteine<br />
vor <strong>de</strong>m Elternhaus Kaiser straße 37.<br />
Ziel <strong>de</strong>r Stolperstein-AG ist ein möglichst<br />
vollständiger biografischer Bericht über je<strong>de</strong><br />
„betreute“ Familie und die Verlegung eines<br />
Stolpersteins. Jenny und Celine, die sich <strong>de</strong>r<br />
Familie Baumgarten-Löwensberg widmen,<br />
waren schon ein paar Mal im Stadtarchiv, wo es<br />
u. a. alte Adressbücher gibt. Sie fin<strong>de</strong>n die I<strong>de</strong>e<br />
<strong>de</strong>r Stolpersteine auch <strong>de</strong>swegen gut, weil so an<br />
ganz vielen Stellen in <strong>de</strong>r Stadt daran erinnert<br />
wird, dass hier Ju<strong>de</strong>n als wesentlicher Teil <strong>de</strong>r<br />
städtischen Bevölkerung gelebt haben. Wenig stens<br />
in unserer Erinnerung sind sie auf diese<br />
Weise wie<strong>de</strong>r präsent.<br />
Weil die Stolpersteine natürlich auch Geld<br />
kosten, hat die Stolperstein-AG in ihrer Ausstellung<br />
einen Spen<strong>de</strong>naufruf angebracht. Die<br />
größte Unterstützung aber besteht in Infor mationen<br />
aller Art: Briefe, Fotos, Zei tungsberichte,<br />
Erzählungen.<br />
wünscht allen ein gutes<br />
und gesun<strong>de</strong>s neues<br />
Jahr 2013 mit viel Leselust<br />
und Bücherfreu<strong>de</strong>!<br />
Fotos: Lena-Maria Dannenberg-Mletzko