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I. Einführung in die Thematik II. Beispiele aus der Praxis III ...

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Inhaltsverzeichnis<br />

2 Begrüßung<br />

Dr. Jürgen Rolle<br />

I. <strong>E<strong>in</strong>führung</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Thematik</strong><br />

5 Zur Lebenssituation von Eltern mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung <strong>in</strong> Deutschland<br />

Prof. Dr. Ursula Pixa-Kettner<br />

17 Zur Lebenssituation psychisch kranker Eltern und ihrer K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

Prof. Dr. Sab<strong>in</strong>e Wagenblass<br />

31 Rechtliche Grundlagen<br />

Prof. Dr. jur. Julia Z<strong>in</strong>smeister<br />

<strong>II</strong>. <strong>Beispiele</strong> <strong>aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Praxis</strong><br />

42 St. Josef-H<strong>aus</strong> <strong>in</strong> Wesel<br />

Anne Oberdorfer<br />

54 Modellprojekt „Begleitende Elternschaft“ des Mobile e. V. Dortmund<br />

Christiane Sprung<br />

60 Präventionsprojekt KIPKEL<br />

Susanna Staets<br />

65 Patenprojekt des LVR<br />

Barbara Mörsch-Müller<br />

68 Erfahrungsbericht <strong>aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Praxis</strong> des Jugendamtes<br />

Gregor Dürbaum<br />

<strong>II</strong>I. Ergebnisse und Ausblick<br />

72 Diskussionsrunde<br />

Dorothee Daun, Dr. Jürgen Rolle, Mart<strong>in</strong>a Hoffmann-Badache, Michael Mertens, Prof.<br />

Dr. Ursula Pixa-Kettner, Prof. Dr. jur. Julia Z<strong>in</strong>smeister, Anne Oberdorfer, Christiane<br />

Sprung, Susanna Staets, Barbara Mörsch-Müller, Gregor Dürbaum<br />

85 Schlusswort und Verabschiedung<br />

Dorothee Daun, Vorsitzende des Sozial<strong>aus</strong>schusses<br />

87 Anhang<br />

I. Verzeichnis <strong>der</strong> Referent<strong>in</strong>nen und Referenten


Begrüßung durch den Vorsitzenden des Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses<br />

Dr. Jürgen Rolle (Vorsitzen<strong>der</strong> des Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses): Liebe<br />

Kolleg<strong>in</strong>nen und Kollegen <strong>aus</strong> den Ausschüssen, <strong>aus</strong> dem Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schuss<br />

und <strong>aus</strong> dem Sozial<strong>aus</strong>schuss des Landschaftsverbandes<br />

Rhe<strong>in</strong>land, sehr geehrte Frau Daun, Vorsitzende des Sozial<strong>aus</strong>schusses,<br />

Frau Hoffmann-Badache, Landesrät<strong>in</strong> für Soziales, sehr geehrter Herr Mertens,<br />

Landesjugendamt,<br />

ich begrüße Sie alle ganz herzlich und wenn Sie <strong>die</strong> Menge <strong>der</strong> Menschen<br />

sehen, <strong>die</strong> heute hier anwesend s<strong>in</strong>d, dann ist es wohl e<strong>in</strong> Thema, das uns allen am Herzen<br />

liegt.<br />

Vor nur 25 Jahren wurde noch ernsthaft darüber diskutiert, ob Menschen mit geistigen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen<br />

überhaupt Sexualität bzw. e<strong>in</strong> Recht auf Sexualität hätten. Der Wunsch nach Partnerschaft<br />

und Familie wurde weitgehend ignoriert. Elternschaft schien undenkbar und es gab Mittel,<br />

<strong>die</strong>s zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n.<br />

Inzwischen ist e<strong>in</strong> Stück des Weges vom Tabu zur Normalität geschafft. Das Selbstbestimmungsrecht<br />

von Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung wird kaum mehr <strong>in</strong> Frage gestellt. Die Elternschaft<br />

von Menschen mit e<strong>in</strong>er geistigen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung stellt allerd<strong>in</strong>gs nach wie vor e<strong>in</strong>e Ausnahme<br />

dar. Wenn sie aber K<strong>in</strong><strong>der</strong> bekommen, wird Ihnen häufig <strong>die</strong> Fähigkeit abgesprochen, <strong>die</strong>se gut<br />

zu versorgen und zu för<strong>der</strong>n.<br />

Das entpuppt sich <strong>in</strong> vielen Fällen als Vorurteil. Menschen mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung s<strong>in</strong>d nicht<br />

automatisch erziehungsunfähig und können durch<strong>aus</strong> e<strong>in</strong>e emotionale Beziehung zur ihren<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>n aufbauen, wenn man ihnen <strong>die</strong> Möglichkeit dazu gibt. Wie alle an<strong>der</strong>en Menschen auch<br />

haben sie Stärken und Schwächen. Im Bereich <strong>der</strong> <strong>in</strong>tellektuellen För<strong>der</strong>ung ihrer K<strong>in</strong><strong>der</strong> benötigen<br />

sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel unsere Unterstützung.<br />

Entsprechend müssen sich natürlich <strong>die</strong> Hilfen organisieren. Das aktuelle Stichwort hier lautet<br />

„Begleitete Elternschaft“. Dieser Unterstützungsbedarf wird <strong>in</strong>zwischen immer besser erkannt<br />

und <strong>die</strong> Anbieter sozialer Dienstleistung beg<strong>in</strong>nen, sich darauf e<strong>in</strong>zustellen. Und <strong>die</strong> <strong>Praxis</strong> zeigt<br />

auch, was alles möglich ist, wenn neue Wege konsequent qualifiziert gegangen werden.<br />

Der Lebensweg von Menschen mit chronischen psychischen Krankheiten ist häufig vom Wechsel<br />

zwischen akuten und weniger brisanten Phasen geprägt. Trennungen von Eltern und K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />

aufgrund von Kl<strong>in</strong>ikaufenthalten s<strong>in</strong>d nicht selten. Damit trifft <strong>die</strong> Problematik <strong>die</strong> ganze<br />

Familie. Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> psychisch kranker Eltern haben erwiesenermaßen e<strong>in</strong> deutlich höheres Risiko,<br />

selbst psychisch zu erkranken.<br />

Psychisch beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Eltern können bereits auf e<strong>in</strong>e Palette von Hilfsangeboten zugreifen: ambulant,<br />

teilstationär, stationär, wohnortnah, im Rahmen <strong>der</strong> Sozialpsychiatrie, kurzfristig o<strong>der</strong><br />

auch als Dauerbetreuung. Für ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong> dagegen gibt es kaum spezialisierte Angebote.<br />

Viele Belastungen können <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familie und auch von Angehörigen aufgefangen werden. Aber<br />

oft braucht es im Kampf gegen Überfor<strong>der</strong>ung, Scham, Trauer, Schuldgefühle und <strong>die</strong> Angst,<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

2


später selbst zu erkranken professionelle bzw. professionell begleitete Hilfen. Wir werden dazu<br />

im Laufe des Tages bee<strong>in</strong>druckende <strong>Beispiele</strong> kennen lernen.<br />

Vom Tabu zur Normalität. Unsere heutige Tagung wird versuchen, Ihnen im Überblick Informationen<br />

zu bieten, <strong>die</strong> den bereits begonnenen Normalisierungsprozess voranbr<strong>in</strong>gen können<br />

und sie wird gelungene <strong>Beispiele</strong> <strong>aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Praxis</strong> präsentieren.<br />

In e<strong>in</strong>em ersten Schritt - es gilt <strong>die</strong> Realitäten <strong>der</strong> Betroffenen zu verstehen und <strong>die</strong> Tabus als<br />

solche zu erkennen - referieren <strong>die</strong> Professor<strong>in</strong>nen Pixa-Kettner und Wagenblass über ihre Forschungsergebnisse<br />

zu den Lebenssituationen von Menschen mit geistigen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen bzw.<br />

psychischen Erkrankungen und ihren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Seien Sie uns herzlich willkommen. Danach wird<br />

Frau Professor<strong>in</strong> Z<strong>in</strong>smeister - ebenfalls herzlichst begrüßt - uns <strong>in</strong> <strong>die</strong> rechtlichen Grundlagen<br />

<strong>der</strong> <strong>Thematik</strong> e<strong>in</strong>führen. Dabei werden erfreuliche Entwicklungen <strong>in</strong> Richtung zu e<strong>in</strong>er Humanisierung<br />

zu f<strong>in</strong>den se<strong>in</strong>. Ich denke dabei an <strong>die</strong> hier nicht selbstverständliche Achtung des<br />

Selbstbestimmungsrechtes, wie es im Grundrecht festgelegt ist, und an Fragen rund um <strong>die</strong><br />

rechtliche Reglementierung <strong>der</strong> Sterilisationspraxis mit ihrer teils unrühmlichen Vergangenheit.<br />

Nach dem Mittagsimbiss erwartet uns e<strong>in</strong>e erfreuliche Vielfalt an <strong>Beispiele</strong>n <strong>aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Praxis</strong>. Es<br />

handelt sich:<br />

um Angebote <strong>aus</strong> dem stationären Bereich: das St. Josef-H<strong>aus</strong> <strong>in</strong> Wesel,<br />

um ambulante Arbeit: das Projekt „Begleitete Elternschaft“ des Mobile e.V.,<br />

um das Präventionsprojekt für K<strong>in</strong><strong>der</strong> psychisch kranker Eltern, KIPKEL,<br />

um das Patenprojekt des Landschaftsverbandes Rhe<strong>in</strong>land sowie, als Abrundung sozusagen,<br />

um e<strong>in</strong>en Erfahrungsbericht <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Sicht von Jugendämtern.<br />

Den Referent<strong>in</strong>nen und Referenten möchte ich an <strong>die</strong>ser Stelle herzlich danken!<br />

E<strong>in</strong> langes und langfristiges Ziel des LVR und damit Anlass zu <strong>die</strong>ser Tagung ist es, e<strong>in</strong> ambulantes,<br />

wohnortnahes und bedarfsgerechtes Unterstützungssystem für Eltern mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

zu schaffen. Damit soll gleichzeitig <strong>der</strong> Versorgungsgrundsatz des Landschaftsverbandes<br />

Rhe<strong>in</strong>land ambulant vor stationär umgesetzt werden. Es soll <strong>der</strong> Tatsache entsprochen werden,<br />

dass Elternschaften von Menschen mit geistigen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen immer selbstverständlicher<br />

werden und dass Eltern mit psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung, ihren Familien und ihren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n, dass<br />

<strong>die</strong>sen Familien Unterstützung angeboten werden muss, um schwere Zeiten besser überstehen<br />

zu können.<br />

Wie <strong>die</strong> Realisierung <strong>die</strong>ser Aufgaben geme<strong>in</strong>sam angegangen werden kann, wird Thema <strong>der</strong><br />

abschließenden Diskussionsrunde se<strong>in</strong>.<br />

Qualität für Menschen, me<strong>in</strong>e sehr verehrten Damen und Herren, <strong>die</strong>ses Leitmotto des LVR<br />

gilt für alle Menschen im Rhe<strong>in</strong>land, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e für <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> mehr Hilfe benötigen.<br />

Ich wünsche uns allen e<strong>in</strong>en erfolgreichen Tag und b<strong>in</strong> sicher, dass von <strong>die</strong>ser Tagung viele<br />

positive Impulse <strong>aus</strong>gehen werden. Vielen Dank.<br />

Drei D<strong>in</strong>ge noch ganz kurz. Im Unterschied zu Ihrem Programm werde ich selber heute Nachmittag<br />

bei <strong>der</strong> Diskussion nicht mehr anwesend se<strong>in</strong>. Ich werde vertreten vom stellvertretenden<br />

Vorsitzenden des Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses, von Lorenz Bahr. Dann müssen wir noch<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

3


e<strong>in</strong>en Menschen hervorheben: He<strong>in</strong>z Joebges wird heute 50 Jahre. Er ist trotzdem bei uns. Ich<br />

denke, so viele Glückwünsche auf e<strong>in</strong>en Schlag hat er noch nicht bekommen. Die Mo<strong>der</strong>ation<br />

<strong>die</strong>ser Veranstaltung wird von Herrn Flemm<strong>in</strong>g übernommen, vom Sozialamt. Vielen Dank!<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Sehr geehrte Frau Daun, sehr geehrter<br />

Herr Dr. Rolle, verehrte Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Landschaftsversammlung, liebe<br />

Kolleg<strong>in</strong>nen und Kollegen.<br />

Wie schon gesagt, ich b<strong>in</strong> Ihr Ansager heute. Me<strong>in</strong>e Aufgabe ist dreigeteilt:<br />

den ersten Teil könnte ich mir eigentlich sparen, ich brauche Ihnen<br />

nicht anzusagen, was sie auch nachlesen können im Programm. Zweiter<br />

Teil ist, Sie e<strong>in</strong> bisschen zu ermuntern zu Rückfragen und Kommentaren,<br />

das klappt aber nur, wenn ich me<strong>in</strong>e dritte Aufgabe gut erledige, nämlich <strong>die</strong> Referenten an ihre<br />

Zeit zu ermahnen, <strong>die</strong> wir ihnen vorgegeben haben. Sie haben dem Programm entnehmen<br />

können, wir haben uns viel vorgenommen <strong>in</strong> relativ kurzer Zeit. Das Thema würde reichen für<br />

e<strong>in</strong>e mehrtägige Sitzung <strong>in</strong> unterschiedlichen Arbeitsformen, aber irgendwo muss man ja anfangen.<br />

Deshalb ist heute, wie man postmo<strong>der</strong>n sagt, e<strong>in</strong>e Kick-off-Veranstaltung.<br />

Mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> reden geht nur, wenn alle sich an <strong>die</strong> vorgegebene Zeit halten und ansonsten hoffe<br />

ich, dass Sie Gelegenheit haben, <strong>in</strong> <strong>der</strong> vorgesehenen P<strong>aus</strong>e und am Ende im Gespräch untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

noch etwas beitragen zu können. Kick-off-Veranstaltung auch deshalb: wir s<strong>in</strong>d den<br />

politischen Vertretungen sehr dankbar, dass sie uns nicht nur e<strong>in</strong>en Auftrag gegeben haben <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>sem Themenfeld Elternschaft von Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung. Wir arbeiten uns gerade voran<br />

zur Erledigung e<strong>in</strong>es zweiten Auftrages, nämlich e<strong>in</strong>e ähnliche Veranstaltung zum Thema<br />

Partnerschaft und Sexualität zu machen. Jetzt können wir natürlich sagen, <strong>die</strong> Logik ist verdreht,<br />

also das e<strong>in</strong>e ist <strong>die</strong> Vor<strong>aus</strong>setzung des an<strong>der</strong>en. Man kann es auch an<strong>der</strong>s sehen, <strong>in</strong>sofern<br />

richten Sie sich darauf e<strong>in</strong>, es wird <strong>in</strong> Kürze e<strong>in</strong>e zweite E<strong>in</strong>ladung geben. Wahrsche<strong>in</strong>lich<br />

ganz kurz vor den Sommerferien zum Thema Sexualität und Partnerschaft für Menschen mit<br />

Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung und dem Unterstützungsbedarf, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Bereich auftun wird. Ziel <strong>der</strong><br />

ganzen Sache ist natürlich, dass wir h<strong>in</strong>terher etwas gelernt haben und <strong>die</strong> politische Vertretungen<br />

quasi Handlungsempfehlungen mit uns geme<strong>in</strong>sam <strong>in</strong> <strong>die</strong> Welt setzen können. Darauf arbeiten<br />

wir h<strong>in</strong> von 10.00 – 15.00 Uhr und dann wissen wir bescheid. In <strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>ne darf ich<br />

jetzt <strong>die</strong> Gäste <strong>aus</strong> dem Norden bitten. Wir haben <strong>aus</strong> Bremen zwei Gäste momentan. Mir ist<br />

aufgefallen im Programm, es gibt dann außer Herrn Dr. Rolle nur noch e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Herrn,<br />

<strong>der</strong> gegen Ende vorträgt. Muss mit dem Thema zu tun haben.<br />

Frau Professor Pixa-Kettner kommt von <strong>der</strong> Universität Bremen zu uns <strong>aus</strong> dem Fachbereich<br />

Erziehungs- und Bildungswissenschaften. Thema ist klar, Sie beschäftigen sich seit sehr langen<br />

Jahren damit und <strong>in</strong>sofern darf ich Sie bitten, uns <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er halben Stunde alles zu sagen, was<br />

Sie uns sagen möchten. Bitte schön!<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

4


I. <strong>E<strong>in</strong>führung</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Thematik</strong><br />

Vortrag „Zur Lebenssituation von Eltern mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung <strong>in</strong> Deutschland“<br />

Prof. Dr. Ursula Pixa-Kettner (Lehrgebiet Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>tenpädagogik, Universität<br />

Bremen): Im gängigen Alltagsverständnis schließen sich Geistigbeh<strong>in</strong><strong>der</strong>tse<strong>in</strong><br />

und Elternse<strong>in</strong> gegenseitig <strong>aus</strong>. Die Vorstellung, dass Personen,<br />

<strong>die</strong> als geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t gelten und <strong>in</strong> verschiedenen Lebensbereichen<br />

selbst Hilfe benötigen, für e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d sorgen und es erziehen, ersche<strong>in</strong>t vielen<br />

auf den ersten Blick abwegig. Tatsächlich gibt es aber ke<strong>in</strong>e wissenschaftlich<br />

gesicherten Belege dafür, dass <strong>die</strong> Fähigkeit, e<strong>in</strong>e gute Mutter o<strong>der</strong> e<strong>in</strong><br />

guter Vater zu se<strong>in</strong> und <strong>in</strong>tellektuelle Fähigkeiten unmittelbar zusammenhängen.<br />

In <strong>die</strong>sem Vortrag möchte ich versuchen, <strong>die</strong>sen komplizierten Zusammenhang etwas<br />

genauer zu betrachten und Ihnen gleichzeitig <strong>die</strong> Situation <strong>der</strong> Eltern, <strong>die</strong> als geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t<br />

bezeichnet werden, näher zu br<strong>in</strong>gen. Dafür muss ich zunächst kurz etwas zum Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungsbegriff<br />

sagen.<br />

1 Zum Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungsbegriff<br />

Zum Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungsbegriff<br />

• A) <strong>in</strong>dividuumorientierte Defizitzuschreibung:<br />

– <strong>in</strong>dividueller Defekt führt zu Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

• B) l<strong>in</strong>eare Sichtweise:<br />

– Schädigung Funktionsbee<strong>in</strong>trächtigung Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

– [impairment disability handicap]<br />

• C) bio-psycho-soziale Sichtweise:<br />

– Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungsverständnis <strong>der</strong> WHO (2004)<br />

– (ICF = International Classification of Function<strong>in</strong>g, Disability<br />

and Health<br />

s. www.dimdi.de)<br />

Prof. Dr. Ursula Pixa-Kettner<br />

Universität Bremen<br />

Das neuere Verständnis von Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung z.B. <strong>in</strong> <strong>der</strong> ICF (International Classification of Function<strong>in</strong>g,<br />

Disability and Health) <strong>der</strong> Weltgesundheitsorganisation (WHO) (vgl. Deutsches Institut<br />

für mediz<strong>in</strong>ische Dokumentation und Information (2004) vermeidet traditionelle <strong>in</strong>dividuumorientierte<br />

Defizitzuschreibungen (wonach e<strong>in</strong>e Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung <strong>aus</strong>schließlich als Defekt e<strong>in</strong>es Individuums<br />

gesehen wird) ebenso wie vere<strong>in</strong>fachende l<strong>in</strong>eare Sichtweisen, wonach organische/<br />

körperliche Schädigungen (impairment) zwangsläufig Funktionsbee<strong>in</strong>trächtigungen (disability)<br />

und <strong>die</strong>se e<strong>in</strong>e gesellschaftliche Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung (handicap) zur Folge haben.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

3<br />

5


Zum Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungsbegriff<br />

Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung ist als Ergebnis <strong>der</strong> Wechselwirkungen<br />

von Körperstrukturen und Körperfunktionen mit<br />

Kontextfaktoren zu sehen und immer dann<br />

festzustellen, wenn <strong>die</strong>se zu e<strong>in</strong>er Bee<strong>in</strong>trächtigung<br />

<strong>der</strong> gesellschaftlich üblichen Aktivität (activity) o<strong>der</strong><br />

Teilhabe (participation) führen.<br />

Kontextfaktoren s<strong>in</strong>d<br />

a) Umweltfaktoren<br />

<strong>in</strong>dividuelle, z.B. häusliche Umgebung, Arbeitsplatz …<br />

gesellschaftliche, z.B. soziales System, Gesetze,<br />

E<strong>in</strong>stellungen …<br />

b) personbezogene, z.B. Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit,<br />

weitere Gesundheitsprobleme, Bildung …<br />

Prof. Dr. Ursula Pixa-Kettner<br />

Universität Bremen<br />

Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung im S<strong>in</strong>ne <strong>die</strong>ses neuen bio-psycho-sozialen Verständnisses (von funktionaler Gesundheit)<br />

ist vielmehr als Ergebnis <strong>der</strong> Wechselwirkungen von Körperstrukturen und Körperfunktionen<br />

mit sog. Kontextfaktoren zu sehen und immer dann (und nur dann) festzustellen,<br />

wenn <strong>die</strong>se zu e<strong>in</strong>er Bee<strong>in</strong>trächtigung <strong>der</strong> gesellschaftlich üblichen Aktivität (activity) o<strong>der</strong> Teilhabe<br />

(participation) führen.<br />

Entscheidend ist also nicht nur <strong>die</strong> organische Schädigung o<strong>der</strong> funktionelle Störung e<strong>in</strong>er Person,<br />

son<strong>der</strong>n wie sich <strong>die</strong>se im Zusammenhang mit Kontextfaktoren <strong>aus</strong>wirkt.<br />

Unter Kontextfaktoren werden <strong>in</strong>dividuelle ebenso wie gesellschaftliche Umweltfaktoren gefasst,<br />

also <strong>die</strong> persönliche Umwelt zu H<strong>aus</strong>e o<strong>der</strong> am Arbeitsplatz ebenso wie das umgebende<br />

soziale System mit se<strong>in</strong>er Infrastruktur, se<strong>in</strong>en Dienstleistungen, se<strong>in</strong>en gesetzlichen Regelungen,<br />

aber auch mit se<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>stellungen und Weltanschauungen.<br />

Dazu kommen noch <strong>die</strong> personbezogenen Kontextfaktoren. Damit ist <strong>der</strong> persönliche H<strong>in</strong>tergrund<br />

e<strong>in</strong>es Menschen geme<strong>in</strong>t, <strong>der</strong> unabhängig von <strong>der</strong> organischen o<strong>der</strong> funktionellen Störung<br />

besteht, wie z. B. Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, weitere Gesundheitsprobleme,<br />

aber auch Lebensstil, sozialer H<strong>in</strong>tergrund, Erziehung, Bildung, Beruf usw. Auch <strong>die</strong>se Faktoren<br />

stehen <strong>in</strong> Wechselwirkung mit den Körperstrukturen und –funktionen. So können organisch<br />

zunächst recht ähnliche Befunde zu ganz verschiedenen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen führen.<br />

E<strong>in</strong> etwas plakatives Beispiel: E<strong>in</strong>e 30-jährige Frau, von Beruf Verkäufer<strong>in</strong>, asthmakrank und<br />

Mutter von 2 kle<strong>in</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong>n, <strong>die</strong> mit ihrer Familie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Mietwohnung im 3. Stock ohne Fahrstuhl<br />

lebt, und zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Kle<strong>in</strong>stadt ohne barrierefreie Verkehrsmittel; <strong>die</strong>se Frau, <strong>der</strong>en Ehemann<br />

als Fernfahrer arbeitet, dürfte durch e<strong>in</strong>e Querschnittslähmung an<strong>der</strong>s beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t se<strong>in</strong><br />

als e<strong>in</strong> gesundheitlich stabiler 50-jähriger männlicher Berufspolitiker, <strong>der</strong> mit se<strong>in</strong>er Ehefrau <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em geräumigen eigenen H<strong>aus</strong> lebt, über genügend f<strong>in</strong>anzielle Mittel für technische und an<strong>der</strong>e<br />

Hilfen und über e<strong>in</strong>en umgerüsteten PKW verfügt.<br />

Gemäß <strong>die</strong>sem Verständnis ist Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung ke<strong>in</strong> statischer Zustand, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> Wechselwirkung<br />

mit den Kontextfaktoren variabel. Es wäre jeweils zu fragen, welche Kontextfaktoren wie<br />

verän<strong>der</strong>bar s<strong>in</strong>d, damit e<strong>in</strong>e Person möglichst wenig be-h<strong>in</strong><strong>der</strong>t ist o<strong>der</strong> – <strong>in</strong> den Worten <strong>der</strong><br />

ICF – damit ihr e<strong>in</strong> möglichst hohes Ausmaß an gesellschaftlich üblicher Aktivität und Teilhabe<br />

ermöglicht wird.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

4<br />

6


Was bedeutet das für Eltern mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung? Michael Seidel (2003, 248f), leiten<strong>der</strong><br />

Arzt <strong>in</strong> Bethel, führt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Artikel zur ICF folgende <strong>Beispiele</strong> für h<strong>in</strong><strong>der</strong>liche Umweltfaktoren<br />

an:<br />

„Mit <strong>die</strong>sem Verständnis (das <strong>der</strong> ICF, U. P.-K.) wird es möglich, z. B. e<strong>in</strong>e gesellschaftlich bed<strong>in</strong>gte<br />

Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung zu beschreiben, wenn e<strong>in</strong>er Person mit e<strong>in</strong>er Epilepsie – obwohl <strong>die</strong>se<br />

längst erfolgreich behandelt o<strong>der</strong> <strong>aus</strong>geheilt ist – auf Dauer von Gesetz wegen verboten wird,<br />

selbst Auto zu fahren.<br />

O<strong>der</strong>: E<strong>in</strong>er Frau mit e<strong>in</strong>er geistigen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung wird es durch negative E<strong>in</strong>stellungen, Vorurteile<br />

usw. <strong>der</strong> Umwelt unmöglich gemacht, e<strong>in</strong> eigenes K<strong>in</strong>d zu haben.“<br />

Umgekehrt würde e<strong>in</strong>e Mutter mit sog. geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung, <strong>die</strong> durch e<strong>in</strong> geeignetes soziales<br />

Umfeld (z.B. aufgrund kulturspezifischer Normen und Werte) o<strong>der</strong> durch angemessene professionelle<br />

Unterstützung ke<strong>in</strong>e größeren Probleme bei <strong>der</strong> Erziehung ihres K<strong>in</strong>des hat, hiernach<br />

ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schränkungen ihrer Teilhabe erfahren. Sie wäre damit – zum<strong>in</strong>dest im Lebensbereich<br />

Elternschaft – nicht be-h<strong>in</strong><strong>der</strong>t.<br />

2 Vorurteile und Barrieren<br />

Vorurteile und Barrieren<br />

Llewellyn et. al 1995:<br />

Mythos 1: Menschen mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung br<strong>in</strong>gen<br />

geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te K<strong>in</strong><strong>der</strong> zur Welt.<br />

Mythos 2: Menschen mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung haben<br />

beson<strong>der</strong>s viele K<strong>in</strong><strong>der</strong>.<br />

Mythos 3: Geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Eltern missbrauchen ihre<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>.<br />

Mythos 4: Geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Eltern vernachlässigen ihre<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>.<br />

Mythos 5: Geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Eltern s<strong>in</strong>d nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage,<br />

angemessenes Elternverhalten zu erlernen.<br />

Prof. Dr. Ursula Pixa-Kettner<br />

Universität Bremen<br />

Betrachtet man nun <strong>die</strong> umweltbezogenen (und zwar <strong>die</strong> gesellschaftlichen) Kontextfaktoren<br />

gemäß WHO, also <strong>die</strong> gängigen E<strong>in</strong>stellungen und Werthaltungen im Allgeme<strong>in</strong>en, so zeigt<br />

sich, dass <strong>die</strong>se für Eltern mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung sehr ungünstig s<strong>in</strong>d. Noch immer s<strong>in</strong>d <strong>die</strong><br />

Eltern mit massiven Vorurteilen konfrontiert. Schon Mitte <strong>der</strong> 90er Jahre haben <strong>aus</strong>tralische<br />

Wissenschaftler/<strong>in</strong>nen (Llewellyn et al. 1995) von fünf Mythen gesprochen, <strong>die</strong> über <strong>die</strong>se Eltern<br />

verbreitet s<strong>in</strong>d, und bis heute hat sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit nicht viel daran geän<strong>der</strong>t:<br />

Mythos 1: Menschen mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung br<strong>in</strong>gen geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te K<strong>in</strong><strong>der</strong> zur Welt.<br />

Nach Llewellyn et al. weisen <strong>die</strong> Eltern i. d. R. leichtere geistige Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen auf und <strong>die</strong>se<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> den meisten Fällen durch Umgebungs-, nicht primär durch erbliche Faktoren verursacht.<br />

Die wenigen wissenschaftlichen Untersuchungen, <strong>die</strong> dazu vorliegen, deuten darauf<br />

h<strong>in</strong>, dass das Risiko, dass geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Eltern e<strong>in</strong> von Geburt an beh<strong>in</strong><strong>der</strong>tes K<strong>in</strong>d<br />

zur Welt br<strong>in</strong>gen, nur ger<strong>in</strong>gfügig höher liegt als bei <strong>der</strong> Durchschnittsbevölkerung, wobei<br />

auch <strong>die</strong> schlechtere Gesundheitsversorgung <strong>der</strong> Mütter e<strong>in</strong>e Rolle spielt.<br />

Mythos 2: Menschen mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung haben beson<strong>der</strong>s viele K<strong>in</strong><strong>der</strong>.<br />

Dazu führen Llewellyn et al. <strong>aus</strong>, dass sie nach bisherigen Untersuchungen im Durchschnitt<br />

entwe<strong>der</strong> weniger o<strong>der</strong> gleich viele K<strong>in</strong><strong>der</strong> haben wie an<strong>der</strong>e Eltern. Dies stimmt auch mit<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

6<br />

7


den Ergebnissen unserer BRD-weiten Stu<strong>die</strong> übere<strong>in</strong>, <strong>in</strong> <strong>der</strong> wir e<strong>in</strong>e durchschnittliche K<strong>in</strong><strong>der</strong>zahl<br />

von 1,4 feststellten (vgl. Pixa-Kettner et. al., 1996, S. 16).<br />

Eigene Beobachtungen und Berichte von Fachkräften lassen vermuten, dass <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

bei Müttern/Eltern, <strong>die</strong> ohne ihre Zustimmung von ihren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n getrennt wurden und ke<strong>in</strong>e<br />

Möglichkeit hatten, <strong>die</strong>s zu verarbeiten, hohe Geburtenzahlen auftraten.<br />

Mythos 3: Geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Eltern missbrauchen ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong>.<br />

Dieser Mythos kommt nach Llewellyn et al. dadurch zustande, dass geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Eltern<br />

– ohne selbst ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong> zu missbrauchen – e<strong>in</strong>ige geme<strong>in</strong>same Merkmale mit Eltern<br />

aufweisen, <strong>die</strong> prädisponiert s<strong>in</strong>d für K<strong>in</strong>desmissbrauch wie e<strong>in</strong>e deprivierte K<strong>in</strong>dheit, ger<strong>in</strong>ges<br />

Selbstwertgefühl, ger<strong>in</strong>ge soziale Kompetenzen, schwierige Familienverhältnisse und<br />

soziale Isolation. Das bedeutet natürlich nicht, dass es generell nicht vorkommt, dass Eltern<br />

mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong> missbrauchen, son<strong>der</strong>n es bedeutet, dass <strong>die</strong>s nicht<br />

häufiger vorkommt als <strong>in</strong> <strong>der</strong> übrigen Bevölkerung.<br />

Mythos 4: Geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Eltern vernachlässigen ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong>.<br />

Hier räumen Llewellyn et al. e<strong>in</strong>, dass <strong>die</strong>s zwar manchmal zutreffe, sich jedoch bei genauerer<br />

Betrachtung her<strong>aus</strong>stelle, dass <strong>die</strong>s zumeist <strong>aus</strong> e<strong>in</strong>em Mangel an Wissen resultiere und<br />

nicht beabsichtigt sei o<strong>der</strong> <strong>aus</strong> Gleichgültigkeit geschehe, was h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Erfolgs<strong>aus</strong>sichten<br />

von Unterstützungsangeboten e<strong>in</strong>en Riesenunterschied macht.<br />

Mythos 5: Geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Eltern s<strong>in</strong>d nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage, angemessenes Elternverhalten<br />

zu erlernen.<br />

Diese Annahme, <strong>die</strong> auch im H<strong>in</strong>blick auf Unterstützungsmaßnahmen für <strong>die</strong> Eltern von beson<strong>der</strong>er<br />

Bedeutung ist, kann – so Llewellyn et al. schon 1995 – als wi<strong>der</strong>legt betrachtet<br />

werden wie Untersuchungen überwiegend <strong>aus</strong> den USA und Kanada ergeben haben (vgl.<br />

Feldman, 1994).<br />

Diese (und weitere) Mythen bestimmen noch immer <strong>die</strong> Vorstellung vieler Menschen - <strong>in</strong> den<br />

Hochschulen ebenso wie <strong>in</strong> Behörden und bei den Sozialen Diensten. Auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rechtsprechung<br />

s<strong>in</strong>d sie nach wie vor verbreitet (vgl. Booth & McConnell 2005).<br />

Vortrag von Frau Z<strong>in</strong>smeister<br />

2 Untersuchungsergebnisse zu Elternschaften von Menschen mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

<strong>in</strong> Deutschland<br />

Untersuchungsergebnisse zu Elternschaften von Menschen<br />

mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung <strong>in</strong> Deutschland<br />

1. Stu<strong>die</strong>: 1993 – 1995 (Pixa-Kettner, Bargfrede & Blanken 1996) :<br />

Ergebnis <strong>der</strong> Fragebogenuntersuchung:<br />

969 Elternschaften mit 1366 K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

Interviewergebnisse:<br />

erhebliche psychosoziale Belastungen,<br />

nur 4 von 28 Familien unauffällig<br />

Bei e<strong>in</strong>zelnen Elternschaften erhebliche Probleme, aber:<br />

ke<strong>in</strong>e verallgeme<strong>in</strong>erbaren, beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungsspezifischen<br />

Probleme mit <strong>der</strong> Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

Geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Eltern gehören zu den am strengsten<br />

kontrollierten Eltern <strong>in</strong> unserer Gesellschaft.<br />

Prof. Dr. Ursula Pixa-Kettner<br />

Universität Bremen<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

8<br />

8


Was wissen wir über Eltern mit sog. geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung und ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong>? Für Deutschland<br />

liegen zwei größere, überregionale Stu<strong>die</strong>n vor.<br />

1. Stu<strong>die</strong>: Die erste wurde von me<strong>in</strong>en Mitarbeiter<strong>in</strong>nen und mir <strong>in</strong> den Jahren 1993 bis 1995<br />

durchgeführt (Pixa-Kettner u. a. 1996). Wir konnten damals bundesweit knapp 1000 solcher<br />

Elternschaften mit 1366 K<strong>in</strong><strong>der</strong>n zahlenmäßig dokumentieren, wobei manche Elternschaften<br />

weit zurück lagen (bis 1934!). Außerdem wurden <strong>die</strong> Elternschaften durch 30 Interviews mit<br />

Betroffenen auch <strong>in</strong> ihrer <strong>in</strong>dividuellen biografischen Dimension zugänglich gemacht (Pixa-<br />

Kettner et al., 1996). Wie bereits <strong>aus</strong> <strong>in</strong>ternationalen Stu<strong>die</strong>n bekannt, erfuhren wir <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen<br />

Interviews von erheblichen psychosozialen Belastungen <strong>der</strong> Eltern. Sie kamen meist nicht <strong>aus</strong><br />

geordneten Verhältnissen und haben kaum Vorbil<strong>der</strong> für angemessenes Erziehungsverhalten<br />

gehabt. Nur <strong>in</strong> 4 <strong>der</strong> 28 untersuchten Familien fanden wir e<strong>in</strong>en relativ unauffälligen sozialen<br />

H<strong>in</strong>tergrund. Meist hat <strong>die</strong> Umgebung <strong>der</strong> Eltern auch wenig unterstützend auf <strong>die</strong> Schwangerschaft<br />

reagiert. Insgesamt dom<strong>in</strong>ierten eher ungünstige umwelt- und personenbezogene Kontextfaktoren.<br />

Gemessen daran überraschte, dass <strong>die</strong> meisten Eltern sich sehr auf ihr K<strong>in</strong>d gefreut<br />

haben und auch oft <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage waren, e<strong>in</strong>e positive Eltern-K<strong>in</strong>d-Beziehung herzustellen.<br />

Alles <strong>in</strong> allem haben wir <strong>in</strong> unseren Untersuchungen e<strong>in</strong>e breite Palette elterlicher Verhaltensweisen<br />

kennen gelernt, wie sie auch sonst bei Eltern anzutreffen s<strong>in</strong>d. Wichtig ist deshalb, von<br />

p<strong>aus</strong>chalierenden Urteilen über geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Eltern, speziell Mütter, wegzukommen. Auch<br />

wenn es bei e<strong>in</strong>zelnen Elternschaften erhebliche Probleme gab, s<strong>in</strong>d dar<strong>aus</strong> ke<strong>in</strong>e verallgeme<strong>in</strong>erbaren,<br />

beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungsspezifischen Probleme mit <strong>der</strong> Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung abzuleiten. Gleichzeitig konnten wir beobachten, dass <strong>die</strong>se Gruppe zu den<br />

am strengsten kontrollierten Eltern <strong>in</strong> unserer Gesellschaft gehört.<br />

2. Stu<strong>die</strong>: E<strong>in</strong>e Nachfolgestu<strong>die</strong> zur Aktualisierung <strong>der</strong> erhobenen Zahlen erfolgte 2005/06 (Pixa-Kettner<br />

2007). Bei <strong>die</strong>ser Stu<strong>die</strong> wurden, wie bei <strong>der</strong> ersten, Fragebögen an alle relevanten<br />

E<strong>in</strong>richtungen <strong>der</strong> großen Trägerorganisationen verschickt und um Auskunft über Elternschaften<br />

gebeten. An<strong>der</strong>s als bei <strong>der</strong> 1. Stu<strong>die</strong> wurde allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong> begrenzter Zeitraum erfragt,<br />

nämlich <strong>der</strong> seit 1990. Insgesamt nannten <strong>die</strong> E<strong>in</strong>richtungen für <strong>die</strong>sen Zeitraum von gut 15<br />

Jahren 1584 Fälle von Elternschaften mit 2199 K<strong>in</strong><strong>der</strong>n.<br />

Wenn man den Überschneidungszeitraum zwischen den beiden Stu<strong>die</strong>n von 1990 bis 1993<br />

her<strong>aus</strong>rechnet, entspricht das e<strong>in</strong>er Zunahme von fast 48 %, und das obwohl sich <strong>die</strong> zweite<br />

Stu<strong>die</strong> auf e<strong>in</strong>en viel kürzeren Zeitraum bezieht.<br />

bis 1993<br />

1990<br />

bis 2005<br />

Elternschaften<br />

969 1584<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> 1366 2199<br />

Tab. 1: Anzahl von Elternschaften und K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

Trotz <strong>der</strong> Zunahme <strong>der</strong> Zahlen sollte nicht vergessen werden, dass <strong>die</strong> Anzahl <strong>der</strong> Elternschaften<br />

<strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> entsprechenden Altersgruppe nur etwas mehr als e<strong>in</strong>em Prozent entspricht.<br />

Selbst wenn man <strong>die</strong> Zahl verdreifacht, um unserer Rücklaufquote von gut 30 % Rechnung zu<br />

tragen und selbst wenn man noch e<strong>in</strong>mal <strong>die</strong> gleiche Anzahl von nicht über E<strong>in</strong>richtungen erfassbaren<br />

Personen dazu zählen würde, wären es maximal 6 %, während <strong>die</strong> Geburtenquote <strong>in</strong><br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

9


<strong>der</strong> Gesamtbevölkerung etwa bei 44 % liegt. Also: Trotz <strong>der</strong> Zunahme <strong>der</strong> Zahlen werden <strong>in</strong>sgesamt<br />

gesehen nur wenige Menschen mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung Eltern.<br />

Von beson<strong>der</strong>em Interesse ist <strong>die</strong> Frage nach <strong>der</strong> Wohnform <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>: Leben sie mit ihren<br />

leiblichen Eltern geme<strong>in</strong>sam? O<strong>der</strong> wurden an<strong>der</strong>e Lösungen für sie gefunden? Gegenüber<br />

1993 zeigen sich deutliche Unterschiede. Die Unterbr<strong>in</strong>gung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> Heimen, Herkunftsfamilien<br />

o<strong>der</strong> bei Adoptiveltern ist zurückgegangen (von 25 auf 15 %), während <strong>die</strong> Unterbr<strong>in</strong>gung<br />

<strong>in</strong> Pflegefamilien angestiegen ist (von 11 auf 22 %). Immerh<strong>in</strong> 57 % <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> leben mit<br />

m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>em Elternteil zusammen, während es 1993 nur 40 % waren.<br />

1993 2005<br />

Wohnform <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> Anzahl Prozent Prozent zus. Anzahl Prozent<br />

bei beiden Eltern 346 25,3 % 637 29,0 %<br />

bei e<strong>in</strong>em Elternteil 194 14,2 %<br />

prof. Mutter-K<strong>in</strong>d-<br />

Betreuung<br />

nicht separat<br />

erfasst<br />

39,5 %<br />

582<br />

(Mutter: 524<br />

Vater: 58)<br />

26,5 %<br />

25 1,1 %<br />

Heim/ Internat o. ä. 123 9,0 % 107 4,9 %<br />

Herkunftsfamilie 112 8,2 % 25,2 % 136 6,2 %<br />

Adoption 109 8,0 %<br />

80 3,6 %<br />

Pflegefamilie 156 11,4 % 475 21,6 %<br />

verstorben --- 22 1,0 %<br />

Sonstiges --- 8 0,4 %<br />

unbekannt/ fehlende Angaben<br />

326 23,9 % 127 5,8 %<br />

Gesamt 1366 100 % 2199 100,1 %<br />

Tab. 5: Wohnform <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

Prozent<br />

zus.<br />

56,6 %<br />

14,7 %<br />

Beide Stu<strong>die</strong>n (extrem) zusammengefasst ergeben: Es gibt e<strong>in</strong>e zwar nicht große, aber zunehmende<br />

Zahl von Menschen mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung, <strong>die</strong> im Zuge <strong>der</strong> gesellschaftlichen Entwicklung<br />

von Integration und Normalisierung K<strong>in</strong><strong>der</strong> haben und mit <strong>die</strong>sen zusammen leben<br />

wollen. Trotz persönlicher und gesellschaftlicher Barrieren ist <strong>die</strong> Anzahl <strong>der</strong>jenigen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>s<br />

auch tun, <strong>die</strong> also <strong>die</strong> Elternrolle e<strong>in</strong>nehmen, deutlich angestiegen.<br />

Und damit komme ich zur Frage <strong>der</strong> elterlichen Kompetenzen.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

10


3 Elterliche Kompetenzen<br />

Elterliche Kompetenzen<br />

„Es ist gut belegt, dass<br />

<strong>die</strong> meisten Eltern mit<br />

Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

we<strong>der</strong> missbrauchen<br />

noch vernachlässigen.<br />

Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung an sich, sei<br />

es e<strong>in</strong>e psychiatrische,<br />

<strong>in</strong>tellektuelle, körperliche<br />

o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e S<strong>in</strong>nesschädigung,<br />

ist e<strong>in</strong><br />

schlechter Prädiktor<br />

elterlicher Fähigkeiten.“<br />

Prof. Dr. Ursula Pixa-Kettner<br />

Universität Bremen<br />

”It is well established that<br />

most parents with a<br />

disability will not abuse or<br />

neglect their children.<br />

Disability per se, whether<br />

psychiatric, <strong>in</strong>tellectual,<br />

physical or sensory<br />

disability, is a poor<br />

predictor of parent<strong>in</strong>g<br />

capacity.” (McConnell,<br />

Llewellyn, & Ferronato,<br />

2000, ii)<br />

Die bereits erwähnte <strong>aus</strong>tralische Wissenschaftler<strong>in</strong> und ihr Team haben im Jahr 2000 geschrieben:<br />

„Es ist gut belegt, dass <strong>die</strong> meisten Eltern mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong> we<strong>der</strong> missbrauchen<br />

noch vernachlässigen. Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung an sich, sei es e<strong>in</strong>e psychiatrische, <strong>in</strong>tellektuelle,<br />

körperliche o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e S<strong>in</strong>nesschädigung, ist e<strong>in</strong> schlechter Prädiktor elterlicher Fähigkeiten.“<br />

(Übersetzung: U. P.-K.) 1<br />

Aber was müssen Menschen eigentlich können, damit sie gute Eltern s<strong>in</strong>d? Auch was Eltern mit<br />

geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung angeht, reicht es ja nicht <strong>aus</strong> zu wissen, dass sie ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong> i. d. R.<br />

nicht missbrauchen und nicht vernachlässigen. Auf allgeme<strong>in</strong>er Ebene sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>e Verständigung<br />

darüber, was Eltern können (und tun) müssen, gar nicht so schwer. Es geht bei elterlichen<br />

Kompetenzen<br />

1. um Versorgung und Pflege, Sicherheit und Schutz des K<strong>in</strong>des (körperliche Seite),<br />

2. um emotionale Zuwendung und <strong>in</strong>tellektuelle Anregung (psychologische Seite) sowie<br />

3. um Hilfe beim H<strong>in</strong>e<strong>in</strong>wachsen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Gesellschaft (soziale Seite).<br />

Das eigentliche Problem fängt da an, wo man zu def<strong>in</strong>ieren versucht, was es konkret bedeutet,<br />

<strong>die</strong>se Ziele zu erfüllen (vgl. Pachter/ Dumont-Mathieu, 2004, 89). Denn das ist jeweils abhängig<br />

vom spezifischen Kontext, <strong>in</strong> dem <strong>die</strong> Familie lebt. Hierunter fallen kulturelle Eigenarten ebenso<br />

wie Faktoren des sozialen Status. E<strong>in</strong>ige <strong>Beispiele</strong> zur Verdeutlichung möglicher Kontroversen:<br />

- Zum ersten Bereich: Dürfen <strong>die</strong> Eltern e<strong>in</strong>es Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>des rauchen? Welche Ernährung ist<br />

für K<strong>in</strong><strong>der</strong> gut o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest akzeptabel? Wie viel Bewegung ist gut für e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d? usw.<br />

- Zum zweiten Bereich: Wie viel Fernsehen ist <strong>in</strong> welchem Alter angemessen? Brauchen<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> Mutter und Vater o<strong>der</strong> können sie genau so gut mit e<strong>in</strong>em Elternteil aufwachsen?<br />

Ab welchem Alter kann man K<strong>in</strong><strong>der</strong> nachts alle<strong>in</strong>e lassen usw.? Gute-Nacht-Kuss?<br />

- Zum dritten Bereich: Müssen Eltern ihren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>die</strong> Gleichheit von Mann und Frau<br />

vermitteln? Müssen Eltern ihren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e religiöse Erziehung geben? Müssen Eltern<br />

1 ”It is well established that most parents with a disability will not abuse or neglect their children. Disability<br />

per se, whether psychiatric, <strong>in</strong>tellectual, physical or sensory disability, is a poor predictor of parent<strong>in</strong>g<br />

capacity” (McConnell, Llewellyn, & Ferronato, 2000, ii)<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

13<br />

11


ihren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>die</strong> Achtung vor Privateigentum vermitteln usw.? In welchem Alter/<strong>in</strong> welchem<br />

Umfang sollen K<strong>in</strong><strong>der</strong> zu H<strong>aus</strong>e mitarbeiten?<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lich gibt es zu jedem <strong>die</strong>ser Punkte sehr unterschiedliche Me<strong>in</strong>ungen sowohl <strong>in</strong>nerhalb<br />

e<strong>in</strong>er sozialen Geme<strong>in</strong>schaft als auch (erst recht) zwischen unterschiedlichen sozialen<br />

Schichten, Gesellschaftssystemen und Kulturen. Deshalb ist es nicht möglich, konkrete elterliche<br />

Kompetenzen allgeme<strong>in</strong>gültig zu def<strong>in</strong>ieren, son<strong>der</strong>n sie können nur relativ, <strong>in</strong> Abhängigkeit<br />

von <strong>der</strong> jeweiligen soziokulturellen Umgebung, präzisiert werden (vgl. Pixa-Kettner & Sauer<br />

2006).<br />

Wie kann man aber wenigstens für unseren Kulturkreis genauer fassen, was mit elterlichen<br />

Kompetenzen geme<strong>in</strong>t ist und wie sie zustande kommen? Ich möchte hierfür kurz e<strong>in</strong> Modell<br />

elterlicher Kompetenzen <strong>aus</strong> England vorstellen, das Parental Skills Model von Sue McGaw<br />

und Peter Sturmey (1994). Sue McGaw ist Begrün<strong>der</strong><strong>in</strong> des Special Parent<strong>in</strong>g Service (SPS) <strong>in</strong><br />

Cornwall, England, e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>richtung, <strong>die</strong> seit ca. 1987 ambulante Betreuungsangebote für Eltern<br />

mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung (learn<strong>in</strong>g bzw. <strong>in</strong>tellectual disabilities) bereitstellt und nach eigenen<br />

Angaben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zeitraum von 10 Jahren mit annähernd 1000 Fällen solcher Elternschaften<br />

zu tun hatte (McGaw 2004). Das von ihr entwickelte Parental Skills Model (PSM) soll verdeutlichen,<br />

dass elterliche Kompetenzen sich <strong>aus</strong> verschiedenen Faktoren zusammensetzen,<br />

<strong>die</strong> mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zusammenhängen.<br />

Das Parental Skills Model<br />

<strong>aus</strong>: McGaw & Strumey (1994), 39<br />

Mit Parent’s life skills s<strong>in</strong>d allgeme<strong>in</strong>e Lebensfertigkeiten <strong>der</strong> Eltern geme<strong>in</strong>t, <strong>die</strong> nicht unmittelbar<br />

mit <strong>der</strong> Versorgung des K<strong>in</strong>des zusammenhängen, z.B. wie es um H<strong>aus</strong>haltsführung o<strong>der</strong><br />

Mobilität bestellt ist, welche sprachlichen und sozialen Fähigkeiten <strong>die</strong> Eltern haben, ob <strong>die</strong> Eltern<br />

lesen, schreiben und rechnen können, ob sie e<strong>in</strong>e Tagesstruktur e<strong>in</strong>halten können usw.<br />

Family history me<strong>in</strong>t den familiären H<strong>in</strong>tergrund und <strong>die</strong> K<strong>in</strong>dheit <strong>der</strong> Eltern. Hier<strong>aus</strong> erschließt<br />

sich z.B., <strong>in</strong>wiefern <strong>die</strong> Eltern, als sie selbst K<strong>in</strong><strong>der</strong> waren, angemessenes Elternverhalten erfahren<br />

haben und ggf. auf <strong>die</strong>se Erfahrungen zurückgreifen können, z.B. kle<strong>in</strong>ere Geschwister,<br />

Familienfeiern, Gute-Nacht-Rituale, K<strong>in</strong>dheit <strong>in</strong> Heimen o<strong>der</strong> wechselnden Ersatzfamilien o. ä.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

12


Support and resources beschreibt, zu welchen Unterstützungsangeboten <strong>die</strong> Eltern Zugang<br />

haben, wie ihr soziales Netzwerk ist, ob sie Familienangehörige o<strong>der</strong> Freunde haben, <strong>die</strong> ihnen<br />

helfen, ob sie sonstige Quellen haben, <strong>aus</strong> denen sie schöpfen können, aber auch professionelle<br />

Hilfe fällt darunter.<br />

Im geme<strong>in</strong>samen Überschneidungsfeld <strong>der</strong> 3 Bereiche, quasi als Ergebnis, bef<strong>in</strong>den sich Child<br />

Care und Child Development (Versorgung und Entwicklung des K<strong>in</strong>des). Damit s<strong>in</strong>d <strong>die</strong>jenigen<br />

Fähigkeiten und Fertigkeiten geme<strong>in</strong>t, <strong>die</strong> im engeren S<strong>in</strong>n für <strong>die</strong> Versorgung und Betreuung<br />

e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des, e<strong>in</strong>schließlich e<strong>in</strong>er entwicklungsför<strong>der</strong>lichen Erziehung, notwendig s<strong>in</strong>d.<br />

Dabei ist es durch<strong>aus</strong> denkbar, dass Eltern mit ger<strong>in</strong>gen praktischen Kompetenzen (life skills)<br />

z.B. durch zuverlässige Ansprechpartner im persönlichen o<strong>der</strong> professionellen Umfeld (support<br />

and resources) im Bereich Child Care/Child Development gute Ergebnisse zeigen, während<br />

an<strong>der</strong>e Eltern mit höheren Kompetenzen, z.B. durch soziale Isolation o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Probleme,<br />

bei <strong>der</strong> Erziehung ihrer K<strong>in</strong><strong>der</strong> scheitern. Hier zeigen sich Parallelen zu dem e<strong>in</strong>gangs vorgestellten<br />

bio-psycho-sozialen Verständnis von Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung <strong>der</strong> WHO. Ob geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Eltern<br />

„erziehungs-beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t“ s<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> nicht, ergibt sich <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Wechselwirkung zwischen ihren<br />

persönlichen Vor<strong>aus</strong>setzungen mit den verschiedenen Kontextfaktoren.<br />

Elterliche Kompetenzen<br />

Afrikanische Volksweisheit:<br />

„Um e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d zu erziehen,<br />

braucht man e<strong>in</strong> ganzes Dorf“<br />

aber:<br />

Private soziale Netzwerke (beson<strong>der</strong>s von alle<strong>in</strong><br />

erziehenden Müttern) s<strong>in</strong>d meist sehr dürftig<br />

(vgl. Booth & Booth 1998, Llewellyn & McConnell 2002,<br />

Schnei<strong>der</strong> 2006).<br />

Prof. Dr. Ursula Pixa-Kettner<br />

Universität Bremen<br />

Entsprechend <strong>der</strong> afrikanischen Volksweisheit „Um e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d zu erziehen, braucht man e<strong>in</strong> ganzes<br />

Dorf“ s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Chancen, elterlich kompetent zu se<strong>in</strong>, größer, wenn sich <strong>die</strong> Aufgaben auf<br />

mehrere Personen verteilen. In vielen Familien, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> Familien mit höherem E<strong>in</strong>kommen,<br />

ist <strong>die</strong>s selbstverständlich. Hier werden regelmäßig elterliche Aufgaben an an<strong>der</strong>e<br />

Personen delegiert, ohne dass <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft Anstoß daran genommen würde [Putzhilfe,<br />

H<strong>aus</strong>haltshilfe, Tagesmutter, K<strong>in</strong><strong>der</strong>frau, miterziehende Großeltern und Freunde, Babysitter,<br />

Ferienlager, (Elite-)Internate usw.]. Auch hier hat das soziale Netzwerk wesentlichen Anteil am<br />

Gel<strong>in</strong>gen <strong>der</strong> Elternschaft, ohne dass <strong>die</strong>s den Eltern negativ <strong>aus</strong>gelegt und ihre elterliche Kompetenz<br />

<strong>in</strong> Frage gestellt würde. Eltern mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung verfügen fast nie über <strong>die</strong> hierfür<br />

erfor<strong>der</strong>lichen f<strong>in</strong>anziellen Mittel und mittlerweile ist auch gut belegt, dass ihre privaten sozialen<br />

Netzwerke (ganz beson<strong>der</strong>s <strong>die</strong> alle<strong>in</strong> erziehen<strong>der</strong> Mütter) meist sehr dürftig s<strong>in</strong>d (vgl.<br />

Booth & Booth 1998, Llewellyn & McConnell 2002, Schnei<strong>der</strong> 2006). Wenn Eltern mit geistiger<br />

Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung Teile ihrer elterlichen Aufgaben nicht selbst erfüllen bzw. erfüllen können, müssen<br />

sie befürchten, dass <strong>die</strong>s so gedeutet wird, dass sie grundsätzlich und nicht nur auf e<strong>in</strong>em<br />

bestimmten Gebiet o<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er beson<strong>der</strong>s schwierigen Situation nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage s<strong>in</strong>d, ihre<br />

Funktion als Eltern zu erfüllen. Die Beson<strong>der</strong>heit <strong>die</strong>ser Eltern läge somit weniger <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Mangel an <strong>in</strong>dividuellen elterlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten – das gibt es zwar, kommt aber<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

18<br />

13


auch bei an<strong>der</strong>en Eltern vor – als <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten gesellschaftlichen Umgang mit ihnen,<br />

<strong>der</strong> ihre Teilhabe an dem Lebensbereich <strong>der</strong> Elternschaft erschwert und sie im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> dargestellten<br />

WHO-Def<strong>in</strong>ition zusätzlich be-h<strong>in</strong><strong>der</strong>t.<br />

4 Forschritte und Handlungsbedarf<br />

Fortschritte und Handlungsbedarf<br />

1. Trotz verbesserter Rahmenbed<strong>in</strong>gungen immer noch<br />

P<strong>aus</strong>chalurteile o<strong>der</strong> unrealistisch hohe Kriterien<br />

außerdem:<br />

• auch e<strong>in</strong> Leben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Ersatzfamilie ist stark belastend;<br />

• Vieles kann leichter ersetzt o<strong>der</strong> kompensiert werden als <strong>die</strong><br />

beson<strong>der</strong>e emotionalen B<strong>in</strong>dung zwischen Eltern und K<strong>in</strong>d.<br />

2. Quantität: flächendeckendes Angebot fehlt<br />

3. Qualität <strong>der</strong> professionellen Unterstützung:<br />

<strong>in</strong>haltliche Konzepte fehlen<br />

4. Geme<strong>in</strong>same Angebote für verschiedene Gruppen von<br />

Eltern mit Risikofaktoren anstreben.<br />

Prof. Dr. Ursula Pixa-Kettner<br />

Universität Bremen<br />

Insgesamt lässt <strong>die</strong> <strong>in</strong>ternationale Fachliteratur erkennen, dass es sich bei <strong>die</strong>ser <strong>Thematik</strong><br />

nicht um e<strong>in</strong>e deutsche Beson<strong>der</strong>heit handelt, son<strong>der</strong>n um e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>ternationale Entwicklung. Den<br />

H<strong>in</strong>tergrund bildet <strong>die</strong> weltweit geführte Diskussion um Normalisierung, Integration und Teilhabe,<br />

<strong>die</strong> <strong>in</strong> vielen Bereichen zu verän<strong>der</strong>ten Sichtweisen geführt hat (vgl. auch Selbstbestimmt<br />

Leben, People First usw.). Inzwischen wird <strong>in</strong> etlichen Län<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> Bedarf gesehen, geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten<br />

Menschen, <strong>die</strong> e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d haben bzw. haben wollen, Unterstützung anzubieten, damit<br />

sie und ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>die</strong> Chance haben, als „ganz normale Familie“ zusammenzuleben (vgl.<br />

McGaw 2004). Dies ist auch <strong>in</strong> Deutschland <strong>der</strong> Fall und <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ungen <strong>in</strong> den letzen zwei<br />

Jahrzehnten s<strong>in</strong>d erkennbar, sowohl an den Zahlen, <strong>die</strong> ich Ihnen vorgestellt habe, als auch an<br />

<strong>der</strong> Tatsache, dass es <strong>in</strong>zwischen mit <strong>der</strong> BAG Begleitete Elternschaft (vgl. Bargfrede 2006)<br />

e<strong>in</strong>e bundesweite Organisation von Anbietern gibt, <strong>die</strong> sich auf <strong>die</strong> Unterstützung <strong>die</strong>ser Eltern<br />

spezialisiert haben, und auch an e<strong>in</strong>er zunehmenden Zahl von Tagungen wie <strong>die</strong>ser.<br />

Dennoch ist noch viel zu tun:<br />

1. Trotz <strong>der</strong> verbesserten Rahmenbed<strong>in</strong>gungen sche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> vielen gesellschaftlichen Bereichen<br />

nach wie vor p<strong>aus</strong>chal zu gelten: Menschen mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung können ke<strong>in</strong>e Eltern<br />

se<strong>in</strong>. Dies lässt sich an Gerichtsurteilen ebenso ablesen wie an Fällen von überstürzten<br />

Fremdplatzierungen, wo nicht <strong>in</strong>dividuell festgestellt wird, ob bzw. mit welcher Unterstützung<br />

Eltern <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage wären, ihr K<strong>in</strong>d zu behalten, son<strong>der</strong>n es wird entwe<strong>der</strong> ungeprüft unterstellt,<br />

dass sie es nicht können, weil sie als geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t gelten o<strong>der</strong> es werden Kriterien<br />

aufgestellt, <strong>die</strong> so hoch s<strong>in</strong>d, dass vermutlich e<strong>in</strong> großer Teil <strong>der</strong> Eltern <strong>in</strong> unserem Land sie<br />

ebenfalls nicht erfüllen würden (z.B. h<strong>in</strong>sichtlich Fe<strong>in</strong>fühligkeit). Selbstverständlich gibt es<br />

auch unter Eltern mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung ungeeignete Eltern, aber es dürfen für sie ke<strong>in</strong>e<br />

an<strong>der</strong>en Maßstäbe gelten als für an<strong>der</strong>e Eltern. Oftmals wird bei solchen Entscheidungen<br />

zweierlei nicht bedacht:<br />

dass e<strong>in</strong> Leben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Ersatzfamilie ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>e ideale, für <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> belastungsfreie<br />

Alternative zu ihrer verme<strong>in</strong>tlich schwierigen häuslichen Situation darstellt.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

20<br />

14


Oft genug wan<strong>der</strong>n <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> durch mehrere Pflegefamilien, was nach allen entwicklungspsychologischen<br />

Erkenntnissen dem K<strong>in</strong>deswohl nicht son<strong>der</strong>lich zuträglich<br />

ist;<br />

dass man Vieles im Leben e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des ersetzen o<strong>der</strong> kompensieren kann, seien es<br />

fehlende Hilfe bei den Schulaufgaben, fehlende Ordnung im K<strong>in</strong><strong>der</strong>zimmer, e<strong>in</strong>tönige<br />

Speisepläne o<strong>der</strong> unternehmungsarme Wochenenden, dass es aber sehr schwer ist,<br />

<strong>die</strong> beson<strong>der</strong>e emotionale B<strong>in</strong>dung, <strong>die</strong> sich fast immer zwischen Eltern und K<strong>in</strong>d<br />

e<strong>in</strong>stellt, zu ersetzen;<br />

2. Es kann nach wie vor nicht von e<strong>in</strong>em flächendeckenden Angebot für <strong>die</strong> betroffenen Familien<br />

gesprochen werden. Immer noch s<strong>in</strong>d viele Mütter o<strong>der</strong> Elternpaare gezwungen, ihre<br />

vertraute Umgebung zu verlassen, wenn sie für sich und ihr K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e Unterstützung wollen,<br />

weil ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>richtung <strong>in</strong> ihrer Region gefunden werden kann, <strong>die</strong> bereit ist, <strong>die</strong>se Aufgabe<br />

zu übernehmen. Auch für nicht-beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Eltern wäre das e<strong>in</strong>e starke Belastung, umso<br />

mehr für Eltern mit e<strong>in</strong>geschränkten materiellen Mitteln und begrenzter Mobilität.<br />

3. Auch <strong>die</strong> Qualität <strong>der</strong> professionellen Unterstützung muss künftig stärker <strong>in</strong> den Blick genommen<br />

werden. Dies möchte ich nicht als Kritik an den e<strong>in</strong>zelnen Fachkräften verstanden<br />

wissen, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e fachlich und psychisch sehr anspruchsvolle Arbeit meist mit hohem persönlichem<br />

Engagement leisten. Aber <strong>aus</strong> me<strong>in</strong>er Sicht fehlt es <strong>in</strong> Deutschland noch an <strong>in</strong>haltlichen<br />

Konzepten für <strong>die</strong> Arbeit. Während es <strong>in</strong> englischsprachigen Län<strong>der</strong>n z.B. differenzierte<br />

Materialen gibt, mit denen <strong>der</strong> Unterstützungsbedarf <strong>der</strong> Eltern genauer festgestellt werden<br />

kann (vgl. das PAM von McGaw u. a. 1998), ebenso wie Materialien und Konzepte zur<br />

Weiterbildung <strong>der</strong> Eltern und zur Stärkung ihrer Ressourcen (z.B. Dunst u. a. 1994, o<strong>der</strong><br />

verschiedene Internet-Quellen, z.B. http://www3.fhs.usyd.edu.au/fssp/parents/our_<br />

research/parent_education.htm, http://www.cornwall.nhs.uk/specialparent<strong>in</strong>gservices), erfolgt<br />

bei uns <strong>die</strong> Unterstützung oft auf <strong>der</strong> Grundlage sehr allgeme<strong>in</strong> gehaltener Zielvorstellungen<br />

und „<strong>aus</strong> dem Bauch her<strong>aus</strong>“ ohne <strong>die</strong> Möglichkeit, sich an bereits vorhandenen<br />

Konzepten zu orientieren.<br />

4. Schließlich wäre auch zu überlegen, <strong>in</strong>wiefern <strong>die</strong> Unterstützungs- und Bildungsbedürfnisse<br />

<strong>der</strong> Eltern mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung mit denen an<strong>der</strong>en Elterngruppen <strong>in</strong> unserer Gesellschaft<br />

zusammengebracht werden können. Elternkurse, Elterntra<strong>in</strong><strong>in</strong>gsprogramme, Erziehungshelfer<br />

wie Super-Nanny, Triple P, Video-Home-Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g, HIPPY, Freiheit <strong>in</strong> Grenzen,<br />

Starke Eltern –starke K<strong>in</strong><strong>der</strong> usw. haben Hochkonjunktur (vgl.- z.B. Wiss. Beirat 2005). Zwar<br />

s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Berührungsängste auf beiden Seiten groß und gewiss s<strong>in</strong>d auch e<strong>in</strong>ige spezifische<br />

Erfor<strong>der</strong>nisse <strong>der</strong> Eltern mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung zu berücksichtigen. Trotzdem sche<strong>in</strong>t es<br />

mir an <strong>der</strong> Zeit, <strong>die</strong> Frage geme<strong>in</strong>samer Angebote für verschiedene Gruppen von Eltern mit<br />

Risikofaktoren aufzuwerfen. Vielleicht geht <strong>die</strong> Konzeption <strong>der</strong> heutigen Tagung schon e<strong>in</strong><br />

bisschen <strong>in</strong> <strong>die</strong>se Richtung. Damit wäre wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Schritt <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Isolation <strong>in</strong> Richtung<br />

Integration und Normalisierung getan o<strong>der</strong> – wie <strong>die</strong> ICF es nennen würde - <strong>in</strong> Richtung<br />

Teilhabe/ Partizipation.<br />

Weiterführende Literatur:<br />

Bargfrede, Stefanie (2006): Unterstützungsmöglichkeiten für Eltern mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung <strong>in</strong> Deutschland.<br />

In: Pixa-Kettner (Hrsg.): Tabu o<strong>der</strong> Normalität? Eltern mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung und ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong>,<br />

283 – 299<br />

Booth, Tim & Booth, Wendy (1998): Grow<strong>in</strong>g up with parents who have learn<strong>in</strong>g difficulties. London :<br />

Routledge<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

15


Booth, Tim, Booth, Wendy & McConnell, David (2005), Care Proceed<strong>in</strong>gs and Parents with Learn<strong>in</strong>g Difficulties:<br />

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Deutsches Institut für mediz<strong>in</strong>ische Dokumentation und Information (DIMDI) (2004): ICF. Internationale<br />

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Dunst, Carl. J., Trivette, Carol M. & Deal,Angela, G. (Ed.) (1994): Support<strong>in</strong>g & Strengthen<strong>in</strong>g Families,<br />

Volume 1: Methods, Strategies and Practices, Cambridge, Massachusetts: Brookl<strong>in</strong>e Books<br />

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Outcome Stu<strong>die</strong>s. In: Research <strong>in</strong> Developmental Disabilities, (15), 4, 299 – 332.<br />

Llewellyn, Gwynnyth & McConnell, David (2002): Mothers with learn<strong>in</strong>g difficulties and their support networks.<br />

In: Journal of Intellectual Disability Research, 46, 17 – 34<br />

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Sub-Committee, October 1995. Sydney : University of Sydney.<br />

McConnell, David, Llewellyn, Gwynnyth, & Ferronato, Luisa (2000): Parents with a disability and The<br />

NSW Children’s Court, University of Sydney<br />

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Parent<strong>in</strong>g. Theory and research for practice. London: SAGE Publications, 213-236<br />

McGaw, Susan, Beckley, Kerry, Connolly, Nicola & Ball, Kather<strong>in</strong>e (1998): Parent Assessment Manual,<br />

Truro/ Cornwall: Trecare NHS Trust<br />

Pachter, Lee M., & Dumont-Mathieu, Thyde (2004) Parent<strong>in</strong>g <strong>in</strong> Culturally Divergent Sett<strong>in</strong>gs. In:<br />

Hoghugi, M. & Long, N. (Hrsg.): Handbook of Parent<strong>in</strong>g. Theory and research for practice. London:<br />

SAGE Publications, 88-97<br />

Pixa-Kettner, Ursula & Sauer, Bernhard (2006): Elterliche Kompetenzen und <strong>die</strong> Feststellung von<br />

Unterstützungsbedürfnissen <strong>in</strong> Familien mit geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten Eltern. In: Pixa-Kettner, U. (2006),<br />

221 - 249<br />

Pixa-Kettner, Ursula (2007): Elternschaft von Menschen mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung <strong>in</strong> Deutschland: Ergebnisse<br />

e<strong>in</strong>er zweiten bundesweiten Fragebogenerhebung. In: Geistige Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung (46), 4, 309-<br />

321<br />

Pixa-Kettner, Ursula (Hrsg.) (2006): Tabu o<strong>der</strong> Normalität? Eltern mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung und ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong>.<br />

Heidelberg: Universitätsverlag C. W<strong>in</strong>ter, Edition S<br />

Pixa-Kettner, Ursula, Stefanie Bargfrede & Ingrid Blanken (1996): „Dann waren sie sauer auf mich, dass<br />

ich das K<strong>in</strong>d haben wollte…“ E<strong>in</strong>e Untersuchung zur Lebenssituation geistigbeh<strong>in</strong><strong>der</strong>ter Menschen<br />

mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>in</strong> <strong>der</strong> BRD. Baden-Baden: Nomos<br />

Schnei<strong>der</strong>, Petra (2006): „B<strong>in</strong> ich auch froh, wenn ich so Hilfe habe“ – Unterstützungsnetzwerke von<br />

Eltern mit Lernschwierigkeiten unter E<strong>in</strong>bezug <strong>der</strong> Sicht e<strong>in</strong>er betroffenen Mutter. In: Pixa-Kettner, U.<br />

(2006), Tabu o<strong>der</strong> Normalität? Eltern mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung und ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong>. Heidelberg: Universitätsverlag<br />

C. W<strong>in</strong>ter, Edition S, 253 – 274<br />

Seidel, Michael (2003): Die Internationale Klassifikation <strong>der</strong> Funktionsfähigkeit, Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung und<br />

Gesundheit. In: Geistige Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung (42), 3, 244-254<br />

Statistische Ämter des Bundes und <strong>der</strong> Län<strong>der</strong> (2006): Onl<strong>in</strong>e im Internet: URL: http://www.statistikportal.de/Statistik-Portal/de_jb01jahrtab1.asp<br />

(Stand 22.7.2006)<br />

Wissenschaftlicher Beirat für Erziehungsfragen (2005): Familiale Erziehungskompetenzen. Beziehungsklima<br />

und Erziehungsleistungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familie als Problem und Aufgabe. Gutachten für das Bundesm<strong>in</strong>isterium<br />

für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, We<strong>in</strong>heim und München: Juventa Verlag<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

16


Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Ja, vielen herzlichen Dank Frau Pixa-Kettner. Super Anfang, nur<br />

nicht ganz e<strong>in</strong>e Punktlandung. Sie verstehen jetzt, weshalb <strong>die</strong>se Aufgabe unangenehm ist, an<br />

<strong>die</strong> Zeit zu gemahnen.<br />

Ich hoffe, es haben alle irgendwie e<strong>in</strong>en Platz gefunden, <strong>der</strong> erträglich ist. 350 Stühle, mehr<br />

fasst <strong>der</strong> Saal nicht. Mehr hat <strong>die</strong> H<strong>aus</strong>technik nicht. Ich glaube, wir gehen langsam zu universitären<br />

Verhältnissen über. Ich hoffe, es geht noch e<strong>in</strong> bisschen. Das Thema sche<strong>in</strong>t anzuregen,<br />

zu uns nach Köln zu kommen, sich herwehen zu lassen heute. Sie werden <strong>in</strong> <strong>der</strong> P<strong>aus</strong>e feststellen,<br />

wenn Sie mit Leuten reden, <strong>die</strong> Sie nicht kennen: es ist tatsächlich e<strong>in</strong>e Begegnung <strong>aus</strong><br />

sehr unterschiedlichen Arbeitsfel<strong>der</strong>n. Wir schaffen es glaube ich heute, Kollegen und Kolleg<strong>in</strong>nen<br />

zusammen zu br<strong>in</strong>gen, <strong>die</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Jugendhilfe arbeiten, mit psychisch Kranken, mit Menschen<br />

mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung und vielleicht auch mit Menschen an<strong>der</strong>er Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungsarten.<br />

Wir haben uns heute hier e<strong>in</strong> bisschen konzentriert - an<strong>der</strong>s g<strong>in</strong>g es nicht - auf <strong>die</strong> größten<br />

Gruppen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen, mit denen wir <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe zu tun haben.<br />

Deshalb jetzt <strong>der</strong> Wechsel: gleiche Stadt, auch Frau Wagenblass kommt <strong>aus</strong> Bremen, an<strong>der</strong>e<br />

Hochschule, an<strong>der</strong>e Zielgruppe, an<strong>der</strong>er Bekanntheitsgrad mit <strong>die</strong>sem Podium. Frau Wagenblass<br />

war schon verschiedentlich hier. Ich sagte ja schon: es hat auch an<strong>der</strong>e Veranstaltungen<br />

zum Thema gegeben, dankenswerterweise, von Kollegen <strong>der</strong> Jugendhilfe und Gesundheit. Fokus<br />

war da <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel eher <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>perspektive, also welche Hilfen benötigen <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

von psychisch kranken Eltern. Das ist Ihr Thema heute und <strong>der</strong> Auftrag quasi uns auch schwerpunktmäßig<br />

<strong>die</strong> Sichtweisen <strong>der</strong> Unterstützungsbedarfe <strong>der</strong> Eltern näher zu br<strong>in</strong>gen. Bitte<br />

schön!<br />

Vortrag „Zur Lebenssituation psychisch kranker Eltern und ihrer K<strong>in</strong><strong>der</strong>“<br />

Prof. Dr. Sab<strong>in</strong>e Wagenblass (Fachbereich Sozialwesen, Fachhochschule<br />

Bremen): Ich möchte mit e<strong>in</strong>er Vorbemerkung anfangen, weil ich,<br />

als ich das Programm bekommen habe, erst gedacht habe: geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t<br />

und psychisch beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t? Mit dem Begriff psychische Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

habe ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en ganzen Forschungen nicht gearbeitet. Ich habe<br />

mit dem Begriff psychische Störung gearbeitet. Insofern möchte ich gerne<br />

mit e<strong>in</strong>er Vorbemerkungen anfangen und sagen, e<strong>in</strong>e psychische<br />

Störung ist nicht gleich e<strong>in</strong>e psychische Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung. Und <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Beson<strong>der</strong>heit<br />

von psychischen Störungen ergeben sich auch Beson<strong>der</strong>heiten für <strong>die</strong> Familien und<br />

auch Beson<strong>der</strong>heiten für <strong>die</strong> Helfersysteme, <strong>die</strong> nicht vergleichbar s<strong>in</strong>d mit Familien, <strong>in</strong> denen<br />

e<strong>in</strong>e geistige Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung vorliegt. Insofern ist mir das wichtig, das zu differenzieren.<br />

Im zweiten Punkt möchte ich kurz darauf e<strong>in</strong>gehen, wie normal es eigentlich ist, dass es psychisch<br />

kranke Menschen gibt <strong>in</strong> unserer Gesellschaft und wie normal es ist, dass psychisch<br />

kranke Menschen auch K<strong>in</strong><strong>der</strong> haben und gleichzeitig, was es für e<strong>in</strong> großes Tabu ist, darüber<br />

zu sprechen.<br />

Der dritte Punkt, da muss ich Sie e<strong>in</strong> bisschen enttäuschen. Ich habe <strong>in</strong> den letzten 10 Jahren,<br />

seit ich an dem Thema arbeite gelernt zu sehen, dass ich nicht nur e<strong>in</strong>e Perspektive betrachten<br />

kann. Das heißt, ich kann nicht nur <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> anschauen, ich kann nicht nur <strong>die</strong> Eltern anschauen,<br />

ich kann nicht nur <strong>die</strong> erwachsenen Angehörigen anschauen, son<strong>der</strong>n ich muss alle<br />

drei anschauen und nur, wenn mir das gel<strong>in</strong>gt, kann ich auch <strong>die</strong> Familien adäquat unterstüt-<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

17


zen. Ich selbst habe angefangen mit e<strong>in</strong>er parteilichen Perspektive für <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> und b<strong>in</strong> daran<br />

gescheitert, weil ich gemerkt habe: Angebote, <strong>die</strong> nur <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> den Blick nehmen, scheitern<br />

oft daran, dass <strong>die</strong> Eltern es als Bedrohung erleben. Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> gehen zehn Stunden <strong>in</strong> <strong>die</strong> soziale<br />

Gruppenarbeit, kommen gestärkt nach H<strong>aus</strong>e, was wir pädagogisch als Erfolg werten. In<br />

den Familien ist es e<strong>in</strong>e Bedrohung. Das K<strong>in</strong>d macht nicht mehr mit, erfüllt nicht mehr se<strong>in</strong>e<br />

Aufgaben wie es vorher war und <strong>in</strong>sofern muss man <strong>die</strong> Eltern mitnehmen und den Eltern klarmachen:<br />

Toll, ihr K<strong>in</strong>d kann auf sich aufpassen, es hat e<strong>in</strong>e Stärke entwickelt, es ist ke<strong>in</strong>e Bedrohung.<br />

Insofern möchte ich ganz gerne alle drei Perspektiven darstellen, um dann zu zeigen, dass es<br />

nicht reicht, wenn e<strong>in</strong> Hilfesystem <strong>die</strong> Familie stützt, son<strong>der</strong>n dass wir immer mehrere Hilfesysteme<br />

brauchen, wenn <strong>die</strong> Problematik komplex ist, weil <strong>die</strong> Hilfesysteme <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel immer nur<br />

e<strong>in</strong>e Perspektive <strong>in</strong> den Mittelpunkt stellen. Das wird sozusagen <strong>die</strong> Her<strong>aus</strong>for<strong>der</strong>ung se<strong>in</strong>, dass<br />

wir es zukünftig schaffen, auch Überschneidungsbereiche zu entwickeln. Wir haben noch klassische<br />

Sichtweisen auf den Erwachsenen, auf das K<strong>in</strong>d und wir brauchen überschneidende<br />

Perspektiven auf <strong>die</strong> Familie. Das ist <strong>die</strong> große Her<strong>aus</strong>for<strong>der</strong>ung, <strong>die</strong> jedoch <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Praxis</strong> unheimlich<br />

schwierig umzusetzen ist. Darauf will ich noch etwas e<strong>in</strong>gehen. Warum ist das eigentlich<br />

so?<br />

Zu me<strong>in</strong>er Vorbemerkung:<br />

Psychische Störung ist nicht gleich<br />

psychische Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

Quelle: http://www.kompetenznetzschizophrenie.de/rdkns/Dateien/netz<br />

-broschuere.pdf<br />

Prof. Dr. Sab<strong>in</strong>e Wagenblass, Hochschule Bremen, Fakultät 3 – Stu<strong>die</strong>ngang Soziale Arbeit<br />

Das ist e<strong>in</strong> Schaubild des Kompetenznetzes Schizophrenie und Sie sehen, e<strong>in</strong>e schizophrene<br />

Psychose kann ganz unterschiedliche Verläufe mit sich br<strong>in</strong>gen. Man kann e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen<br />

Schub haben und nie wie<strong>der</strong> Krankheitssymptome zeigen. Das ist <strong>in</strong> 22 % <strong>der</strong> Fälle so. Man<br />

kann mehrere Schübe haben o<strong>der</strong> mehrere Episoden und zwischendr<strong>in</strong> immer wie<strong>der</strong> stabile<br />

Phasen, wo <strong>der</strong> alte Bef<strong>in</strong>dlichkeitszustand wie<strong>der</strong> hergestellt wird. Ich kann Episoden haben,<br />

nach denen es mir etwas schlechter geht, aber me<strong>in</strong> Zustand stellt sich auf e<strong>in</strong>em gewissen,<br />

weniger belastbaren Niveau e<strong>in</strong>, aber ich habe sozusagen e<strong>in</strong> gewisses Level, was ich erreicht<br />

habe. Und <strong>die</strong> vierte Form: Es geht mir jedes Mal schlechter, nach jedem Schub.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

18


Aus Sicht <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> und <strong>aus</strong> Sicht <strong>der</strong> Helfersysteme heißt das, man weiß eigentlich nicht, wie<br />

es weiter geht. Ist das jetzt e<strong>in</strong> Fall, wo es nur e<strong>in</strong> Schub ist? Ist es e<strong>in</strong> Fall, wo es e<strong>in</strong>en chronischen<br />

Verlauf nimmt, aber zwischendr<strong>in</strong> immer wie<strong>der</strong> stabile Phasen hat? O<strong>der</strong> ist es e<strong>in</strong> Zustand,<br />

<strong>der</strong> sich sozusagen immer wie<strong>der</strong> kont<strong>in</strong>uierlich verschlechtert? Das heißt aber auch für<br />

das K<strong>in</strong>d: Ich erlebe e<strong>in</strong>e Mutter, ich erlebe e<strong>in</strong>en Vater, <strong>der</strong> <strong>in</strong> bestimmten Phasen alle Aufgaben,<br />

<strong>die</strong> an Eltern gestellt werden, erfüllen kann und dass es Phasen gibt, <strong>in</strong> denen Mutter o<strong>der</strong><br />

Vater ihre Elternrolle überhaupt nicht <strong>aus</strong>füllen können. Das heißt, ich habe Phasen, wo ich e<strong>in</strong><br />

abwesendes Elternteil habe und Phasen, wo ich e<strong>in</strong> wun<strong>der</strong>bar unterstützendes Elternteil habe.<br />

Für <strong>die</strong> Eltern heißt das, es gibt Phasen, wo sie ihrer Elternrolle gerecht werden, wo sie mit sich<br />

zufrieden s<strong>in</strong>d, aber es gibt auch Phasen, wo sie an sich zweifeln, wo sie sich als schlechte<br />

Mutter, als schlechter Vater fühlen.<br />

Für <strong>die</strong> Hilfesysteme heißt das, es gibt Phasen, wo möglicherweise <strong>die</strong> Familie 40 Stunden Unterstützung<br />

braucht und es gibt Phasen, wo sie überhaupt ke<strong>in</strong>e Unterstützung braucht. Wenn<br />

Sie sich das Jugendhilfesystem anschauen, so e<strong>in</strong>e Flexibilität ist e<strong>in</strong>e große Her<strong>aus</strong>for<strong>der</strong>ung<br />

und es muss immer wie<strong>der</strong> überprüft werden, wie viel Unterstützung braucht <strong>die</strong> Familie jetzt<br />

aktuell im Moment.<br />

Das dritte Problem, was für <strong>die</strong> Jugendhilfe im Moment e<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>s großes Problem ist: Wo<br />

ist <strong>die</strong> Grenze, wo es zur Gefahr für das K<strong>in</strong>d wird? Wo ist <strong>die</strong> Krankheit so massiv, dass <strong>die</strong><br />

fehlende Erziehungsfähigkeit <strong>der</strong> Mutter o<strong>der</strong> des Vaters zum Risiko für das K<strong>in</strong>d wird? Bei e<strong>in</strong>er<br />

geistigen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung hat man sozusagen e<strong>in</strong>e Tatsache, auf <strong>die</strong> man sich e<strong>in</strong>stellen kann.<br />

Diese Tatsache ist bei <strong>der</strong> Geburt des K<strong>in</strong>des bekannt und als Helfersystem kann man sich auf<br />

<strong>die</strong>se familiäre Situation e<strong>in</strong>stellen. Bei psychischen Störungen fehlt e<strong>in</strong>em <strong>die</strong>se Möglichkeit<br />

<strong>der</strong> E<strong>in</strong>stellung, so dass man permanent überprüfen und permanent flexibel se<strong>in</strong> muss. Und das<br />

ist e<strong>in</strong> großer Unterschied, <strong>der</strong> auch <strong>in</strong> den Familien ganz an<strong>der</strong>e Dynamiken erzeugt und ganz<br />

an<strong>der</strong>e Her<strong>aus</strong>for<strong>der</strong>ungen für alle Beteiligten <strong>der</strong> Familien mit sich br<strong>in</strong>gt.<br />

Ich komme zu me<strong>in</strong>em zweiten Punkt: Psychische Störungen als gesellschaftliche Realität.<br />

Lebenszeitprävalenzen psych. Störungen<br />

• Depression:<br />

Lebenszeitprävalenz: 12% bis 17% , d.h. je<strong>der</strong> 5. bis<br />

8. Mensch erkrankt im Laufe se<strong>in</strong>es Lebens<br />

• Angststörung:<br />

Lebenszeitprävalenz 15%, d.h. je<strong>der</strong> 7. Mensch<br />

erkrankt im Laufe se<strong>in</strong>es Lebens<br />

• Schizophrenie:<br />

Lebenszeitprävalenz: 1%, d.h. je<strong>der</strong> 100. Mensch<br />

erkrankt im Laufe se<strong>in</strong>es Lebens<br />

Prof. Dr. Sab<strong>in</strong>e Wagenblass, Hochschule Bremen, Fakultät 3 – Stu<strong>die</strong>ngang Soziale Arbeit<br />

Wenn wir uns <strong>die</strong> Lebenszeit-Prävalenzen psychischer Störungen anschauen, d.h. <strong>die</strong> Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit,<br />

mit <strong>der</strong> e<strong>in</strong> Mensch im Laufe se<strong>in</strong>es Lebens erkrankt, dann sehen Sie, dass es<br />

gar nicht so unwahrsche<strong>in</strong>lich ist. Ich habe das mal auf <strong>die</strong> Gruppe hier umgerechnet. Da habe<br />

ich noch <strong>die</strong> Information gehabt: 300 Teilnehmer. Also, Depression: Bei e<strong>in</strong>er Lebenszeit-<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

19


Prävalenz von 12 – 17 % hieße das bei 300 Anwesenden, dass 60 von uns im Laufe ihres Lebens<br />

an e<strong>in</strong>er Depression erkranken können. Bezogen auf <strong>die</strong> Angststörungen mit e<strong>in</strong>er Lebenszeit-Prävalenz<br />

von 15% bedeutet das, dass ungefähr 30 Personen hier im Laufe ihres Lebens<br />

an e<strong>in</strong>er Angststörung erkranken können und bei <strong>der</strong> Schizophrenie s<strong>in</strong>d es drei Personen,<br />

<strong>die</strong> laut Wahrsche<strong>in</strong>lichkeitsrechnung erkranken. Das heißt, alle<strong>in</strong> bei uns Anwesenden<br />

besteht <strong>die</strong> Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit, dass 30 %, also e<strong>in</strong> Drittel ungefähr, im Laufe des Lebens an<br />

e<strong>in</strong>er psychischen Erkrankung bzw. psychischen Störung erkranken. Psychische Erkrankungen<br />

s<strong>in</strong>d also gesellschaftliche Normalität. Jetzt erschrecken Sie alle nicht. Es ist gar nicht so verwun<strong>der</strong>lich,<br />

aber es ist trotzdem erstaunlich, wenn man <strong>die</strong> Zahlen hört. Sie kennen alle jemanden<br />

<strong>aus</strong> <strong>der</strong> Familie o<strong>der</strong> <strong>aus</strong> dem Bekanntenkreis, <strong>der</strong> psychisch erkrankt ist. Es ist noch lange<br />

nicht gesellschaftliche Normalität, darüber zu sprechen.<br />

Was wir <strong>in</strong>zwischen auch haben, ist <strong>die</strong> Tatsache, dass psychisch kranke Menschen Eltern<br />

werden.<br />

Anzahl psychisch erkrankter Eltern <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

stationären Psychiatrie<br />

Stu<strong>die</strong><br />

Schone, R./Wagenblass, S.<br />

2002<br />

Lenz, A. 2005<br />

Gurny, R. 2007 (Schweiz)<br />

Anteil <strong>der</strong> PatientInnen<br />

mit m<strong>in</strong><strong>der</strong>jährigen<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

stationären Psychiatrie<br />

19%<br />

27%<br />

17%<br />

Prof. Dr. Sab<strong>in</strong>e Wagenblass, Hochschule Bremen, Fakultät 3 – Stu<strong>die</strong>ngang Soziale Arbeit<br />

Wenn man sich <strong>die</strong> drei aktuellen Stu<strong>die</strong>n anschaut zum Thema „K<strong>in</strong><strong>der</strong> psychisch kranker Eltern“<br />

bzw. den Anteil <strong>der</strong> Patient<strong>in</strong>nen mit m<strong>in</strong><strong>der</strong>jährigen K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>in</strong> <strong>der</strong> stationären Psychiatrie,<br />

dann sehen Sie, dass es immer e<strong>in</strong>e relativ ähnliche Zielgröße ist. Zwischen 17 und 27 % <strong>der</strong><br />

Patient<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> <strong>der</strong> stationären Psychiatrie haben m<strong>in</strong><strong>der</strong>jährige K<strong>in</strong><strong>der</strong>. Wir haben nicht nach<br />

Elternschaft an sich, son<strong>der</strong>n nur nach m<strong>in</strong><strong>der</strong>jährigen K<strong>in</strong><strong>der</strong>n gefragt. Sie können sich also<br />

vorstellen, <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> Eltern an sich ist weit<strong>aus</strong> größer. Früher war es an<strong>der</strong>s. In den 70er<br />

Jahren wurden psychisch kranke Menschen <strong>in</strong> Frauen- bzw. Männerabteilungen mehr o<strong>der</strong> weniger<br />

weggeschlossen. Jenseits <strong>der</strong> Anstaltsmauer gab es wenig alternative Lebensformen für<br />

psychisch kranke Menschen. Mit <strong>der</strong> geme<strong>in</strong>denahen Psychiatrie haben sich neue und verschiedenartige<br />

Lebensformen entwickelt. Mit <strong>der</strong> Pluralisierung <strong>der</strong> Lebensformen ist es auch<br />

zu e<strong>in</strong>er vermehrten Elternschaft <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Gruppe gekommen.<br />

Bezogen auf <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> haben wir lei<strong>der</strong> ke<strong>in</strong>e Zahlen und können nicht sagen: wir haben soundso<br />

viele K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> Deutschland, <strong>die</strong> von <strong>die</strong>ser <strong>Thematik</strong> betroffen s<strong>in</strong>d. Fritz Mattejat hat<br />

dazu e<strong>in</strong>e Hochrechnung angestellt.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

20


Anzahl K<strong>in</strong><strong>der</strong> psychisch kranker Eltern<br />

Nach Hochrechnungen von Mattejat (2006) gibt es <strong>in</strong><br />

Deutschland<br />

• 740.000 K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit e<strong>in</strong>em alkohol- o<strong>der</strong><br />

drogenabhängigem Elternteil<br />

• 270.000 K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit e<strong>in</strong>em an Schizophrenie erkranktem<br />

Elternteil<br />

• 1.230.000 K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit e<strong>in</strong>em an affektiven Störungen<br />

erkranktem Elternteil<br />

• 1.555.000 K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit e<strong>in</strong>em an Angststörungen<br />

erkranktem Elternteil<br />

Prof. Dr. Sab<strong>in</strong>e Wagenblass, Hochschule Bremen, Fakultät 3 – Stu<strong>die</strong>ngang Soziale Arbeit<br />

Er hat <strong>die</strong> Daten des Mikrozensus zu Grunde gelegt und hat E<strong>in</strong>wohnerzahl, durchschnittliche<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>zahl und <strong>die</strong> Lebenszeit-Prävalenzen gegengerechnet und kam zu Schätzungen, <strong>die</strong> besagen,<br />

dass 740.000 K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit e<strong>in</strong>em alkohol- o<strong>der</strong> drogenabhängigen Elternteil, 270.000 K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

mit e<strong>in</strong>em an Schizophrenie erkrankten Elternteil, 1.230.000 mit e<strong>in</strong>em an e<strong>in</strong>er affektiven<br />

Störung erkrankten Elternteil und 1.555.000 mit e<strong>in</strong>em an Angststörung erkrankten Elternteil<br />

leben.<br />

Diese Zahlen verdeutlichen noch e<strong>in</strong>mal <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>: Für e<strong>in</strong>e große Gruppe<br />

von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n ist es gesellschaftliche Realität, mit e<strong>in</strong>em psychisch erkrankten Elternteil zusammen<br />

zu leben bzw. e<strong>in</strong> psychisch erkranktes Elternteil zu haben. In vielen Fällen ist es<br />

schon zur Trennung gekommen, wo e<strong>in</strong> psychisch erkranktes Elternteil nicht mehr mit se<strong>in</strong>en<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>n zusammen lebt.<br />

Gesellschaftliche Realität<br />

• Dass psychisch erkrankte Menschen K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

haben ist gesellschaftliche Realität und<br />

Normalität, dennoch ist es bis heute <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Psychiatrie nicht selbstverständlich, dass <strong>die</strong><br />

Elternschaft von psychisch erkrankten<br />

Menschen thematisiert wird.<br />

Prof. Dr. Sab<strong>in</strong>e Wagenblass, Hochschule Bremen, Fakultät 3 – Stu<strong>die</strong>ngang Soziale Arbeit<br />

Zusammenfassend kann man also sagen, dass psychisch erkrankte Menschen K<strong>in</strong><strong>der</strong> haben,<br />

ist gesellschaftliche Realität und auch Normalität. Dennoch ist es bis heute we<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Psychiatrie<br />

noch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Jugendhilfe noch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit selbstverständlich, darüber zu reden,<br />

dass psychisch kranke Menschen auch Eltern s<strong>in</strong>d und dass auch <strong>die</strong> familiären Situationen<br />

thematisiert werden.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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(Nicht-)Berücksichtigung <strong>der</strong> Elternrolle<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Psychiatrie<br />

• 12% <strong>der</strong> Patienten geben an, dass <strong>die</strong> Ärzte sie<br />

gar nicht nach ihrer K<strong>in</strong><strong>der</strong> fragten.<br />

• 37% geben an, dass <strong>die</strong> Ärzte sich nicht nach<br />

<strong>der</strong> Versorgung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> erkundigt haben.<br />

• 55% geben an, dass sie bereits ärztlich<br />

empfohlene stationäre Maßnahme <strong>aus</strong> Sorge<br />

um <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> abgebrochen o<strong>der</strong> nicht<br />

angetreten haben.<br />

Quelle: M. Kölch u.a., Stu<strong>die</strong> Universitätskl<strong>in</strong>ikum Ulm, n=104<br />

Prof. Dr. Sab<strong>in</strong>e Wagenblass, Hochschule Bremen, Fakultät 3 – Stu<strong>die</strong>ngang Soziale Arbeit<br />

Bei e<strong>in</strong>er Untersuchung <strong>in</strong> Ulm wurden <strong>die</strong> Eltern gefragt: „S<strong>in</strong>d sie eigentlich gefragt worden,<br />

ob sie K<strong>in</strong><strong>der</strong> haben?“ Man denkt, das ist e<strong>in</strong>e Standardfrage. Es ist lei<strong>der</strong> noch ke<strong>in</strong>e Standardfrage.<br />

Es gibt viele psychiatrische E<strong>in</strong>richtungen, <strong>die</strong> bis heute nicht <strong>die</strong>se Frage stellen o<strong>der</strong>,<br />

wenn sie sie stellen, sie damit e<strong>in</strong>fach nichts tun. Dann wird angekreuzt „hat K<strong>in</strong><strong>der</strong>, 3“ und<br />

dann wird das abgelegt <strong>in</strong> <strong>die</strong> Akten. Das ist sozusagen nicht Bestandteil des umfassenden<br />

Behandlungsplanes o<strong>der</strong> des Behandlungskonzeptes. 37 % geben an, dass <strong>die</strong> Ärzte sich nicht<br />

nach <strong>der</strong> Versorgung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> erkundigt haben. Das ist <strong>in</strong>sofern fatal, als dass 55 % nämlich<br />

angeben, sie haben schon Maßnahmen <strong>aus</strong> Sorge um <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> abgebrochen o<strong>der</strong> nicht angetreten.<br />

Das heißt, <strong>die</strong> Sorge um <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> bee<strong>in</strong>flusst den Gesundungsprozess und <strong>die</strong> Teilnahme<br />

<strong>der</strong> psychisch erkrankten Eltern an Behandlungsmaßnahmen. Die Folge davon ist, dass<br />

viele versuchen, so spät wie möglich zum Arzt zu gehen o<strong>der</strong> eben versuchen, sich so lange<br />

wie möglich ambulant behandeln zu lassen, was oft zur Dekompensation <strong>der</strong> Menschen führt<br />

und zu e<strong>in</strong>em erneuten Stressfaktor wird.<br />

Wir haben <strong>in</strong> unserer Untersuchung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Jugendhilfe gefragt: „Was wisst ihr denn eigentlich<br />

über <strong>die</strong> psychischen Störungen <strong>der</strong> Eltern, denen ihr Hilfen zur Erziehung gewährt?“<br />

20 % sagen: Wir wissen zwar, dass es da e<strong>in</strong>e psychische Störung gibt. Wir wissen aber we<strong>der</strong><br />

was es für e<strong>in</strong>e ist noch, ob <strong>die</strong>se Person sich <strong>in</strong> Behandlung bef<strong>in</strong>det.<br />

Wir haben <strong>in</strong>zwischen viele Konzepte o<strong>der</strong> viele Angebote <strong>der</strong> erzieherischen Hilfen, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

<strong>die</strong> SPFH, <strong>die</strong> viel mit <strong>der</strong> Zielgruppe K<strong>in</strong><strong>der</strong> psychisch kranker Eltern arbeitet. Die Fachkräfte<br />

s<strong>in</strong>d bis heute nicht geschult bezogen auf <strong>die</strong>se Zielgruppe. Mitte <strong>der</strong> 90er Jahre war<br />

psychische Störung e<strong>in</strong> Ausschlusskriterium. Heute arbeiten sie mit <strong>die</strong>sen Menschen, aber es<br />

gibt ganz wenig Qualifizierungen dah<strong>in</strong>gehend: Wie arbeite ich eigentlich mit <strong>die</strong>sen Menschen?<br />

Auf was muss ich achten? Was kann ich erwarten? Wo überfor<strong>der</strong>e ich <strong>die</strong> Menschen?, so dass<br />

wir auf <strong>der</strong> Handlungsfeldebene noch lange nicht von <strong>der</strong> Realität und Normalität sprechen können.<br />

Psychische Störungen s<strong>in</strong>d Familienerkrankungen. Das heißt nicht, dass alle sozusagen pathologisiert<br />

werden, son<strong>der</strong>n das heißt, dass es e<strong>in</strong>e Erkrankung ist, <strong>die</strong> alle betrifft und <strong>die</strong> alle<br />

belastet und auch alle her<strong>aus</strong>for<strong>der</strong>t.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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Ergebnisse von (erwachsenen)<br />

Angehörigenstu<strong>die</strong>n<br />

• Gesundheitliche Belastungen<br />

• f<strong>in</strong>anzielle Belastungen<br />

• Bee<strong>in</strong>trächtigung <strong>der</strong> Beziehung zum Erkrankten<br />

• E<strong>in</strong>schränkungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> eigenen Autonomie und<br />

Abgrenzungsprobleme,<br />

• zusätzliche familiäre Pflichten/Mehrbelastungen<br />

• Reduktion von Freizeit<br />

• Ängste<br />

• Diskrim<strong>in</strong>ierung/Isolation<br />

• Verlusterfahrung <strong>der</strong> Gegenwart bzw. <strong>der</strong> Zukunft<br />

Quelle: Jungbauer et al. 2001, Franz u.a. 2003<br />

Prof. Dr. Sab<strong>in</strong>e Wagenblass, Hochschule Bremen, Fakultät 3 – Stu<strong>die</strong>ngang Soziale Arbeit<br />

Die Ergebnisse von Angehörigen-Stu<strong>die</strong>n bei Erwachsenen zeigen, dass sich erwachsene Angehörige<br />

gesundheitlich belasteter als vergleichbare Zielgruppen fühlen. Sie sehen sich f<strong>in</strong>anziell<br />

belastet, <strong>die</strong> Beziehungsqualität zum Erkrankten ist bee<strong>in</strong>trächtigt, <strong>die</strong> eigene Autonomie ist<br />

e<strong>in</strong>geschränkt. Es kommen zusätzliche familiäre Pflichten und Mehrbelastungen h<strong>in</strong>zu und<br />

gleichzeitig hat man wesentlich weniger Freizeit, um <strong>die</strong>se Mehrbelastung <strong>aus</strong>zugleichen, um<br />

sich zu entspannen, um sich zu erholen. Viele Ängste s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Familien. Man macht <strong>die</strong><br />

Erfahrung <strong>der</strong> Diskrim<strong>in</strong>ierung und <strong>der</strong> Isolation und vor allem, man verliert oft e<strong>in</strong>e positive Zukunftsperspektive.<br />

Diese Perspektive geht oft <strong>in</strong> den Familien verloren, weil man eben nicht<br />

weiß: Wie geht es eigentlich weiter? Wie verläuft <strong>die</strong> Krankheit? Wann geht es hier wie<strong>der</strong> aufwärts?<br />

Wie sieht unser Leben <strong>in</strong> 5 Jahren <strong>aus</strong>? So etwas wie Pläne schmieden und Zukunftsperspektiven<br />

entwickeln geht oft <strong>in</strong> akuten Phasen verloren.<br />

Diese Ergebnisse von Erwachsenenstu<strong>die</strong>n s<strong>in</strong>d schon länger bekannt. Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> hat man<br />

jahrelang nicht <strong>in</strong> den Blick genommen. Erst seit Mitte <strong>der</strong> 90er Jahre realisiert man überhaupt,<br />

dass psychisch kranke Menschen auch K<strong>in</strong><strong>der</strong> haben und realisiert überhaupt, dass <strong>die</strong>se K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

auch möglicherweise belastet s<strong>in</strong>d. Bei den Angehörigenstu<strong>die</strong>n hat man her<strong>aus</strong> gefunden:<br />

In dem Moment, wo <strong>die</strong>se Angehörigen entlastet werden, <strong>in</strong> Selbsthilfegruppen, <strong>in</strong> dem Moment<br />

gehen <strong>die</strong>se Belastungen auch zurück. Also, <strong>der</strong> Aust<strong>aus</strong>ch mit an<strong>der</strong>en, sozusagen das Zugestehen:<br />

„Du hast auch e<strong>in</strong> Recht auf e<strong>in</strong> eigenes Leben“, verbessert <strong>die</strong> Situation <strong>der</strong> Angehörigen<br />

und verbessert auch <strong>die</strong> gesamte familiäre Situation. Aus <strong>der</strong> Perspektive des K<strong>in</strong>des gab<br />

es lange Zeit nur <strong>die</strong> Rezeption <strong>der</strong> High-Risk-Forschung.<br />

Ergebnisse von (k<strong>in</strong>dbezogenen) Stu<strong>die</strong>n<br />

High-Risk-Forschung<br />

• Das durchschnittliche Risiko <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bevölkerung an<br />

e<strong>in</strong>er schizophrenen Störung zu erkranken liegt bei 1%<br />

• Bei e<strong>in</strong>em schizophren erkranktem Elternteil liegt das<br />

Risiko <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>, selbst schizophren zu erkranken, bei<br />

10 bis 15%<br />

• Bei zwei schizophren erkrankten Elterteilen liegt das<br />

Risiko <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>, selbst schizophren zu erkranken, bei<br />

35 bis 50%<br />

Prof. Dr. Sab<strong>in</strong>e Wagenblass, Hochschule Bremen, Fakultät 3 – Stu<strong>die</strong>ngang Soziale Arbeit<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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Danach liegt das Risiko für K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit e<strong>in</strong>em schizophren erkrankten Elternteil selbst an e<strong>in</strong>er<br />

Schizophrenie zu erkranken bei 10 bis 15%. Wir können aber auch sagen: Bei e<strong>in</strong>em schizophren<br />

erkrankten Elternteil entwickeln 85 bis 90 % <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> ke<strong>in</strong>e schizophrene Störung, son<strong>der</strong>n<br />

bleiben gesund. Und selbst wenn zwei schizophren erkrankte Elternteile da s<strong>in</strong>d, entwickeln<br />

50 % <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> ke<strong>in</strong>e Störungen. Inzwischen hat man <strong>die</strong> zweite Perspektive stärker <strong>in</strong><br />

den Vor<strong>der</strong>grund gestellt und man diskutiert über Resilienz und Ressourcen <strong>in</strong> den Familien,<br />

also zu schauen, was ist eigentlich <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Familien an Ressourcen da, wo hat <strong>die</strong> Familie<br />

Stärken, wo müssen wir sie unterstützen, damit sie noch mehr Stärken entwickeln kann? Und<br />

das ist, denke ich, auch <strong>der</strong> Ansatz, <strong>der</strong> <strong>in</strong> den Helfersystemen weit<strong>aus</strong> mehr Mut macht als e<strong>in</strong><br />

Ansatz, wo man sagt: Das s<strong>in</strong>d sowieso belastete K<strong>in</strong><strong>der</strong>, <strong>die</strong> alle irgendwann selbst krank werden.<br />

Psychosoziale Probleme und<br />

Belastungen <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

Unmittelbare Probleme<br />

Desorientierung<br />

Schuldgefühle<br />

sozialer Rückzug<br />

Ängste<br />

Prof. Dr. Sab<strong>in</strong>e Wagenblass, Hochschule Bremen, Fakultät 3 – Stu<strong>die</strong>ngang Soziale Arbeit<br />

Nun zu <strong>der</strong> Situation <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>. Viele K<strong>in</strong><strong>der</strong> wissen nicht, dass ihre Eltern e<strong>in</strong>e psychische<br />

Erkrankung haben. Es wird <strong>in</strong> den Familien nicht darüber gesprochen. Das K<strong>in</strong>d merkt nur das<br />

verän<strong>der</strong>te Verhalten, kann aber nicht erklären, warum es so ist und fängt an, eigene Erklärungen<br />

zu entwickeln, <strong>die</strong> meistens wesentlich schlimmer s<strong>in</strong>d als <strong>die</strong> tatsächliche Erklärung. Die<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> denken z.B.: „Ich b<strong>in</strong> schuld, ich war nicht brav, ich habe nicht aufgeräumt“ und entwickeln<br />

Schuldgefühle. O<strong>der</strong> <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> bekommen Aufgaben zugeteilt, dass sie sich z.B. um den<br />

erkrankten Elternteil kümmern sollen, dass sie darauf achten sollen, dass <strong>die</strong> Eltern das und<br />

das nicht tun. Und natürlich können K<strong>in</strong><strong>der</strong> solche Aufgaben nicht übernehmen und wenn sie<br />

dann scheitern, entwickeln sie oft Schuldgefühle und beziehen es sehr stark auf sich. Die K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

ziehen sich zurück, sie schämen sich zum Teil für ihre Eltern. Es ist ihnen unangenehm,<br />

wenn jemand nach H<strong>aus</strong>e kommt. Sie möchten nicht, dass ihre Schulkameraden mitbekommen,<br />

wie es zu H<strong>aus</strong>e bei ihnen ist und vor lauter Angst, dass <strong>die</strong>ses Familiengeheimnis offenbart<br />

werden könnte, ziehen sie sich eher zurück. Und sie entwickeln vielfache Ängste. Und ich<br />

denke das ist sicherlich auch noch mal e<strong>in</strong> großer Unterschied zu K<strong>in</strong><strong>der</strong>n von Eltern mit e<strong>in</strong>er<br />

geistigen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung: Psychische Erkrankungen, gerade wenn sie e<strong>in</strong>en chronischen Verlauf<br />

haben, berühren auch das Thema Suizid. Und <strong>die</strong>se Suizidwünsche o<strong>der</strong> <strong>der</strong> tatsächliche Suizid<br />

des erkrankten Elternteils, belastet <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> und ist mit großer Angst verbunden. „Ich habe<br />

Angst, dass sich me<strong>in</strong>e Mutter o<strong>der</strong> me<strong>in</strong> Vater etwas antut.“ Sie können sich vorstellen, was<br />

das für e<strong>in</strong>e Belastung ist, wenn <strong>die</strong>ses K<strong>in</strong>d das Elternh<strong>aus</strong> verlässt.<br />

Es gibt aber auch Folgeprobleme. Aus <strong>die</strong>sen Belastungen her<strong>aus</strong> kommt es oft zu Betreuungsdefiziten.<br />

Die Eltern s<strong>in</strong>d mit ihrer eigenen Situation so hochgradig beschäftigt, <strong>der</strong> gesunde<br />

Elternteil, aber auch <strong>der</strong> erkrankte Elternteil, dass <strong>die</strong> Zeit für <strong>die</strong> Betreuung und Unterstüt-<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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zung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> immer ger<strong>in</strong>ger wird. Wir haben am Anfang das Bild e<strong>in</strong>er Schere entwickelt. In<br />

Krisenzeiten brauchen K<strong>in</strong><strong>der</strong> eigentlich mehr Unterstützung. Gleichzeitig haben <strong>die</strong> Eltern aber<br />

weniger Ressourcen frei und <strong>die</strong> Schere geht <strong>aus</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>. Eigentlich müsste sie zusammengehen<br />

und das führt dazu, dass <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> sich oft alle<strong>in</strong> gelassen fühlen. Sie müssen oft Verantwortung<br />

übernehmen und ich denke, da gibt es sicherlich auch Überschneidungen mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />

geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ter Eltern. Parentifizierung wird <strong>die</strong>ses Phänomen genannt. K<strong>in</strong><strong>der</strong> übernehmen<br />

Verantwortung für Erwachsene. Sie br<strong>in</strong>gen <strong>der</strong> Mutter das Essen ans Bett, sie übernehmen<br />

Telefonate, sie sagen Term<strong>in</strong>e ab usw. Also Sachen, zu denen <strong>die</strong> Eltern nicht mehr <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Lage s<strong>in</strong>d. Und nicht nur für den erkrankten Elternteil, auch oft für den gesunden Elternteil,<br />

<strong>in</strong>dem sie als Partnerersatz fungieren. „Kümmer’ du dich mal um <strong>die</strong> kle<strong>in</strong>eren Geschwister“<br />

o<strong>der</strong>: „Sorg’ du dich mal um de<strong>in</strong>en Vater“, so dass <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> eben <strong>in</strong> zweierlei H<strong>in</strong>sicht Verantwortung<br />

übernehmen müssen, für den gesunden, aber auch für den erkrankten Elternteil.<br />

Sie haben Loyalitätskonflikte und sie erleben Abwertung <strong>in</strong> ihrer Umwelt. Es ist nach wie vor e<strong>in</strong><br />

Stigma, psychisch krank zu se<strong>in</strong> und <strong>die</strong>ses Stigma trifft auch <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>. „Du bist e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>er<br />

verrückten Mutter, das heißt, auch du bist verrückt.“ Das erleben K<strong>in</strong><strong>der</strong> sehr oft als sehr belastend,<br />

<strong>die</strong>se Abwertung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe <strong>der</strong> Gleichaltrigen.<br />

Probleme und Belastungen<br />

<strong>der</strong> erkrankten Eltern<br />

• Überfor<strong>der</strong>ung (Ich schaffe das nicht!)<br />

• Selbstzweifel (Ich b<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e schlechte Mutter!)<br />

• Scham (Ich schäme mich dafür, was ich me<strong>in</strong>em<br />

K<strong>in</strong>d zumute!)<br />

• Ängste (Ich habe Angst, dass mir me<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d<br />

weggenommen wird! Ich habe Angst um me<strong>in</strong><br />

K<strong>in</strong>d!)<br />

Prof. Dr. Sab<strong>in</strong>e Wagenblass, Hochschule Bremen, Fakultät 3 – Stu<strong>die</strong>ngang Soziale Arbeit<br />

Aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> Eltern, denke ich, ist es erstmal wichtig zu sagen: Auch psychisch kranke<br />

Menschen wollen gute Eltern se<strong>in</strong>. Das vergessen wir lei<strong>der</strong> viel zu oft. Man sieht <strong>die</strong> psychische<br />

Erkrankung, man sieht aber nicht, dass es Eltern s<strong>in</strong>d und dass auch <strong>die</strong>se Eltern gute<br />

Eltern se<strong>in</strong> wollen. Und gleichzeitig merken sie aber auch, dass sie <strong>die</strong>se Ansprüche, <strong>die</strong> sie an<br />

sich selbst haben, <strong>in</strong> bestimmten Phasen nicht erfüllen können. Sie fühlen sich überfor<strong>der</strong>t. „Ich<br />

schaffe das nicht!“ Gleichzeitig haben sie Angst, das mitzuteilen. Was passiert, wenn ich im<br />

Jugendamt anrufe und sage: „Ich b<strong>in</strong> psychisch krank, ich schaffe das nicht?“ Es heißt sofort:<br />

Ich b<strong>in</strong> nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage, me<strong>in</strong>e Mutterpflicht zu erfüllen.<br />

Es gibt aber Menschen, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>en Teil des Tages genug Energie haben, e<strong>in</strong>e gute Mutter zu<br />

se<strong>in</strong>. Sie schaffen es aber nicht 24 Stunden. Und das zugeben zu dürfen, „Ich schaffe es nicht“<br />

und dass das nicht als E<strong>in</strong>geständnis gewertet wird: „Ich kann es nicht“, son<strong>der</strong>n: „Ich schaffe<br />

es nicht <strong>in</strong> bestimmten Phasen“. Ich denke, das ist das, wo wir auch <strong>die</strong> Mütter und <strong>die</strong> Väter<br />

unterstützen müssen, dass sie das formulieren können und dass sie das auch formulieren dürfen,<br />

wenn sie sich überfor<strong>der</strong>t fühlen, Selbstzweifel hegen, sich schämen o<strong>der</strong> Angst haben.<br />

Sie sehen, auch auf Seiten <strong>der</strong> Eltern gibt es, bezogen auf ihre Elternrolle, e<strong>in</strong>e Vielfalt von Fragen,<br />

von Selbstzweifel, von Überfor<strong>der</strong>ung und wenn Sie sich noch e<strong>in</strong>mal <strong>die</strong>se Folien von<br />

vorh<strong>in</strong> vergegenwärtigen, dass <strong>die</strong> Elternrolle zum Teil <strong>in</strong> <strong>der</strong> Psychiatrie gar nicht thematisiert<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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wird und Eltern mit solchen Zweifeln auch <strong>in</strong> das psychiatrische Sett<strong>in</strong>g kommen, dann merkt<br />

man noch e<strong>in</strong>mal, wie fatal es ist, dass man <strong>die</strong>se Elternrolle <strong>aus</strong>spart. Denn damit spart man<br />

e<strong>in</strong>en Teil <strong>der</strong> Persönlichkeit <strong>aus</strong> und e<strong>in</strong>e ganzheitliche Psychiatrie sollte auch <strong>die</strong>sen Teil, <strong>die</strong>sen<br />

wichtigen Teil, mit <strong>in</strong> den Blick nehmen. Da wird eher mit <strong>in</strong> den Blick genommen, dass<br />

man als Berufstätiger nicht se<strong>in</strong>e Anfor<strong>der</strong>ungen erfüllen kann und dass man darunter leidet,<br />

dass man eben nicht mehr voll leistungsfähig im Beruf ist, aber dass man nicht voll leistungsfähig<br />

als Elternteil ist, das ist lei<strong>der</strong> noch nicht selbstverständlich, das <strong>in</strong> den Blick zu nehmen.<br />

Viele Eltern würden gerne Hilfe <strong>in</strong> Anspruch nehmen, aber sie nehmen sie nicht <strong>in</strong> Anspruch.<br />

Und dafür gibt es drei zentrale Gründe:<br />

Gründe <strong>der</strong><br />

Nicht-Inanspruchnahme von Hilfen<br />

Nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage<br />

ke<strong>in</strong>e Kenntnisse über<br />

Hilfsangebote<br />

Angst, K<strong>in</strong><strong>der</strong> zu verlieren<br />

Quelle: Hearle et al. 1999<br />

Angaben <strong>in</strong> %<br />

40%<br />

36%<br />

30%<br />

Prof. Dr. Sab<strong>in</strong>e Wagenblass, Hochschule Bremen, Fakultät 3 – Stu<strong>die</strong>ngang Soziale Arbeit<br />

- Zum Teil s<strong>in</strong>d sie nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage, weil <strong>die</strong> psychische Erkrankung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Situation so<br />

massiv ist, dass sie ke<strong>in</strong>e Ressourcen haben, um aktiv Hilfe <strong>in</strong> Anspruch zu nehmen o<strong>der</strong><br />

danach zu fragen.<br />

- Sie haben ke<strong>in</strong>e Kenntnisse über Hilfsangebote und<br />

- sie haben Angst, <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> zu verlieren.<br />

Das s<strong>in</strong>d sozusagen <strong>die</strong> drei zentralen Punkte, warum Eltern Hilfe nicht annehmen, obwohl sie<br />

sagen: „Eigentlich hätte ich gerne Hilfe und Unterstützung“.<br />

Wenn man das zusammenfassen möchte, kann man sagen:<br />

Fazit: Familiäre Gesamtsituation<br />

• E<strong>in</strong>e psychische Erkrankung stellt für alle<br />

Beteiligten e<strong>in</strong>e belastende und krisenhafte<br />

Lebenssituation dar<br />

• Der sich dar<strong>aus</strong> ergebende komplexe<br />

Hilfebedarf kann nur <strong>in</strong> Kooperation <strong>der</strong><br />

beteiligten Hilfesysteme gedeckt werden<br />

Prof. Dr. Sab<strong>in</strong>e Wagenblass, Hochschule Bremen, Fakultät 3 – Stu<strong>die</strong>ngang Soziale Arbeit<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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E<strong>in</strong>e psychische Erkrankung stellt für alle Beteiligten e<strong>in</strong>e belastende und krisenhafte Lebenssituation<br />

dar. Dar<strong>aus</strong> ergibt sich me<strong>in</strong> zweites Fazit: Der sich dar<strong>aus</strong> ergebende komplexe Hilfebedarf<br />

kann nur <strong>in</strong> Kooperation <strong>der</strong> beteiligten Hilfesysteme gedeckt werden. Ich habe <strong>in</strong> den<br />

letzten 10 Jahren viele gute Ansätze gesehen, wo e<strong>in</strong> System versucht, <strong>die</strong> ganze komplexe<br />

Problematik zu bearbeiten und <strong>die</strong> Menschen zu unterstützen und immer wie<strong>der</strong> an Grenzen<br />

stößt. Und ich habe e<strong>in</strong>ige gute <strong>Beispiele</strong> <strong>der</strong> Kooperation erlebt, wo beide Seiten sagen, wie<br />

entlastend es ist, nicht <strong>die</strong> Verantwortung für alles zu haben.<br />

Wenn man sich <strong>die</strong> aktuelle Situation anschaut, dann muss man erstmal feststellen: Wir haben<br />

zwei Systeme mit unterschiedlichen Aufträgen, <strong>die</strong> unterschiedliche Perspektiven haben. Sie<br />

haben aber auch Geme<strong>in</strong>samkeiten.<br />

Aus Sicht <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendhilfe:<br />

Situation <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendhilfe<br />

• Auftrag zwischen Hilfe und Kontrolle<br />

Eltern und an<strong>der</strong>e Erziehungsberechtigte bei <strong>der</strong> Erziehung zu<br />

beraten und zu unterstützen,<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen<br />

• Kostendruck (Fachlichkeit vs Kosten)<br />

• Verunsicherung im Umgang mit psychisch erkrankten<br />

Eltern (Nichte<strong>in</strong>schätzbarkeit des Verhaltens und <strong>der</strong><br />

Erziehungsfähigkeit)<br />

• Zu e<strong>in</strong>seitige Wahrnehmung <strong>der</strong> Eltern als<br />

„Problemverursacher“<br />

Prof. Dr. Sab<strong>in</strong>e Wagenblass, Hochschule Bremen, Fakultät 3 – Stu<strong>die</strong>ngang Soziale Arbeit<br />

Der Auftrag: „zwischen Hilfe und Kontrolle“. Die Erwachsenenpsychiatrie hat auch den Auftrag,<br />

aber sie hat das mit „zwischen Hilfe und Schutz“ viel besser formuliert. Also ich würde <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>-<br />

und Jugendhilfe auch dr<strong>in</strong>gend raten, <strong>die</strong>sen Kontrollbegriff umzuformulieren, weil er <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

öffentlichen Wahrnehmung dom<strong>in</strong>iert und oftmals dazu führt, dass Hilfe nicht <strong>in</strong> Anspruch genommen<br />

wird. Das Jugendamt als „K<strong>in</strong><strong>der</strong>-weg-nehm-Amt“. Die Jugendhilfe könnte ebenso wie<br />

<strong>die</strong> Psychiatrie ihren Auftrag „zwischen Hilfe und Schutz“ benennen. Kl<strong>in</strong>gt viel besser und was<br />

dah<strong>in</strong>ter steckt, ist eigentlich nichts an<strong>der</strong>es.<br />

Die K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendhilfe hat den Auftrag, Eltern und an<strong>der</strong>e Erziehungsberechtigte bei <strong>der</strong><br />

Erziehung zu beraten und zu unterstützen und K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendliche vor Gefahren für ihr<br />

Wohl zu schützen. Gleichzeitig wird <strong>die</strong>ser Auftrag im Moment durch e<strong>in</strong>en hohen Kostendruck<br />

bee<strong>in</strong>flusst. Das heißt, <strong>die</strong> Jugendhilfe steht immer im Spannungsfeld, auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite fachliche<br />

Argumente und fachliche E<strong>in</strong>schätzung zu haben und auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite den Kostendruck<br />

zu spüren. Und wir haben e<strong>in</strong>e Verunsicherung im Umgang mit psychisch erkrankten Eltern.<br />

Der Fall Darry hat für e<strong>in</strong>e nochmalige Verstärkung <strong>die</strong>ser Verunsicherung gesorgt, weil<br />

genau da das passiert ist, was <strong>in</strong> den Köpfen und als Angst im Jugendamt immer wie e<strong>in</strong><br />

Schwert darüber schwebt. Was passiert, wenn <strong>die</strong> Mutter den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n irgendetwas antut? Und<br />

wir haben zum Teil e<strong>in</strong>e zu e<strong>in</strong>seitige Wahrnehmung <strong>der</strong> Eltern als Problemverursacher. Das<br />

heißt, <strong>die</strong> Eltern werden nicht mit ihrer eigenen Bedürftigkeit, mit ihrer eigenen Problematik gesehen,<br />

son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie: Was hat ihr Verhalten für Konsequenzen für <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>? Das ist<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite richtig, aber ich denke, wir müssen auch sehen, welches Leid und welche<br />

Situation auf Seiten <strong>der</strong> Eltern vorherrschen.<br />

In Fortbildungen mache ich immer <strong>die</strong> Erfahrung, dass <strong>in</strong> dem Moment, wo sich Mitarbeiter<strong>in</strong>nen<br />

<strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendhilfe e<strong>in</strong> Stück weit <strong>in</strong> <strong>die</strong> Situation e<strong>in</strong>er psychisch erkrankten Mutter<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> versetzen können, sie ganz an<strong>der</strong>e Umgangsweisen entwickeln, was letztendlich zu<br />

e<strong>in</strong>em besseren Verständnis bei<strong>der</strong> Seiten führt und auch zu e<strong>in</strong>em besseren Hilfeergebnis<br />

führen kann.<br />

Die Situation <strong>in</strong> <strong>der</strong> Erwachsenenpsychiatrie:<br />

Situation <strong>der</strong> Erwachsenenpsychiatrie<br />

• Auftrag zwischen Hilfe und Schutz<br />

den Erkrankten bei <strong>der</strong> Bewältigung se<strong>in</strong>er Krankheit zu<br />

unterstützen und zu begleiten und ihm e<strong>in</strong> weitgehend<br />

selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen<br />

E<strong>in</strong>leitung e<strong>in</strong>er freiheitsentziehenden Unterbr<strong>in</strong>gung bei e<strong>in</strong>er<br />

erheblichen Gefährdung Dritter o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er erheblichen<br />

Selbstschädigung<br />

• Kostendruck (Fachlichkeit vs Kosten)<br />

• Verunsicherung im Umgang mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n als Angehörigen<br />

• Ke<strong>in</strong>e Wahrnehmung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> o<strong>der</strong> zu e<strong>in</strong>seitige<br />

Wahrnehmung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> als „stabilisierende Faktoren“<br />

Prof. Dr. Sab<strong>in</strong>e Wagenblass, Hochschule Bremen, Fakultät 3 – Stu<strong>die</strong>ngang Soziale Arbeit<br />

Hier stehen <strong>die</strong> Erwachsenen im Vor<strong>der</strong>grund und es geht darum, den Erkrankten bei <strong>der</strong> Bewältigung<br />

se<strong>in</strong>er Krankheit zu unterstützen und zu begleiten und auch hier <strong>der</strong> Kontrollauftrag:<br />

In dem Moment, wo <strong>der</strong> psychisch erkrankte Mensch sich o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e gefährdet, kann er über<br />

Zwangse<strong>in</strong>weisungen e<strong>in</strong>gewiesen werden. Auch hier haben wir e<strong>in</strong>en Kostendruck. Die Gesundheitsreform<br />

führt dazu, dass stationäre Aufenthalte immer kürzer werden, was natürlich<br />

heißt, dass viele Menschen entlassen werden und nur m<strong>in</strong>imal belastungsfähig s<strong>in</strong>d. Wenn<br />

dann eben K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familie zu versorgen s<strong>in</strong>d, kann das sehr schnell zu e<strong>in</strong>er Überfor<strong>der</strong>ung<br />

führen, weil <strong>die</strong>se Menschen eben nur stabilisiert s<strong>in</strong>d, damit sie ambulant o<strong>der</strong> teilstationär<br />

weiter behandelt werden können. Auch hier haben wir e<strong>in</strong>e Verunsicherung. Den Umgang<br />

mit erwachsenen Angehörigen hat man <strong>in</strong> <strong>der</strong> Psychiatrie gelernt. Aber wie erkläre ich e<strong>in</strong>em 8jährigen,<br />

was e<strong>in</strong>e Schizophrenie ist? Das ist für viele Ärzte schwierig. „Ich weiß nicht, wie ich<br />

mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n sprechen soll, das ist mir unangenehm.“ Und auch hier e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>seitige Wahrnehmung:<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> als Therapiemittel, K<strong>in</strong><strong>der</strong> als stabilisieren<strong>der</strong> Faktor, K<strong>in</strong><strong>der</strong>, <strong>die</strong> den Gesundungsprozess<br />

unterstützen, aber dabei wird oftmals übersehen, dass das K<strong>in</strong>d selbst belastet<br />

ist. Das K<strong>in</strong>d braucht eher e<strong>in</strong>en Schutzraum und es darf nicht noch mehr <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen ganzen<br />

Krankheitsprozess e<strong>in</strong>bezogen werden.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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Der Ist-Zustand:<br />

IST-Zustand<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendhilfe Erwachsenenpsychiatrie<br />

Prof. Dr. Sab<strong>in</strong>e Wagenblass, Hochschule Bremen, Fakultät 3 – Stu<strong>die</strong>ngang Soziale Arbeit<br />

Wir haben zwei Systeme, <strong>die</strong> schön nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> stehen. Aber was wir brauchen s<strong>in</strong>d Überschneidungsbereiche<br />

und <strong>die</strong> können wir nur herstellen, wenn wir kooperieren.<br />

Das heißt,<br />

SOLL-Zustand<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und<br />

Jugendhilfe<br />

Erwachsenenpsychiatrie<br />

Prof. Dr. Sab<strong>in</strong>e Wagenblass, Hochschule Bremen, Fakultät 3 – Stu<strong>die</strong>ngang Soziale Arbeit<br />

Vor<strong>aus</strong>setzungen gel<strong>in</strong>gen<strong>der</strong> Kooperation<br />

• Trotz Parteilichkeit sensibel se<strong>in</strong> für <strong>die</strong><br />

vielfältigen Belastungen <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Familien<br />

• M<strong>in</strong>destmaß an geme<strong>in</strong>samen Zielen und<br />

Überzeugungen muss vorhanden se<strong>in</strong><br />

• Gegenseitige Anerkennung <strong>der</strong> fachlichen<br />

Kompetenz (gleichberechtigter Dialog)<br />

• Etablierung geregelter Verfahren<br />

• Regelung <strong>der</strong> Verantwortlichkeiten<br />

• Beteiligung <strong>der</strong> betroffenen Eltern und K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

Prof. Dr. Sab<strong>in</strong>e Wagenblass, Hochschule Bremen, Fakultät 3 – Stu<strong>die</strong>ngang Soziale Arbeit<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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wir brauchen <strong>die</strong> Parteilichkeit, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Systeme qua Auftrag haben, wir brauchen aber auch<br />

e<strong>in</strong>e Perspektive, <strong>die</strong> für <strong>die</strong> ganze Familie offen ist und wir brauchen e<strong>in</strong> M<strong>in</strong>destmaß an Zielen<br />

und an geme<strong>in</strong>samen Überzeugungen. Also, wenn <strong>die</strong> Erwachsenenpsychiatrie sagt, ich muss<br />

alles tun, damit es <strong>der</strong> Mutter gut geht und <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e sagt, ich muss alles tun, damit es dem<br />

K<strong>in</strong>d gut geht, dann ist es manchmal schwierig. Man muss gucken, wo haben wir <strong>die</strong> Überschneidung.<br />

Und: wir s<strong>in</strong>d beide gut und wir s<strong>in</strong>d beide fachlich kompetent. Es ist nicht das e<strong>in</strong>e<br />

System besser als das an<strong>der</strong>e, son<strong>der</strong>n wir haben beide unsere Kompetenzen <strong>in</strong> unterschiedlichen<br />

Bereichen und wenn wir <strong>die</strong> zusammentun, dann können wir sozusagen auch geme<strong>in</strong>sam<br />

stark werden. Wir brauchen geregelte Verfahren, wir brauchen Verantwortlichkeiten, <strong>die</strong> klar<br />

geregelt s<strong>in</strong>d und wir müssen <strong>die</strong> beteiligten Eltern und K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen mit e<strong>in</strong>beziehen<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Prozess.<br />

Sich auf den Weg machen …<br />

• Geme<strong>in</strong>same Fortbildungen<br />

• Geme<strong>in</strong>same Fallbesprechungen<br />

• Geme<strong>in</strong>same H<strong>aus</strong>besuche<br />

• Erarbeitung von Kriterien zur E<strong>in</strong>schätzung <strong>der</strong><br />

familiären Gesamtsituation (Belastungen,<br />

Ressourcen, Unterstützungsbedarf)<br />

• Erarbeitung von Kriterien zur E<strong>in</strong>schätzung von<br />

Gefährdungssituationen (K<strong>in</strong>desschutz)<br />

Prof. Dr. Sab<strong>in</strong>e Wagenblass, Hochschule Bremen, Fakultät 3 – Stu<strong>die</strong>ngang Soziale Arbeit<br />

Sich auf den Weg machen, geme<strong>in</strong>same Fortbildungen, geme<strong>in</strong>same Fachtagungen, so wie<br />

heute. Sich auch <strong>in</strong> <strong>die</strong> Perspektive des an<strong>der</strong>en h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>versetzen und den Horizont erweitern.<br />

Wir brauchen geme<strong>in</strong>same Fallbesprechungen. Also, wenn e<strong>in</strong>e psychisch kranke Mutter <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Psychiatrie o<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendhilfe ist, dann ist es sehr hilfreich beide Systeme an<br />

e<strong>in</strong>en Tisch zu br<strong>in</strong>gen und <strong>die</strong> E<strong>in</strong>schätzungen von beiden Seiten zusammenzubr<strong>in</strong>gen. Geme<strong>in</strong>same<br />

H<strong>aus</strong>besuche. Wir brauchen Kriterien zur E<strong>in</strong>schätzung <strong>der</strong> familiären Gesamtsituation:<br />

Welche Belastungen s<strong>in</strong>d da, aber auch, welche Ressourcen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familie da und wo<br />

ist e<strong>in</strong> Unterstützungsbedarf?<br />

Der letzte Punkt ist mir ganz wichtig, weil K<strong>in</strong>desschutz aktuell e<strong>in</strong>e gesellschaftliche Querschnittsaufgabe<br />

geworden ist, also <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Zuständigkeit <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendhilfe her<strong>aus</strong>gelöst.<br />

In Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen ist K<strong>in</strong>desschutz im Schulgesetz <strong>in</strong>zwischen verankert. Wir werden<br />

verpflichtende Vorsorgeuntersuchung bekommen, d.h. auch <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>ärzte s<strong>in</strong>d gesetzlich<br />

<strong>in</strong>volviert. Und ich denke auch zukünftig, wenn so e<strong>in</strong> Fall wie Darry passiert, dann muss auch<br />

<strong>die</strong> Erwachsenenpsychiatrie Stellung beziehen und sagen: „Was habe ich eigentlich getan?“<br />

Und <strong>in</strong>sofern denke ich, müssen wir uns dr<strong>in</strong>gend zusammentun, beide Systeme, und uns h<strong>in</strong>setzen<br />

und Kriterien formulieren: Was heißt eigentlich o<strong>der</strong> was ist eigentlich K<strong>in</strong>desschutz und<br />

was kann das jeweilige System wahrnehmen und was kann das jeweilige System tun, um <strong>die</strong>sen<br />

K<strong>in</strong>desschutz zu gewährleisten? Damit b<strong>in</strong> ich am Ende.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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Weiterführende Literatur:<br />

Schone, R./Wagenblass, S. 2006: Wenn Eltern psychisch krank s<strong>in</strong>d. K<strong>in</strong>dliche Lebenswelten und <strong>in</strong>stitutionelle<br />

Handlungsmuster. We<strong>in</strong>heim, 2. Auflage<br />

Wagenblass, S. 2003: Wenn Mütter <strong>in</strong> verrückten Welten leben. Zur Lebenssituation von psychisch kranken<br />

alle<strong>in</strong> erziehenden Frauen und ihren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n. In: Fegert J. M./Ziegenha<strong>in</strong>, U.(Hrsg.) 2003: Hilfen für<br />

Alle<strong>in</strong>erziehende. Die Lebenssituation von E<strong>in</strong>elternfamilien <strong>in</strong> Deutschland. We<strong>in</strong>heim, Basel und Berl<strong>in</strong>,<br />

S. 208 – 214<br />

Wagenblass, S. 2004: Die Last psychischer Erkrankungen. In: frühe K<strong>in</strong>dheit, Heft 2,<br />

S. 16-19<br />

Schone, Re<strong>in</strong>hold / Wagenblass, Sab<strong>in</strong>e, Unbekannte Welten – Die Entdeckung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> psychisch<br />

kranker Eltern als betroffene Angehörige, <strong>in</strong>: Institut für soziale Arbeit (Hrsg.) ISA-Jahrbuch zur Sozialen<br />

Arbeit Münster 2001, S. 128 – 138.<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Ihnen ganz herzlichen Dank, Frau Dr. Wagenblass. Ich merke<br />

schon, es ist quälend, all das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er halben Stunde unterzubr<strong>in</strong>gen. Es ist wahns<strong>in</strong>nig viel Material.<br />

An <strong>der</strong> Stelle nur e<strong>in</strong>e Erleichterung: wir werden natürlich auch über <strong>die</strong>se Veranstaltung<br />

e<strong>in</strong>e schriftliche Tagungsdokumentation machen, mit H<strong>in</strong>weisen auf weiterführende Artikel <strong>der</strong><br />

Damen und mit <strong>die</strong>ser Beruhigung mute ich Ihnen jetzt noch e<strong>in</strong>en weiteren, wahrsche<strong>in</strong>lich<br />

ebenso hoch verdichteten Beitrag zu. Frau Prof. Z<strong>in</strong>smeister. Sie lehrt hier <strong>in</strong> Köln und sagt uns<br />

jetzt noch mal, wo <strong>die</strong> ganzen Schnittstellen und Vere<strong>in</strong>barkeiten <strong>in</strong> unserem Rechtssystem<br />

s<strong>in</strong>d und was wir dabei alles bewältigen müssen, um <strong>die</strong> Vorschläge zu verwirklichen, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

beiden Vorredner<strong>in</strong>nen uns gemacht haben. Bitte schön!<br />

Vortrag „Rechtliche Grundlagen“<br />

Prof. Dr. jur. Julia Z<strong>in</strong>smeister (Lehrgebiet Zivil- und Sozialrecht, Fachhochschule<br />

Köln): Herzlichen Dank. Ich werde mich <strong>in</strong> vielerlei H<strong>in</strong>sicht auf me<strong>in</strong>e<br />

Vorredner<strong>in</strong>nen beziehen können, wenn ich nun <strong>die</strong> Situation <strong>der</strong> Eltern und<br />

ihrer K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>aus</strong> rechtlicher Perspektive darstelle.<br />

In me<strong>in</strong>em Vortrag möchte ich <strong>der</strong> Frage nachgehen, wie <strong>der</strong> Staat e<strong>in</strong>erseits<br />

<strong>die</strong> Familie und das Erziehungsprivileg <strong>der</strong> Eltern zu achten, an<strong>der</strong>erseits das<br />

K<strong>in</strong>deswohl zu schützen hat; welchen Diskrim<strong>in</strong>ierungsrisiken Eltern mit psychischen<br />

Erkrankungen o<strong>der</strong> Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen <strong>in</strong> Sorgerechtsverfahren <strong>aus</strong>gesetzt se<strong>in</strong> können,<br />

welche Unterstützung, d.h. welche Sozialleistungen <strong>die</strong>se Familien beanspruchen können und<br />

warum es <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Praxis</strong> oft sehr schwer ist, <strong>die</strong>se Ansprüche durchzusetzen.<br />

Die Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung e<strong>in</strong>es Elternteils o<strong>der</strong> bei<strong>der</strong> Eltern (chronische psychische Erkrankungen e<strong>in</strong>geschlossen)<br />

rechtfertigt alle<strong>in</strong>e niemals e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>griff <strong>in</strong> <strong>die</strong> elterliche Sorge. Sie entfaltet allenfalls<br />

Relevanz, wenn sie <strong>die</strong> Eltern erheblich <strong>in</strong> ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten e<strong>in</strong>schränkt,<br />

<strong>die</strong>se Sorge zum Wohl ihres K<strong>in</strong>des <strong>aus</strong>zuüben. Familiengerichte entscheiden <strong>aus</strong><br />

unterschiedlichem Anlass über E<strong>in</strong>schränkung o<strong>der</strong> Entzug <strong>der</strong> elterlichen Sorge. E<strong>in</strong>en typischen<br />

Anlass bildet <strong>die</strong> Trennung <strong>der</strong> Eltern. Beantragt e<strong>in</strong> Elternteil im Zuge <strong>der</strong> Trennung das<br />

alle<strong>in</strong>ige Sorgerecht, hat das Familiengericht darüber zu entscheiden, ob <strong>die</strong> Eltern das Sorgerecht<br />

für das K<strong>in</strong>d künftig geme<strong>in</strong>schaftlich <strong>aus</strong>üben sollen o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Elternteil das alle<strong>in</strong>ige Sorgerecht<br />

erhält. Im letzteren Fall hätte das Gericht zu bestimmen, welchem Elternteil <strong>die</strong> alle<strong>in</strong>ige<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

31


Sorge übertragen wird. Dabei ist jeweils <strong>die</strong> Entscheidung zu treffen, <strong>die</strong> "dem Wohl des K<strong>in</strong>des<br />

am besten entspricht".<br />

Hierzu ermittelt das Gericht <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e den Willen des K<strong>in</strong>des, <strong>die</strong> Eignung <strong>der</strong> Eltern zur<br />

Erziehung e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des, <strong>die</strong> Kont<strong>in</strong>uität <strong>der</strong> Erziehung und <strong>der</strong> sozialen B<strong>in</strong>dungen des K<strong>in</strong>des<br />

zu an<strong>der</strong>en Bezugspersonen sowie <strong>die</strong> Wohn- und Lebensverhältnisse <strong>der</strong> Eltern nach <strong>der</strong><br />

Trennung. Die Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung e<strong>in</strong>es Elternteils kann <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Zusammenhang an verschiedenen<br />

Punkten zur Sprache kommen, z.B. wenn zu entscheiden ist, ob <strong>die</strong> psychische Erkrankung<br />

E<strong>in</strong>fluss auf <strong>die</strong> Fähigkeit e<strong>in</strong>es Elternteils hat, se<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e verlässliche Bezugsperson zu<br />

se<strong>in</strong> o<strong>der</strong> wenn zu erwarten ist, dass e<strong>in</strong> Elternteil immer wie<strong>der</strong> wegen längerer Kl<strong>in</strong>ikaufenthalte<br />

als Betreuungsperson <strong>aus</strong>fallen wird.<br />

Das K<strong>in</strong>deswohl bildet natürlich auch den Dreh- und Angelpunkt familiengerichtlicher Verfahren<br />

im Falle e<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>deswohlgefährdung. Grundlage bildet § 1666 BGB, <strong>der</strong> gegenwärtig noch wie<br />

folgt lautet: „Wird das körperliche, geistige o<strong>der</strong> seelische Wohl des K<strong>in</strong>des o<strong>der</strong> se<strong>in</strong> Vermögen<br />

durch missbräuchliche Ausübung <strong>der</strong> elterlichen Sorge, durch Vernachlässigung des K<strong>in</strong>des,<br />

durch unverschuldetes Versagen <strong>der</strong> Eltern o<strong>der</strong> durch das Verhalten e<strong>in</strong>es Dritten gefährdet,<br />

so hat das Familiengericht, wenn <strong>die</strong> Eltern nicht gewillt o<strong>der</strong> nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> Gefahr<br />

abzuwenden, <strong>die</strong> zur Abwendung <strong>der</strong> Gefahr erfor<strong>der</strong>lichen Maßnahmen zu treffen.“ E<strong>in</strong>e Gefährdung<br />

des K<strong>in</strong>deswohls liegt nach <strong>der</strong> Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor,<br />

wenn <strong>die</strong> weitere Entwicklung mit ziemlicher Sicherheit e<strong>in</strong>e erhebliche Schädigung erwarten<br />

lässt. 2 Die <strong>in</strong> § 1666 BGB genannten Kriterien des missbräuchlichen Erziehungsverhaltens o<strong>der</strong><br />

unverschuldeten elterlichen Versagens sollen gestrichen werden. So sieht es <strong>der</strong> Entwurf des<br />

„Gesetzes zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des K<strong>in</strong>deswohls“<br />

vor, <strong>der</strong> <strong>in</strong> Bälde vom Bundestag verabschiedet werden soll. 3 Dann wird es für gerichtliche<br />

Maßnahmen nach § 1666 BGB genügen, dass das K<strong>in</strong>deswohl – <strong>aus</strong> welchen Gründen<br />

auch immer - gefährdet ist und <strong>die</strong> Eltern <strong>die</strong>se Gefahr nicht abwenden wollen o<strong>der</strong> können.<br />

Das „unverschuldete Erziehungsversagen“ wurde von <strong>der</strong> Rechtsprechung <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e als<br />

erfüllt angesehen, wenn Eltern(teile) aufgrund e<strong>in</strong>er Suchterkrankung, psychischen Erkrankung<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Diagnose e<strong>in</strong>er geistigen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung nicht über <strong>die</strong> erfor<strong>der</strong>lichen Möglichkeiten und<br />

Fähigkeiten verfügen, e<strong>in</strong>e dem K<strong>in</strong>deswohl entsprechende Versorgung und Erziehung zu gewährleisten.<br />

Dabei ist zu betonen, dass mit krankheits- o<strong>der</strong> beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungsbed<strong>in</strong>gten E<strong>in</strong>schränkungen<br />

ke<strong>in</strong>eswegs <strong>in</strong>dividuelle Defizite geme<strong>in</strong>t se<strong>in</strong> müssen. Menschen mit chronischen Erkrankungen<br />

und Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen begegnen Vorurteilen und an<strong>der</strong>en Formen <strong>der</strong> sozialen Ausgrenzung,<br />

<strong>die</strong> sie dar<strong>in</strong> beh<strong>in</strong><strong>der</strong>n können, so Eltern zu se<strong>in</strong>, wie sie <strong>die</strong>s gerne wollen. Rollstuhlfahrende<br />

Eltern scheitern am Zugang zum Spielplatz und <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>arztpraxis. Eltern mit<br />

<strong>in</strong>tellektuellen Bee<strong>in</strong>trächtigungen haben kaum Zugang zu verständlichen Informationen über<br />

Schwangerschaft, Geburt und Elternschaft. In E<strong>in</strong>richtungen <strong>der</strong> Psychiatrie und Rehabilitation<br />

ist e<strong>in</strong> Leben mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel nicht vorgesehen. Viele Eltern, vor allem Frauen, sehen<br />

sich daher vor <strong>die</strong> Wahl gestellt, sich zwischen dem Leben mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n o<strong>der</strong> ihrer Behandlung<br />

und Rehabilitation entscheiden zu müssen o<strong>der</strong> bundesweit nach e<strong>in</strong>em familiengerechten Angebot<br />

zu suchen und mit dem Umzug <strong>die</strong> Trennung von ihrem gesamten sozialen Bezugssystem,<br />

möglicherweise auch vom Partner und K<strong>in</strong>dsvater <strong>in</strong> Kauf zu nehmen. Auch <strong>die</strong> Angebote<br />

<strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendhilfe s<strong>in</strong>d nicht immer auf <strong>die</strong> Bedarfe <strong>die</strong>ser Familien zugeschnitten.<br />

Dies schränkt <strong>die</strong> Möglichkeiten vieler Eltern e<strong>in</strong>, ihrer Elternverantwortung so gerecht zu wer-<br />

2 BGH FamRZ 1956, 350.<br />

3 Nachträgliche Anmerkung <strong>der</strong> Referent<strong>in</strong> und Verfasser<strong>in</strong>: Der Entwurf wurde am 24.4.2008 im Bundestag verabschiedet<br />

(Bundestags-Drs. 16/6815 <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fassung <strong>der</strong> Beschlussempfehlung Bundestags-Drs.16/8914). Das Gesetz wird am Tag nach<br />

se<strong>in</strong>er Verkündung im Bundesgesetzblatt <strong>in</strong> Kraft treten.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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den, wie sie <strong>die</strong>s gerne wollen und <strong>die</strong>s wie<strong>der</strong>um kann sich nachteilig auf ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>aus</strong>wirken.<br />

Haben <strong>die</strong> Gerichte zu entscheiden, ob <strong>die</strong> Eltern <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>e dem K<strong>in</strong>deswohl entsprechende<br />

Erziehung zu gewährleisten, wird nach Fähigkeiten gefragt, <strong>die</strong> Frau Pixa-Kettner<br />

bereits anhand des „Parental-skills-model“ vorgestellt hat: Darunter f<strong>in</strong>den sich „life skills“ wie<br />

z.B. <strong>die</strong> Fähigkeit zur H<strong>aus</strong>haltsführung, vor<strong>aus</strong>schauenden Planung, s<strong>in</strong>nvollen Strukturierung<br />

von Alltag und Freizeit, zur Erledigung von Schriftverkehr und Pflege von Außenkontakten.<br />

Dann haben wir <strong>die</strong> Fähigkeiten, <strong>die</strong> gezielter auf <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> gerichtet s<strong>in</strong>d, d.h. <strong>die</strong> Sicherstellung<br />

ihrer pflegerischen Grundversorgung, <strong>der</strong> Aufbau e<strong>in</strong>er stabilen emotionalen Beziehung<br />

zum K<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> För<strong>der</strong>ung des K<strong>in</strong>des entsprechend se<strong>in</strong>en <strong>in</strong>dividuellen Fähigkeiten und Neigungen.<br />

Sicherlich kann ke<strong>in</strong>e Mutter und ke<strong>in</strong> Vater von sich behaupten, <strong>in</strong> all <strong>die</strong>sen Bereich une<strong>in</strong>geschränkt<br />

kompetent zu se<strong>in</strong>. Das kann auch niemand von ihnen verlangen. Ursula Pixa-Kettner<br />

hat jedoch anschaulich dargelegt, dass <strong>in</strong> Bezug auf all <strong>die</strong>se Kompetenzen an Eltern mit <strong>der</strong><br />

Diagnose e<strong>in</strong>er geistigen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung oft höhere Anfor<strong>der</strong>ungen gestellt werden als an nichtbeh<strong>in</strong><strong>der</strong>te<br />

Eltern. Dieses Risiko besteht auch <strong>in</strong> Sorgerechtsverfahren. In den Achtziger Jahren<br />

erhob e<strong>in</strong> Elternpaar mit <strong>der</strong> Diagnose e<strong>in</strong>er geistigen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung Beschwerde zum Bundesverfassungsgericht,<br />

nachdem ihm <strong>in</strong> letzter Instanz vom Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt das<br />

geme<strong>in</strong>same K<strong>in</strong>d entzogen worden war, u. a. mit <strong>der</strong> Begründung, <strong>die</strong> Eltern seien aufgrund<br />

ihrer geistigen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage, ihr K<strong>in</strong>d alle<strong>in</strong>e zu versorgen und entsprechend<br />

se<strong>in</strong>en Begabungen zu för<strong>der</strong>n. Doch kann das überhaupt von Eltern verlangt werden? Ne<strong>in</strong>,<br />

entschied das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 1982 und hob <strong>die</strong> Entscheidung des OLG<br />

Frankfurt auf. Es stellte hierzu fest:<br />

„Die e<strong>in</strong>geschränkte Fähigkeit <strong>der</strong> Beschwerdeführer<strong>in</strong>“ (Anm. jz: <strong>der</strong> Mutter), „ihren H<strong>aus</strong>halt<br />

selbständig zu versorgen, an<strong>der</strong>e familiäre Obliegenheiten ohne fremde Hilfe wahrzunehmen<br />

und vor<strong>aus</strong>schauend zu planen, kann es alle<strong>in</strong> nicht rechtfertigen, das K<strong>in</strong>d den Eltern wegzunehmen.<br />

(...) Zwar stellt das K<strong>in</strong>deswohl <strong>in</strong> <strong>der</strong> Beziehung zum K<strong>in</strong>d <strong>die</strong> oberste Richtschnur<br />

<strong>der</strong> elterlichen Pflege und Erziehung dar. Das bedeutet aber nicht, daß es zur Ausübung des<br />

Wächteramtes des Staates nach Art.6 GG gehört, gegen den Willen <strong>der</strong> Eltern für e<strong>in</strong>e den Fähigkeiten<br />

des K<strong>in</strong>des bestmögliche För<strong>der</strong>ung zu sorgen. (...) Die Trennung e<strong>in</strong>es Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>des<br />

von se<strong>in</strong>en Eltern mit <strong>der</strong> Begründung, sie garantierten nicht <strong>die</strong> "sich <strong>in</strong> wandelnden Normsystemen<br />

und schulischen wie beruflichen Anfor<strong>der</strong>ungen bewegende Sozialisation" des K<strong>in</strong>des,<br />

ist danach mit dem Grundgesetz nicht vere<strong>in</strong>bar. (...)“ 4<br />

Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> unterschiedliche Familien h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> geboren<br />

werden und damit von vornhere<strong>in</strong> sehr unterschiedliche Entwicklungschancen haben. Bildungsstand<br />

und wirtschaftliche Verhältnisse <strong>der</strong> Eltern prägen noch immer wesentlich <strong>die</strong> Bildungs-<br />

und damit auch Berufschancen ihrer K<strong>in</strong><strong>der</strong>. Die e<strong>in</strong>en schicken ihr K<strong>in</strong>d auf e<strong>in</strong> Elite<strong>in</strong>ternat,<br />

<strong>die</strong> an<strong>der</strong>en haben nicht e<strong>in</strong>mal das Geld für e<strong>in</strong> paar Nachhilfestunden. Es gilt zweifellos, K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />

möglichst gleiche Ausgangsbed<strong>in</strong>gungen zu schaffen. Doch <strong>die</strong>ses Ziel darf <strong>der</strong> Staat gemäß<br />

Art.6 GG nur im äußersten Fall durch <strong>die</strong> Trennung von Eltern und K<strong>in</strong>d verfolgen, an erster<br />

Stelle hat er <strong>die</strong> Erziehung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> den Familien zu för<strong>der</strong>n. Dies verlangt <strong>der</strong> Grundsatz<br />

<strong>der</strong> Verhältnismäßigkeit, auf den ich gleich noch e<strong>in</strong>gehen<strong>der</strong> zu sprechen komme.<br />

Im Sorgerechtsverfahren besteht e<strong>in</strong> weiteres Risiko <strong>der</strong> Diskrim<strong>in</strong>ierung beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ter und chronisch<br />

kranker Eltern dar<strong>in</strong>, dass e<strong>in</strong>e defizitorientierte Sicht von Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung und Erkrankung<br />

den Blick auf <strong>die</strong> Lebenslagen, Probleme und Ressourcen <strong>der</strong> Eltern verstellen kann: Schwie-<br />

4 BVerfG, NJW 1982, 1379 f.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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igkeiten werden dann u. U. vorschnell auf <strong>die</strong> Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung o<strong>der</strong> Erkrankung zurückgeführt und<br />

hierdurch mögliche an<strong>der</strong>e Ursachen wie Partnerschaftskonflikte, Gewalt, Arbeitslosigkeit o<strong>der</strong><br />

Alkoholabusus übersehen. Es muss sichergestellt werden, dass nicht nur Defizite, son<strong>der</strong>n<br />

auch <strong>die</strong> Ressourcen beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ter und psychisch kranker Menschen Berücksichtigung f<strong>in</strong>den.<br />

Warum <strong>die</strong>s erfor<strong>der</strong>lich ist, lässt sich mithilfe <strong>der</strong> bereits erwähnten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts<br />

von 1982 verdeutlichen. 5 Dar<strong>in</strong> f<strong>in</strong>den sich Auszüge <strong>aus</strong> e<strong>in</strong>em psychologischen<br />

Gutachten, auf das das OLG se<strong>in</strong>e Entscheidung gestützt hatte, den Eltern das Sorgerecht<br />

zu entziehen. Der Gutachter hatte festgestellt, den Eltern fehle es an Sensibilität und E<strong>in</strong>fühlungsvermögen<br />

und <strong>der</strong> Fähigkeit zur Erörterung von eher komplexeren Erziehungszielen<br />

und –werten. Er empfahl daher <strong>die</strong> Trennung des K<strong>in</strong>des von se<strong>in</strong>en Eltern. Gleichzeitig stellte<br />

er <strong>in</strong> Bezug auf das K<strong>in</strong>d fest, dessen <strong>der</strong>zeitige Persönlichkeit „lasse e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>sgesamt positive<br />

Entwicklung möglich ersche<strong>in</strong>en“ 6 . Diese positiven E<strong>in</strong>drücke vom K<strong>in</strong>d führte er aber, ohne<br />

dass hierfür e<strong>in</strong> Grund erkennbar wäre, alle<strong>in</strong>e auf den E<strong>in</strong>fluss <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>tagesstätte zurück,<br />

nicht auf den <strong>der</strong> Eltern.<br />

Damit b<strong>in</strong> ich bei e<strong>in</strong>em weiteren Risikofaktor <strong>in</strong> Sorgerechtsverfahren: dem E<strong>in</strong>schätzungsprozess.<br />

Ich hatte oft mit Müttern mit psychischer Erkrankung Kontakt, denen das Sorgerecht für<br />

ihr K<strong>in</strong>d entzogen werden sollte und <strong>die</strong> nun auf <strong>der</strong> Suche nach Rat und Hilfe durch <strong>die</strong> gesamte<br />

Bundesrepublik telefonierten. Diese Frauen waren völlig verzweifelt. Fast je<strong>der</strong> Mensch wäre<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er solchen Situation verzweifelt und außer sich. Psychisch kranke Eltern laufen aber Gefahr,<br />

dass ihre emotionale Verfassung nicht auf <strong>die</strong>se Ausnahmesituation zurückgeführt wird,<br />

son<strong>der</strong>n auf ihre psychische Erkrankung. An <strong>die</strong> psychiatrische bzw. psychologische Begutachtung<br />

und richterliche E<strong>in</strong>schätzung <strong>die</strong>ser Eltern s<strong>in</strong>d deshalb me<strong>in</strong>es Erachtens hohe Anfor<strong>der</strong>ungen<br />

gestellt. Dies gilt ebenso für <strong>die</strong> E<strong>in</strong>schätzung <strong>der</strong> Kompetenzen von Eltern mit <strong>in</strong>tellektuellen<br />

E<strong>in</strong>schränkungen. Diese Eltern s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel auf e<strong>in</strong>e langsame und verständliche<br />

Sprache angewiesen und scheitern oft an Kommunikationsbarrieren. Aufgrund <strong>die</strong>ser Kommunikationsbarrieren<br />

ist es für sie weit<strong>aus</strong> schwieriger, sich über ihre Aufgaben, Rechte und Pflichten<br />

als Eltern generell, aber auch speziell im Umgang mit dem Jugendamt und dem Gericht zu<br />

<strong>in</strong>formieren. Entsprechend schwer ist es für sie, <strong>die</strong>sen Institutionen gegenüber ihre Interessen<br />

und <strong>die</strong> ihres K<strong>in</strong>des zu vertreten o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>em Sachverständigen umfassend ihre persönliche<br />

und familiäre Situation darzustellen. Ist e<strong>in</strong>e Kommunikation nur e<strong>in</strong>geschränkt möglich, stützen<br />

Sachverständige und das Gericht ihre E<strong>in</strong>schätzung <strong>der</strong> elterlichen Kompetenz stärker auf ihre<br />

Beobachtung <strong>der</strong> Eltern als auf <strong>der</strong>en Aussagen. Für <strong>die</strong> Beobachtung fehlt es nach Auffassung<br />

von K<strong>in</strong>dler 7 <strong>in</strong> Deutschland aber noch an <strong>aus</strong>reichend erprobten Instrumenten.<br />

E<strong>in</strong> viertes Risiko für Eltern mit <strong>der</strong> Diagnose e<strong>in</strong>er psychischen Erkrankung o<strong>der</strong> geistigen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

und ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong> bildet <strong>der</strong> Mangel an geeigneten Unterstützungsangeboten. Die heute<br />

bereits zitierte afrikanische Weisheit: „Es braucht e<strong>in</strong> ganzes Dorf, um e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d zu erziehen“<br />

ist auch <strong>in</strong> unser Grundgesetz und unsere Rechtsprechung gedrungen: S<strong>in</strong>d Eltern persönlich<br />

nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage, ihrer Elternverantwortung gegenüber ihrem K<strong>in</strong>d gerecht zu werden und verfügen<br />

sie nicht über <strong>die</strong> notwendigen Ressourcen, sich <strong>die</strong> erfor<strong>der</strong>liche Unterstützung zu organisieren<br />

(z.B. durch Beschäftigung e<strong>in</strong>es Au Pair), ist es Aufgabe des Staates, ihnen öffentliche<br />

Hilfen zu gewähren. Geme<strong>in</strong>t s<strong>in</strong>d damit alle Hilfen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Eltern benötigen, um den H<strong>aus</strong>halt<br />

zu führen, den Tag zu planen, das K<strong>in</strong>d zu versorgen und se<strong>in</strong>en sonstigen Bedürfnissen ge-<br />

5 BVerfG, NJW 1982, 1379 (1380).<br />

6 BVerfG, NJW 1982, 1379 (1380).<br />

7 K<strong>in</strong>dler <strong>in</strong>: <strong>der</strong>s./Lillig/Blüml/Meysen/Werner (Hrsg.): Handbuch K<strong>in</strong>deswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgeme<strong>in</strong>er<br />

Sozialer Dienst (ASD), Deutsches Jugend<strong>in</strong>stitut München, 2006 Ziff. F0 32<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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echt zu werden. Es s<strong>in</strong>d grundsätzlich auch solche Hilfen zu gewähren, <strong>die</strong> nicht nur vorübergehend,<br />

son<strong>der</strong>n möglicherweise über e<strong>in</strong>en langen Zeitraum h<strong>in</strong>weg benötigt werden. Nur<br />

wenn <strong>die</strong> Eltern e<strong>in</strong> geeignetes Angebot freiwilliger Hilfen nicht annehmen o<strong>der</strong> <strong>die</strong>se Hilfen<br />

nicht <strong>aus</strong>reichend s<strong>in</strong>d, um e<strong>in</strong>e gegenwärtige Gefahr für das K<strong>in</strong>deswohl abzuwenden, kann<br />

<strong>der</strong> Staat gegen ihren Willen <strong>in</strong> ihr Sorgerecht e<strong>in</strong>greifen.<br />

Der Schutz des K<strong>in</strong>deswohls wiegt im Falle e<strong>in</strong>er Interessenkollision höher als <strong>die</strong> Rechte <strong>der</strong><br />

Eltern. Jugendämter und Gerichte haben <strong>die</strong> Interessen aller Beteiligten sorgfältig gegene<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

abzuwägen. Diese Abwägung erfolgt auf <strong>der</strong> Grundlage des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.<br />

Dieser besagt: Verhältnismäßig ist nur <strong>die</strong>jenige staatliche Maßnahme, <strong>die</strong> zum Schutz des<br />

K<strong>in</strong>des geeignet und erfor<strong>der</strong>lich und nicht mit unverhältnismäßigen E<strong>in</strong>griffen <strong>in</strong> das Elternrecht<br />

verbunden ist.<br />

Die Gerichte müssen auch bei E<strong>in</strong>griffen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Rechte <strong>der</strong> Eltern das mildeste Mittel wählen.<br />

Das Gericht kann Eltern, <strong>die</strong> <strong>die</strong> ihnen angebotenen Hilfen bislang nicht freiwillig angenommen<br />

haben, nun verpflichten, sie <strong>in</strong> Anspruch zu nehmen (z.B. e<strong>in</strong>e Erziehungsberatung o<strong>der</strong> Unterstützung<br />

bei <strong>der</strong> Alltagsorganisation) o<strong>der</strong> für den regelmäßigen Schulbesuch des K<strong>in</strong>des zu<br />

sorgen. Es kann notfalls bestimmte Entscheidungsbefugnisse <strong>der</strong> Eltern auf e<strong>in</strong>en Ergänzungspfleger<br />

übertragen, den Eltern im übrigen das Sorgerecht für das K<strong>in</strong>d und das K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familie<br />

belassen. Für an<strong>der</strong>e K<strong>in</strong><strong>der</strong> h<strong>in</strong>gegen kann es notwendig und erfor<strong>der</strong>lich se<strong>in</strong>, sie <strong>aus</strong><br />

<strong>der</strong> Familien zu nehmen und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Pflegefamilie o<strong>der</strong> E<strong>in</strong>richtung unterzubr<strong>in</strong>gen. Die Her<strong>aus</strong>nahme<br />

des K<strong>in</strong>des als letztmögliches Mittel ist <strong>in</strong> § 1666a BGB geregelt.<br />

Damit komme ich zur Frage, welche öffentlichen Hilfen den Familien im E<strong>in</strong>zelnen anzubieten<br />

und welche staatlichen Träger für <strong>die</strong>se Hilfen zuständig s<strong>in</strong>d.<br />

Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Eltern haben im Zusammenhang mit Familienplanung, Schwangerschaft und Geburt<br />

und dem Leben als Familie grundsätzlich Anspruch auf <strong>die</strong> gleichen Leistungen wie nicht beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te<br />

Eltern, das ist – hoffe ich - uns allen klar. Hier s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>die</strong> Leistungen <strong>der</strong><br />

Krankenkassen und <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendhilfe zu nennen. Diese Leistungen müssen so <strong>aus</strong>gestaltet<br />

werden, dass beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Menschen sie gleichermaßen nutzen können.<br />

Zusätzlich können <strong>die</strong> Eltern aber auch beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungs- o<strong>der</strong> krankheitsbed<strong>in</strong>gte Mehrbedarfe<br />

haben, z.B. benötigt e<strong>in</strong> gehörloser Vater für se<strong>in</strong>en Säugl<strong>in</strong>g e<strong>in</strong> Babyphon mit Licht- und Vibrationsalarm,<br />

dessen Anschaffung aber teurer ist als <strong>die</strong> e<strong>in</strong>es marktüblichen Babyphons. Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungsbed<strong>in</strong>gte<br />

Bedarfe im Kontext von Schwangerschaft, Geburt und Elternschaft s<strong>in</strong>d <strong>in</strong><br />

den Sozialleistungsgesetzen, -verordnungen und Hilfsmittelkatalogen zwar selten explizit aufgeführt,<br />

das bedeutet aber nicht, dass sie nicht durch <strong>die</strong> gesetzlich geregelten Sozialleistungen<br />

abgedeckt werden könnten. So verpflichtet § 9 Abs.1 Satz 3 SGB IX <strong>die</strong> Rehabilitationsleistungsträger,<br />

bei <strong>der</strong> Gewährung von Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe den beson<strong>der</strong>en<br />

Bedürfnissen beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ter Mütter und Väter bei <strong>der</strong> Erfüllung ihres Erziehungsauftrages<br />

Rechnung zu tragen. § 9 SGB IX bildet ke<strong>in</strong>e eigenständige Anspruchsgrundlage auf „Elternassistenz“,<br />

er stellt aber klar, dass <strong>die</strong> bereits an<strong>der</strong>weitig im Sozialgesetz geregelten Leistungen<br />

auch zur Unterstützung <strong>der</strong> Eltern und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ihren familiären Bedürfnissen entsprechenden<br />

Form zu gewähren s<strong>in</strong>d. Für den Träger <strong>der</strong> E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe ergibt sich hier<strong>aus</strong> z.B. <strong>die</strong><br />

Pflicht, se<strong>in</strong>e unterschiedlichen betreuten Wohnformen auch für Eltern mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n anzubieten.<br />

Er kann verpflichtet se<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>er jungen Mutter mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung e<strong>in</strong>e Begleitperson für<br />

das Babyschwimmen zu f<strong>in</strong>anzieren. Denn <strong>die</strong> E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe im SGB X<strong>II</strong> umfasst e<strong>in</strong>en<br />

offenen Katalog von Leistungen, d. h., dass auch solche Maßnahmen f<strong>in</strong>anziert werden können<br />

und gegebenenfalls auch müssen, <strong>die</strong> nicht <strong>aus</strong>drücklich im Gesetz o<strong>der</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe<br />

genannt s<strong>in</strong>d.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

35


Die Gesetzeslage <strong>in</strong> Bezug auf <strong>die</strong> Leistungen, <strong>die</strong> erbracht werden könnten, ist verbesserungswürdig.<br />

Sie ist aber auch nicht so schlecht, wie es <strong>die</strong> tatsächliche (Unter-) Versorgung<br />

vieler Familien vermuten ließe. Oft scheitern beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Eltern und ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> ihrer Suche<br />

nach bedarfsgerechter Hilfe nicht an den Gesetzen, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> mangelhaften Umsetzung.<br />

Leistungen werden oft <strong>in</strong> nicht <strong>aus</strong>reichendem Umfang, nicht bedarfsgerecht und nicht frühzeitig<br />

genug gewährt. E<strong>in</strong>en Hauptgrund bilden <strong>die</strong> Kosten: Eltern mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen und chronischen<br />

Erkrankungen brauchen <strong>die</strong> Unterstützung oft nicht nur übergangsweise, son<strong>der</strong>n möglicherweise<br />

über mehrere Jahre h<strong>in</strong>weg, sei es konstant o<strong>der</strong> phasenweise. Zum Teil fehlt es<br />

aber auch vor Ort schlicht an den erfor<strong>der</strong>lichen Strukturen und passenden Hilfeangeboten bzw.<br />

– auch das wurde schon angesprochen – an e<strong>in</strong>er Verzahnung <strong>der</strong> vorhandenen Angebote und<br />

e<strong>in</strong>er hierzu erfor<strong>der</strong>lichen träger- und e<strong>in</strong>richtungsübergreifenden Zusammenarbeit. Sehr häufig<br />

erhalten kranke und beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Eltern aber auch deshalb ke<strong>in</strong>e Unterstützung, weil sie <strong>die</strong>se<br />

gar nicht beantragen. Grund hierfür kann se<strong>in</strong>, dass sie über <strong>aus</strong>reichend eigene f<strong>in</strong>anzielle<br />

Mittel verfügen, um sich <strong>die</strong> erfor<strong>der</strong>liche Hilfe e<strong>in</strong>zukaufen.<br />

Oft haben <strong>die</strong> Eltern aber auch Angst, öffentliche Hilfen zu beantragen. Frau Wagenblass hat<br />

<strong>die</strong>se Angst chronisch kranker und beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ter Eltern, Angebote des Jugendamts anzunehmen,<br />

bereits angesprochen. Diese Angst kommt nicht von ungefähr. Im Alltag begegnen <strong>die</strong>se Frauen<br />

und Männer erheblichen Vorbehalten <strong>in</strong> Bezug auf ihre elterlichen Kompetenzen. Selbst<br />

Fachkräfte <strong>der</strong> Sozialen Arbeit s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>eswegs frei von solchen Vorbehalten. Die Betroffenen<br />

stehen also ständig unter dem Druck, sich und ihrem gesamten Umfeld beweisen zu müssen,<br />

gute Eltern zu se<strong>in</strong>. Der Gang zum Jugend- o<strong>der</strong> Sozialamt kommt da <strong>in</strong> ihren Augen möglicherweise<br />

e<strong>in</strong>em Scheitern gleich. Die Angst vor dem Jugendamt als e<strong>in</strong>em potentiellen<br />

„Wegnehmamt“ ist bei <strong>die</strong>ser Elterngruppe sicherlich ebenfalls beson<strong>der</strong>s <strong>aus</strong>geprägt. Sie hat<br />

e<strong>in</strong>en ganz realen H<strong>in</strong>tergrund. Tatsächlich ist <strong>die</strong>se Elterngruppe beson<strong>der</strong>s häufig von Sorgerechtse<strong>in</strong>griffen<br />

betroffen. Die Kooperationsbereitschaft <strong>der</strong> Eltern mit dem Hilfesystem sollte<br />

daher ebenfalls vor <strong>die</strong>sem H<strong>in</strong>tergrund beurteilt werden. So sah es auch das Bundesverfassungsgericht<br />

im Fall <strong>der</strong> beiden beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten Eltern <strong>aus</strong> unserem Ausgangsfall:<br />

„Soweit <strong>die</strong> Beschwerdeführer [also <strong>die</strong> Eltern, Anm. jz] wegen ihrer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung auch bei <strong>der</strong><br />

Erziehung ihres K<strong>in</strong>des auf öffentliche Hilfen angewiesen s<strong>in</strong>d, mag es an <strong>der</strong> erfor<strong>der</strong>lichen<br />

Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den öffentlichen Stellen gefehlt haben.“ Das war vom Jugendamt<br />

auch bemängelt worden. „Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass sie schon mit Beg<strong>in</strong>n<br />

<strong>der</strong> Schwangerschaft den E<strong>in</strong>druck gew<strong>in</strong>nen mussten, man halte sie nicht für geeignet,<br />

e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d zu haben und es selbst aufzuziehen. Bei e<strong>in</strong>em entspannten Verhältnis zwischen dem<br />

Jugendamt und den Eltern kann nicht ohne Weiteres davon <strong>aus</strong>gegangen werden, sie seien<br />

nicht imstande und nicht dazu bereit, mit <strong>der</strong> Behörde zusammenzuarbeiten, soweit <strong>die</strong>s im<br />

Interesse des K<strong>in</strong>des geboten ist.“ 8<br />

Die Ängste <strong>der</strong> Eltern sollten also ernst genommen werden.<br />

Damit komme ich zur Frage, welche sozialen Leistungen es zur Unterstützung chronisch kranker<br />

und beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ter Eltern gibt. In <strong>der</strong> <strong>Praxis</strong> s<strong>in</strong>d es vor allem drei unterschiedliche Leistungsträger,<br />

<strong>die</strong> für <strong>die</strong>se Leistungen verantwortlich s<strong>in</strong>d. Die Krankenkassen s<strong>in</strong>d vor allem für Menschen<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Psychiatrie wichtige Leistungsträger. Der Jugendhilfeträger ist für alle Familien<br />

Ansprechpartner und <strong>der</strong> Sozialhilfeträger möglicherweise auch, wenn <strong>die</strong> Eltern e<strong>in</strong>e (drohende)<br />

Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung und e<strong>in</strong>en Bedarf an E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe, z.B. zum Betreuten Wohnen, haben.<br />

E<strong>in</strong>ige chronisch kranke und beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Eltern beziehen möglicherweise noch zusätzliche Leis-<br />

8 BVerfG, NJW 1982, 1379 (1380).<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

36


tungen, z.B. von <strong>der</strong> Pflegeversicherung o<strong>der</strong> <strong>in</strong> Form von Hilfe zur Pflege vom Sozialhilfeträger<br />

(siehe Grafik „Öffentliche Hilfen...“).<br />

5 Grafik: Öffentliche Hilfen für Eltern mit chronischen Erkrankungen und Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen<br />

GKV - SGB V<br />

Leistungen bei Schwangerschaft<br />

und Geburt § 26<br />

•Med./Psych. Behandlung<br />

§ 28<br />

• Soziotherapie § 37a<br />

•H<strong>aus</strong>haltshilfe bei Krankheit<br />

§ 38 SGB V<br />

Pflegevers. – SGB XI<br />

Pflegeleistungen (nur für<br />

pflegebedürftiges Familienmitglied)<br />

Jugendhilfeträger<br />

KJHG - SGB V<strong>II</strong>I<br />

För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Erziehung <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Familie, <strong>in</strong>sb. § 19 <strong>in</strong> gem.<br />

Wohnformen und § 20 Hilfe <strong>in</strong><br />

Notsituationen<br />

Tagese<strong>in</strong>richtungen Tagespflege<br />

§§ 22 – 26<br />

Hilfen zur Erziehung, §§ 27 –<br />

35, z.B. SPFH<br />

Sozialhilfeträger<br />

Rehabilitation u. Teilhabe<br />

E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe<br />

§§ 55 SGB IX, 53 SGB X<strong>II</strong> (z.B.<br />

BeWo, Beratung)unter Berücksichtigung<br />

des § 9 SGB IX,<br />

Hilfe zur Pflege<br />

§61 SGB X<strong>II</strong><br />

Hilfe zur Überw<strong>in</strong>dung beson<strong>der</strong>er<br />

sozialer Schwierigkeiten<br />

§ 68 SGB X<strong>II</strong><br />

Wir haben also e<strong>in</strong>e Vielzahl unterschiedlicher Leistungen, <strong>die</strong> <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Form geeignet<br />

s<strong>in</strong>d, den Bedarf von Eltern und K<strong>in</strong><strong>der</strong>n ganz o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> Teilen abzudecken. Es bereitet<br />

jedoch erhebliche Probleme, her<strong>aus</strong>zuf<strong>in</strong>den, welche <strong>die</strong>ser Leistungen im E<strong>in</strong>zelfall <strong>die</strong> passende<br />

und e<strong>in</strong>schlägige ist.<br />

Den ersten Schritt zur Lösung bildet <strong>die</strong> Frage: Wie unterscheiden sich denn <strong>die</strong>se Leistungen<br />

<strong>in</strong> Bezug auf ihre Aufgaben und Ziele? Und das möchte ich Ihnen nun exemplarisch an Hand<br />

<strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendhilfe im Vergleich mit <strong>der</strong> Rehabilitation und Teilhabe deutlich machen.<br />

Auftrag <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendhilfe ist es, M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährige <strong>in</strong> ihrer Entwicklung und ihre Erziehung<br />

durch <strong>die</strong> Eltern zu för<strong>der</strong>n. Sie för<strong>der</strong>t des Weiteren junge Erwachsene, sie schützt das<br />

K<strong>in</strong>deswohl vor Gefahren und sie ist zur För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> gesellschaftlichen Teilhabe junger Menschen<br />

und ihrer Familien verpflichtet.<br />

In <strong>der</strong> Rehabilitation und Teilhabe steht <strong>der</strong> beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te o<strong>der</strong> von e<strong>in</strong>er Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung bedrohte<br />

Mensch im Vor<strong>der</strong>grund. Ziel <strong>der</strong> Leistungen ist <strong>die</strong> För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> gleichberechtigten gesellschaftlichen<br />

Teilhabe beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ter Menschen, <strong>die</strong> För<strong>der</strong>ung ihrer Selbstbestimmung sowie –<br />

hier prägt noch das mediz<strong>in</strong>ische Modell von Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung <strong>die</strong> Gesetze - <strong>die</strong> Prävention, Mil<strong>der</strong>ung<br />

e<strong>in</strong>er Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Ausgleich ihrer Folgen. In e<strong>in</strong>er Familie mit e<strong>in</strong>em o<strong>der</strong> zwei<br />

kranken bzw. beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten Elternteilen richtet <strong>die</strong> Jugendhilfe also ihren Fokus auf <strong>die</strong> Entwicklung<br />

des K<strong>in</strong>des und <strong>die</strong> För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Erziehungsverantwortung se<strong>in</strong>er Eltern, während <strong>die</strong><br />

Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>tenhilfe darauf gerichtet ist, <strong>die</strong> persönliche Entwicklung des beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten Familienmitglieds<br />

zu för<strong>der</strong>n und dabei zu berücksichtigen hat, dass <strong>die</strong>ser Mensch Verantwortung für e<strong>in</strong><br />

K<strong>in</strong>d trägt und mit <strong>die</strong>sem möglicherweise auch <strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>schaft lebt o<strong>der</strong> künftig leben will.<br />

Um <strong>die</strong> Familien bedarfsgerecht zu för<strong>der</strong>n, müssen <strong>die</strong> Träger <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendhilfe und<br />

<strong>die</strong> Träger <strong>der</strong> E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe entsprechend ihrer Verantwortung nach § 17 Abs.1 Nr.2 und<br />

Abs.3 SGB I für e<strong>in</strong>e <strong>aus</strong>reichende Anzahl geeigneter sozialer Dienste und E<strong>in</strong>richtungen Sorge<br />

tragen und ihre Hilfen so vernetzen, dass sie sich, wie es im Gesetz heißt, „zum Wohle <strong>der</strong><br />

Leistungsempfänger wirksam ergänzen“. Wir müssen also e<strong>in</strong>e Infrastruktur schaffen, <strong>die</strong> Eltern<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

37


mit Erkrankungen und Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen bei <strong>der</strong> Erfüllung ihres Erziehungsauftrags för<strong>der</strong>t, beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungsbed<strong>in</strong>gte<br />

Nachteile <strong>der</strong> Familien <strong>aus</strong>gleicht, <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong>, aber auch außerhalb <strong>der</strong> Familie<br />

för<strong>der</strong>t und e<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>deswohlgefährdung möglichst früh zu begegnen vermag.<br />

Bestimmte Hilfebedarfe lassen sich recht e<strong>in</strong>deutig entwe<strong>der</strong> nur <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendhilfe,<br />

<strong>der</strong> Sozialhilfe o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Sozialleistungsträger zuordnen. Erklärt z.B. <strong>die</strong> Mutter e<strong>in</strong>es<br />

16jährigen Jungen, <strong>der</strong> zum wie<strong>der</strong>holten Male straffällig geworden ist, dass sie mit dem Jungen<br />

überfor<strong>der</strong>t ist und nicht mehr zu ihm durchdr<strong>in</strong>gt, so ist <strong>der</strong> Bedarf <strong>der</strong> Familie auf Leistungen<br />

<strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendhilfe <strong>in</strong> Form von Hilfen zur Erziehung (§ 27 SGB V<strong>II</strong>I) gerichtet,<br />

auch wenn <strong>die</strong> Mutter an e<strong>in</strong>er Psychose erkrankt ist und zum Kreis <strong>der</strong> e<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfeberechtigten<br />

Personen zählt.<br />

Benötigt h<strong>in</strong>gegen <strong>der</strong> alle<strong>in</strong>erziehende Vater e<strong>in</strong>es fünfjährigen K<strong>in</strong>des aufgrund se<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>geschränkten<br />

räumlichen Orientierung e<strong>in</strong> Mobilitätstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g, um künftig selbständig e<strong>in</strong>kaufen<br />

gehen und <strong>die</strong> öffentlichen Verkehrsmittel nutzen zu können, wäre <strong>die</strong>s e<strong>in</strong>e Leistung <strong>der</strong> Sozialhilfe<br />

<strong>in</strong> Form von E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe, auch wenn sie mittelbar natürlich auch dem K<strong>in</strong>d zugute<br />

kommt.<br />

Frau Wagenblass hat bereits sehr anschaulich dargestellt, dass sich <strong>die</strong> Hilfesysteme zwar<br />

nicht decken, <strong>in</strong> ihren Aufgaben und Zielen aber <strong>in</strong> vielfältiger Form überschneiden können.<br />

Decken sich also im E<strong>in</strong>zelfall Aufgaben und Ziele <strong>der</strong> E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe mit denen <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>-<br />

und Jugendhilfe, stellt sich <strong>die</strong> Frage, welcher <strong>der</strong> beiden Sozialleistungsträger denn letztlich für<br />

<strong>die</strong> Unterstützung zuständig ist. Nun führen unklare Zuständigkeiten im Zweifelsfall lei<strong>der</strong> nicht<br />

etwa dazu, dass beide potentiellen Leistungsträger um den Hilfesuchenden konkurrieren wollen.<br />

Vielmehr laufen <strong>die</strong> Hilfesuchenden Gefahr, von A nach B geschickt zu werden, weil sich<br />

jede angegangene Stelle für unzuständig erklärt. Und genau hiervon berichten lei<strong>der</strong> viele Eltern<br />

und Unterstützer.<br />

Her<strong>aus</strong>zuf<strong>in</strong>den, wer rechtlich zuständig ist, erweist sich im E<strong>in</strong>zelfall als außerordentlich<br />

schwierig. Bitte versuchen Sie e<strong>in</strong>mal, folgenden Fall zu lösen:<br />

T<strong>in</strong>a Mertens (24 J.) flüchtet mit ihrem 16 Monate alten Sohn Lukas vor ihrem gewalttätigen<br />

Lebensgefährten <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Frauenh<strong>aus</strong>. Dort wird <strong>die</strong> Versorgung von Mutter und Sohn aufgrund<br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong>geschränkten Alltagskompetenzen und Antriebsarmut von Frau Mertens als nicht gesichert<br />

angesehen. Die Frauenhäuser können aufgrund ihrer ger<strong>in</strong>gen Personaldecke oft nur <strong>die</strong><br />

Frauen betreuen, <strong>die</strong> sich und ihr K<strong>in</strong>d wirklich selbstständig versorgen können. Die Mitarbeiter<strong>in</strong>nen<br />

sprechen deshalb Frau Mertens auf ihre Perspektiven und Möglichkeiten an. Die junge<br />

Frau will <strong>aus</strong> Angst vor ihrem Expartner vorerst nicht alle<strong>in</strong>e leben. Wenn Lukas’ Betreuung<br />

gesichert wäre, würde sie aber gerne wie<strong>der</strong> arbeiten gehen o<strong>der</strong> bestenfalls sogar e<strong>in</strong>e Ausbildung<br />

absolvieren. Die Frauenh<strong>aus</strong>mitarbeiter<strong>in</strong>nen erfahren, dass für Frau Mertens e<strong>in</strong>e gesetzliche<br />

Betreuung e<strong>in</strong>gerichtet ist, weil sie u. a. e<strong>in</strong>e Diagnose <strong>der</strong> geistigen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung hat<br />

und <strong>die</strong>ser gesetzliche Betreuer für <strong>die</strong> Beantragung von Sozialleistungen verantwortlich ist.<br />

Bitte versetzen Sie sich nun <strong>in</strong> <strong>die</strong> Rolle des gesetzlichen Betreuers und beraten Sie Frau Mertens<br />

darüber, welche Sozialleistung für sie bzw. ihr K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Betracht kommen. Mir würde schon<br />

<strong>aus</strong>reichen, wenn Sie ihr erklären könnten, ob ihr Antrag nun an den Sozialhilfeträger o<strong>der</strong> an<br />

das Jugendamt zu richten ist. Wer von Ihnen hält <strong>die</strong> Jugendhilfe für zuständig? Wer den Sozialhilfeträger?<br />

Wer ist für beide?<br />

Sie sehen, das Me<strong>in</strong>ungsbild unter den Anwesenden ist breit gefächert. Das ist auch <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Rechtsprechung, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rechtsliteratur und bei <strong>der</strong> Verwaltung <strong>der</strong> Fall (siehe Grafik: Mögliche<br />

Hilfeformen und Träger im Beispielfall). E<strong>in</strong>ige Gerichte, darunter das VG Düsseldorf, haben<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

38


Bedarfslagen wie <strong>die</strong> <strong>der</strong> Frau Mertens und ihres K<strong>in</strong>des als Hilfebedarf nach § 19 SGB V<strong>II</strong>I<br />

charakterisiert, <strong>die</strong> sog. Hilfen für alle<strong>in</strong> erziehende Eltern. Zuständig wäre danach <strong>der</strong> Träger<br />

<strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendhilfe. Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen hat 2007 h<strong>in</strong>gegen<br />

<strong>die</strong> Auffassung vertreten, <strong>die</strong> Unterstützung e<strong>in</strong>er alle<strong>in</strong>erziehenden Mutter mit geistiger<br />

Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung, <strong>die</strong> noch ke<strong>in</strong>e 27 Jahre alt ist, sei vorrangig Aufgabe <strong>der</strong> E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe<br />

nach § 53 SGB X<strong>II</strong> und damit e<strong>in</strong>e Aufgabe des Sozialhilfeträgers. Das LSG stützt se<strong>in</strong>e Entscheidung<br />

auf § 10 IV SGB V<strong>II</strong>I. Dort heißt es zunächst, dass Leistungen <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendhilfe<br />

denen <strong>der</strong> Sozialhilfe (also auch <strong>der</strong> E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe) vorgehen. Satz 2 regelt aber<br />

e<strong>in</strong>e Ausnahme von <strong>die</strong>sem Grundsatz: „Leistungen <strong>der</strong> E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe nach dem Zwölften<br />

Gesetzbuch für junge Menschen, <strong>die</strong> körperlich o<strong>der</strong> geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t o<strong>der</strong> von e<strong>in</strong>er solchen<br />

Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung bedroht s<strong>in</strong>d, gehen Leistungen nach <strong>die</strong>sem Buch vor.“ Mit 24 Jahren gilt T<strong>in</strong>a<br />

Mertens nach dem K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendhilfegesetz (§ 7 I Nr.4) noch als „junger Mensch“ und<br />

erfüllt daher nach Me<strong>in</strong>ung des hiesigen LSG <strong>die</strong>se Ausnahmebed<strong>in</strong>gung. Das LSG hat gegen<br />

<strong>die</strong>se Entscheidung <strong>die</strong> Revision zum Bundessozialgericht zugelassen und ich erhoffe mir vom<br />

Urteil des Bundessozialgerichts e<strong>in</strong>e Klärung <strong>der</strong> momentan sehr undurchsichtigen Rechtslage.<br />

Grafik: Mögliche Hilfeformen und Träger im Beispielfall<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

Mögliche Hilfeform im Beispielfall<br />

Hilfe zur Überw<strong>in</strong>dung beson<strong>der</strong>er sozialer Schwierigkeiten<br />

§ 67 SGB X<strong>II</strong>, §§ 1, 3 ff. DVO<br />

Geme<strong>in</strong>same Wohnformen für Alle<strong>in</strong>erziehende u. ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

§ 19 SGB V<strong>II</strong>I<br />

vgl. VG Düsseldorf v. 31.8.97 [19 K 4705/95]; OVG Münster<br />

v. 30.11.00 [22 B 762/00]<br />

E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe für M.m.B. §§ 55 <strong>II</strong> Nr.6 SGB IX, 53 SGB<br />

X<strong>II</strong><br />

vgl.LSG NW v. 30.07.07 [L 20 SO 15/06] nicht rechtskräftig<br />

Komb<strong>in</strong>ation von Leistungen (z.B. §§ 55 <strong>II</strong> Nr.6 SGB IX, § 53<br />

SGB X<strong>II</strong> i.V.m. §§ 19 o. 34 SGB V<strong>II</strong>I)<br />

Zuständiger Träger<br />

Sozialhilfeträger<br />

Jugendhilfeträger<br />

Sozialhilfeträger<br />

Jugendhilfe- und Sozialhilfeträger<br />

Die Mehrheit von Ihnen stimmte für Lösungsvariante 4, <strong>die</strong> geme<strong>in</strong>same Zuständigkeit. Das ist<br />

e<strong>in</strong>e sehr pragmatische Lösung. Ich persönlich würde im Fall <strong>der</strong> Familie Mertens ebenfalls e<strong>in</strong>e<br />

solche Komb<strong>in</strong>ation <strong>der</strong> Leistungen befürworten. Die sachlichen Erwägungen sprechen dafür,<br />

doch lei<strong>der</strong> es ist nicht immer leicht, <strong>aus</strong> sachlichen Erwägungen her<strong>aus</strong> zu juristisch überzeugenden<br />

Lösungen zu f<strong>in</strong>den.<br />

Hier erweist sich <strong>die</strong> gesetzliche Struktur des Sozialgesetzbuchs als h<strong>in</strong><strong>der</strong>lich. S<strong>in</strong>d im E<strong>in</strong>zelfall<br />

zwei o<strong>der</strong> mehr Leistungsträger zur Deckung desselben Bedarfs verpflichtet, f<strong>in</strong>det sich im<br />

Sozialgesetzbuch e<strong>in</strong>e Konkurrenzregelung, <strong>in</strong> unserem Fall <strong>die</strong> des § 10 IV SGB V<strong>II</strong>I. Um doppelte<br />

Leistungen zu vermeiden, wird <strong>die</strong> Leistung <strong>in</strong> <strong>die</strong> vorrangige Zuständigkeit e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> potentiell<br />

zuständigen Leistungsträger verwiesen. Unser favorisiertes Modell <strong>der</strong> geme<strong>in</strong>schaftlichen<br />

Leistungserbr<strong>in</strong>gung ist für beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Eltern und ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong> also vom Gesetzgeber bislang<br />

nicht vorgesehen.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

39


In me<strong>in</strong>er Expertise zur Elternassistenz von 2006 habe ich darum vorgeschlagen, e<strong>in</strong>e Komplexleistung<br />

für <strong>die</strong>se Familien e<strong>in</strong>führen, also e<strong>in</strong>e Leistung, <strong>die</strong> von mehreren Leistungsträgern<br />

geme<strong>in</strong>schaftlich unter Teilung <strong>der</strong> Kosten erbracht wird. Wo immer sich <strong>der</strong> E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfebedarf<br />

e<strong>in</strong>es Elternteils mit e<strong>in</strong>em Bedarf an Hilfen zur Erziehung überschneidet, so<br />

me<strong>in</strong> Vorschlag, wird <strong>die</strong>se Leistung als Komplexleistung erbracht. Hierdurch sollen Zuständigkeitsstreitigkeiten<br />

zwischen Jugendhilfe- und Sozialhilfeträger vermieden werden, <strong>die</strong> Frage <strong>der</strong><br />

Kostenverteilung wird bestenfalls träger<strong>in</strong>tern, aber nicht mehr auf dem Rücken <strong>der</strong> Hilfesuchenden<br />

<strong>aus</strong>getragen, beide Hilfesysteme könnten sich mit ihren jeweiligen Kompetenzen e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen<br />

und damit sowohl den K<strong>in</strong>des- als auch den Erwachsenen<strong>in</strong>teressen angemessen<br />

Rechnung tragen. So <strong>die</strong> – <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Fall nicht graue son<strong>der</strong>n eher rosarote - Theorie. Die Erfahrungen<br />

<strong>der</strong> <strong>Praxis</strong> mit denjenigen Komplexleistungen, <strong>die</strong> <strong>der</strong> Gesetzgeber bereits an an<strong>der</strong>er<br />

Stelle e<strong>in</strong>geführt hat, s<strong>in</strong>d jedoch ke<strong>in</strong>eswegs nur positiv. Mancherorts sche<strong>in</strong>t <strong>die</strong> Umsetzung<br />

sehr schlecht zu funktionieren. Es zeigt sich, dass Kooperation nicht von oben aufgezwungen<br />

werden kann, son<strong>der</strong>n von den Beteiligten auch gewollt se<strong>in</strong> muss. Sowohl von den<br />

Sozialleistungsträgern als auch von den Sozialleistungserb<strong>in</strong>gern. Umso mehr freut mich, dass<br />

<strong>der</strong> Sozial- und <strong>der</strong> Jugendhilfe<strong>aus</strong>schuss des LVR mit <strong>der</strong> heutigen geme<strong>in</strong>samen Sitzung Kooperationsbereitschaft<br />

beweist und geme<strong>in</strong>sam mit uns Anwesenden über Verbesserungsmöglichkeiten<br />

diskutiert.<br />

An e<strong>in</strong>er engen Kooperation und Verzahnung <strong>der</strong> Hilfen führt me<strong>in</strong>es Erachtens <strong>in</strong> Zeiten personenzentrierter,<br />

flexibilisierter Hilfen und des trägerübergreifenden persönlichen Budgets ke<strong>in</strong><br />

Weg mehr vorbei. Das Problem <strong>der</strong> mehrfachen Zuständigkeit ließe sich me<strong>in</strong>es Erachtens<br />

auch nur <strong>in</strong> begrenztem Rahmen auf gesetzlichem Wege korrigieren. E<strong>in</strong>e gesetzliche Klarstellung<br />

wäre hilfreich, sie wird aber im E<strong>in</strong>zelfall nicht <strong>die</strong> Streitfrage lösen, ob <strong>der</strong> Hilfebedarf e<strong>in</strong>es<br />

e<strong>in</strong>zelnen beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten Familienmitglieds nun jugendhilferechtlicher, sozialhilferechtlicher<br />

o<strong>der</strong> doppelter Natur ist. Dieses Problem betrifft nicht <strong>die</strong> gesetzliche Regelung, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong>en<br />

Anwendung auf den E<strong>in</strong>zelfall. Hier kann immer Streit entstehen, ob <strong>die</strong> benötigte Unterstützung<br />

nun mehr dem Wohl des K<strong>in</strong>des o<strong>der</strong> <strong>der</strong> selbstbestimmten Lebensführung se<strong>in</strong>er Eltern<br />

<strong>die</strong>nt. Wie sich <strong>die</strong> Beurteilung <strong>der</strong> Bedarfe chronisch kranker und beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ter Eltern künftig<br />

e<strong>in</strong>facher und konfliktfreier gestalten lässt, das her<strong>aus</strong>zuf<strong>in</strong>den, bleibt e<strong>in</strong>e für mich bislang ungelöste<br />

Frage, <strong>die</strong> ich gerne mit Ihnen diskutieren würde.<br />

Denn <strong>die</strong> Zuständigkeitsstreitigkeiten dürfen nicht länger auf dem Rücken <strong>der</strong> Betroffenen <strong>aus</strong>getragen<br />

werden. Es gibt durchweg Eltern, <strong>die</strong> positive Erfahrungen machen und ihre Hilfe umfassend<br />

und zeitnah bewilligt erhalten, aber noch zu viele Eltern, denen Hilfen ganz o<strong>der</strong> teilweise<br />

vorenthalten bleiben. Zuständigkeitsstreitigkeiten können auch zu Lasten <strong>der</strong> E<strong>in</strong>richtungen<br />

und Dienste gehen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Familien unterstützen, <strong>in</strong> Vorleistung treten und dann <strong>die</strong><br />

Kosten nicht erstattet erhalten.<br />

Ich würde mir vom Gesetzgeber wünschen, dass er <strong>die</strong> gesetzlichen Ansprüche <strong>der</strong> Eltern auf<br />

Unterstützung bei <strong>der</strong> Erfüllung ihrer Erziehungsverantwortung <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Gesetzen, z.B.<br />

<strong>in</strong> § 55 SGB IX konkretisiert, <strong>die</strong> Zuständigkeiten bestmöglich klärt und sich nochmals Gedanken<br />

über <strong>die</strong> <strong>E<strong>in</strong>führung</strong> e<strong>in</strong>er Komplexleistung macht.<br />

Unabhängig von <strong>der</strong> Tätigkeit des Gesetzgebers können und sollten <strong>die</strong> Leistungsträger selbstständig<br />

und gegebenenfalls eben auch ohne gesetzlichen Zwang zu e<strong>in</strong>er engeren Zusammenarbeit<br />

f<strong>in</strong>den. Das ist sicherlich auch das Ziel <strong>die</strong>ser Veranstaltung. Wir sollten geme<strong>in</strong>sam erörtern,<br />

wie <strong>die</strong> Hilfesysteme für beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te und chronisch kranke Eltern im Rhe<strong>in</strong>land weiter <strong>aus</strong>gebaut<br />

und verzahnt werden können. Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Menschen mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n bzw. K<strong>in</strong><strong>der</strong>wunsch<br />

und <strong>die</strong> Familien- und Vormundschaftsgerichte sollten über alle zur Verfügung stehenden Hilfen<br />

<strong>in</strong>formiert werden.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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Den E<strong>in</strong>richtungen und Diensten empfehle ich, nach Möglichkeit mehrgleisig zu fahren. Planen<br />

Sie Ihre Angebote so, dass Sie damit sowohl E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfebedarfe als auch jugendhilferechtliche<br />

Bedarfe <strong>der</strong> Familien decken o<strong>der</strong> <strong>die</strong> Leistung von <strong>der</strong> Krankenkasse o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>em<br />

an<strong>der</strong>en Leistungsträger f<strong>in</strong>anziert erhalten können. Schließen Sie bestenfalls mit mehreren<br />

Trägern Leistungsvere<strong>in</strong>barungen ab. Damit werden Sie manchen Kompetenzkonflikt verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />

o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest leichter lösen können.<br />

Chronisch kranke und beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Eltern möchte ich ermutigen, sich weiterh<strong>in</strong> für ihre Rechte<br />

e<strong>in</strong>zusetzen und das Gespräch mit den Entscheidungsträgern zu suchen. Für manche Eltern<br />

kann das Persönliche Budget e<strong>in</strong>e Lösung darstellen. Das gilt aber nur dann, wenn ihr Persönliches<br />

Budget <strong>der</strong> Höhe nach so bemessen ist, dass es ihren bestehenden Hilfebedarf tatsächlich<br />

abdeckt. Das persönliche Budget ist ke<strong>in</strong>e neue zusätzliche Leistung. Als Budget erhalten<br />

<strong>die</strong> Eltern lediglich <strong>die</strong> ihnen zustehenden Teilhabeleistungen und gegebenenfalls auch Jugendhilfe-,<br />

Pflege- und sonstige Leistungen <strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Form als bisher, nämlich als monatlichen<br />

Geldbetrag o<strong>der</strong> <strong>in</strong> Form von Gutsche<strong>in</strong>en. Darum bitte Vorsicht mit <strong>die</strong>sem Instrument, solange<br />

<strong>die</strong> erfor<strong>der</strong>lichen Hilfen nicht gesichert s<strong>in</strong>d.<br />

Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Eltern, <strong>die</strong> nicht <strong>die</strong> Leistungen erhalten, <strong>die</strong> sie zur Unterstützung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Pflege und<br />

Erziehung ihrer K<strong>in</strong><strong>der</strong> benötigen, ermutige ich vielmehr, notfalls auch e<strong>in</strong>en Wi<strong>der</strong>spruch o<strong>der</strong><br />

e<strong>in</strong>e Klage zu erheben. Für Eltern, <strong>die</strong> ohne <strong>die</strong> erfor<strong>der</strong>lichen Hilfen ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong> versorgen und<br />

dabei oft über <strong>die</strong> Grenzen ihrer Belastbarkeit gehen müssen, stellt e<strong>in</strong> solcher Rechtsstreit freilich<br />

e<strong>in</strong>e zusätzliche Belastung dar, <strong>die</strong> viele scheuen. Umso wichtiger ist es, sich zusammenzuschließen<br />

und zu organisieren, z.B. im Bundesverband beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ter und chronisch kranker<br />

Eltern. § 63 SGB IX ermöglicht es den großen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>tenverbänden, an Stelle beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ter<br />

Menschen <strong>der</strong>en Prozesse vor Gericht zu führen. Ich empfehle Wi<strong>der</strong>spruchs- und Klageverfahren<br />

nicht, um zu polarisieren und dabei <strong>die</strong> Leistungsträger <strong>in</strong> e<strong>in</strong> schlechtes Licht zu rücken.<br />

Der Landschaftsverband, <strong>die</strong> kommunalen Sozialhilfeträger und <strong>die</strong> Jugendämter lehnen Leistungsanträge<br />

nicht <strong>aus</strong> bösem Willen ab, son<strong>der</strong>n weil sie verpflichtet s<strong>in</strong>d, ihre knappen öffentlichen<br />

Mittel <strong>aus</strong>schließlich auf <strong>die</strong> vorgeschriebenen Zwecke zu verwenden. Da im H<strong>in</strong>blick auf<br />

<strong>die</strong> Leistungen für beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Eltern und ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong> aber noch so viel Unsicherheit herrscht und<br />

<strong>die</strong> Leistungsträger mit den Anträgen sehr une<strong>in</strong>heitlich verfahren, brauchen alle Beteiligten,<br />

auch <strong>die</strong> Leistungsträger, vor allem e<strong>in</strong>es: mehr Rechtssicherheit. Diese zu schaffen, ist nicht<br />

zuletzt Aufgabe <strong>der</strong> Justiz. Und hierzu sollten wir <strong>die</strong> Justiz bei Bedarf auch nutzen. Vielen<br />

Dank für Ihre Aufmerksamkeit.<br />

Weiterführende Literatur:<br />

Z<strong>in</strong>smeister, Julia: Staatliche Unterstützung beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ter Mütter und Väter bei <strong>der</strong> Erfüllung ihres Erziehungsauftrages.<br />

Rechtsgutachten im Auftrag des Netzwerkes beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ter Frauen Berl<strong>in</strong> e.V. mit Unterstützung<br />

<strong>der</strong> Aktion Mensch, Nürnberg/Köln 2006.<br />

Z<strong>in</strong>smeister, Julia: „Der lange Weg zur Gleichstellung - Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Frauen und das neue SGB IX“ <strong>in</strong>:<br />

Rechtszeitschrift „STREIT“ 1/2002, S.3 –10;<br />

Vlasak, Annette: Rechtliche Fragen im Zusammenhang <strong>der</strong> Elternschaft von Menschen mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung.<br />

In: Pixa-Kettner, Ursula (Hrsg.): Tabu o<strong>der</strong> Normalität, Heidelberg 2006, S. 91-126.<br />

bbe e.V.: Assistenz bei <strong>der</strong> Familienarbeit für beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te und chronisch kranke Eltern, Ratgeber für <strong>die</strong><br />

Organisation von personellen Hilfen bei <strong>der</strong> Pflege und Erziehung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>, Löhne, 3. Auflage 2003<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Ja, herzlichen Dank auch Ihnen. Sie waren sehr tapfer. Normalerweise<br />

würde ich <strong>die</strong> drei Damen jetzt hier auf den Hochsitz bitten und noch e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Fragerunde<br />

anschließen, aber dann hätten Sie noch weniger P<strong>aus</strong>e. Insofern schlage ich Ihnen vor,<br />

<strong>aus</strong>zuprobieren, ob <strong>die</strong> Damen auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> P<strong>aus</strong>e ansprechbar s<strong>in</strong>d und beim Brötchen dann<br />

Ihre Fragen zu platzieren. Also, Sie s<strong>in</strong>d herzlich e<strong>in</strong>geladen, im Foyerbereich etwas zu sich zu<br />

nehmen und sich <strong>aus</strong>zut<strong>aus</strong>chen. Ich erwarte Sie um 12:40 hier wie<strong>der</strong> im Raum zur nächsten<br />

Runde. Danke schön.<br />

(Mittagsp<strong>aus</strong>e)<br />

<strong>II</strong>. <strong>Beispiele</strong> <strong>aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Praxis</strong><br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Ich hoffe, <strong>die</strong> Mittagsp<strong>aus</strong>e hat ihren Zweck erfüllt. Sie s<strong>in</strong>d im<br />

angeregten Gespräch, haben sich von den Brötchen nicht irritieren lassen im Gespräch, aber<br />

jetzt ist genug geredet, jetzt wird wie<strong>der</strong> zugehört. Und zwar <strong>Beispiele</strong> <strong>aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Praxis</strong>. Sie sehen,<br />

ich habe <strong>die</strong> noch schwierigere Aufgabe, weil den Kolleg<strong>in</strong>nen und Kollegen da noch weniger<br />

Zeit e<strong>in</strong>geräumt wurde für ihre Berichte. Also, allerhöchstens 20 M<strong>in</strong>uten pro Bericht stehen<br />

zur Verfügung. Frau Oberdorfer hat schon proaktiv hier alles vorbereitet und ich darf sie<br />

nun bitten, uns über das St. Josef-H<strong>aus</strong> <strong>in</strong> Wesel zu berichten. Bitte schön, Frau Oberdorfer.<br />

Ich sitze Ihnen im Nacken.<br />

Vortrag „Das St. Josef – H<strong>aus</strong> <strong>in</strong> Wesel“<br />

Anne Oberdorfer (Leitung St. Josef-H<strong>aus</strong>): Der Sozial<strong>die</strong>nst kath. Frauen<br />

e.V. ist Träger des St. Josef-H<strong>aus</strong>es <strong>in</strong> Wesel. Das St. Josef-H<strong>aus</strong> gehört zu<br />

den 500 Mehrgenerationenhäusern, e<strong>in</strong> Projekt des Bundesm<strong>in</strong>isteriums für<br />

Familien, Senioren, Frauen und Jugend.<br />

Das St. Josef-H<strong>aus</strong> beherbergt folgende E<strong>in</strong>richtungen und Dienste:<br />

1. stationäre E<strong>in</strong>richtung für Eltern mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen und <strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

2. K<strong>in</strong><strong>der</strong>tagesstätte für K<strong>in</strong><strong>der</strong> im Alter von 0,4 – 14 Jahren<br />

3. Krisenwohnung für Frauen<br />

4. Ausbildung und H<strong>aus</strong>wirtschaft<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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Die stationäre E<strong>in</strong>richtung hat heute <strong>in</strong>sgesamt 66 Plätze, wobei <strong>die</strong> Erwachsenen wie <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

pro Kopf zählen, und <strong>die</strong> Plätze teilen sich folgen<strong>der</strong>maßen auf:<br />

Heim für Eltern mit K<strong>in</strong>d<br />

66 Plätze<br />

- 45 Plätze im St. Josef – H<strong>aus</strong><br />

- 13 Plätze <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Wohngruppe für sechs Erwachsene und<br />

<strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

- 6 Plätze <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Wohngruppe für drei Erwachsene und <strong>der</strong>en<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

- 2 Plätze <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er <strong>aus</strong>gelagerten Wohnung <strong>in</strong> Wesel<br />

Die jetzige Eltern-K<strong>in</strong>d-E<strong>in</strong>richtung hat sich <strong>aus</strong> e<strong>in</strong>em klassischen Mutter-K<strong>in</strong>d-Heim entwickelt.<br />

Schon vor über 20 Jahren wurden wir verstärkt angefragt, wenn (damals) nur <strong>die</strong> Mütter beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t<br />

waren. Wir entschieden, dass wir unser Konzept auf den beson<strong>der</strong>en Hilfebedarf <strong>der</strong> Eltern<br />

und K<strong>in</strong><strong>der</strong> entwickeln müssen. Es gab wenig an Erfahrung und Literatur und vieles haben wir<br />

mit den Eltern und den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n geme<strong>in</strong>sam gelernt.<br />

Zwei Fragen stellten wir uns zu Beg<strong>in</strong>n unserer Überlegungen und bekamen und bekommen wir<br />

von Fachleuten, Kostenträgern und <strong>in</strong>teressierten Laien immer wie<strong>der</strong> gestellt:<br />

Elternrecht und K<strong>in</strong>deswohl<br />

Haben Eltern mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen das Recht,<br />

ihre Elternschaft zu leben?<br />

Können K<strong>in</strong><strong>der</strong> sich gesund entwickeln, wenn sie mit ihren Eltern mit<br />

Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er stationären E<strong>in</strong>richtung leben?<br />

Wir haben, auch damals, <strong>die</strong> erste Frage mit e<strong>in</strong>em klaren Ja beantwortet, bee<strong>in</strong>druckt von <strong>der</strong><br />

Liebe <strong>der</strong> Eltern zu ihren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und ganz beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Liebe <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> zu ihren Eltern.<br />

Trennung war trotz aller Bedenken nicht möglich.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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Die zweite Frage war schwieriger zu beantworten. Es entwickelten sich dar<strong>aus</strong> neue Fragen:<br />

Grundsatzfragen unserer Arbeit<br />

Was brauchen <strong>die</strong> Eltern?<br />

Was brauchen <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>?<br />

Was braucht <strong>die</strong> Familie, um gut zusammen leben zu können ?<br />

Diese Fragen stellen wir uns immer wie<strong>der</strong> neu. Bei je<strong>der</strong> neuen Anfrage und Aufnahme <strong>in</strong> unser<br />

H<strong>aus</strong> versuchen wir, <strong>in</strong>dividuelle Antworten zu f<strong>in</strong>den, <strong>die</strong> <strong>der</strong> jeweiligen Familie und <strong>der</strong><br />

E<strong>in</strong>zelperson gerecht werden. Nur wenn es den Eltern gut geht, kann es den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n gut gehen<br />

und Eltern s<strong>in</strong>d auch Mann, Frau, berufstätig, Partner o<strong>der</strong> Partner<strong>in</strong>, selbst K<strong>in</strong>d usw.<br />

Im Bemühen, <strong>die</strong>se Fragen so gut wie möglich zu beantworten, stand nicht <strong>die</strong> Diagnose <strong>der</strong><br />

Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung im Fokus (geistig o<strong>der</strong> psychisch beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t), son<strong>der</strong>n <strong>die</strong> Frage nach dem <strong>in</strong>dividuellen<br />

Hilfebedarf und den vorhandenen Ressourcen.<br />

Es entwickelte sich im Laufe <strong>der</strong> Zeit unser Konzept mit folgenden Wohngruppen<br />

im St. Josef-H<strong>aus</strong>:<br />

Die Wohngruppen im St. Josef - H<strong>aus</strong><br />

Vier Eltern – K<strong>in</strong>d – Wohngruppen<br />

E<strong>in</strong>e Wohngruppe für <strong>die</strong> Eltern<br />

E<strong>in</strong>e Wohngruppe für <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

Die Wohngruppen be<strong>in</strong>halten unterschiedliche Schwerpunkte <strong>der</strong> pädagogisch–therapeutischen<br />

Arbeit und berücksichtigen <strong>die</strong> vorhandenen Ressourcen <strong>der</strong> Eltern und K<strong>in</strong><strong>der</strong>.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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Wohngruppe I<br />

Diagnostik<br />

Feststellung des Hilfebedarfs<br />

Intensive Begleitung und Anleitung <strong>der</strong> Eltern<br />

3 Dipl. Sozalpädagog<strong>in</strong>nen, 1 Dipl. Heilpädagoge zum Teil mit<br />

therapeutischen Zusatz<strong>aus</strong>bildungen<br />

„ Nähren <strong>der</strong> Eltern; Schützen <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>“<br />

Auf <strong>der</strong> Wohngruppe I werden <strong>die</strong> Eltern mit den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>in</strong> den meisten Fällen aufgenommen.<br />

Da wir den Hilfebedarf nicht kennen und <strong>der</strong> Schutz des K<strong>in</strong>des gewährt se<strong>in</strong> muss, begleiten<br />

wir <strong>die</strong> Eltern rund um <strong>die</strong> Uhr, unterstützen so weit wie möglich und entlasten wenn nötig.<br />

Die Entlastung ist häufig bei Eltern mit Säugl<strong>in</strong>gen wichtig. Wenn Sie selbst Eltern s<strong>in</strong>d, wissen<br />

Sie um <strong>die</strong> Auswirkungen <strong>der</strong> Unsicherheiten, des Schlafentzugs, <strong>der</strong> Schreizeiten usw.<br />

Aufgrund des festgestellten Hilfebedarfs erfolgt <strong>der</strong> Umzug auf <strong>die</strong> Wohngruppe <strong>II</strong> o<strong>der</strong> <strong>II</strong>I.<br />

Wohngruppe <strong>II</strong><br />

Alltagsbegleitung <strong>der</strong> Eltern mit älteren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />

Hilfe, Unterstützung und Übernahme von Erziehungsaufgaben<br />

längerfristige Wohnmöglichkeit<br />

4 Dipl. SozialpädagogInnen zum Teil mit therap. Zusatz<strong>aus</strong>bildungen<br />

„ Stützen und För<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Eltern und K<strong>in</strong><strong>der</strong>“<br />

Die MitarbeiterInnen auf Wohngruppe <strong>II</strong> unterstützen das alltägliche Zusammenleben.<br />

Der Tagesablauf ist strukturiert und <strong>die</strong> Eltern lernen, z.B. durch das E<strong>in</strong>üben von Ritualen, ihre<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> zu begleiten und auch <strong>in</strong> Stresssituationen (geme<strong>in</strong>sames Essen, Aufstehen, <strong>in</strong>s Bett<br />

gehen usw.) ihre Aufgabe als Eltern wahrzunehmen.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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Wohngruppe <strong>II</strong>I<br />

Berufliche Perspektive <strong>der</strong> Eltern<br />

Entwicklung von Ressourcen orientierten Krisenbewältigungsstrategien<br />

Reflektion des eigenen Erziehungsstils, E<strong>in</strong>üben von angemessenem<br />

Erziehungsverhalten<br />

Biographiearbeit<br />

Erwerb von sozialer Kompetenz<br />

1 Sozial -, 2 Dipl. Pädagog<strong>in</strong>nen zum Teil mit therapeutischen<br />

Zusatz<strong>aus</strong>bildungen<br />

„ För<strong>der</strong>n, For<strong>der</strong>n, Konfrontieren“<br />

Auf Wohngruppe <strong>II</strong>I ist <strong>die</strong> Eigenverantwortung <strong>der</strong> Eltern stärker gefragt und es geht um Problemlösungen<br />

und Verän<strong>der</strong>ungsprozesse. Ziele <strong>der</strong> Eltern s<strong>in</strong>d <strong>der</strong> Auszug <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e eigene Wohnung<br />

und <strong>die</strong> Aufgabe als Eltern zum Wohl ihrer K<strong>in</strong><strong>der</strong> immer besser wahrnehmen zu können.<br />

Wohngruppe IV<br />

Selbständige Alltagsbewältigung<br />

Vorbereitung und Realisierung e<strong>in</strong>es Lebens außerhalb e<strong>in</strong>er stationären<br />

E<strong>in</strong>richtung<br />

2 Dipl. SozialpädagogInnen<br />

„ För<strong>der</strong>n und Verabschieden <strong>der</strong> Eltern und K<strong>in</strong><strong>der</strong>“<br />

Auf Wohngruppe IV wird ke<strong>in</strong>e Tagesstruktur mehr vorgegeben. Wichtig ist, dass <strong>die</strong> Eltern<br />

möglichst frühzeitig Gefahren, Krisen und auch Überfor<strong>der</strong>ung erkennen und sich Unterstützung<br />

holen.<br />

Zum Schutz des K<strong>in</strong>des ist <strong>die</strong>s <strong>aus</strong> unserer Sicht e<strong>in</strong>e Vor<strong>aus</strong>setzung für den Auszug, den wir<br />

begleiten, mit dem Ziel, das notwendige Netzwerk für Eltern und K<strong>in</strong>d vorab so e<strong>in</strong>zurichten,<br />

das <strong>der</strong> Schritt <strong>in</strong> <strong>die</strong> größere Selbstständigkeit erfolgreich bleibt.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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Wenn e<strong>in</strong> Zusammenleben <strong>der</strong> Eltern mit dem K<strong>in</strong>d nicht möglich ist (auf <strong>die</strong> möglichen Ursachen<br />

wird noch e<strong>in</strong>gegangen) und sofern es <strong>der</strong> Schutz des K<strong>in</strong>des verlangt, können wir <strong>in</strong>nerhalb<br />

unseres H<strong>aus</strong>es Eltern und K<strong>in</strong>d getrennt vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> räumlich und personell versorgen.<br />

Die Wohngruppe V ist für <strong>die</strong> Eltern nach <strong>der</strong> Trennung und behandelt folgende Themen:<br />

Wohngruppe V<br />

Bearbeitung <strong>der</strong> Trennung vom K<strong>in</strong>d<br />

Entwicklung e<strong>in</strong>er neuen Lebensperspektive außerhalb unserer<br />

E<strong>in</strong>richtung<br />

Bewältigung des Alltags<br />

2 Dipl. SozialpädagogInnen<br />

„ Trauern und Aufbruch“<br />

Trennung ist immer begleitet von Trauer, Zweifel, Wut, Ohnmachtgefühlen. Dafür muss Raum<br />

se<strong>in</strong> und <strong>die</strong>s muss begleitet werden. Erst dann kann <strong>die</strong> Zukunft neu bedacht werden. Und<br />

natürlich geht es auch um das ganz alltägliche Leben.<br />

Die K<strong>in</strong><strong>der</strong>wohngruppe ist e<strong>in</strong> Schutz- und Sicherheitsraum für <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>:<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>wohngruppe<br />

Begleitung <strong>der</strong> Trennungs- und Trauerphase<br />

För<strong>der</strong>n <strong>der</strong> altersgemäßen Entwicklung<br />

Klärung des weiteren Lebensumfeldes<br />

Ablösung und Begleitung <strong>in</strong> das neue Lebensumfeld<br />

1 K<strong>in</strong><strong>der</strong>krankenschwester, 1 Erzieher<strong>in</strong>, 2 Dipl. Sozialpädagog<strong>in</strong>nen<br />

„Trauern, Stützen, För<strong>der</strong>n, Begleiten“<br />

Die Mitarbeiter<strong>in</strong>nen <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>wohngruppe begleiten <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser sehr schwierigen Zeit<br />

<strong>der</strong> Trennung von ihren Eltern. Die Betreuung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> ist auch als Übergangsmöglichkeit <strong>in</strong><br />

Krisenzeiten <strong>der</strong> Erwachsenen möglich, z.B. bei Kl<strong>in</strong>ikaufenthalten.<br />

Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> sollen möglichst <strong>in</strong> ihrem bisher bekannten Umfeld verbleiben und von Menschen<br />

betreut werden, <strong>die</strong> sie schon kennen und nicht gezwungen se<strong>in</strong>, ad hoc zusätzlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong> frem-<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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des Wohnumfeld umziehen zu müssen. In Zusammenarbeit mit dem zuständigen Jugendamt<br />

begleiten wir <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> ihr neues Lebensumfeld.<br />

AWG<br />

langfristige Betreuung<br />

Sicherheit im räumlichen und personalen Lebensbezug<br />

Entwicklung und För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

Dipl. SozialpädagogInnen, ErzieherInnen<br />

„Unterstützen, För<strong>der</strong>n und Begleiten“<br />

Die beiden Außenwohngruppen entsprechen <strong>in</strong> ihrem Aufgabenprofil <strong>in</strong> etwa <strong>der</strong> Wohngruppe<br />

<strong>II</strong>.<br />

Die ersten K<strong>in</strong><strong>der</strong> s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> den Außenwohngruppen bis zur eigenen Verselbstständigung groß<br />

geworden und es ist geglückt. Sie leben heute zum Teil mit ihren eigenen Familien, haben e<strong>in</strong>e<br />

Berufs<strong>aus</strong>bildung und gehen e<strong>in</strong>er beruflichen Tätigkeit nach.<br />

E<strong>in</strong>zelbetreutes Wohnen<br />

Gestaltung und Bewältigung des Alltags<br />

Verselbständigung<br />

Realisierung von Lebensentwürfen und Perspektiven<br />

Beobachten, Unterstützen und För<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Entwicklung des K<strong>in</strong>des<br />

2 Dipl. SozialpädagogInnen<br />

„Stützen, För<strong>der</strong>n und Begleiten“<br />

Die Wohnung <strong>in</strong> Wesel kann auch als Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gswohnung bezeichnet werden, um den endgültigen<br />

Auszug möglichst erfolgreich zu gestalten ähnlich dem Konzept <strong>der</strong> Wohngruppe IV.<br />

Wie sehen <strong>die</strong> Angebote, <strong>die</strong> Hilfen für den E<strong>in</strong>zelnen, für <strong>die</strong> Erwachsenen, <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und<br />

<strong>die</strong> Familien <strong>aus</strong>?<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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Unterstützung für <strong>die</strong> Erwachsenen<br />

H<strong>aus</strong>haltstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />

Gartenarbeit<br />

Sport<br />

Mitarbeit im Secondhand-Laden<br />

Theater und Tanz<br />

kreativ-therapeutische Angebote<br />

therapeutische E<strong>in</strong>zel- und Gruppenarbeit<br />

Paargespräche<br />

Familiengespräche Herkunftsfamilie / Biographiearbeit<br />

Diese Angebote können alle Erwachsenen im H<strong>aus</strong> gruppenübergreifend wahrnehmen.<br />

Sie umfassen Angebote zur Tagesstrukturierung, zur Freizeitgestaltung o<strong>der</strong> pädagogischtherapeutische<br />

Arbeit, wobei <strong>die</strong> Grenzen fließend zu sehen s<strong>in</strong>d. Je nach Interesse o<strong>der</strong> auch<br />

Notwendigkeit kann <strong>die</strong> Frau/<strong>der</strong> Mann <strong>aus</strong> dem Angebot wählen.<br />

Unterstützung für <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

H<strong>aus</strong>aufgabenbetreuung<br />

E<strong>in</strong>zelfallarbeit<br />

kreativ-therapeutische Angebote<br />

Spiel und Spaß<br />

heilpädagogische E<strong>in</strong>zel- und Gruppenarbeit<br />

themenzentrierte Gruppenarbeit<br />

Das Gleiche gilt für <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>, wobei Kontakt- und Freizeitangebote außerhalb unseres H<strong>aus</strong>es<br />

m<strong>in</strong>destens <strong>die</strong> gleiche Wertigkeit haben.<br />

Neben den Mitarbeiter<strong>in</strong>nen und Mitarbeitern auf <strong>der</strong> Gruppe stehen den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n zusätzlich<br />

e<strong>in</strong>e Dipl. Heilpädagog<strong>in</strong> und e<strong>in</strong>e K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendlichen-Psychotherapeut<strong>in</strong> zur Verfügung.<br />

Wir machten <strong>die</strong> Erfahrung, dass es für <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> wichtig ist, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em geschützten Rahmen<br />

auch über ihre Eltern und Lebenssituationen sprechen zu dürfen: über <strong>die</strong> Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung, dass<br />

sie sich dafür schämen, was ihre Klassenkameraden sagen, warum sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>richtung leben<br />

müssen usw. Je älter das K<strong>in</strong>d wird, umso wichtiger <strong>die</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit <strong>die</strong>sen<br />

Themen. Die Achtung des K<strong>in</strong>des für <strong>die</strong> Eltern muss <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Prozess gewahrt bleiben.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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Unterstützung für Eltern und K<strong>in</strong>d<br />

Spiel und Spaß für Eltern und K<strong>in</strong>d<br />

Ferienfreizeiten / Freizeitangebote<br />

heilpädagogische E<strong>in</strong>zel- und Gruppenarbeit<br />

Entwicklungspsychologische Begleitung von Eltern und K<strong>in</strong>d<br />

Videotra<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />

Elterntra<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />

begleitete Eltern – K<strong>in</strong>d - Gespräche<br />

Die Angebote für Eltern und K<strong>in</strong>d s<strong>in</strong>d ebenfalls für alle gedacht. E<strong>in</strong>e Unterscheidung z.B. zwischen<br />

den verschiedenen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen machen wir nicht. Wir unterscheiden <strong>die</strong> Angebote im<br />

Bereich Spaß und Spiel jedoch nach dem Alter <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> o<strong>der</strong> nach dem För<strong>der</strong>bedarf <strong>der</strong><br />

Eltern o<strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>.<br />

Bei allem Ernst und Respekt vor <strong>der</strong> großen Aufgabe, K<strong>in</strong><strong>der</strong> zu eigenständigen Persönlichkeiten<br />

zu erziehen, halten wir den Faktor Spaß und Spiel für zentral wichtig: Mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n zu leben<br />

soll und kann auch Spaß machen.<br />

Vor<strong>aus</strong>setzungen für das Gel<strong>in</strong>gen:<br />

Beziehungs- und B<strong>in</strong>dungsfähigkeit <strong>der</strong> Eltern<br />

Bereitschaft zur Zusammenarbeit<br />

E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> den persönlichen Hilfebedarf<br />

Akzeptanz <strong>der</strong> Erziehungsbegleitung<br />

Akzeptanz <strong>der</strong> Strukturen<br />

Sicherheit und Transparenz <strong>in</strong> Krisensituationen<br />

genügend Raum für den E<strong>in</strong>zelnen, das Paar, <strong>die</strong> Familie<br />

Der erste Punkt nennt <strong>die</strong> absolute Vor<strong>aus</strong>setzung. Ohne B<strong>in</strong>dungs- und Beziehungsfähigkeit<br />

ist e<strong>in</strong> Zusammenleben nicht möglich. Und <strong>die</strong> Eltern müssen e<strong>in</strong>e Idee von Elternschaft haben.<br />

Wir können mangelnde Erziehungsfähigkeit ergänzen, ohne <strong>die</strong> Rolle <strong>der</strong> Eltern zu übernehmen.<br />

Bei mangeln<strong>der</strong> B<strong>in</strong>dungsfähigkeit ist <strong>die</strong>s nicht möglich.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

50


Die folgenden Punkte betreffen <strong>die</strong> Fähigkeit <strong>der</strong> Zusammenarbeit. Die Auswirkungen <strong>der</strong> Unfähigkeit<br />

o<strong>der</strong> Verweigerung zur Zusammenarbeit betreffen nicht nur den Erwachsenen, son<strong>der</strong>n<br />

auch das K<strong>in</strong>d. Die Eltern müssen notfalls auch ohne eigene E<strong>in</strong>sicht Fieber messen, zum<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>arzt gehen, das K<strong>in</strong>d pflegen, rechtzeitig <strong>in</strong>s Bett br<strong>in</strong>gen usw. Die klaren Strukturen helfen<br />

dabei Eltern und K<strong>in</strong><strong>der</strong>n.<br />

Es muss e<strong>in</strong> abgesprochenes Krisenmanagement geben. Was passiert, wenn <strong>die</strong> Eltern <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

Psychose gehen, <strong>in</strong>s Krankenh<strong>aus</strong> müssen, das K<strong>in</strong>d erkrankt, Eltern und K<strong>in</strong>d mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

überfor<strong>der</strong>t s<strong>in</strong>d?<br />

Und <strong>der</strong> letzte Punkt betrifft nicht nur <strong>die</strong> schon erläuterten zeitlichen und personellen Ressourcen,<br />

son<strong>der</strong>n auch den tatsächlich vorhandenen Raum. Es muss Rückzugsmöglichkeiten für<br />

Erwachsene wie K<strong>in</strong><strong>der</strong> geben.<br />

Und was können <strong>die</strong> Gründe für e<strong>in</strong>e mögliche Trennung se<strong>in</strong>?<br />

Gründe für Trennungen von Eltern und K<strong>in</strong>d<br />

Traumatische Erfahrungen von Gewalt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Herkunftsfamilie<br />

mangelnde Impulssteuerung<br />

eigene Bedürftigkeit<br />

negativer Verlauf <strong>der</strong> psychischen Erkrankung<br />

fehlende Krankheitse<strong>in</strong>sicht<br />

an<strong>der</strong>e Lebensvorstellungen<br />

mangelnde soziale Kompetenz<br />

Die o. a. Gründe erleben wir als ursächlich für <strong>die</strong> Notwendigkeit <strong>der</strong> Trennung. Der Schutz des<br />

K<strong>in</strong>des und das Recht auf Entfaltung und Unversehrtheit <strong>der</strong> Person kann nicht mehr gewährleistet<br />

werden.<br />

Die Bedürftigkeit des K<strong>in</strong>des und <strong>die</strong> ständige Beziehungsanfrage wird von den Eltern als Angriff<br />

auf <strong>die</strong> eigene Person erlebt und mit totalem Rückzug o<strong>der</strong> Aggression beantwortet. O<strong>der</strong><br />

<strong>die</strong> Wahrnehmung <strong>der</strong> Außenwelt wird als Gefahr und Bedrohung empfunden. Ist <strong>die</strong>s mediz<strong>in</strong>isch<br />

und therapeutisch nicht bee<strong>in</strong>flussbar, verweigern <strong>die</strong> Eltern ihren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n den Kontakt<br />

zur Umwelt und versuchen, sie <strong>in</strong> ihrer Welt zu halten. Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> können dann oft nicht mehr<br />

zwischen den Auswirkungen <strong>der</strong> Erkrankung <strong>der</strong> Eltern und ihrer eigenen Wahrnehmung <strong>der</strong><br />

Wirklichkeit unterscheiden. Häufig trennen sich dann <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> von den Eltern.<br />

Die beiden letzten Punkte s<strong>in</strong>d erst <strong>in</strong> den letzten Jahren verstärkt aufgetreten und haben weniger<br />

mit <strong>der</strong> Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Eltern zu tun, mehr mit gesellschaftlichen Verän<strong>der</strong>ungen. Die Eltern<br />

s<strong>in</strong>d nicht bereit, für ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong> präsent zu se<strong>in</strong>. Es entspricht we<strong>der</strong> ihrer Lebensvorstellung<br />

noch ihrem Wertekatalog. Sie verlassen <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

51


Psychische Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung /<br />

geistige Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

Prognose abhängig von <strong>der</strong> Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Eltern<br />

unterschiedliche Erfahrungen mit Helfersystemen<br />

unterschiedlicher Krisenverlauf<br />

unterschiedliches Erleben <strong>der</strong> Entwicklungsphasen <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

Alltagsbewältigung / Alltagsbegleitung<br />

unterschiedliche Belastungssituation <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

Wenn wir nach den Unterschieden bei Eltern mit psychischer o<strong>der</strong> geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung gefragt<br />

werden, können wir folgende Punkte benennen:<br />

E<strong>in</strong>e Prognose, ob Eltern und K<strong>in</strong>d zusammen leben können, ist grundsätzlich kaum zu<br />

geben. In Bezug auf <strong>die</strong> Beziehungs- und B<strong>in</strong>dungsfähigkeit <strong>der</strong> Eltern, haben aber z.B.<br />

Eltern mit e<strong>in</strong>er Bor<strong>der</strong>l<strong>in</strong>e-Erkrankung e<strong>in</strong>e schlechtere Prognose.<br />

Menschen mit e<strong>in</strong>er geistigen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung können häufig leichter mit den Helfersystemen<br />

umgehen, vielleicht auch, weil sie <strong>die</strong>s schon als K<strong>in</strong>d erfahren und lernen.<br />

Wenn Eltern mit e<strong>in</strong>er geistigen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung <strong>die</strong> ersten drei Lebensjahre mit dem K<strong>in</strong>d<br />

meistern, schaffen sie <strong>in</strong> den meisten Fällen auch <strong>die</strong> nächsten 15 Jahre.<br />

In den Entwicklungsphasen <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>, <strong>die</strong> <strong>in</strong> den meisten Familien zum<strong>in</strong>dest als unruhig<br />

erlebt werden, benötigen Eltern mit e<strong>in</strong>er geistigen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung den Rückhalt <strong>der</strong><br />

MitarbeiterInnen und immer wie<strong>der</strong> <strong>die</strong> Versicherung, dass das Verhalten ihrer K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

völlig normal ist.<br />

Eltern mit e<strong>in</strong>er psychischen Erkrankung empf<strong>in</strong>den <strong>die</strong>s häufig als persönliche Bedrohung<br />

und Trennungen f<strong>in</strong>den auch o<strong>der</strong> häufiger erst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Pubertätszeit <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

statt.<br />

Die Alltagsbegleitung <strong>der</strong> Eltern mit e<strong>in</strong>er geistigen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung bezieht sich auch auf<br />

das ganz praktische Tun, z.B. wie bereite ich Babynahrung zu.<br />

Eltern mit e<strong>in</strong>er geistigen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> ihrem Verhalten oft sehr authentisch. Die<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> wissen, „was <strong>die</strong> Glocke geschlagen hat und warum“.<br />

Psychische Erkrankung kann mit e<strong>in</strong>em Wechselbad <strong>der</strong> Gefühle e<strong>in</strong>hergehen und mit<br />

e<strong>in</strong>em Wechsel von stabilen und weniger stabilen Phasen.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

52


Fazit:<br />

Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen können mit Begleitung erfolgreiche<br />

Eltern se<strong>in</strong><br />

Der Schutz und das Wohl des K<strong>in</strong>des hat erste Priorität<br />

Die kont<strong>in</strong>uierliche fachliche Begleitung <strong>der</strong> MitarbeiterInnen<br />

muss gesichert se<strong>in</strong><br />

Wenn wir versuchen, e<strong>in</strong> Fazit unserer bisherigen Arbeit zu ziehen, sieht <strong>die</strong>s so <strong>aus</strong>:<br />

Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen können mit Begleitung und Unterstützung erfolgreiche Eltern<br />

se<strong>in</strong>.<br />

Der Schutz und das Wohl des K<strong>in</strong>des hat immer oberste Priorität, auch <strong>in</strong> Bezug auf <strong>die</strong><br />

Frage nach ambulanter o<strong>der</strong> stationärer Hilfe.<br />

Und, zum Schluss, jedoch für <strong>die</strong> Qualität <strong>der</strong> Arbeit wesentlich, muss <strong>die</strong> kont<strong>in</strong>uierliche<br />

fachliche Begleitung <strong>der</strong> Mitarbeiter<strong>in</strong>nen und Mitarbeiter gesichert se<strong>in</strong>. Vielen Dank!<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Herzlichen Dank, Frau Oberdorfer. Wir haben quasi hier e<strong>in</strong> Modell<br />

e<strong>in</strong>er stationären Betreuungsform kennen gelernt. Es juckt mich natürlich zu fragen, wie<br />

geht das, so gar nicht den Blick zu haben auf <strong>die</strong> Art <strong>der</strong> Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung, son<strong>der</strong>n sich zu fokussieren<br />

auf <strong>die</strong> Tatsache <strong>der</strong> Elternschaft o<strong>der</strong> vielleicht ist es gerade das. Was wären wir im<br />

Rhe<strong>in</strong>land ohne <strong>die</strong> Westfalen. Also endlich ist es soweit, Frau Wagenblass hat sich ja schon<br />

geoutet, dass sie auch <strong>aus</strong> NRW stammt, lange <strong>in</strong> Münster war. Jetzt begrüßen wir <strong>aus</strong> Dortmund<br />

Frau Sprung, <strong>die</strong> über das Modell begleitete Elternschaft des Mobile e. V. berichtet. Da<br />

b<strong>in</strong> ich ganz sicher, das muss ambulant se<strong>in</strong>. Bitte schön!<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

53


Vortrag „ Das Modellprojekt Begleitete Elternschaft des Mobile e.V. Dortmund“<br />

Christiane Sprung (MOBILE Selbstbestimmtes Leben Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ter e. V.,<br />

Dortmund):<br />

Modellprojekt Modellprojekt Begleitete<br />

Elternschaft<br />

Elternschaft<br />

e<strong>in</strong> Projekt<br />

von von MOBILE Selbstbestimmtes Leben<br />

Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ter e.V.<br />

<strong>in</strong> Kooperation Kooperation mit <strong>der</strong> Katholischen<br />

Fachhochschule Pa<strong>der</strong>born Pa<strong>der</strong>born und und <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Fakultät Rehabilitationswissenschaften Rehabilitationswissenschaften <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Universität Dortmund<br />

26.05.2008 2<br />

1. Entstehung des Modellprojekts bei MOBILE<br />

Der Vere<strong>in</strong> MOBILE – Selbstbestimmtes Leben Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ter e. V. wurde Anfang <strong>der</strong> 80er Jahre<br />

gegründet. Er ist <strong>aus</strong> <strong>der</strong> politischen Selbsthilfe Körperbeh<strong>in</strong><strong>der</strong>ter entstanden und versteht sich<br />

u. a. als Initiator und Träger zum Anschub <strong>in</strong>novativer Projekte im Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>tenbereich. 1992<br />

wurde mit dem Unterstützungsangebot des Ambulant Betreuten Wohnens für geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te<br />

Menschen begonnen. Schon <strong>in</strong> den ersten Jahren gab es Kund<strong>in</strong>nen und Kunden des Ambulant<br />

Betreuten Wohnens, <strong>die</strong> Eltern waren. Ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong> lebten jedoch bei Pflegeeltern o<strong>der</strong> <strong>in</strong><br />

Heimen. Die Zahl <strong>der</strong> Eltern nahm <strong>in</strong> den kommenden Jahren kont<strong>in</strong>uierlich zu.<br />

Schlüsselerlebnis für MOBILE e. V. war, als 1998 e<strong>in</strong> Kundenpaar des Ambulant Betreuten<br />

Wohnens Eltern wurde. Es gab <strong>in</strong> Dortmund zu <strong>die</strong>sem Zeitpunkt ke<strong>in</strong>en Dienst, <strong>der</strong> auf <strong>die</strong><br />

Unterstützung geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ter Eltern e<strong>in</strong>gestellt war. Ausgehend von dem Wunsch <strong>der</strong> werdenden<br />

Eltern mit ihrem K<strong>in</strong>d zusammen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er eigenen Wohnung zu leben und weiterh<strong>in</strong><br />

durch das ABW von MOBILE e. V. unterstützt zu werden, wurde geme<strong>in</strong>sam mit dem Familienunterstützenden<br />

Dienst <strong>der</strong> Lebenshilfe und an<strong>der</strong>en engagierten Personen, u. a. auch von <strong>der</strong><br />

Fachhochschule, e<strong>in</strong>e Möglichkeit <strong>der</strong> ambulanten Unterstützung für <strong>die</strong>se Familie entwickelt.<br />

Die Situation an sich war bereits schwierig, ke<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Beteiligten konnte auf Erfahrungen <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>sem Bereich zurückgreifen. H<strong>in</strong>zu kam, dass sowohl <strong>die</strong> Familie als auch ihre Unterstützer-<br />

Innen überall auf massive Vorbehalte stießen. Schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kl<strong>in</strong>ik musste e<strong>in</strong>e Fremdunterbr<strong>in</strong>gung<br />

verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t werden, trotz erst e<strong>in</strong>mal bestehendem Unterstützungsangebot für <strong>die</strong> Familie.<br />

Trotz hohem Engagement auf Seiten aller Beteiligten wurde das K<strong>in</strong>d nach ca. e<strong>in</strong>em halben<br />

Jahr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Pflegefamilie untergebracht.<br />

MOBILE e. V. hat sich seit <strong>die</strong>ser Zeit kont<strong>in</strong>uierlich mit <strong>die</strong>sem Thema <strong>aus</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt und<br />

auch bundesweit Kontakte geknüpft, e<strong>in</strong>erseits um e<strong>in</strong>en möglichst breiten Aust<strong>aus</strong>ch zu haben,<br />

an<strong>der</strong>erseits aber auch, um das Thema auf Bundesebene mit voran zutreiben. Wir haben<br />

für uns <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e zwei Konsequenzen <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Erfahrung mit <strong>der</strong> Familie und <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />

mit dem Thema gezogen:<br />

1.) Es muss konkrete zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote für geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te<br />

Eltern geben. Es reicht nicht <strong>aus</strong>, nur akut auf Bedarfsfälle zu reagieren, wenn doch<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

54


wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Kund<strong>in</strong> schwanger geworden ist. Auch Menschen mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

haben e<strong>in</strong> Recht, Eltern zu se<strong>in</strong>, sie müssen <strong>die</strong> Chance auf e<strong>in</strong> Zusammenleben bekommen<br />

und <strong>die</strong>s geht nur mit entsprechen<strong>der</strong> konzeptionell und <strong>in</strong>haltlich fun<strong>die</strong>rter<br />

Unterstützung.<br />

2.) Gesellschaftlich gibt es sowohl <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fachöffentlichkeit als auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Öffentlichkeit<br />

große Vorbehalte bezüglich des Zusammenlebens geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ter Eltern<br />

mit ihren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Es ist daher beson<strong>der</strong>s schwierig, auf <strong>die</strong> Strukturen des regionalen<br />

und überregionalen Hilfesystems <strong>der</strong> Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten- und Jugendhilfe zurückzugreifen.<br />

Unser Ziel ist <strong>die</strong> Vernetzung, damit <strong>die</strong>s möglich wird. Wir wollen verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n, dass wir<br />

bei je<strong>der</strong> Familie als E<strong>in</strong>zelfall mit den Kooperationsüberlegungen neu beg<strong>in</strong>nen müssen.<br />

Im Jahr 2001 haben wir damit begonnen, Projektmittel bei den unterschiedlichen Landes- und<br />

Bundesm<strong>in</strong>isterien sowie <strong>der</strong> Stiftung Wohlfahrtspflege e<strong>in</strong>zuwerben. Im Rahmen e<strong>in</strong>es Projektes<br />

wollten wir e<strong>in</strong> eigenes Unterstützungsangebot entwickeln und, wie oben beschrieben,<br />

Strukturen aufbauen, Öffentlichkeitsarbeit machen. Vor <strong>die</strong>sem H<strong>in</strong>tergrund ist <strong>die</strong> Idee für e<strong>in</strong><br />

zweijähriges Modellprojekt entstanden, für das im Laufe des Jahres 2004 Projektanträge bei <strong>der</strong><br />

Aktion Mensch sowie <strong>der</strong> Software AG –Stiftung gestellt und Anfang 2006 bewilligt wurden.<br />

E<strong>in</strong>e Konzeption für e<strong>in</strong> ambulantes Unterstützungsangebot für geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Eltern wurde<br />

auch ohne Projektmittel <strong>in</strong>zwischen entwickelt. Seit Oktober 2005 ist MOBILE als Anbieter Sozialpädagogischer<br />

Familienhilfe für geistig bee<strong>in</strong>trächtigte Eltern vom Jugendamt Dortmund<br />

anerkannt.<br />

3. Vorstellung des Modellprojekts<br />

Ziele Ziele Begleiteter Begleiteter Elternschaft <strong>in</strong> Dortmund:<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Chance Chance für für geistig geistig bee<strong>in</strong>trächtigte bee<strong>in</strong>trächtigte Eltern Eltern auf auf<br />

e<strong>in</strong> e<strong>in</strong> realistisches realistisches Familienleben, Familienleben, welches das das<br />

Wohl Wohl des des K<strong>in</strong>des K<strong>in</strong>des sicherstellt sicherstellt<br />

Trennungsbegleitung Trennungsbegleitung und begleiteter Umgang Umgang<br />

Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>wunsch<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>wunsch<br />

26.05.2008 3<br />

Ziel <strong>der</strong> Begleiteten Elternschaft ist es…<br />

… geistig bee<strong>in</strong>trächtigten Eltern <strong>die</strong> Chance zu geben, e<strong>in</strong> realistisches Familienleben,<br />

welches das Wohl des K<strong>in</strong>des sicherstellt, kennen zu lernen und zu leben.<br />

… Eltern auch nach e<strong>in</strong>er Trennung von ihren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n zu begleiten und sie im Kontakt zu ihren<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>n zu unterstützen<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

55


… geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten Menschen <strong>die</strong> Möglichkeit zur Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit ihrem K<strong>in</strong><strong>der</strong>wunsch<br />

zu geben.<br />

Das Modellprojekt Begleitete<br />

Elternschaft<br />

1.) Netzwerkaufbau<br />

Netzwerkaufbau<br />

Ulla Ulla Riesberg Riesberg und und Christiane Christiane Sprung Sprung<br />

2.) modellhafter modellhafter Dienstaufbau<br />

Dienstaufbau<br />

Ulla Ulla Riesberg Riesberg und und Christiane Christiane Sprung Sprung<br />

3.) Begleitforschung<br />

Begleitforschung<br />

Prof. Prof. Dr. Dr. Albert Albert Lenz Lenz und und Birgit Birgit Rothenberg Rothenberg<br />

26.05.2008 4<br />

Das Modellprojekt umfasst drei Bereiche: den Dienstaufbau, den Netzwerkaufbau und <strong>die</strong> Begleitforschung.<br />

Mitarbeiter<strong>in</strong>nen im Modellprojekt s<strong>in</strong>d Ulla Riesberg und ich (Christiane Sprung)<br />

beide Diplompädagog<strong>in</strong>nen und zuständig für den Dienstaufbau und den Netzwerkaufbau. Geleitet<br />

wird das Projekt von Herrn Professor Dr. Albert Lenz von <strong>der</strong> Katholischen Fachhochschule<br />

Pa<strong>der</strong>born und Frau Birgit Rothenberg von <strong>der</strong> Universität Dortmund, Fakultät Rehabilitationswissenschaften.<br />

Nachdem <strong>die</strong> für <strong>die</strong> Begleitforschung zuständige Psycholog<strong>in</strong> uns nach ca.<br />

e<strong>in</strong>em Jahr verlassen hat, führen wir Mitarbeiter<strong>in</strong>nen, Herr Lenz und Frau Rothenberg <strong>die</strong> Forschungsaufgaben<br />

z. T. selber durch, zum Teil s<strong>in</strong>d <strong>die</strong>se extern vergeben.<br />

a) Dienstaufbau<br />

Dienstaufbau<br />

Aufbau Aufbau e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>es ambulanten ambulanten<br />

Unterstützungsangebots Unterstützungsangebots für für Familien Familien als<br />

geme<strong>in</strong>sames geme<strong>in</strong>sames Angebot Angebot <strong>der</strong> <strong>der</strong> Hilfen Hilfen zur zur Erziehung Erziehung<br />

und und <strong>der</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe<br />

E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe<br />

Geme<strong>in</strong>same Geme<strong>in</strong>same F<strong>in</strong>anzierung F<strong>in</strong>anzierung und und Hilfeplanung<br />

Hilfeplanung<br />

26.05.2008 5<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

56


Seit Oktober 2005 hat MOBILE e. V vom Jugendamt <strong>der</strong> Stadt Dortmund <strong>die</strong> Anerkennung als<br />

Träger für Soziapädagogische Familienhilfe (SPFH). Wir unterstützen zurzeit acht Familien und<br />

e<strong>in</strong>e schwangere Frau im Rahmen <strong>der</strong> SPFH, d. h. unsere Arbeit wird <strong>der</strong>zeit noch <strong>aus</strong>schließlich<br />

über Jugendhilfeleistungen f<strong>in</strong>anziert. Unserer Ansicht nach ist es jedoch unabd<strong>in</strong>gbar,<br />

dass langfristig auch <strong>der</strong> Landschaftsverband Westfalen Lippe (LWL) als Träger <strong>der</strong> Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>tenhilfe<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong> F<strong>in</strong>anzierung mit e<strong>in</strong>steigt.<br />

Es hat mittlerweile e<strong>in</strong> erstes Gespräch zwischen dem LWL, dem Jugendamt <strong>der</strong> Stadt Dortmund,<br />

dem MOBILE e.V. und <strong>der</strong> Lebenshilfe Dortmund gegeben, bei dem erste Absprachen<br />

zu e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen F<strong>in</strong>anzierung und Hilfeplanung bei<strong>der</strong> Kostenträger getroffen wurden.<br />

Die <strong>in</strong>tensive Netzwerk– und Öffentlichkeitsarbeit, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e mit <strong>der</strong> Durchführung des<br />

Fachtages „Tabu o<strong>der</strong> Normalität“ im September 2007, hat bereits <strong>in</strong>sofern Früchte getragen,<br />

als nun allseits anerkannt wird, dass Begleitete Elternschaft nicht SPFH, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> eigenständiges<br />

spezialisiertes Unterstützungsangebot ist. Vorgesehen ist für <strong>die</strong> Familien e<strong>in</strong> Unterstützungsangebot,<br />

bei dem Unterstützungsleistungen im Rahmen <strong>der</strong> Jugendhilfe und <strong>der</strong> E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe<br />

von e<strong>in</strong>em Dienst, <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Fall von uns, erbracht werden.<br />

Der Dienst umfasst zurzeit <strong>in</strong>sgesamt knapp 2 Stellen, verteilt auf 5 Köpfe. E<strong>in</strong>e Kolleg<strong>in</strong> arbeitet<br />

<strong>der</strong>zeit sowohl im Ambulant Betreuten Wohnen als auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Begleiteten Elternschaft. In<br />

je<strong>der</strong> Familie arbeiten e<strong>in</strong>e Sozialpädagog<strong>in</strong> (bzw. Diplom Pädagog<strong>in</strong>) und e<strong>in</strong>e Erzieher<strong>in</strong>. Die<br />

Anzahl <strong>der</strong> Fachleistungsstunden wird geme<strong>in</strong>sam mit dem Jugendamt festgelegt. In regelmäßigen<br />

Teamgesprächen werden <strong>die</strong> Unterstützungssituationen reflektiert und Term<strong>in</strong>absprachen<br />

getroffen. In <strong>der</strong> Zeit, <strong>in</strong> <strong>der</strong> wir Erfahrungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Unterstützung von Familien machen<br />

konnten, konnten wir bereits feststellen, dass es, ebenso wie im Ambulant Betreuten Wohnen,<br />

nicht das e<strong>in</strong>e Konzept zur Begleitung gibt, son<strong>der</strong>n, dass für jede Familie <strong>in</strong>dividuelle Lösungen<br />

gefunden werden müssen.<br />

So haben wir nach e<strong>in</strong>iger Zeit begonnen, <strong>in</strong> Absprache mit <strong>der</strong> Mutter, e<strong>in</strong>e Student<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Familie e<strong>in</strong>zusetzen mit dem Auftrag, Freizeitaktivitäten mit <strong>der</strong> Familie durchzuführen, um <strong>die</strong><br />

Mutter zu entlasten bzw. Anregungen für <strong>die</strong> Freizeitgestaltung zu geben und Vorbild für <strong>die</strong><br />

Mutter im Spiel mit den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n zu se<strong>in</strong>. In e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Familie wurde deutlich, dass gar nicht<br />

immer pädagogische Hilfe notwendig war, son<strong>der</strong>n Entlastung, um dem Vater zu ermöglichen,<br />

H<strong>aus</strong>haltstätigkeiten durchzuführen. Auch hier machte e<strong>in</strong>ige Zeit e<strong>in</strong> Student H<strong>aus</strong>besuche,<br />

während denen er sich mit dem kle<strong>in</strong>en Sohn beschäftigte.<br />

Die Unterstützungsbereiche s<strong>in</strong>d vielfältig und umfassend. Natürlich f<strong>in</strong>det Unterstützung im<br />

H<strong>in</strong>blick auf Pflege, Versorgung, För<strong>der</strong>ung und Erziehung des K<strong>in</strong>des bzw. <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> statt,<br />

aber auch Unterstützung bei <strong>der</strong> alltäglichen Lebensführung wie H<strong>aus</strong>halt, E<strong>in</strong>käufe, Umgang<br />

mit Geld, Behördengänge und Schriftverkehr, Tagesstruktur, Arbeit, Freizeit, soziale Beziehungen.<br />

Das Vorgehen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Unterstützung be<strong>in</strong>haltet Gespräche, Informationsvermittlung, Motivation,<br />

aber auch Vormachen, Vorbild se<strong>in</strong> und geme<strong>in</strong>sames Tun. In regelmäßigen Abständen,<br />

m<strong>in</strong>destens halbjährlich, f<strong>in</strong>den geme<strong>in</strong>same Hilfeplangespräche mit den Familien und dem<br />

Jugendamt statt, <strong>in</strong> denen <strong>die</strong> Unterstützungsarbeit reflektiert wird und Ziele und Maßnahmen<br />

für <strong>die</strong> zukünftige Zusammenarbeit festgelegt werden.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

57


) Netzwerkaufbau<br />

Netzwerkaufbau<br />

Verbesserung Verbesserung <strong>der</strong> Angebotsstruktur<br />

Angebotsstruktur<br />

Nutzung Nutzung vorhandener Ressourcen und<br />

Angebote Angebote <strong>der</strong> <strong>der</strong> Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten- Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten und und Jugendhilfe<br />

Kooperation Kooperation von von Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>tenhilfe Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>tenhilfe und und<br />

Jugendhilfe: Jugendhilfe:<br />

Geme<strong>in</strong>schaftliche Geme<strong>in</strong>schaftliche Bedarfsplanung<br />

Bedarfsplanung<br />

Öffentlichkeitsarbeit Öffentlichkeitsarbeit /Lobbyarbeit<br />

26.05.2008 6<br />

Vernetzung ist <strong>aus</strong> unserer Sicht e<strong>in</strong> ganz wichtiger Aspekt, um geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten Eltern e<strong>in</strong><br />

Zusammenleben als Familie zu ermöglichen. Sie brauchen e<strong>in</strong> Umfeld, was sie stützt. Durch e<strong>in</strong><br />

tragfähiges und konstruktiv arbeitendes Netzwerk mit den Diensten, <strong>die</strong> Familien unterstützen,<br />

<strong>der</strong>en Eltern <strong>in</strong>tellektuell bee<strong>in</strong>trächtigt s<strong>in</strong>d, soll <strong>die</strong> Angebotsstruktur <strong>in</strong> Dortmund verbessert<br />

werden. Kooperation und Vernetzung <strong>der</strong> beteiligten Dienste erhöhen <strong>die</strong> Chancen für e<strong>in</strong> Zusammenleben<br />

<strong>die</strong>ser Familien.<br />

Die Erfahrungswerte <strong>der</strong> letzten Jahre zeigen, dass Familien mit <strong>in</strong>tellektuell bee<strong>in</strong>trächtigen<br />

Eltern häufig auch darum nicht zusammenleben, weil <strong>die</strong> Unterstützungsangebote nicht passgenau<br />

auf <strong>die</strong>se Eltern abgestimmt s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong> von unterschiedlichen Diensten getragenes Netzwerk<br />

kann dazu beitragen, dass vorhandene Ressourcen und Synergieeffekte für <strong>die</strong>se Eltern<br />

und ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong> nutzbar gemacht werden können.<br />

Mit Vertreter<strong>in</strong>nen und Vertretern <strong>aus</strong> den Bereichen <strong>der</strong> Jugendhilfe und <strong>der</strong> Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>tenhilfe<br />

<strong>der</strong> Stadt Dortmund sowie von Beratungsstellen führen wir im Rahmen des Modellprojektes ca.<br />

alle zwei Monate Netzwerktreffen durch.<br />

Insbeson<strong>der</strong>e <strong>aus</strong> den E<strong>in</strong>richtungen <strong>der</strong> Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>tenhilfe wurde e<strong>in</strong> hohes Interesse deutlich,<br />

weil Mitarbeiter<strong>in</strong>nen und Mitarbeiter dort <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Praxis</strong> immer wie<strong>der</strong> damit konfrontiert werden,<br />

dass Menschen mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung Eltern werden. Meist ist dann <strong>die</strong> Frage, wie sie unterstützt<br />

werden können. Im Netzwerk wurde bisher e<strong>in</strong> Angebotsführer Begleitete Elternschaft<br />

erarbeitet, <strong>der</strong> sich z. Zt. <strong>in</strong> <strong>der</strong> Endbearbeitung für den Druck bef<strong>in</strong>det.<br />

Weiterh<strong>in</strong> hat e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>erer Arbeitskreis <strong>aus</strong> Jugendamt, Lebenshilfe und MOBILE e.V. e<strong>in</strong>e Arbeitshilfe<br />

Begleitete Elternschaft entwickelt, <strong>die</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> praktischen Unterstützungsarbeit e<strong>in</strong>gesetzt<br />

werden soll und unter an<strong>der</strong>em Checklisten für das erste Lebensjahr und K<strong>in</strong><strong>der</strong> bis <strong>in</strong>s<br />

Grundschulalter enthält.<br />

Im September letzten Jahres hat das Dortmun<strong>der</strong> Netzwerk Begleitete Elternschaft erfolgreich<br />

e<strong>in</strong>en Fachtag („Tabu o<strong>der</strong> Normalität“ – Begleitung von Eltern mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung und<br />

ihren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>in</strong> Dortmund) mit über 100 TeilnehmerInnen durchgeführt.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

58


E<strong>in</strong> weiterer Bereich, <strong>in</strong> dem wir hohe Notwendigkeit zu Kooperation sehen, ist unter den Kostenträgern.<br />

E<strong>in</strong> Unterstützungsangebot „Begleitete Elternschaft“ kann nicht alle<strong>in</strong> über Sozialpädagogische<br />

Familienhilfe geleistete werden. Begleitete Elternschaft ist auf langfristige Unterstützung<br />

<strong>aus</strong>gelegt. Sie erfor<strong>der</strong>t e<strong>in</strong>en hohen Stundenumfang. Sie kann nur zum Teil Hilfe zur<br />

Selbsthilfe se<strong>in</strong>, auch Übernahme bestimmter Tätigkeiten und Entlastung <strong>der</strong> Eltern s<strong>in</strong>d erfor<strong>der</strong>lich.<br />

c) Begleitforschung<br />

Begleitforschung<br />

Situations- Situations und Bedarfsanalyse<br />

Fragebogenerhebung <strong>in</strong> Dortmun<strong>der</strong> E<strong>in</strong>richtungen<br />

Experten<strong>in</strong>terviews<br />

Interviews mit Eltern<br />

Aktenanalyse<br />

Evaluation des Netzwerkaufb<strong>aus</strong><br />

Dokumentation <strong>der</strong> Netzwerkaktivitäten<br />

Evaluation <strong>der</strong> Zielerreichung<br />

Experten<strong>in</strong>terviews<br />

26.05.2008 7<br />

Im Rahmen <strong>der</strong> Begleitforschung wird erhoben, wie viele Familien mit <strong>in</strong>tellektuell bee<strong>in</strong>trächtigten<br />

Eltern <strong>in</strong> Dortmund bekannt s<strong>in</strong>d und wie <strong>die</strong> Situation <strong>die</strong>ser Familien <strong>aus</strong>sieht: Leben Eltern<br />

mit ihren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n zusammen? Welche Unterstützung bekommen sie? Warum ist das Zusammenleben<br />

gescheitert? Was hat gefehlt? Auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>die</strong>ser Ist-Analyse können <strong>die</strong><br />

speziellen Bedarfe <strong>in</strong> <strong>der</strong> Unterstützung <strong>die</strong>ser Familien festgestellt werden. Das Netzwerk kann<br />

<strong>die</strong>se Ergebnisse für se<strong>in</strong>e Arbeit zur Verbesserung <strong>der</strong> Angebotsstruktur nutzen. Der Aufbau<br />

des Netzwerks wird ebenfalls wissenschaftlich begleitet.<br />

Es wurde zunächst damit begonnen, e<strong>in</strong>e Situations- und Bedarfsanalyse durchzuführen. Die<br />

Fragebogenerhebung ist durchgeführt und <strong>aus</strong>gewertet. Von den E<strong>in</strong>richtungen wurden 46 Elternschaften<br />

seit 1970 mit 83 K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>in</strong> Dortmund genannt. E<strong>in</strong>e für uns überraschende Zahl<br />

war, dass 47 % <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> bei ihren leiblichen Eltern wohnen.<br />

Daneben s<strong>in</strong>d sowohl mit Experten, d. h. mit Mitarbeiter<strong>in</strong>nen und Mitarbeitern des Jugendamtes,<br />

<strong>die</strong> fallverantwortlich für Familien zuständig s<strong>in</strong>d, mit Mitarbeiter<strong>in</strong>nen und Mitarbeitern <strong>aus</strong><br />

<strong>der</strong> direkten pädagogischen Arbeit mit den Familien und <strong>aus</strong> an<strong>der</strong>en begleitenden Diensten als<br />

auch mit Müttern und Vätern Interviews geführt worden, <strong>die</strong> <strong>der</strong>zeit noch <strong>aus</strong>gewertet werden.<br />

Die Situations- und Bedarfsanalyse soll noch durch e<strong>in</strong>e Aktenanalyse abgerundet und abgeschlossen<br />

werden. Auch Netzwerkaufbau und Dienstaufbau werden im Rahmen <strong>der</strong> Begleitforschung<br />

evaluiert.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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Vortrag: „Das Präventionsprojekt KIPKEL“ 9<br />

Susanna Staets (Präventionsprojekt für K<strong>in</strong><strong>der</strong> psychisch kranker Eltern,<br />

KIPKEL, Haan): Ich hätte gern e<strong>in</strong>ige Bil<strong>der</strong> von Arbeiten <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> mitgebracht.<br />

Aber das war <strong>aus</strong> Zeitgründen nicht möglich; sie müsste man nämlich<br />

kommentieren.<br />

Wir feiern im Oktober <strong>die</strong>ses Jahres zehnjähriges Bestehen und haben <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>sem Zeitraum über 650 K<strong>in</strong><strong>der</strong> und <strong>der</strong>en Familien betreut und begleitet.<br />

Wir haben weiter erreicht, dass e<strong>in</strong> enges Kooperationsnetz zwischen Erwachsenenpsychiatrie<br />

und <strong>der</strong> örtlichen Jugendhilfe aufgebaut wurde. Es konnte mehr Transparenz<br />

und Offenheit <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> betroffenen Familien und im familiären Umfeld sowie <strong>der</strong> Abbau<br />

von Tabus im Umgang mit psychisch kranken Menschen entwickelt werden. In <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

wurden Interesse und e<strong>in</strong> Problembewusstse<strong>in</strong> für <strong>die</strong> Belastungen und Nöte <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

geweckt und fachliche Unterstützung und Begleitung beim Aufbau weiterer Projekte für K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

psychisch kranker Eltern bundesweit geleistet.<br />

Ich möchte jetzt gern über den Ablauf <strong>der</strong> Arbeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Praxis</strong> mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und Familien berichten.<br />

Etwa 80 Prozent unserer betreuten K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Familien erreichen wir über <strong>die</strong> Zusammenarbeit<br />

mit <strong>der</strong> zuständigen psychiatrischen Kl<strong>in</strong>ik <strong>in</strong> Langenfeld. In <strong>die</strong>ser Kl<strong>in</strong>ik arbeite ich jede<br />

Woche auf mehreren Stationen und auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tageskl<strong>in</strong>ik. Hier lerne ich <strong>die</strong> Eltern kennen, <strong>die</strong><br />

akut krank stationär aufgenommen wurden.<br />

Das ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Arbeit <strong>die</strong> sensibelste Stelle und erfor<strong>der</strong>t e<strong>in</strong>e enorme Behutsamkeit. Die Angst<br />

<strong>der</strong> Eltern vor E<strong>in</strong>griff und Übergriff ist enorm groß. Ich habe <strong>in</strong> den Jahren erfahren, dass <strong>die</strong><br />

Eltern ihre Wahrnehmung <strong>in</strong> Bezug auf das Erleben <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> nur e<strong>in</strong>geschränkt erleben. Das<br />

ist zum eigenen, aber auch zum Schutz <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>.<br />

Zuerst ist es me<strong>in</strong>e Aufgabe, <strong>in</strong> den Gesprächen Vertrauen aufzubauen und Ängste abzubauen;<br />

Ängste vor Her<strong>aus</strong>nahme <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>, Ängste vor Überfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>, vor Belastung <strong>der</strong><br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>, vor Liebesentzug <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>. Es gibt e<strong>in</strong>en ganzen Katalog von Ängsten, den <strong>die</strong> Eltern<br />

zeigen.<br />

In <strong>die</strong>ser Phase des Kontaktaufb<strong>aus</strong> mit den Eltern – ich habe oft mehrere Wochen Zeit, weil ich<br />

jede Woche auf Station b<strong>in</strong> – geht es unter an<strong>der</strong>em auch darum, <strong>die</strong> Bereitschaft <strong>der</strong> Eltern,<br />

ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong> zu uns <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Praxis</strong> zu geben, zu wecken.<br />

Man muss wissen, dass viele Eltern mit ihren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n niemals über ihre Krankheit gesprochen<br />

haben und auch ke<strong>in</strong>e Sprache dafür haben, wie sie das vermitteln. H<strong>in</strong>zu kommt, dass <strong>die</strong> Eltern<br />

selber über sich und ihre Bef<strong>in</strong>dlichkeit nicht reden können. Das bedeutet, dass ich oft mit<br />

ihnen behutsam übe, wie e<strong>in</strong> vorbereitendes Gespräch für den Kontakt mit uns <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Praxis</strong><br />

möglich se<strong>in</strong> kann.<br />

Es zeigt sich, wie wenig Kommunikation eigentlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familie ist und wie belastend solche<br />

Gespräche s<strong>in</strong>d. In <strong>der</strong> Kl<strong>in</strong>ik werden <strong>die</strong> Eltern vorbereitet und es wird ihnen Mut gemacht, ihre<br />

9 E<strong>in</strong> Bericht über <strong>die</strong> drei von den Rhe<strong>in</strong>ischen Kl<strong>in</strong>iken Langenfeld angebotenen Präventionsprojekte für K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

psychisch kranker Eltern (KIPKEL, KiK LEV und KIPS) kann <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er Vorlage für den Sozial- und den Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schuss<br />

unter folgendem L<strong>in</strong>k e<strong>in</strong>gesehen werden:<br />

https://dom.lvr.de/lvis/lvr_recherchewww_12wp.nsf/WEBAlleDaten/3960ED2F4E456994C1257417003087AC?Ope<br />

nDocument&grem=Sozial<strong>aus</strong>schuss&date=01.04.2008&form=WEBAnsichtAlleDaten<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> Betreuung zu geben. Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> s<strong>in</strong>d oft <strong>die</strong> ersten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familie, <strong>die</strong> überhaupt über<br />

das reden, was <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familie passiert. Das macht Angst und macht unsicher.<br />

Beide Elternteile müssen ihren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>die</strong> Erlaubnis geben, dass sie zu uns kommen und reden<br />

dürfen.<br />

Mit uns hat e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Junge über Stunden ke<strong>in</strong> Wort geredet. Me<strong>in</strong>e Kolleg<strong>in</strong> und ich hatten<br />

schon überlegt, welches <strong>die</strong> Symptome dafür se<strong>in</strong> könnten, bis ich an <strong>der</strong> Tür hörte, dass <strong>die</strong><br />

Mutter sagte: „Und du sagst ke<strong>in</strong> Wort!“ – Wir mussten alles noch e<strong>in</strong>mal aufarbeiten; erst danach<br />

konnte <strong>der</strong> kle<strong>in</strong>e Junge sprechen.<br />

Me<strong>in</strong>e Arbeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kl<strong>in</strong>ik wird immer von den Ärzten und Pflegern begleitet. Ich werde zunächst<br />

<strong>in</strong>formiert, welche Eltern neu aufgenommen wurden. Das ist e<strong>in</strong>e enorme Entwicklung. Als ich<br />

vor zehn Jahren das erste Mal <strong>in</strong> <strong>die</strong> Kl<strong>in</strong>ik kam und me<strong>in</strong> Konzept vorstellte, haben mir <strong>die</strong> Ärzte<br />

geantwortet: „Haben <strong>die</strong> Patienten K<strong>in</strong><strong>der</strong>? Danach haben wir noch nie gefragt.“ – Das ist<br />

zehn Jahre her.<br />

Wenn heute Patienten aufgenommen werden, wird gefragt: „Haben Sie K<strong>in</strong><strong>der</strong>? Wie alt s<strong>in</strong>d <strong>die</strong><br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>? Und wo werden <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> während Ihrer Abwesenheit betreut?“ – Das heißt, es gibt<br />

schon e<strong>in</strong>e ganze Menge Vor<strong>in</strong>formation für mich. Das heißt auch, dass Ärzte und Pflegepersonal<br />

sich schon mit <strong>die</strong>sem Thema <strong>aus</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt haben, bevor ich komme.<br />

Wenn ich zur Station komme, warten manche Eltern, weil sie schon vom Projekt gehört haben.<br />

E<strong>in</strong>ige sagen mir aber auch: „Mit Ihnen will ich überhaupt nicht reden.“ – Das heißt, es ist nur<br />

e<strong>in</strong>e ganz behutsame Annäherung möglich. Ich begrüße sie und stelle mich vor: So kann allmählich<br />

e<strong>in</strong> gutes Arbeitsbündnis entstehen.<br />

Mir fiel auf, dass <strong>die</strong> Gespräche mit den Eltern immer an Erkrankungen gekoppelt s<strong>in</strong>d. Ich denke,<br />

dass viele Eltern, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e während ihrer Akuterkrankung, überhaupt nicht mehr ihre<br />

eigenen Kompetenzen und Fähigkeiten wahrnehmen und sich selber auf „Ich b<strong>in</strong> krank; ich b<strong>in</strong><br />

psychisch krank“ reduzieren.<br />

So ist <strong>die</strong> Idee entstanden, mit den Eltern auf <strong>der</strong> Station <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Gruppe über <strong>die</strong> normalen<br />

Entwicklungsschritte <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> zu sprechen. Z.B.: Wie verhalten sich K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Trotzphase o<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Pubertät? Wie ist das <strong>in</strong> Krisenzeiten?<br />

E<strong>in</strong> Vater sagte e<strong>in</strong>er Mutter, <strong>die</strong> sich darüber beschwerte, dass ihr 15-jähriger Sohn ihr überhaupt<br />

nicht schreibe: „Kannst du dich nicht daran er<strong>in</strong>nern, wie es war, als du 15 warst? Ich b<strong>in</strong><br />

auf <strong>die</strong> an<strong>der</strong>e Straßenseite gegangen, weil ich mit me<strong>in</strong>en spießigen Eltern nicht zusammenkommen<br />

wollte.“<br />

Das erheitert und das br<strong>in</strong>gt große Lockerheit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e solche Gruppe. Uns fällt auf, dass <strong>die</strong>se<br />

Gespräche <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe auch später auf <strong>der</strong> Station fortgeführt werden. Das heißt, das Thema<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> wird e<strong>in</strong> ganzes akutes und wichtiges .<br />

Der Übergang <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Praxis</strong> wird vorbereit. Das kann z.B. e<strong>in</strong> H<strong>aus</strong>besuch se<strong>in</strong> o<strong>der</strong> wir laden<br />

<strong>die</strong> gesamte Familie <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Praxis</strong> e<strong>in</strong>. Zum ersten Treffen wird mit den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n über <strong>die</strong> psychische<br />

Krankheit des Elternteils gesprochen. Das heißt, das Tabu wird aufgehoben und <strong>die</strong> Möglichkeit<br />

eröffnet, dass <strong>die</strong> Familie angstfrei mit dem Thema umgehen kann.<br />

Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> kommen immer erst zum E<strong>in</strong>zelkontakt. Es hat sich gezeigt, dass <strong>die</strong> Scham- und<br />

Schuldgefühle <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> immens groß s<strong>in</strong>d.<br />

In <strong>die</strong>sen ersten Stunden geht es auch um e<strong>in</strong>e diagnostische E<strong>in</strong>schätzung, z.B., ob das präventive<br />

Angebot, das wir machen, <strong>aus</strong>reicht, um weiter mit den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und Familien zu arbei-<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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ten o<strong>der</strong> ob bereits e<strong>in</strong>e therapeutische Arbeit erfor<strong>der</strong>lich ist. Dann versuchen wir, soweit wir es<br />

schaffen, Therapeuten für <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> zu f<strong>in</strong>den und begleiten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Übergangszeit <strong>die</strong> Familien.<br />

Nach <strong>die</strong>sen Erstkontakten erfolgt – das ist im Konzept so gedacht – das Familiengespräch, zu<br />

dem alle <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familie e<strong>in</strong>geladen werden, sowohl <strong>die</strong> erkrankten als auch <strong>die</strong> nicht erkrankten<br />

Elternteile und alle Geschwister. In <strong>die</strong>sem Gespräch geht es um das Thema „Was ist e<strong>in</strong>e psychische<br />

Krankheit?“, sie werden immer von e<strong>in</strong>em Facharzt mo<strong>der</strong>iert.<br />

Das ist für K<strong>in</strong><strong>der</strong> immens wichtig, weil sie – das hat eben Frau Dr. Wagenblass <strong>aus</strong>geführt –<br />

große Schuldgefühle haben und oft denken, dass durch ihre Unterstützung und Hilfe <strong>die</strong> Krankheit<br />

geheilt o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest reduziert werden kann. Die Erfahrung, dass sie das nicht bewirken<br />

können, ist für viele K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit großer Resignation und auch mit depressiven Gefühlen verbunden.<br />

Es geht hier um <strong>die</strong> Fragen <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>: „Was ist das für e<strong>in</strong>e Krankheit? Wie wird sie behandelt?<br />

Was ist e<strong>in</strong>e psychiatrische Kl<strong>in</strong>ik? Warum müssen Eltern dorth<strong>in</strong>?“– Bei den Älteren<br />

kommt oft <strong>die</strong> Frage: „Ist das e<strong>in</strong>e Krankheit, <strong>die</strong> ich auch bekomme? Wird <strong>die</strong> vererbt?“ –<br />

Spannend ist: Die psychisch kranken Eltern s<strong>in</strong>d dabei und können selber Antworten geben.<br />

So för<strong>der</strong>n wir das Gespräch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familie. Wenn <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> gehen, sagen sie manchmal: Heute<br />

haben wir zum ersten Mal richtig über alles mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> geredet. – Das ist e<strong>in</strong>e wichtige neue<br />

Erfahrung.<br />

Nach <strong>die</strong>sem Familiengespräch kann es weitere Familiengespräche geben, <strong>in</strong> denen es vor<br />

allen D<strong>in</strong>gen um weitere notwendige Hilfen und <strong>die</strong> Ressourcen <strong>der</strong> Familie geht, <strong>die</strong> wir verstärken<br />

und aufnehmen können.<br />

Es kann se<strong>in</strong>, dass z. B. e<strong>in</strong>e sozialpädagogische Familienhilfe, e<strong>in</strong>e H<strong>aus</strong>haltshilfe o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e<br />

H<strong>aus</strong>aufgabenbetreuung e<strong>in</strong>gerichtet wird. Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> bekommen e<strong>in</strong> Gruppenangebot Also<br />

alles D<strong>in</strong>ge, <strong>die</strong> im Augenblick akut für <strong>die</strong> Familie nötig s<strong>in</strong>d. Je nach Bedarf laden wir auch<br />

Kollegen o<strong>der</strong> Kolleg<strong>in</strong>nen <strong>der</strong> Jugendämter e<strong>in</strong>, um Kostenfragen zu klären. Hier können wir<br />

beratend tätig se<strong>in</strong>.<br />

Nach <strong>die</strong>sen Familiengesprächen kommen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel alle Geschwister mit, weil sie das e<strong>in</strong>fach<br />

spannend f<strong>in</strong>den und weil wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er schönen <strong>Praxis</strong> arbeiten, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sie sich wohl fühlen.<br />

In <strong>die</strong>sen Stunden mit allen K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>der</strong> Familie geht es darum: Wie erlebt jedes K<strong>in</strong>d <strong>die</strong> psychische<br />

Erkrankung? Welche Rolle hat jedes K<strong>in</strong>d? – Und das ist sehr unterschiedlich. Es gibt<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>, <strong>die</strong> sehr e<strong>in</strong>gespannt und sehr engagiert s<strong>in</strong>d, und es gibt K<strong>in</strong><strong>der</strong>, <strong>die</strong> können freier gestalten<br />

o<strong>der</strong> draußen se<strong>in</strong>.<br />

Diese Familiengespräche leiten nach <strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelbetreuung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>e K<strong>in</strong><strong>der</strong>gruppe<br />

über.<br />

Bevor K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Praxis</strong> gehen, wird <strong>die</strong> sog. vertraute Person e<strong>in</strong>geführt. An manchen Stellen<br />

heißt das Patenschaften. Möglichst sollten K<strong>in</strong><strong>der</strong> selber e<strong>in</strong>e Person <strong>aus</strong> dem Verwandtenkreis<br />

o<strong>der</strong> <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Nachbarschaft benennen, <strong>die</strong> ihnen <strong>in</strong> Krisenzeiten und zur Freizeitgestaltung<br />

zur Verfügung steht.<br />

Diese Person wird e<strong>in</strong>geladen und mit ihr wird genau besprochen, wann und <strong>in</strong> welcher Form<br />

sie helfen kann. Wichtig ist, dass beide Eltern – <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e oft <strong>die</strong> Mütter – <strong>die</strong>se zusätzliche<br />

Hilfe annehmen und akzeptieren. Das ist e<strong>in</strong> weiterer Schritt zur Öffnung.<br />

Wir erleben es immer häufiger, dass Familien sehr isoliert leben, auch ke<strong>in</strong>e Verwandten haben.<br />

Dann begeben wir uns auf <strong>die</strong> Suche nach ehrenamtlichen Helfern. Das ist manchmal schwierig.<br />

Diese ehrenamtlichen Helfer werden e<strong>in</strong>geladen. Es gibt wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames Ge-<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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spräch und wir begleiten, wenn es eben möglich ist, <strong>die</strong>se Helfer, <strong>die</strong> auf <strong>die</strong> Arbeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er solchen<br />

Familie vorbereitet werden.<br />

Nach <strong>die</strong>ser Zeit – es können drei o<strong>der</strong> vier Monate se<strong>in</strong>, es können auch an<strong>der</strong>thalb Jahre<br />

se<strong>in</strong>; je nach Notwendigkeit und Bedarf <strong>der</strong> Familie – wird <strong>der</strong> nächste Schritt e<strong>in</strong>geleitet. Wir<br />

haben <strong>die</strong> sog. offene Sprechstunde. Das ist e<strong>in</strong> Angebot für <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> und für <strong>die</strong> Eltern, damit<br />

<strong>der</strong> entstandene Kontakt und <strong>die</strong> vorhandene Unterstützung bestehen bleibt.<br />

Diese offenen Sprechstunden – und das ist etwas sehr Beson<strong>der</strong>es – f<strong>in</strong>den <strong>in</strong> E<strong>in</strong>richtungen<br />

<strong>der</strong> Jugendhilfe statt, das heißt <strong>in</strong> Jugendhäusern, <strong>in</strong> E<strong>in</strong>richtungen, <strong>in</strong> denen es ohneh<strong>in</strong> schon<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>gruppen gibt , <strong>in</strong> denen K<strong>in</strong><strong>der</strong> sich treffen.<br />

Diese Stunden werden von zwei Fachkräften begleitet. Es besteht auch <strong>die</strong> Möglichkeit zu e<strong>in</strong>em<br />

Elterntreff.<br />

Wir stellen immer wie<strong>der</strong> fest, dass K<strong>in</strong><strong>der</strong>, wenn sie <strong>in</strong> <strong>die</strong>se offene Sprechstunde kommen,<br />

Kontakt zu an<strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong>n bekommen. E<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Mädchen sagte irgendwann: „Dort s<strong>in</strong>d ja<br />

auch <strong>die</strong> Pfadf<strong>in</strong><strong>der</strong>, dann könnte ich ja direkt zu den Pfadf<strong>in</strong><strong>der</strong>n gehen“.<br />

Das ist e<strong>in</strong>es unserer Ziele: dass K<strong>in</strong><strong>der</strong> möglichst <strong>in</strong> bestehende Gruppen <strong>in</strong>tegriert werden,<br />

dort Kontakte bekommen. Wenn sie zu den Veranstaltungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> offenen Sprechstunde kommen,<br />

f<strong>in</strong>den wir es schön, wenn sie Klassenkameraden o<strong>der</strong> Freunde mitbr<strong>in</strong>gen, <strong>die</strong> mit ihnen<br />

darüber reden: Warum gehst du dorth<strong>in</strong>? Was ist das eigentlich? Was ist mit de<strong>in</strong>er Mutter o<strong>der</strong><br />

de<strong>in</strong>em Vater?<br />

Wir stellen fest, dass nach den Informationen und den Gesprächen mit den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n durch<strong>aus</strong><br />

auch Antworten zur Erkrankung <strong>der</strong> Eltern gegeben werden können. Das macht K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

gewissen Weise kompetent. Sie verstecken sich nicht mehr und haben ke<strong>in</strong>e Ängste mehr, verlacht<br />

o<strong>der</strong> <strong>aus</strong>gestoßen zu werden.<br />

Das ist e<strong>in</strong> nächster Schritt <strong>in</strong> <strong>die</strong> Öffentlichkeit und für Familien oft e<strong>in</strong> schwieriger Schritt, weil<br />

dort viele an<strong>der</strong>e Menschen s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> erfahren, dass es e<strong>in</strong>e psychische Krankheit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familie<br />

gibt.<br />

Wir gehen noch e<strong>in</strong>en Schritt weiter. Wir haben es geschafft, dass wir Freikarten für kulturelle<br />

Veranstaltungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tonhalle <strong>in</strong> Düsseldorf bekommen.<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> können mit ihren Eltern Konzerte besuchen o<strong>der</strong> zu Veranstaltungen, bei denen K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

Theater spielen, gehen. Das ist ganz spannend, weil viele K<strong>in</strong><strong>der</strong> nie Zugang zu solchen Erlebnismöglichkeiten<br />

haben.<br />

Wir haben auch das Angebot von Musikern, K<strong>in</strong><strong>der</strong> zu unterrichten. Das ist wie<strong>der</strong>um e<strong>in</strong> Schritt<br />

nach draußen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Öffentlichkeit o<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Form <strong>der</strong> Entlastung: wie<strong>der</strong> r<strong>aus</strong> <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Isolation.<br />

Das ist von Anfang an e<strong>in</strong> Weg über <strong>die</strong> Eltern.<br />

Alle Arbeit, <strong>die</strong> wir machen, ist immer Familienarbeit. Wenn Eltern merken, dass ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong>,<br />

durch <strong>die</strong> Arbeit gestärkt, verän<strong>der</strong>te Wünsche haben, werden sie sehr verunsichert.<br />

Insbeson<strong>der</strong>e Mütter, <strong>die</strong> sich von ihren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n sehr gestützt fühlen, haben große Sorge, dass<br />

etwas passieren könnte, was sie nicht im Griff haben. Es kommen manchmal Anrufe wie: Seitdem<br />

me<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d bei Ihnen ist, ist es unmöglich; es hilft nicht mehr, und das macht viel Angst.<br />

Wenn wir den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n an<strong>der</strong>e Möglichkeiten anbieten, nämlich <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Versorger- und <strong>aus</strong> <strong>der</strong><br />

Partnerrolle her<strong>aus</strong>zukommen, heißt das, ihnen e<strong>in</strong> k<strong>in</strong>dgemäßes Angebot zu machen. Das<br />

kann e<strong>in</strong> Kontakt mit e<strong>in</strong>er Gruppe o<strong>der</strong> mit an<strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong>n se<strong>in</strong>. Wir helfen damit den Eltern,<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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wie<strong>der</strong> mehr Elternverantwortung zu übernehmen, <strong>in</strong>dem wir mit ihnen überlegen, welche Unterstützung<br />

sie auf dem Weg zu <strong>die</strong>sem Ziel brauchen, um selber eigene Ideen zu entwickeln,<br />

eigene Wünsche zu haben und losgelöst von <strong>der</strong> Unterstützung ihr Leben gestalten können.<br />

Die Arbeit mit den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n ist immer Familienarbeit. Das ist <strong>in</strong> den letzten Jahren immer deutlicher<br />

geworden: Wenn es uns nicht gel<strong>in</strong>gt, <strong>die</strong> Balance <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familie zu halten, <strong>in</strong>dem nämlich<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Eltern gestärkt werden, ergibt sich e<strong>in</strong> großes Ungleichgewicht. Es kann passieren,<br />

dass das an <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite kippt und es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familie sehr schwierig wird.<br />

Wir werden oft gefragt: Wie schaffen Sie es, dass Sie <strong>die</strong> Eltern gew<strong>in</strong>nen? – Es ist quasi Bed<strong>in</strong>gung,<br />

wenn wir mit den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n arbeiten, dass <strong>die</strong> Eltern auch kommen, sich beraten lassen<br />

o<strong>der</strong> geme<strong>in</strong>sam mit den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n manchmal zum Spielen kommen, um <strong>die</strong> Erfahrung zu machen,<br />

wie es auch mal se<strong>in</strong> kann, wenn es nicht Stress ist, son<strong>der</strong>n nur ums Spielen und ums<br />

Mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong>-Spaß-Haben geht.<br />

Die Eltern selber haben <strong>die</strong>se Erfahrungen oft nicht gemacht. Wir erleben <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e viele<br />

Mütter, <strong>die</strong> <strong>aus</strong> ähnlichen Situationen kommen. Immer mehr berichten Eltern, dass sie <strong>aus</strong> Familien<br />

kommen, <strong>in</strong> denen <strong>die</strong> Eltern psychisch krank waren. Aus <strong>die</strong>sem Mangel her<strong>aus</strong> s<strong>in</strong>d sie<br />

oft nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage, ihren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>die</strong> erfor<strong>der</strong>lichen Hilfen zu geben.<br />

Viele Eltern brauchen <strong>in</strong>tensivste Unterstützung. Es ist unser Anliegen, dass wir versuchen,<br />

möglichst Therapiemöglichkeiten für <strong>die</strong> Eltern zu f<strong>in</strong>den, dass sie bei uns o<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ambulanz<br />

<strong>der</strong> Tageskl<strong>in</strong>ik angebunden s<strong>in</strong>d.<br />

Die Arbeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tageskl<strong>in</strong>ik gestaltet sich e<strong>in</strong> wenig an<strong>der</strong>s. Dort ist immer e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>ere Gruppe.<br />

Wenn ich regelmäßig zu den Gesprächen komme, berichte ich zunächst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe, <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> nicht nur Eltern s<strong>in</strong>d, son<strong>der</strong>n manchmal auch Großeltern o<strong>der</strong> junge Erwachsene, was eigentlich<br />

KIPKEL macht und warum wir dort arbeiten.<br />

Ich habe zunächst gedacht: Es macht eigentlich ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n, vor an<strong>der</strong>en Leuten zu reden, was<br />

mit den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n ist. – Es ist ganz <strong>in</strong>teressant, dass manchmal Großeltern zu mir kommen und<br />

sagen: Was mache ich denn? Ich b<strong>in</strong> ja auch krank. Me<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d ist oft bei mir. Können wir vielleicht<br />

mal überlegen, was ich verän<strong>der</strong>n kann?<br />

Manchmal kommen auch ganz junge Mütter – auch schwangere Mütter –, <strong>die</strong> sagen: Ich brauche<br />

Unterstützung.<br />

Dieser Rahmen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tageskl<strong>in</strong>ik ist e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Zugang, bietet aber <strong>die</strong> Möglichkeit, sehr viel<br />

und frei über <strong>die</strong>ses Thema zu reden.<br />

(Ermahnung durch Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g, zum Ende zu kommen)<br />

– Gut. – Wir glauben, dass nach zehn Jahren sehr deutlich wird, wie s<strong>in</strong>nvoll Prävention ist. Wir<br />

würden uns sehr freuen, wenn es offizielle Stellen gäbe, <strong>die</strong> uns mehr unterstützten. – Den Satz<br />

muss ich gerade noch sagen. Wir werden vorwiegend über Spenden f<strong>in</strong>anziert, <strong>die</strong> wir selber<br />

akquirieren. Aber es gibt fünf Städte im südlichen Kreis Mettmann, <strong>die</strong> für e<strong>in</strong> Jahr e<strong>in</strong>e P<strong>aus</strong>chale<br />

zahlen. Wir haben es erreicht, über <strong>die</strong>ses Geld frei verfügen zu können. Wir brauchen<br />

ke<strong>in</strong>e Hilfeplangespräche. Das ist e<strong>in</strong>e enorme Erleichterung, sodass wir direkt Angebote bieten<br />

können und <strong>die</strong> Eltern nicht noch e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Gruppe müssen.<br />

Jetzt höre ich auf, ja.<br />

(Lebhafter Beifall)<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Ich habe schon gedacht, ich müsste es erwähnen, dass neben<br />

<strong>der</strong> jahrzehntelangen therapeutischen beraterischen Kompetenz e<strong>in</strong>e ganz beson<strong>der</strong>e Fähigkeit<br />

dar<strong>in</strong> besteht, Menschen davon zu überzeugen, dass sie Geld für <strong>die</strong>ses Projekt geben müssen.<br />

Das ist dort <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er beson<strong>der</strong>en Weise gelungen und mit Sicherheit immer noch <strong>die</strong> Basis<br />

des Ganzen – neben <strong>der</strong> Bereitschaft <strong>der</strong> offiziellen Stellen und <strong>der</strong> kooperierenden E<strong>in</strong>richtungen,<br />

Ihre Arbeit wertzuschätzen und zuzulassen.<br />

Jetzt kommt noch etwas Eigenes. Dort steht „Das Patenprojekt des LVR“ – e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames<br />

Projekt <strong>der</strong> Dezernate Jugend und Gesundheit. Frau Kolleg<strong>in</strong> Mörsch-Müller berichtet uns davon.<br />

Herzlich willkommen und bitte schön!<br />

Vortrag: „Das Patenprojekt des LVR“<br />

Barbara Mörsch-Müller (Jugendhilfe Rhe<strong>in</strong>land, Rhe<strong>in</strong>ische Erziehungsgruppen<br />

Viersen, Büro Köln): Guten Tag! Sie müssen bei mir lei<strong>der</strong> auch auf<br />

PowerPo<strong>in</strong>t verzichten.<br />

Okay, Patenprojekt Köln. Ich sage zunächst etwas zu me<strong>in</strong>er Person. Ich b<strong>in</strong><br />

Psycholog<strong>in</strong> und Sozialarbeiter<strong>in</strong> und arbeite bei den Rhe<strong>in</strong>ischen Erziehungsgruppen<br />

<strong>in</strong> Viersen. Wir haben e<strong>in</strong> Büro <strong>in</strong> Köln und von da her stammt<br />

halt <strong>die</strong> Anb<strong>in</strong>dung an Köln.<br />

Wir s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e Jugendhilfee<strong>in</strong>richtung und haben im Moment ca. 35 K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> familienergänzenden<br />

Systemen, sprich Familiengruppen o<strong>der</strong> auch Erziehungsstellen. Ich b<strong>in</strong> seit vielen Jahren<br />

im Bereich von Erziehungsstellen tätig, habe dort <strong>die</strong> Funktion, Pflegefamilien, <strong>die</strong> es ja im weitesten<br />

S<strong>in</strong>ne s<strong>in</strong>d, mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n zusammenzubr<strong>in</strong>gen, für <strong>die</strong> erzieherische Hilfen vorgesehen<br />

s<strong>in</strong>d, das Match<strong>in</strong>g und <strong>die</strong> weitere Beratung vorzunehmen.<br />

Durch me<strong>in</strong>e Arbeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Jugendhilfee<strong>in</strong>richtung s<strong>in</strong>d wir <strong>in</strong> den letzten Jahren sehr auf das<br />

Thema psychisch kranker Eltern gestoßen. Wir haben festgestellt, dass viele <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>, <strong>die</strong> wir<br />

<strong>in</strong> den Erziehungsstellen betreuen, psychisch kranke Eltern haben. Wir haben uns halt irgendwann<br />

gefragt, was wir tun können.<br />

Gleichzeitig bekam ich <strong>in</strong> Köln über <strong>die</strong> Untergruppe <strong>der</strong> PSAG Kontakt zu Kollegen hier im<br />

H<strong>aus</strong>. Ich fand es bemerkenswert, dass wir uns nicht kannten. Es gab sowohl <strong>in</strong> den Rhe<strong>in</strong>ischen<br />

Kl<strong>in</strong>iken Köln, <strong>die</strong> mit ca. 800 Betten und zwei Tageskl<strong>in</strong>iken e<strong>in</strong>e sehr große E<strong>in</strong>richtung<br />

ist, und dem Dezernat 8 Menschen, <strong>die</strong> sich mit dem Thema beschäftigten. Aber wir wussten<br />

e<strong>in</strong>fach nichts vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong>.<br />

Wir haben uns getroffen und überlegt, was wir geme<strong>in</strong>sam machen können. Wir haben es so<br />

geschafft, dass wir im Jahre 2006 e<strong>in</strong>e Kooperationsvere<strong>in</strong>barung zwischen den Dezernaten 8<br />

und 4 und zwischen den Rhe<strong>in</strong>ischen Erziehungsgruppen bzw. <strong>der</strong> Kl<strong>in</strong>ik <strong>in</strong> Merheim h<strong>in</strong>bekamen.<br />

Diese Zusammenarbeit ist immer noch sehr von den persönlichen Kontakten getragen, <strong>die</strong><br />

wir zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> haben. Es ist noch nicht sehr viel an Struktur vorhanden; das Persönliche steht<br />

sehr im Vor<strong>der</strong>grund, was sicherlich e<strong>in</strong>e Schwäche, aber natürlich auch e<strong>in</strong>e Ressource ist.<br />

Angefangen hatten wir, wie gesagt, im Jahre 2006. Wir haben für vier Jahre Projektmittel <strong>aus</strong><br />

<strong>der</strong> Kultur- und Sozialstiftung des Landschaftsverbandes bekommen. Danach müssen wir halt<br />

gucken, wie es weitergeht. Das können wir aber vielleicht nachher noch e<strong>in</strong>mal erwähnen.<br />

Wir s<strong>in</strong>d zu dritt. E<strong>in</strong>e Mitarbeiter<strong>in</strong> ist im Moment hier: Frau Markwort. Wenn ich irgendetwas<br />

vergesse, sagst du bitte Bescheid und unterstützt mich. Frau Markwort ist Ärzt<strong>in</strong> <strong>in</strong> den Rhe<strong>in</strong>ischen<br />

Kl<strong>in</strong>iken <strong>in</strong> Köln. Sie unterstützt vor allen D<strong>in</strong>gen das Projekt im Rahmen <strong>der</strong> Vorberei-<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

65


tung unserer Paten, aber auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Begleitung spezieller Fragestellungen. Wir betreiben geme<strong>in</strong>sam<br />

Konzeptentwicklung. Sie macht das Projekt vor allen D<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser relativ großen<br />

E<strong>in</strong>richtung bekannt und rückt es immer wie<strong>der</strong> <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Mitarbeiter.<br />

Wir haben e<strong>in</strong>e Mitarbeiter<strong>in</strong>, <strong>die</strong> mit zehn Stunden arbeitet. Sie hat e<strong>in</strong>e Berater<strong>aus</strong>bildung im<br />

Rahmen <strong>der</strong> Jugendhilfe. Und es gibt me<strong>in</strong>e Wenigkeit mit ebenfalls zehn Stunden.<br />

Sie sehen: Wir s<strong>in</strong>d zeitlich sehr begrenzt, im Grunde nur mit e<strong>in</strong>er halben Stelle. Sie können<br />

sich sicher vorstellen, dass wir <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit e<strong>in</strong>iges zu tun hatten.<br />

Das Patenprojekt Köln ist von se<strong>in</strong>em Umfang her auf acht bis zehn K<strong>in</strong><strong>der</strong> begrenzt, <strong>die</strong> wir <strong>in</strong><br />

Patenfamilien <strong>in</strong> Köln, auf <strong>die</strong>sen Raum beschränkt, betreuen. Die Nachfrage ist sehr groß. Ich<br />

kann nach an<strong>der</strong>thalb Jahren sagen, dass wir ca. 40 Anfragen nach Patenschaften hatten, davon<br />

aber nur e<strong>in</strong>en sehr reduzierten Teil verwirklichen können. Die Gründe dafür s<strong>in</strong>d sehr vielfältig.<br />

Dabei spielt e<strong>in</strong>erseits <strong>die</strong> Frage, können wir überhaupt ortsnah Patenschaften vermitteln,<br />

e<strong>in</strong>e große Rolle. Köln ist ja nicht kle<strong>in</strong>.<br />

Es nützt mir nichts, wenn ich e<strong>in</strong>e Anfrage nach e<strong>in</strong>er Patenschaft im Kölner Norden habe und<br />

e<strong>in</strong>e Patenfamilie <strong>in</strong> Köln-Süd sitzen habe. Das lässt sich e<strong>in</strong>fach nicht zusammenbr<strong>in</strong>gen. Die<br />

Entfernungen s<strong>in</strong>d dafür zu groß.<br />

E<strong>in</strong> Thema ist sicherlich auch <strong>die</strong> Angst – Angst vor <strong>der</strong> Jugendhilfe bzw. vor dem Thema: Wird<br />

mir me<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d weggenommen? Das bekommen wir natürlich <strong>in</strong> den Gesprächen, <strong>die</strong> wir führen,<br />

mit. Es ist sicherlich e<strong>in</strong> zentrales Problem. Dazu gehört aber auch <strong>die</strong> Frage: Wird me<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d<br />

mir entfremdet? Das ist e<strong>in</strong> sehr gewichtiges Moment <strong>in</strong> dem Zusammenhang. Im großen und<br />

ganzen kommen 70 Prozent unserer Anfragen von alle<strong>in</strong>erziehenden Müttern. Wir erfahren,<br />

dass gerade da <strong>die</strong> Ängste sehr groß s<strong>in</strong>d, dass das e<strong>in</strong>zige stabilisierende Moment <strong>in</strong> ihrem<br />

Leben e<strong>in</strong> Stück entfremdet werden soll und sie sich daher nicht zu e<strong>in</strong>er Patenschaft entschließen<br />

können.<br />

Ich wünsche mir daher e<strong>in</strong> Modell, wie Sie es haben, das man als Beratungsangebot letztendlich<br />

davor- o<strong>der</strong> danebenschalten kann, damit es weiterläuft. Es gibt <strong>in</strong> Köln zwar verschiedene<br />

Ansätze, aber das ist für e<strong>in</strong>e solch große Stadt zu wenig. Der K<strong>in</strong><strong>der</strong>schutzbund macht e<strong>in</strong>es.<br />

In Köln-Porz gibt es über e<strong>in</strong>e Beratungsstelle e<strong>in</strong> Angebot. Aber das ist im Grunde genommen<br />

wenig.<br />

Noch nicht erwähnt habe ich, dass wir uns auf das Projekt von PFIFF <strong>in</strong> Hamburg beziehen,<br />

das vielleicht e<strong>in</strong>igen von Ihnen schon vertraut ist. PFIFF ist e<strong>in</strong> großer Jugendhilfeträger <strong>in</strong><br />

Hamburg, <strong>der</strong> <strong>die</strong>ses Projekt entwickelt hat. Es gibt <strong>in</strong>zwischen Patenschaftsmodelle <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>,<br />

<strong>in</strong> Bremen, Hamburg, Cuxhaven und e<strong>in</strong>igen an<strong>der</strong>en Kommunen <strong>in</strong> Deutschland.<br />

Die Idee <strong>der</strong> Patenschaft basiert auf den Ergebnissen <strong>der</strong> Resilienzforschung, also <strong>der</strong> Frage,<br />

was uns eigentlich gesund hält o<strong>der</strong> was sich uns gesund entwickeln lässt. Es stellt sich <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

neben den Elternbeziehungen <strong>die</strong> Frage, ob es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Entwicklung e<strong>in</strong>es Menschen<br />

halt noch an<strong>der</strong>e zuverlässige Bezugspersonen gibt, <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> unterstützen.<br />

Das ist <strong>die</strong> Funktion <strong>der</strong> Paten. Paten sollen <strong>die</strong> Funktion übernehmen, <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> ihrem Alltag<br />

zu unterstützen und ihnen e<strong>in</strong> Stück verlässliche Beziehung zu ermöglichen. In <strong>der</strong> Regel<br />

sieht es so <strong>aus</strong>, dass <strong>die</strong> Paten e<strong>in</strong>-, zweimal <strong>in</strong> <strong>der</strong> Woche Kontakt zu den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n stundenweise<br />

an den Nachmittagen o<strong>der</strong> auch am Wochenende haben – immer natürlich <strong>in</strong> Absprache<br />

mit den betroffenen Eltern.<br />

Ich muss es e<strong>in</strong>fach sagen: Es s<strong>in</strong>d 70 Prozent alle<strong>in</strong>erziehende Mütter, <strong>die</strong> sehr isoliert leben.<br />

Das Patenprojekt bezieht sich <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie auf <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>. Frau Dr. Wagenblass sagte eben,<br />

dass sie klar auch zur Vor<strong>aus</strong>setzung für <strong>die</strong> Aufnahme <strong>in</strong> das Patenprojekt machen, dass <strong>die</strong><br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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Mütter weiter Unterstützung <strong>in</strong> Anspruch nehmen – entwe<strong>der</strong> über BeWo, sozialpädagogische<br />

Familienhilfe, therapeutische Unterstützung, zu denen wir Zugang haben –, damit e<strong>in</strong>e umfassen<strong>der</strong>e<br />

Sicht auf <strong>die</strong> Familie möglich ist, <strong>aus</strong> den Gründen, <strong>die</strong> Sie eben genannt haben, aber<br />

natürlich auch vor dem H<strong>in</strong>tergrund, dass wir es mit Laien zu tun haben, <strong>die</strong> ansonsten völlig<br />

überfor<strong>der</strong>t wären, das gesamte Familiensystem <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Art und Weise im Blick zu haben.<br />

Mitarbeiter von BeWo s<strong>in</strong>d mit dar<strong>in</strong>. Wir haben sozialpädagogische Familienhilfe. Ich f<strong>in</strong>de es,<br />

um das Thema Komplexf<strong>in</strong>anzierung und Abgrenzung mal <strong>in</strong> den Raum zu stellen, teilweise<br />

sehr befremdlich, wenn <strong>die</strong> Mitarbeiter – ich denke, das <strong>in</strong>teressiert <strong>die</strong> Abteilung 7 beson<strong>der</strong>s –<br />

<strong>die</strong> über BeWo <strong>in</strong> den Familien tätig s<strong>in</strong>d, zum Teil sehr strenge Abgrenzungskriterien zur Jugendhilfe<br />

haben und eigentlich genötigt s<strong>in</strong>d, nie auf das K<strong>in</strong>d zu gucken. Das f<strong>in</strong>de ich schon<br />

etwas seltsam. Es ist sicherlich ke<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>druck, den ich habe, aber es kommt vor.<br />

Zurück zu den Paten. Die Paten unterstützen <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> und ihre Eltern <strong>in</strong> allen Fragen, wenn<br />

das gewünscht ist, <strong>in</strong> Bezug zu Themen, <strong>die</strong> sich <strong>aus</strong> dem K<strong>in</strong><strong>der</strong>gartenbesuch ergeben, Themen,<br />

<strong>die</strong> im Zusammenhang mit therapeutischen Interventionen für <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> stehen o<strong>der</strong><br />

schulische Belange. Sie begleiten <strong>die</strong> Eltern natürlich nur auf Wunsch <strong>in</strong> <strong>die</strong> Schulen, wenn sehr<br />

große Ängste seitens <strong>der</strong> Eltern bestehen, sich dorth<strong>in</strong> zu begeben, was durch<strong>aus</strong> vorkommt.<br />

E<strong>in</strong>erseits unterstützen sie <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>, <strong>in</strong>dem sie sie regelmäßig betreuen. Damit ergibt sich e<strong>in</strong>e<br />

Entlastung für <strong>die</strong> Eltern.<br />

Zusätzlich haben <strong>die</strong> Paten sich dazu bereit erklärt, <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> Notsituationen im eigenen<br />

H<strong>aus</strong>halt aufzunehmen. Damit wird verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t, dass <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> gerade <strong>in</strong> Krisensituationen,<br />

wenn <strong>die</strong> eigene Familie sich auflöst – das ist ja bei Alle<strong>in</strong>erziehenden relativ schnell <strong>der</strong> Fall –<br />

nicht <strong>in</strong> fremden Pflegefamilien o<strong>der</strong> E<strong>in</strong>richtungen untergebracht werden müssen.<br />

Gerade <strong>die</strong>ser Punkt ist für <strong>die</strong> Mütter e<strong>in</strong> gravieren<strong>der</strong>, <strong>der</strong> nach me<strong>in</strong>em Gefühl sehr zur Entspannung<br />

beiträgt, dass sie wissen: Im Fall <strong>der</strong> Fälle weiß ich e<strong>in</strong>fach, wo me<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d ist, weiß<br />

ich, was passiert. Das K<strong>in</strong>d kennt <strong>die</strong> Familie gut. Das K<strong>in</strong>d weiß, wo se<strong>in</strong> Bett steht. Und auch<br />

<strong>die</strong> Mutter weiß Bescheid. Das ist e<strong>in</strong> nicht zu unterschätzen<strong>der</strong> Faktor für <strong>die</strong> Entspannung <strong>der</strong><br />

gesamten familiären Situation. Es wird uns immer wie<strong>der</strong> von den Klient<strong>in</strong>nen rückgemeldet,<br />

dass das e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> wesentlichen Momente ist.<br />

In dem S<strong>in</strong>ne s<strong>in</strong>d wir ke<strong>in</strong> Notfallkonzept. Wir können nicht ad hoc K<strong>in</strong><strong>der</strong> aufnehmen, wenn<br />

<strong>die</strong> Kl<strong>in</strong>ik, das Jugendamt o<strong>der</strong> wer auch immer merkt: Dort haben wir e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d, das untergebracht<br />

werden muss. Haben Sie e<strong>in</strong>e Patenfamilie? Das geht natürlich nicht. Es muss sich<br />

schon etwas entwickelt haben, und es müssen Beziehungen entstanden se<strong>in</strong>.<br />

E<strong>in</strong> Ausschlusskriterium ist, wie ich es häufig <strong>in</strong> Köln erlebe, dass wir nicht K<strong>in</strong><strong>der</strong> aufnehmen<br />

o<strong>der</strong> <strong>in</strong> Patenschaften <strong>in</strong>stallieren, wenn bei Wegfall <strong>die</strong>ser Patenschaften das gesamte System<br />

<strong>in</strong>stabil ist. Ich erlebe es sehr häufig, dass mit <strong>der</strong> Idee Patenschaft manchmal etwas verbunden<br />

wird, was nicht dah<strong>in</strong>ter steht.<br />

Patenschaften können nie Jugendhilfemaßnahmen ersetzen. Das wollen wir auch nicht. Das<br />

kann letztendlich nur e<strong>in</strong>e Ergänzung se<strong>in</strong>. In dem S<strong>in</strong>ne wird es sich immer nur an e<strong>in</strong>en ganz<br />

bestimmten Personenkreis wenden.<br />

Jetzt habe ich noch nicht sehr viel zu den Paten selber gesagt. Sie werden von uns <strong>aus</strong>gesucht,<br />

vorbereitet und natürlich weiterh<strong>in</strong> begleitet, weil das sehr wichtig ist. Es haben sich zwar viele<br />

Fachleute gemeldet, <strong>die</strong> das gerne machen möchten, aber wir haben natürlich auch e<strong>in</strong>en Anteil<br />

an Laien. Sie kann man mit <strong>die</strong>ser Arbeit nicht alle<strong>in</strong>e lassen. Sie haben bei uns regelmäßige<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

67


Erfahrungs<strong>aus</strong>t<strong>aus</strong>chmöglichkeiten und monatliche E<strong>in</strong>zelberatungstreffen, um das System e<strong>in</strong><br />

Stück zu professionalisieren.<br />

Die Paten bekommen e<strong>in</strong>e P<strong>aus</strong>chale für ihre Tätigkeit. In <strong>der</strong> Krisensituation, wenn <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

aufgenommen werden müssen, wird es eventuell über <strong>die</strong> Jugendhilfe o<strong>der</strong> über <strong>die</strong> Krankenkassen<br />

f<strong>in</strong>anziert.<br />

Ich darf e<strong>in</strong>en allerletzten Satz sagen. Ich hatte schon erwähnt, dass wir bis 2009 f<strong>in</strong>anziert werden.<br />

Im Vorfeld <strong>die</strong>ser Tagung gab es e<strong>in</strong>ige Irritationen darüber, wem <strong>die</strong>ses Thema eigentlich<br />

gehört – <strong>der</strong> Abteilung 4, 8 o<strong>der</strong> 7?<br />

Ich fand das eher positiv, weil es letztendlich nur e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Anstrengung se<strong>in</strong> kann. Da<br />

<strong>die</strong> Abteilung 7 ja auch an <strong>der</strong> Gesamtthematik beteiligt ist, wäre das e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis, um zu sehen,<br />

ob wir <strong>aus</strong> dem Zweier-Jo<strong>in</strong>t-Venture vielleicht e<strong>in</strong> Dreier-Jo<strong>in</strong>t-Venture machen können, um<br />

hoffentlich gerade für <strong>die</strong> Patienten, <strong>die</strong> mit <strong>der</strong> Jugendhilfe nichts zu tun haben wollen, e<strong>in</strong>e<br />

Möglichkeit <strong>der</strong> Unterstützung zu bieten. – Danke.<br />

(Lebhafter Beifall)<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Frau Mörsch-Müller, herzlichen Dank – auch für <strong>die</strong> Anregung<br />

am Ende Ihres Vortrags. Mit Dreigestirnen haben wir <strong>in</strong> Köln viel Erfahrung. Das werden wir<br />

thematisch gut h<strong>in</strong>kriegen.<br />

Vier <strong>Praxis</strong>projekte, e<strong>in</strong> stationäres, drei ambulante: Ich weiß nicht, ob es nur mir so gegangen<br />

ist. Beim stationären Projekt spielte das Geld ke<strong>in</strong>e Rolle, bei den ambulanten Projekten kam<br />

immer wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> H<strong>in</strong>weis auf Modellgel<strong>der</strong>, Fundrais<strong>in</strong>g, Projektmittel.<br />

Mitarbeiter, <strong>die</strong> <strong>in</strong> ambulanten Projekten arbeiten, kennen das wahrsche<strong>in</strong>lich und werden sagen:<br />

Ja, so geht es uns. Aber deshalb s<strong>in</strong>d wir heute hier auch zusammen, um zu gucken, wie<br />

Konzepte solide – ob zu Zweit o<strong>der</strong> zu Dritt – geme<strong>in</strong>sam umgesetzt werden können. Das sage<br />

ich, weil wir jetzt e<strong>in</strong>en Perspektivenwechsel vorhaben. Vier <strong>Praxis</strong>projekte und jetzt noch e<strong>in</strong>e<br />

an<strong>der</strong>e <strong>Praxis</strong>, nämlich <strong>die</strong> e<strong>in</strong>es kommunalen Jugendamtes.<br />

Sie f<strong>in</strong>den <strong>in</strong> Ihrem Programm <strong>die</strong> Ankündigung, dass e<strong>in</strong>e Kolleg<strong>in</strong> und e<strong>in</strong> Kollege dazu vortragen.<br />

Lei<strong>der</strong> hat Frau Sprenger gestern krankheitsbed<strong>in</strong>gt absagen müssen. Bis vor fünf M<strong>in</strong>uten<br />

waren wir nicht sicher, ob Herr Dürbaum bei uns vortragen kann, weil er im Verkehr feststeckte.<br />

Aber er ist da. Ich begrüße Sie sehr herzlich! Herr Dürbaum kommt vom Jugendamt <strong>in</strong><br />

Düren und berichtet uns <strong>aus</strong> <strong>der</strong> dortigen <strong>Praxis</strong>.<br />

Vortrag: „Erfahrungsbericht <strong>aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Praxis</strong> des Jugendamtes“<br />

Gregor Dürbaum (Amtsleiter Jugendamt Kreis Düren): Me<strong>in</strong>e Damen, me<strong>in</strong>e<br />

Herren! Sie sehen e<strong>in</strong>en von dem Tiefdruckgebiet Kirsten, das gerade über<br />

uns zieht, gez<strong>aus</strong>ten und von Kiebitz geschüttelten Jugendamtsleiter.<br />

Das ist <strong>der</strong> Grund, warum ich auf den letzten Drücker gekommen b<strong>in</strong> – nicht<br />

das Tiefdruckgebiet, son<strong>der</strong>n Kiebitz, das uns zurzeit mit Hochdruck beschäftigt.<br />

Morgen wird beim Kreis Düren <strong>der</strong> Jugendhilfe<strong>aus</strong>schuss tagen, <strong>der</strong> über<br />

<strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge, wie sie sich umstrukturieren, entscheiden soll, entscheiden will,<br />

entscheiden muss. Das Datum des 15. – das ist vielleicht e<strong>in</strong>igen bekannt –<br />

ist ja vom Land als Pflichtterm<strong>in</strong> gesetzt worden. Das war <strong>der</strong> Grund, weshalb ich nicht das<br />

Vergnügen haben konnte, <strong>die</strong> Tagung hier den gesamten Tag zu begleiten, son<strong>der</strong>n mich heute<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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Morgen mit den Nie<strong>der</strong>ungen des Kiebitz und <strong>der</strong> Vorlage des morgigen Tages zu beschäftigen<br />

hatte.<br />

Ich stelle mich Ihnen kurz vor. Me<strong>in</strong> Name wurde genannt. Ich b<strong>in</strong> Gregor Dürbaum, leite das<br />

Kreisjugendamt <strong>in</strong> Düren seit etwa vier Jahren, b<strong>in</strong> deutlich länger <strong>in</strong> <strong>der</strong> Jugendhilfe – auch <strong>in</strong><br />

Leitungspositionen – tätig. Ich habe als Sozialarbeiter beim Jugendamt 1980 angefangen und b<strong>in</strong><br />

1989 recht früh <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Führungsposition gekommen, nämlich <strong>die</strong> des Leiters <strong>der</strong> Sozialen<br />

Dienste und später <strong>die</strong> <strong>der</strong> stellvertretenden Amtsleitung. Ich blicke also auf e<strong>in</strong>e lange Zeit <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> öffentlichen Jugendhilfe zurück.<br />

Ich beschäftige mich seit <strong>die</strong>ser Zeit mit dem Thema, das wir heute mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu erörtern versuchen.<br />

Vorweg will ich festhalten, dass me<strong>in</strong>e Gedanken subjektiv s<strong>in</strong>d; sie s<strong>in</strong>d nicht empirisch abgesichert,<br />

son<strong>der</strong>n nur mit dem Fokus e<strong>in</strong>es Menschen <strong>aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Praxis</strong> besetzt. Gleichzeitig stellen<br />

sie e<strong>in</strong>e Momentaufnahme dar, nämlich so, wie ich es bei den Kolleg<strong>in</strong>nen und Kollegen im Amt,<br />

habe abfragen können. Damit möchte ich verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n, über D<strong>in</strong>ge zu sprechen, <strong>die</strong> alle<strong>in</strong>e me<strong>in</strong>er<br />

Fantasie bzw. me<strong>in</strong>er Wahrnehmung entsprechen.<br />

Ohne Ihnen etwas vorwegzunehmen: Der Spannungsbogen des heutigen Themas erstreckt<br />

sich <strong>aus</strong> me<strong>in</strong>er Sicht vom Hilfeplan bis zum Schutzplan. E<strong>in</strong>erseits sollen K<strong>in</strong><strong>der</strong> durch Unterstützung<br />

und Befähigung <strong>der</strong> Eltern Hilfe bekommen; an<strong>der</strong>erseits sollen Eltern Hilfe erhalten<br />

bzw. muss das Jugendamt durch Intervention das Wohl <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> anstelle se<strong>in</strong>er Eltern sichern,<br />

wenn Eltern dazu nicht mehr o<strong>der</strong> nicht <strong>aus</strong>reichend <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage s<strong>in</strong>d. Das ist es, was<br />

sich <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Bereich letztlich <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> öffentlichen Jugendhilfe darstellt.<br />

Nicht erst seit <strong>der</strong> Tragö<strong>die</strong> von Darry Anfang Dezember 2007 ist <strong>der</strong> Balanceakt <strong>der</strong> öffentlichen<br />

Jugendhilfe zwischen Unterstützung und Kontrolle <strong>in</strong> <strong>der</strong> Diskussion. Kritik und Vorwürfe<br />

bekommen <strong>die</strong> Mitarbeiter<strong>in</strong>nen und Mitarbeiter <strong>der</strong> Jugendämter zurzeit fast von allen Seiten.<br />

Man kann ja den Namen Darry durch viele an<strong>der</strong>e – ob <strong>in</strong> West- o<strong>der</strong> Ostdeutschland – ersetzen.<br />

E<strong>in</strong>es ist mir an <strong>die</strong>ser Stelle h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Fälle von K<strong>in</strong>deswohlgefährdung <strong>aus</strong>drücklich<br />

wichtig: Es gibt <strong>aus</strong> me<strong>in</strong>er Sicht ke<strong>in</strong> Ost-West-Gefälle. Es gibt <strong>aus</strong> me<strong>in</strong>er Sicht ke<strong>in</strong> Stadt-<br />

Land-Gefälle bei <strong>die</strong>ser <strong>Thematik</strong>, son<strong>der</strong>n das ist etwas, was uns allen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Jugendhilfe an<br />

allen Orten täglich passieren kann.<br />

Ob K<strong>in</strong>desmisshandlungen, Verwahrlosungen o<strong>der</strong> Schulabbruch: Für vieles davon werden <strong>die</strong><br />

Jugendämter mitverantwortlich gemacht. Angeblich haben sie familiäre Situationen nicht rechtzeitig<br />

erkannt o<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite nicht entschieden genug gehandelt. Doch <strong>die</strong> Arbeit<br />

e<strong>in</strong>es Jugendamtes ist weit<strong>aus</strong> vielschichtiger, als es <strong>in</strong> <strong>der</strong> öffentlichen Debatte – auch <strong>der</strong> politischen;<br />

und es ist ja e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Sitzung <strong>der</strong> beiden Ausschüsse des Landschaftsverbandes<br />

– tatsächlich ersche<strong>in</strong>t.<br />

Die pädagogischen Fachkräfte des Jugendamtes <strong>in</strong> Düren – wie überall <strong>in</strong> <strong>der</strong> Republik – s<strong>in</strong>d<br />

täglich mit dem Schicksal <strong>der</strong> uns anvertrauten Eltern, K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Familien befasst. Zur persönlichen<br />

Grund<strong>aus</strong>stattung gehört <strong>aus</strong> me<strong>in</strong>er Sicht für <strong>die</strong>se Arbeit viel Engagement, Zuversicht<br />

und – nicht zu vergessen – e<strong>in</strong>e große Frustrationstoleranz; denn <strong>die</strong> Verhältnisse, mit denen<br />

wir es zu tun haben, s<strong>in</strong>d schwierig, mühsam und oft voller Widrigkeiten.<br />

Wir versuchen, dort zu helfen, wo Menschen sich nicht mehr selbst helfen können, wo Schulbildung,<br />

Selbstverantwortung, Krankheit o<strong>der</strong> Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung Eltern daran h<strong>in</strong><strong>der</strong>n.<br />

Ich habe zur Vorbereitung me<strong>in</strong>es Vortrages heute im Amt danach gefragt, wie viele Eltern wir<br />

mit e<strong>in</strong>er geistigen o<strong>der</strong> seelischen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung <strong>in</strong> unserer Betreuung haben. In <strong>der</strong> Rückmel-<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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dung me<strong>in</strong>er Sozialarbeiter<strong>in</strong>nen und Sozialarbeiter konnte ich feststellen, dass Eltern, bei denen<br />

zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong> Teil geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t ist, <strong>in</strong> unserer Betreuung eher selten vorkommen. Das<br />

Beurteilungskriterium für mich war; so wie bei den Kollegen des Landessozialamtes; <strong>der</strong> IQ e<strong>in</strong>es<br />

Menschen von unter 70.<br />

Bezogen auf den Kreis Düren wurden mir aktuell drei Fälle benannt. Zum Kreis Düren sei noch<br />

gesagt: Wir s<strong>in</strong>d als Jugendamt für e<strong>in</strong>en Bereich von ca. 180.000 E<strong>in</strong>wohnern zuständig. Wir<br />

s<strong>in</strong>d also ke<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Jugendamt im Rhe<strong>in</strong>land.<br />

In e<strong>in</strong>em Fall ist das K<strong>in</strong>d durch uns im Rahmen e<strong>in</strong>er Hilfe zur Erziehung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>richtung<br />

untergebracht. Das Sorgerecht wurde den Eltern gerichtlich entzogen und dem Jugendamt übertragen.<br />

Mit den Eltern war im Verlauf <strong>der</strong> Zusammenarbeit ke<strong>in</strong>e Verständigung über <strong>die</strong><br />

Bedürfnisse des Jungen auf angemessene soziale Kontakte und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e – das war <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>sem Fall eklatant – e<strong>in</strong>e regelmäßige Erfüllung <strong>der</strong> Schulpflicht möglich.<br />

In <strong>die</strong>sem speziellen Fall sprechen wir nicht von Fehltagen o<strong>der</strong> Fehlmonaten, son<strong>der</strong>n bis es<br />

zu e<strong>in</strong>er Unterbr<strong>in</strong>gung <strong>die</strong>ses K<strong>in</strong>des kam, sprechen wir über Fehljahre. Das soll heißen, <strong>die</strong><br />

Eltern haben stark geklammert, haben es an <strong>der</strong> Stelle nicht zugelassen, dass das K<strong>in</strong>d <strong>die</strong> notwendige<br />

För<strong>der</strong>schule besuchte. Die Trennung war letztlich <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zige Möglichkeit, <strong>die</strong>sem<br />

Jungen zu helfen.<br />

Es f<strong>in</strong>den heute monatliche Besuchskontakte des K<strong>in</strong>des zu den Eltern statt. E<strong>in</strong>e Rückführungsperspektive<br />

gibt es <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Sicht des aktuellen Hilfeplanes nicht. E<strong>in</strong> dem K<strong>in</strong>deswohl<br />

entsprechendes Reflektieren <strong>der</strong> wachsenden Autonomie des Jungen, e<strong>in</strong> Erkennen se<strong>in</strong>er Bedürfnisse<br />

auch <strong>in</strong> regelmäßigen Kontakten zu <strong>der</strong> E<strong>in</strong>richtung und <strong>der</strong> ASD-Mitarbeiter<strong>in</strong> ist den<br />

Eltern nur schwierig zu vermitteln.<br />

Ich möchte über e<strong>in</strong>e zweite Familie mit drei K<strong>in</strong><strong>der</strong>n sprechen. Die K<strong>in</strong>desmutter ist lernbeh<strong>in</strong><strong>der</strong>t,<br />

<strong>der</strong> K<strong>in</strong>desvater ist geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t und steht unter Betreuung. Das Jugendamt wurde auf<br />

<strong>die</strong>se Familie wegen Meldungen über Vernachlässigung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> und e<strong>in</strong>e entsprechende<br />

Überschuldung <strong>der</strong> Familie aufmerksam.<br />

Im Rahmen von Hilfe zur Erziehung wurde zunächst e<strong>in</strong>e ambulante Hilfe dort <strong>in</strong>stalliert, nämlich<br />

e<strong>in</strong>e sozialpädagogische Familienhilfe. Dieser Mitarbeiter<strong>in</strong> <strong>aus</strong> <strong>der</strong> SPFH gelang es, recht<br />

<strong>in</strong>tensiv mit den Eltern zu arbeiten, und es gelang ihr auch, geme<strong>in</strong>sam mit <strong>der</strong> Mitarbeiter<strong>in</strong> <strong>aus</strong><br />

dem ASD und den Eltern e<strong>in</strong>en Weg zu verabreden. Folgende Anmerkung ist noch wichtig: Bei<br />

beiden Elternteilen war und ist e<strong>in</strong>e <strong>aus</strong>gesprochen enge B<strong>in</strong>dung und emotionale Nähe zu ihren<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>n festzustellen.<br />

Da aber alle drei K<strong>in</strong><strong>der</strong> ebenfalls geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t s<strong>in</strong>d, wurde zur besseren För<strong>der</strong>ung<br />

schließlich e<strong>in</strong>vernehmlich e<strong>in</strong>e Rehabilitationsmaßnahme über den LVR verabredet, und <strong>die</strong><br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> wurden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e entsprechende E<strong>in</strong>richtung gebracht.<br />

Das dritte K<strong>in</strong>d steht jetzt auch zur Unterbr<strong>in</strong>gung an; <strong>der</strong> Antrag läuft. Es hat kürzlich noch das<br />

notwendige ärztliche Gutachten gegeben. Und es ist abzusehen, dass es <strong>in</strong> Bälde ebenfalls mit<br />

den beiden übrigen Geschwister untergebracht wird. Positiv ist, dass tatsächlich an jedem Wochenende<br />

<strong>die</strong> drei K<strong>in</strong><strong>der</strong> nach H<strong>aus</strong>e gehen, <strong>die</strong> Familie zusammenkommt und damit bei den<br />

Eltern wie bei den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n das Bedürfnis nach Nähe erfüllt werden kann und <strong>die</strong>se Beziehung<br />

erhalten bleibt.<br />

Das ist e<strong>in</strong> positives Beispiel, bei dem sicherlich mit viel Aufwand Möglichkeiten bestehen, über<br />

Kooperationen Wege zu f<strong>in</strong>den, <strong>die</strong> den Familien helfen.<br />

Sprechen wir über K<strong>in</strong><strong>der</strong>, <strong>die</strong> <strong>in</strong> Familien mit e<strong>in</strong>em Elternteil leben, <strong>der</strong> psychisch krank ist,<br />

sehen <strong>die</strong> Rückmeldungen im Amt deutlich an<strong>der</strong>s <strong>aus</strong>.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

70


Me<strong>in</strong>e Frage an <strong>die</strong> Mitarbeiter<strong>in</strong>nen und Mitarbeiter im ASD war: „Mit wie vielen Familien gibt<br />

es Kontakt, bei denen zum<strong>in</strong>dest bei e<strong>in</strong>em Elternteil wegen e<strong>in</strong>er psychischen Erkrankung e<strong>in</strong>e<br />

Betreuung e<strong>in</strong>gerichtet wurde bzw. wegen e<strong>in</strong>er solchen Erkrankung <strong>der</strong> Sozialpsychiatrische<br />

Dienst unseres Gesundheitsamtes regelmäßig e<strong>in</strong>gebunden ist?“<br />

Mit e<strong>in</strong>er so deutlichen Rückmeldung, wie ich sie bekommen habe, hatte ich nicht gerechnet. 46<br />

Familien/Alle<strong>in</strong>erziehende wurden mir <strong>in</strong> <strong>der</strong> Betreuung des Jugendamtes genannt. Die Zahl <strong>der</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Familien lebenden K<strong>in</strong><strong>der</strong> wurde mit etwa neunzig angegeben. Es ist zu unterstellen,<br />

dass <strong>die</strong> tatsächliche Zahl <strong>der</strong> betreuten Familien deutlich höher ist, da mir nicht alle Mitarbeiter<br />

im ASD antworten konnten – z.B. durch Urlaub, durch Außen<strong>die</strong>nst usw.<br />

Ich habe <strong>die</strong> Vorträge von heute Morgen lei<strong>der</strong> nicht mitbekommen und möchte <strong>aus</strong> me<strong>in</strong>er<br />

Sicht resümieren, was K<strong>in</strong><strong>der</strong> brauchen. K<strong>in</strong><strong>der</strong> brauchen Aufmerksamkeit, Zuwendung, Bestätigung,<br />

Sicherheit, Geborgenheit, Selbstbestimmung, verlässliche Betreuung, altersgemäße<br />

Ernährung, angemessene Gesundheitsfürsorge, Körperpflege usw.<br />

Diese Aufzählung ist nicht vollständig, und ich könnte sie entsprechend fortsetzen.<br />

Grundsätzlich will ich feststellen, dass Eltern mit e<strong>in</strong>er geistigen o<strong>der</strong> psychischen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

<strong>die</strong>sen Bedürfnissen von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n entsprechen können – nicht immer <strong>in</strong> Gänze und nicht immer<br />

<strong>in</strong> <strong>aus</strong>reichendem Maße. Die Anfor<strong>der</strong>ungen, <strong>die</strong> sich an <strong>die</strong> erzieherischen Fähigkeiten von<br />

Eltern stellen, verän<strong>der</strong>n sich und s<strong>in</strong>d nicht gleichbleibend, quasi l<strong>in</strong>ear. Sie s<strong>in</strong>d unter an<strong>der</strong>em<br />

abhängig vom Lebensalter, von <strong>der</strong> Entwicklung, von den Anlagen und Fähigkeiten e<strong>in</strong>es<br />

K<strong>in</strong>des.<br />

Me<strong>in</strong>e Erfahrung ist, dass Eltern mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung meist ergänzen<strong>der</strong> Hilfe bedürfen, <strong>die</strong> auf <strong>die</strong><br />

jeweilige familiäre Situation, <strong>die</strong> Art <strong>der</strong> Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung o<strong>der</strong> Erkrankung bzw. das Lebensalter des<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> abgestimmt ist – sei es im ambulanten Bereich, durch den E<strong>in</strong>satz e<strong>in</strong>er sozialpädagogischen<br />

Familienhilfe, e<strong>in</strong>es Erziehungsbeistandes, e<strong>in</strong>er Tagese<strong>in</strong>richtung, e<strong>in</strong>er Tagesgruppe<br />

usw.<br />

Beson<strong>der</strong>heit bei <strong>die</strong>sen Hilfen ist immer <strong>die</strong> Notwendigkeit e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>tensiven Kooperation und<br />

Vernetzung zwischen behandelnden Ärzten und Therapeuten, sozialen Diensten, Tagese<strong>in</strong>richtungen<br />

o<strong>der</strong> Schulen und möglicherweise Gerichten. Wenn das nicht gel<strong>in</strong>gt, hat <strong>die</strong> Familie,<br />

haben <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> eigentlich kaum e<strong>in</strong>e Chance.<br />

In Familien mit Eltern, <strong>die</strong> psychisch erkrankt o<strong>der</strong> beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t s<strong>in</strong>d, beobachte ich häufig mit zunehmenden<br />

Alter <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> Loyalitätskonflikte zwischen den eigenen Bedürfnissen des K<strong>in</strong>des<br />

und <strong>der</strong> Verantwortung dem erkrankten Elternteil gegenüber. Dann s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> oft ke<strong>in</strong>e<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> mehr.<br />

Dieser Konflikt führt nicht selten zu e<strong>in</strong>er Unterbr<strong>in</strong>gung, verbunden mit e<strong>in</strong>er Inobhutnahme des<br />

betroffenen K<strong>in</strong>des, da auf <strong>der</strong> elterlichen Seite ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>sichtsfähigkeit – meist erkrankungsbed<strong>in</strong>gt<br />

– besteht. Die Unterbr<strong>in</strong>gung erfolgt <strong>in</strong> Wohngruppen o<strong>der</strong> ähnlichen E<strong>in</strong>richtungen, <strong>in</strong><br />

denen sich <strong>die</strong> Jugendlichen wohlfühlen, weil sie dort altersgemäße Kontakte haben, soziale<br />

Beziehungen aufbauen können, ohne e<strong>in</strong>e Verantwortlichkeit übernehmen zu müssen, <strong>die</strong> sie<br />

eigentlich überfor<strong>der</strong>t.<br />

In Phasen <strong>der</strong> Stabilität des Elternteils werden <strong>die</strong>se Maßnahmen oft abgebrochen, weil das<br />

K<strong>in</strong>d glaubt, damit zu e<strong>in</strong>er Verbesserung <strong>der</strong> Situation des Elternteils beitragen zu können –<br />

das ist wie<strong>der</strong> subjektiv betrachtet.<br />

Die fünf K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>aus</strong> Darry und <strong>die</strong> Vielzahl <strong>der</strong> bekannten Fälle zeigen, dass <strong>die</strong> Jugend- und<br />

<strong>die</strong> Gesundheitshilfe sich auf e<strong>in</strong>em schmalen Grat zwischen den Interessen und Ansprüchen<br />

sowie Rechten und Pflichten aller Beteiligten bewegen.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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Analysiert man den Fall <strong>aus</strong> dem Kreis Plön, so hat ke<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Beteiligten – Dienste o<strong>der</strong> familiäre<br />

Angehörige – <strong>aus</strong>gesprochen falsch reagiert o<strong>der</strong> etwas übersehen. Der ASD, <strong>der</strong> Sozialpsychiatrische<br />

Dienst, e<strong>in</strong>e Fachkl<strong>in</strong>ik, <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>garten, e<strong>in</strong>e Beratungsstelle: Alle waren sie<br />

e<strong>in</strong>gebunden. Zum Nachteil <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> konnte trotzdem niemand verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n, was schließlich<br />

e<strong>in</strong>getreten ist.<br />

Me<strong>in</strong> Fazit: In <strong>der</strong> Retrospektive betrachtet lassen sich D<strong>in</strong>ge immer an<strong>der</strong>s bewerten als <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Situation, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Entscheidungen ad hoc getroffen werden müssen. Es gibt für mich ke<strong>in</strong>en<br />

Zweifel: K<strong>in</strong>desschutz ist immer das höchste Gut, das zu beachten ist. Aber familiäre Beziehungssysteme<br />

s<strong>in</strong>d meist komplex. Erziehungsfähigkeit o<strong>der</strong> eben -unfähigkeit s<strong>in</strong>d selten e<strong>in</strong>deutig<br />

festzustellen o<strong>der</strong> zu def<strong>in</strong>ieren und es bedarf immer e<strong>in</strong>er Interpretation.<br />

Es handelt sich dabei um e<strong>in</strong>en – wie ich am Anfang sagte – Balanceakt zwischen Unterstützung<br />

und Kontrolle. Elternschaft von beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten Menschen ist für mich e<strong>in</strong> Recht, das mit <strong>aus</strong>drücklicher<br />

und unvore<strong>in</strong>genommener staatlicher Unterstützung geför<strong>der</strong>t werden muss. Es ist<br />

aber oft auch <strong>der</strong> Spannungsbogen zwischen Hilfeplan und Schutzplan <strong>in</strong> <strong>der</strong> Jugendhilfe. – Vielen<br />

Dank für Ihre Aufmerksamkeit.<br />

(Lebhafter Beifall)<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Vielen herzlichen Dank, Herr Dürbaum. Wir s<strong>in</strong>d prima <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Zeit. Das ist jetzt wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Sollbruchstelle, wie wir sehen. Aber es ist ja auch so: Wir haben<br />

es geschafft, <strong>die</strong> Vortragsreihe von <strong>die</strong>ser Stelle <strong>aus</strong> abzuschließen. Wir kommen jetzt zum letzten<br />

Programmpunkt:<br />

<strong>II</strong>I. Diskussionsrunde<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Vielleicht ist es e<strong>in</strong>e gute Idee, weil <strong>die</strong> allermeisten <strong>der</strong> Referenten<br />

noch da s<strong>in</strong>d, direkt von vornhere<strong>in</strong> das zu machen, was <strong>die</strong>s hier anlegt, nämlich dass<br />

alle, <strong>die</strong> heute etwas gesagt haben, sich dort h<strong>in</strong>setzen – Sie haben es befürchtet; ich weiß –,<br />

und wir es endlich schaffen, was heute den Tag über nicht möglich war, nämlich <strong>in</strong>s Gespräch<br />

zu kommen. Netzwerk war e<strong>in</strong> sehr häufig gebrauchtes Stichwort. Vielleicht schaffen wir es, uns<br />

kurz vor dem Ende e<strong>in</strong> bisschen mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu vernetzen und mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu sprechen. Wenn<br />

das <strong>in</strong> Ihrem S<strong>in</strong>ne ist, bitte ich, vorne Platz zu nehmen. Alles Weitere folgt. – So, <strong>der</strong> Hochsitz<br />

hat sich gefüllt, <strong>die</strong> Reihen haben sich etwas gelichtet. Das Podium ist noch e<strong>in</strong> Überbleibsel<br />

von <strong>der</strong> Sitzung unseres höchsten Gremiums, <strong>der</strong> Landschaftsversammlung, von vorgestern.<br />

Es ist <strong>aus</strong> technischen Gründen aufwändig und nicht so e<strong>in</strong>fach, <strong>die</strong>sen Hochsitz, wie ich ihn<br />

genannt habe, abzubauen. Deshalb steht er heute noch hier. Sie können uns gut sehen, wir sie<br />

auch – das ist <strong>der</strong> Vorteil.<br />

Ich habe noch e<strong>in</strong>e herzliche Bitte. Seit e<strong>in</strong>er guten Stunde ist unser Stenograf bei uns, um den<br />

letzten Teil <strong>der</strong> Veranstaltung <strong>in</strong> traditioneller Weise zu dokumentieren. Wenn Sie jetzt Wortbeiträge<br />

leisten möchten, benutzen Sie bitte e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> Mikrofone. Drei stehen im Saal. E<strong>in</strong>es hat<br />

Herr Bohmann <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hand und trägt es Ihnen vor den Mund.<br />

Damit das ke<strong>in</strong> leeres Versprechen ist, frage ich Sie jetzt <strong>aus</strong>drücklich: Gibt es e<strong>in</strong>e/e<strong>in</strong>en hier<br />

auf dem Podium mit e<strong>in</strong>er Frage? Gibt es e<strong>in</strong>en Kommentar Ihrerseits zu Aspekten, <strong>die</strong> heute<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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genannt worden s<strong>in</strong>d? Dann bitte ich sehr herzlich darum: Tun Sie es jetzt! – O<strong>der</strong> haben wir<br />

Sie erschöpfend erschöpft? – Bitte schön. Das Mikrofon ist direkt neben Ihnen.<br />

Günter Weber (K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Familienprojekt KIPS, AWO Sol<strong>in</strong>gen):<br />

Zunächst e<strong>in</strong>mal bedanke ich mich. Me<strong>in</strong> Name ist Günter Weber; ich komme <strong>aus</strong> Sol<strong>in</strong>gen. Ich<br />

habe mich gefreut, hier zu se<strong>in</strong> und f<strong>in</strong>de es super, Jugendhilfe und E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe e<strong>in</strong>mal<br />

parallel zu diskutieren und Ideen zu kreieren, wie man sie vielleicht vernetzen kann.<br />

Ich selber arbeite <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>richtung für K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Familien, bei denen e<strong>in</strong> Elternteil psychisch<br />

erkrankt ist. Dazu habe ich <strong>die</strong> Anregung, dass <strong>die</strong> – wie bereits durch Frau Staets und<br />

e<strong>in</strong>ige an<strong>der</strong>e mitgeteilt worden ist – Prävention, also dass vor dem Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>zelhilfe –<br />

sei es, dass sie durch Jugendhilfe o<strong>der</strong> durch E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe f<strong>in</strong>anziert wird –, wenn dort<br />

e<strong>in</strong>fach ke<strong>in</strong>e F<strong>in</strong>anzierungsmöglichkeiten zu sehen s<strong>in</strong>d, dass <strong>die</strong> Hilfe <strong>der</strong> Eltern, <strong>die</strong> Scham<br />

zu überw<strong>in</strong>den, sich zu outen, e<strong>in</strong>en Antrag zu stellen, dass das viel Arbeit bedeutet, viel Energie<br />

bedeutet, <strong>die</strong> im Moment hier lei<strong>der</strong> nicht diskutiert werden konnte, weil Sie sich auf <strong>die</strong>se<br />

an<strong>der</strong>en Aspekte beschränkt haben. Aber ich fände es gut, wenn das noch mehr <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zukunft<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong> Diskussion e<strong>in</strong>bezogen würde.<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Herzlichen Dank. – Wurde jemand hier oben direkt angeregt,<br />

e<strong>in</strong>e Bemerkung dazu zu machen? – Frau Daun, bitte.<br />

Dorothee Daun (Vorsitzende des Sozial<strong>aus</strong>schusses): Ich f<strong>in</strong>de das sehr wichtig.<br />

Das ist wie<strong>der</strong> solch e<strong>in</strong> Aspekt, <strong>der</strong> verdeutlicht, wie beh<strong>in</strong><strong>der</strong>nd sich <strong>die</strong><br />

juristischen F<strong>in</strong>anzierungssysteme zum Teil <strong>aus</strong>wirken. Präventive Arbeit erfolgt<br />

nicht aufgrund von Rechtsansprüchen, weil man ja nicht weiß, wem sie<br />

konkret gilt, wessen Nachteile verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t werden. Von daher ist Präventivarbeit<br />

immer freiwillige Arbeit, und <strong>die</strong> Bezuschussung ist eben dann auch freiwillig<br />

und von daher <strong>in</strong> Zeiten knapper Kassen im allgeme<strong>in</strong>en nicht möglich,<br />

sodass man immer wartet, bis das K<strong>in</strong>d im Brunnen ist. Dann ergeben sich<br />

Rechtsansprüche; dann ist es aber eigentlich zu spät. Deswegen denke ich: E<strong>in</strong> Appell an Kostenträger<br />

– hier LVR – im präventiven Bereich auch dann zu handeln, wenn noch ke<strong>in</strong>e Rechtsansprüche<br />

entstanden s<strong>in</strong>d.<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Herzlichen Dank. – Ich blicke weiter <strong>in</strong> <strong>die</strong> Runde. Bitte schön!<br />

Sagen Sie bitte auch kurz Ihren Namen und woher Sie kommen.<br />

Sebastian Timm (In <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de leben gGmbH, Düsseldorf): Ich habe e<strong>in</strong>e Frage an den<br />

Amtsleiter <strong>aus</strong> Düren. Sie hatten den Vormittag nicht mitbekommen, aber ich war doch sehr<br />

verwun<strong>der</strong>t, dass <strong>die</strong> Trennung von Eltern und K<strong>in</strong><strong>der</strong>n von Ihnen als Glücksfall o<strong>der</strong> guter Fall<br />

dargestellt wurde.<br />

Gregor Dürbaum (Jugendamt Düren): Ich will nachdrücklich feststellen, dass ich das nicht als<br />

Glücksfall dargestellt habe. Es ist oft <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zige Lösung, wenn es um <strong>die</strong> Frage „Eltern<strong>in</strong>teressen<br />

o<strong>der</strong> K<strong>in</strong>deswohl“ geht – nicht mehr und nicht weniger. Die Jugendhilfe versucht, jedem<br />

E<strong>in</strong>zelfall gerecht zu werden.<br />

Ich kann für den Kreis Düren sagen: Wir haben zurzeit rund 128 sozialpädagogische Familienhilfen<br />

und rund 80 Erziehungsbeistandsschaften gewährt. Ich b<strong>in</strong> sicher, dass e<strong>in</strong> Großteil <strong>der</strong><br />

Hilfen, <strong>die</strong> dort durchgeführt werden, <strong>in</strong> Familien erfolgen, <strong>in</strong> denen e<strong>in</strong> Elternteil an psychischer<br />

Erkrankung leidet bzw. – e<strong>in</strong>e entsprechende Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung vorliegt.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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Ich habe versucht, <strong>die</strong>sen Spannungsbogen darzustellen. Und ich habe auch <strong>aus</strong>drücklich versucht,<br />

e<strong>in</strong> wenig darzustellen, dass, wenn es auf den Punkt kommt, wenn <strong>die</strong> Situation sich zuspitzt<br />

– das kann e<strong>in</strong> Therapeut, e<strong>in</strong> Arzt, <strong>der</strong> im Pr<strong>in</strong>zip den Kranken sieht, sicherlich an<strong>der</strong>s<br />

beurteilen –, an <strong>der</strong> Stelle für mich das Abwägen des K<strong>in</strong>deswohls <strong>der</strong> entscheidende Punkt ist.<br />

Ich betrachte e<strong>in</strong>e Her<strong>aus</strong>nahme nicht als Glücksfall – das will ich <strong>aus</strong>drücklich sagen.<br />

(Günter Weber: Es war vielleicht<br />

gerade unglücklich formuliert!)<br />

Jede Trennung, <strong>die</strong> durchgeführt wird, führt zu e<strong>in</strong>er Traumatisierung auf beiden Seiten und<br />

bedeutet <strong>in</strong> <strong>der</strong> Konsequenz, dass es immer <strong>der</strong> e<strong>in</strong>schneidendste Schritt und damit <strong>der</strong> letzte<br />

se<strong>in</strong> muss und se<strong>in</strong> kann.<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Das ist im Grunde e<strong>in</strong>e Rede für präventive Maßnahmen. Sie<br />

schil<strong>der</strong>n ja e<strong>in</strong>e Situation, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sie e<strong>in</strong>greifen müssen und <strong>in</strong> <strong>der</strong> schon viel passiert ist, wie<br />

Frau Daun eben sagte. Gibt es weitere Fragen <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Runde? – Es möchten noch Weitere<br />

etwas sagen: Frau Sprung und Herr Mertens.<br />

Christiane Sprung (Modellprojekt „Begleitete Elternschaft“, MOBILE e. V., Dortmund): Ich<br />

möchte darauf h<strong>in</strong>weisen, dass ich <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung b<strong>in</strong>, dass begleitete Elternschaft auch Trennungsbegleitung<br />

bedeutet. Das hat ja Frau Oberdorfer dargelegt. Dass es also – lei<strong>der</strong> – nicht<br />

das Ziel se<strong>in</strong> kann, dass jede Elternschaft so glückt, dass <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit den Eltern zusammenleben<br />

können. Es gibt e<strong>in</strong>fach Situationen, <strong>in</strong> denen es nicht an<strong>der</strong>s möglich ist, als dass <strong>die</strong><br />

Familie getrennt lebt. Wir versuchen aber dann, e<strong>in</strong>e Trennung möglichst schonend und mit<br />

möglichst wenig Traumatisierung auf beiden Seiten h<strong>in</strong>zukriegen, damit es h<strong>in</strong>terher, wenn <strong>die</strong><br />

Familie getrennt ist, für Eltern und K<strong>in</strong><strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Begleitung gibt, um den Kontakt zu halten und<br />

vielleicht <strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Form Familie zu leben.<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Okay, danke. – Herr Mertens bitte.<br />

Landesrat Michael Mertens (Dezernat 4: Schulen, Jugend): Ich möchte gern<br />

aufgrund Ihrer Meldung <strong>aus</strong> Sol<strong>in</strong>gen etwas zum Thema Prävention sagen. Ich<br />

weiß jetzt nicht, wie <strong>die</strong> Jugendhilfe <strong>in</strong> Sol<strong>in</strong>gen organisiert ist, aber ich möchte<br />

Sie gern darauf h<strong>in</strong>weisen – wahrsche<strong>in</strong>lich können das viele hier <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Runde<br />

bestätigen –, dass viele Städte auf dem Weg s<strong>in</strong>d, Präventionsketten neu<br />

aufzubauen.<br />

Im Moment öffentlich am populärsten s<strong>in</strong>d das Dormagener und das Düsseldorfer<br />

Modell, <strong>in</strong> denen genau auf <strong>die</strong> Fragen e<strong>in</strong>gegangen wird, wie frühzeitig Jugendhilfe und<br />

an<strong>der</strong>e soziale Unterstützungssysteme Eltern nahe gebracht werden können – eben allen Eltern;<br />

nicht speziell <strong>aus</strong>gesucht nach <strong>der</strong> Zielgruppe, über <strong>die</strong> wir heute sprechen, weil <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Praxis</strong> zunächst gar nicht zu unterscheiden ist, <strong>aus</strong> welchen Gründen denn Eltern Unterstützung<br />

überhaupt bedürfen.<br />

Wir wissen alle, <strong>die</strong> Gratwan<strong>der</strong>ung ist fließend, ab wann man wirklich von psychischer Erkrankung<br />

spricht. Oftmals s<strong>in</strong>d Eltern wegen viel ger<strong>in</strong>gfügigerer Ursachen entsprechend unterstützungsbedürftig,<br />

ohne dass man <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Form von Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung o<strong>der</strong> Krankheit sprechen<br />

muss.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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Es s<strong>in</strong>d, wie gesagt, viele Jugendämter, viele Städte <strong>in</strong>sgesamt bereits auf <strong>die</strong>sem Weg. Wir<br />

tagen hier <strong>in</strong> Köln. Es gibt e<strong>in</strong>en aktuellen Kölner Ratsbeschluss, 45 Planstellen zusätzlich für<br />

<strong>die</strong>sen Bereich e<strong>in</strong>zurichten. Viele Jugendämter <strong>in</strong>vestieren zurzeit <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Bereich, um Prävention<br />

wirkungsvoller und früher an <strong>die</strong> Eltern heranzubr<strong>in</strong>gen. Dabei wird natürlich zunächst<br />

nicht differenziert, was <strong>der</strong> eigentliche Grund dafür ist.<br />

(Günter Weber: Darf ich dazu etwas sagen?)<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Wenn, müssten Sie es bitte wie<strong>der</strong> vom Mikrofon <strong>aus</strong> tun.<br />

Günter Weber (K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Familienprojekt KIPS, AWO Sol<strong>in</strong>gen): Ich stimme Ihnen zu, dass <strong>in</strong><br />

den Geme<strong>in</strong>den und <strong>in</strong> den Kommunen zurzeit e<strong>in</strong>e größere Diskussion läuft. Aber ich sehe<br />

auch, dass <strong>der</strong> Landschaftsverband sich immer weiter <strong>aus</strong> beraterischen Regelf<strong>in</strong>anzierungen<br />

zurückzieht – über den Landschaftsverband eher nur befristete Projektf<strong>in</strong>anzierungen <strong>in</strong> den<br />

Fokus kommen, Regelberatungsangebote eher – ich weiß es jetzt nicht hun<strong>der</strong>tprozentig, aber<br />

ich glaube das – <strong>die</strong> Ausnahme s<strong>in</strong>d.<br />

Es geht hier um e<strong>in</strong> Regel- und um e<strong>in</strong> Beratungsangebot. Das, denke ich, sollte auch auf Landesebene<br />

diskutiert werden.<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Okay, herzlichen Dank. Ich weiß zwar im Moment nicht recht,<br />

wen Sie mit dem Landschaftsverband an <strong>der</strong> Stelle me<strong>in</strong>en. Aber das können wir vielleicht noch<br />

aufklären. Ich sehe noch e<strong>in</strong>e Wortmeldung.<br />

Stefan Wüstengang: Die Frage, <strong>die</strong> mir an <strong>der</strong> Stelle fehlte: Aufstocken <strong>der</strong> Hilfen? Ja, für immer<br />

mehr desgleichen ist das <strong>der</strong> richtige Weg. O<strong>der</strong> gibt es irgendwo aufgrund <strong>der</strong> heutigen<br />

Tagung o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gedanken, <strong>die</strong> dazu geführt haben, auch <strong>die</strong> Absicht, an e<strong>in</strong>er Stelle aufzustocken,<br />

<strong>die</strong> dafür sorgt, <strong>die</strong> Schnittstelle zwischen den e<strong>in</strong>zelnen Hilfesystemen zu bilden? Gewisse<br />

Hilfesysteme immer mehr aufzustocken, än<strong>der</strong>t ja nichts an <strong>der</strong> <strong>Thematik</strong>, <strong>die</strong> wir heute <strong>in</strong><br />

den Grenzen besprochen haben.<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Schöne Frage, danke schön. Ich möchte Sie eigentlich zurückfragen:<br />

Haben Sie e<strong>in</strong>e Idee? – Aber es gab direkt Zuckungen auf dem Podium.<br />

Frau Hoffmann-Badache würde gern etwas sagen – und Herr Bahr auch. Die Politik hat Vorrang,<br />

haben wir festgelegt. Bitte schön.<br />

Lorenz Bahr (1. stellvertreten<strong>der</strong> Vorsitzen<strong>der</strong> des Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses):<br />

Das ist genau <strong>die</strong> richtige Frage aufgrund <strong>der</strong> vielen Vorträge, <strong>die</strong><br />

wir heute gehört haben. Es waren <strong>in</strong>sgesamt neun. Seien Sie sicher: Mir geht<br />

es gen<strong>aus</strong>o wie Ihnen; ich b<strong>in</strong> erschöpft. Trotzdem muss ich feststellen, dass<br />

wir nicht nur e<strong>in</strong>e Reihe <strong>in</strong>teressanter, son<strong>der</strong>n auch <strong>in</strong>teressant vorgetragener<br />

Vorträge gehört haben.<br />

Drei davon – <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> von Frau Wagenblass und <strong>der</strong> von Frau Z<strong>in</strong>smeister<br />

- haben ja sogar <strong>die</strong> gleiche Grafik benutzt. Es g<strong>in</strong>g genau um <strong>die</strong>se<br />

Schnittstellen, besser: Schnittmengen.<br />

Wir haben m<strong>in</strong>destens zwei verschiedene Hilfesysteme; wir haben m<strong>in</strong>destens zwei verschiedene<br />

Kostenträger im Spiel – wenn nicht sogar, wenn wir <strong>die</strong> psychisch Erkrankten <strong>in</strong> den Blick<br />

nehmen, noch den dritten, nämlich <strong>die</strong> Krankenkassen. Das ergibt <strong>aus</strong> den unterschiedlichen<br />

Perspektiven e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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Es war auch heute Morgen Thema <strong>in</strong> den Vorträgen, dass es mit den unterschiedlichen Kostenträgern<br />

und Zugängen e<strong>in</strong>e unterschiedliche Beteiligung gibt. Diese f<strong>in</strong>de ich wichtig: dass eben<br />

<strong>die</strong> Angehörigen e<strong>in</strong>es Familiensystems mit ihrem speziellen Hilfebedarf unterschiedlich <strong>in</strong> den<br />

Blick genommen werden, zum e<strong>in</strong>en <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Perspektive des K<strong>in</strong>des – ich rede jetzt als stellvertreten<strong>der</strong><br />

Ausschussvorsitzen<strong>der</strong> mit dem Blick <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Jugendhilfe –, zum an<strong>der</strong>en aber<br />

auch <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> Eltern. Das ist <strong>der</strong> Blick <strong>der</strong> E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe.<br />

Wenn es um psychische Erkrankungen geht, dann halten zusätzlich aber auch <strong>die</strong> Krankenkassen<br />

Leistungen vor, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Familiensysteme mit <strong>in</strong> den Blick nehmen, um eben auch hier helfend<br />

zur Seite zu treten, wenn e<strong>in</strong> Elternteil <strong>aus</strong>fällt, d.h. für <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> und <strong>die</strong> nächsten Angehörigen<br />

<strong>der</strong> akut Erkrankten.<br />

Wir kennen ähnlich gelagerte Schnittstellenproblematiken <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Jugendhilfe: Wir haben im<br />

Bereich <strong>der</strong> Jugendhilfe e<strong>in</strong>e Koord<strong>in</strong>ierungsstelle Jugendhilfe/ Psychiatrie beim LVR. Mit Hilfe<br />

<strong>die</strong>ser Koord<strong>in</strong>ierungsstelle haben wir es geschafft, Barrieren zwischen den zunächst unterschiedlichen<br />

Hilfesystemen abzubauen.<br />

Es ist denkbar, ähnliche Wege im Fall <strong>der</strong> Schnittmenge E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe/ Jugendhilfe zu<br />

gehen. Das könnte e<strong>in</strong>e erste Überlegung se<strong>in</strong>; e<strong>in</strong>e Richtung, <strong>in</strong> <strong>die</strong> man als Landschaftsverband<br />

denken kann, wenn man es modellhaft betrachtet.<br />

Ich f<strong>in</strong>de es aber ebenso wichtig, noch e<strong>in</strong>mal festzustellen, dass <strong>die</strong> unterschiedlichen Zugänge<br />

<strong>der</strong> Hilfesysteme <strong>in</strong>nerfamiliär s<strong>in</strong>nvoll se<strong>in</strong> können und dass es voreilig wäre, <strong>die</strong>se Hilfesysteme<br />

gesetzlich o<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Trägerebene ´e<strong>in</strong>fach´ aufzulösen. Es kam <strong>der</strong> Vorschlag, <strong>in</strong> Komplexleistungen<br />

zu denken. Fachlich ist das angesagt. Das machen wir ja bereits <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnen<br />

Teilbereichen des SGB IX mit unterschiedlichem Erfolg, weil im Grunde <strong>der</strong> nicht vorhandene<br />

E<strong>in</strong>igungswille <strong>der</strong> Kostenträger auf <strong>der</strong> Bundesebene quasi h<strong>in</strong>unter <strong>in</strong> <strong>die</strong> Kommune gereicht<br />

wird – Stichwort: Komplexleistung Frühför<strong>der</strong>ung. Und dennoch suchen wir auch hier nach dem,<br />

was für das K<strong>in</strong>d am Wichtigsten ist und s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>en Schritt weiter.<br />

Insofern b<strong>in</strong> ich davon überzeugt, dass <strong>der</strong> Gesetzgeber auch im Bereich <strong>der</strong> Schnittmenge<br />

E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe/ Jugendhilfe klar bleiben muss – ganz klar Aufgaben verteilen muss. Es<br />

kann nicht das Ziel zukünftiger Überlegungen se<strong>in</strong>, quasi alles zunächst e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Hand zu<br />

geben. Man kann es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ersten Schritt auf <strong>der</strong> Trägerebene <strong>aus</strong>probieren; das will ich<br />

<strong>aus</strong>drücklich sagen.<br />

Aber man darf, wenn man alles <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Hand gibt, nicht voreilig <strong>die</strong> Kostenträger <strong>aus</strong> ihrer Verantwortung<br />

entlassen und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e, nachdem ich mir <strong>die</strong> Vorträge <strong>die</strong>ses Nachmittags angehört<br />

habe, nicht <strong>die</strong> Jugendämter. Denn <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zelnen Hilfesysteme funktionieren zunächst<br />

e<strong>in</strong>mal mehr o<strong>der</strong> weniger. Und das ist das Ziel <strong>der</strong> jeweiligen Hilfe.<br />

Ich will es noch e<strong>in</strong>mal deutlich betonen: Es muss genau geprüft werden, was <strong>der</strong> konkrete,<br />

<strong>in</strong>dividuelle Hilfebedarf für das K<strong>in</strong>d, für <strong>die</strong> Eltern und für <strong>die</strong> Familie ist.<br />

Insofern ist me<strong>in</strong> Plädoyer, <strong>die</strong> Kostenträger nicht <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Verantwortung zu entlassen, son<strong>der</strong>n<br />

darüber <strong>in</strong>tensiv nachzudenken, wie man solche Leistungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Hand geben kann. Das<br />

Stichwort Komplexleistung ist gefallen. Aber auf jeden Fall muss man über e<strong>in</strong>e Koord<strong>in</strong>ierung<br />

an <strong>die</strong>ser Stelle nachdenken.<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Herzlichen Dank. – Frau Landesrät<strong>in</strong>, was machen wir jetzt?<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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Landesrät<strong>in</strong> Mart<strong>in</strong>a Hoffmann-Badache (Dezernat 7: Soziales, Integration):<br />

Daran direkt anschließend: Ich denke, das, was Frau Z<strong>in</strong>smeister heute Morgen<br />

zu den rechtlichen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen gesagt hat, und <strong>der</strong> Weg, den Frau<br />

Sprung aufgezeigt hat, wie man <strong>in</strong> Dortmund angefangen hat und nun weiterzugehen<br />

überlegt, macht deutlich, dass <strong>in</strong> Dortmund <strong>aus</strong> me<strong>in</strong>er Sicht e<strong>in</strong> Weg<br />

gesucht wird, <strong>der</strong> unter den gegebenen gesetzlichen Bed<strong>in</strong>gungen <strong>die</strong> größte<br />

Aussicht auf Erfolg hat, e<strong>in</strong>e Entwicklung im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er koord<strong>in</strong>ierten Hilfeerbr<strong>in</strong>gung<br />

zu ermöglichen. Ich denke nämlich auch, dass Gesetzesän<strong>der</strong>ungen<br />

auf Bundesebene während <strong>die</strong>ser Wahlperiode nicht mehr zu erwarten s<strong>in</strong>d. Man muss<br />

also prüfen, was im Rahmen von Kooperationsmodellen und im Rahmen von Zusammenarbeit<br />

möglich ist.<br />

Das Dortmun<strong>der</strong> Modell zeigt ja e<strong>in</strong>en Weg auf, wo auf beiden Seiten e<strong>in</strong> Kooperationsmodell<br />

entwickelt wurde: auf Leistungsanbieterseite, <strong>in</strong>dem <strong>der</strong> Träger daran arbeitet, sowohl e<strong>in</strong>e Anerkennung<br />

für sozialpädagogische Familienhilfe als auch e<strong>in</strong>e Anerkennung als Anbieter des<br />

Betreuten Wohnens für Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung zu bekommen. Es besteht e<strong>in</strong>e Vere<strong>in</strong>barung<br />

mit dem Leistungsträger örtliches Jugendamt und, wie ich hoffe, kommt nach positiven<br />

Verhandlungen mit dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe e<strong>in</strong>e weitere Vere<strong>in</strong>barung mit<br />

e<strong>in</strong>em Leistungsträger h<strong>in</strong>zu.<br />

Dar<strong>in</strong>, solche Modelle weiterzuentwickeln, sehe ich unter den gegebenen Umständen <strong>die</strong> besten<br />

Möglichkeiten. Ich kann als Vertreter<strong>in</strong> des Trägers <strong>der</strong> E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe im Rhe<strong>in</strong>land<br />

nur dazu ermutigen, auf Leistungsanbieterseite sich <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Form aufzustellen, also auch als<br />

Leistungsanbieter mehrere Hilfearten – rechtlich gesehen – <strong>aus</strong> e<strong>in</strong>er Hand anzubieten und<br />

mich als Leistungsträger auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite <strong>in</strong> <strong>die</strong> Pflicht zu nehmen, um zu schauen, mit<br />

welchen Jugendämtern wir geme<strong>in</strong>sam solche F<strong>in</strong>anzierungsvere<strong>in</strong>barungen mit solchen Leistungsanbietern<br />

entwickeln können. Dazu möchte ich sehr gerne für uns unsere Bereitschaft<br />

erklären. Das wäre e<strong>in</strong> Denkmodell, mit dem wir weiterarbeiten könnten. Ich glaube sehr wohl,<br />

dass es dann möglich wäre, <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>en o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Fall über <strong>die</strong> Zahlungsform des persönlichen<br />

Budgets <strong>die</strong> an <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Stelle möglicherweise entstehende Klippe überw<strong>in</strong>den<br />

zu können.<br />

Es ist völlig richtig, was Frau Z<strong>in</strong>smeister gesagt hat: Das persönliche Budget ist ke<strong>in</strong>e zusätzliche<br />

Leistung, son<strong>der</strong>n es ist e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Vergütungsform, <strong>die</strong> es aber ermöglicht, manchmal<br />

<strong>die</strong> rechtlichen Schranken im Sachleistungssystem <strong>der</strong> Leistungsträger zu überw<strong>in</strong>den.<br />

Ich denke, dass wir <strong>in</strong>sofern schon jetzt e<strong>in</strong> Instrumentarium haben, das man nutzen kann,<br />

wenn man geme<strong>in</strong>same Ziele verfolgt. Ich kann für unsere Seite nur sagen: Diesen Weg werden<br />

wir gerne mit allen Beteiligten beschreiten.<br />

(Beifall)<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Das verstehe ich so: Man kann im Grunde Leistungsberechtigte<br />

nur ermutigen, bei <strong>der</strong> Beantragung von Leistungen zu sagen: Das hätte ich gern als persönliches<br />

Budget. – Das erhöht <strong>die</strong> Notwendigkeit <strong>der</strong> beteiligten Leistungsträger, mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu<br />

kooperieren. Richtig verstanden?<br />

Landesrät<strong>in</strong> Mart<strong>in</strong>a Hoffmann-Badache (Dezernat 7: Soziales, Integration): Es ist nur e<strong>in</strong><br />

Teilaspekt. Die betroffenen Menschen haben ja jetzt verbesserte Rechtsansprüche. Aber es<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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nimmt uns als Leistungsträger nicht <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Pflicht, mehr aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zuzugehen, mehr zu kooperieren.<br />

Es ist auf Seiten <strong>der</strong> Leistungsanbieter s<strong>in</strong>nvoll, ebenso ihr Portfolio zu erweitern.<br />

Man sollte das e<strong>in</strong>e tun, ohne das an<strong>der</strong>e zu lassen.<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Gut. – E<strong>in</strong>e Wortmeldung von Frau Mörsch-Müller.<br />

Barbara Mörsch-Müller (Jugendhilfe Rhe<strong>in</strong>land, Rhe<strong>in</strong>ische Erziehungsgruppen Viersen, Büro<br />

Köln): Ich weiß nicht, ob es das Problem für <strong>die</strong> Betroffenen gut lösen wird, dass <strong>die</strong> Leistungsanbieter<br />

Verschiedenes anbieten. Ich denke, sowohl <strong>in</strong> <strong>der</strong> Jugendhilfe als auch für an<strong>der</strong>e Bezüge<br />

muss Geld ver<strong>die</strong>nt werden.<br />

Was ich erlebe, habe ich eben schon gesagt: Ich sehe e<strong>in</strong>erseits, dass sehr viel Abgrenzung<br />

passieren muss, dass Mitarbeiter von BeWo nicht h<strong>in</strong>gucken dürfen, dass ihre Patienten o<strong>der</strong><br />

Klienten auch Eltern s<strong>in</strong>d. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite erlebe ich e<strong>in</strong>deutig, dass <strong>in</strong> den verschiedenen<br />

Familien mehrere Hilfesysteme tätig s<strong>in</strong>d. Es gibt BeWo, es gibt SPFH, es gibt ambulante<br />

Jugendhilfeträger, <strong>die</strong> noch <strong>in</strong> Vertretung da sitzen und vielleicht auch noch das Patenprojekt.<br />

Mancher Gesunde würde spätestens zu dem Zeitpunkt Probleme entwickeln, <strong>die</strong> verschiedenen<br />

Anbieter und Hilfesysteme noch koord<strong>in</strong>iert zu bekommen. Ich frage mich, was das soll. Das<br />

f<strong>in</strong>de ich e<strong>in</strong>e sehr problematische Situation. Das ist ke<strong>in</strong>e statistisch abgesicherte Beobachtung,<br />

aber das muss man e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>mal zur Kenntnis nehmen.<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Sie sprechen im Grunde positiv für Hilfen <strong>aus</strong> e<strong>in</strong>er Hand und<br />

weisen auf das h<strong>in</strong>, was bei <strong>die</strong>sen Systemgrenzen passieren kann, also Umz<strong>in</strong>gelung durch<br />

verschiedene Helfer, <strong>die</strong> <strong>in</strong> den Schranken ihrer jeweiligen Systeme handeln müssen.<br />

Frau Hoffmann-Badache möchte direkt etwas dazu sagen, was den Bereich ambulanter E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe<br />

betrifft, nehme ich an.<br />

Landesrät<strong>in</strong> Mart<strong>in</strong>a Hoffmann-Badache (Dezernat 7: Soziales, Integration): Sie haben <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Tat e<strong>in</strong>e Situation beschrieben, <strong>die</strong> <strong>der</strong>zeit häufig vorkommt. Aber me<strong>in</strong>e Wortmeldung g<strong>in</strong>g <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong> Richtung, dass Projekte wie MOBILE <strong>aus</strong> Dortmund zeigen, wie man es an<strong>der</strong>s machen<br />

kann. Ich wollte dazu ermutigen, auf Leistungsanbieterseite <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Form zu arbeiten.<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Ich schaue mich um und sehe e<strong>in</strong>e Wortmeldung – und dort<br />

noch e<strong>in</strong>e. Bitte schön.<br />

Susanne Pippel (Kaiserswerther Diakonie, Düsseldorf): Me<strong>in</strong> Name ist Susanne Pippel; ich komme<br />

von <strong>der</strong> Kaiserswerther Diakonie <strong>in</strong> Düsseldorf und b<strong>in</strong> dort für das Betreute Wohnen zuständig.<br />

Ich möchte noch e<strong>in</strong>mal das beklagen, was schon mehrmals erwähnt wurde – auch<br />

sehr schön von Herrn Bahr –, dass uns das Problem <strong>der</strong> Zuständigkeiten sehr quält. Wer ist<br />

eigentlich zuständig – Jugendhilfe o<strong>der</strong> <strong>die</strong> E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe?<br />

Ich möchte e<strong>in</strong>en konkreten Fall nennen. Ich betreue seit vier Monaten e<strong>in</strong>e junge Frau, <strong>die</strong> seit<br />

drei Monaten Mutter e<strong>in</strong>er Tochter ist. Die Frau ist psychisch krank. Ich habe am 26. Februar<br />

vom Landschaftsverband erfahren, dass <strong>die</strong> Kosten <strong>der</strong> E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe nur noch bis zum<br />

29. Februar gewährt werden, weil ab dann <strong>die</strong> Jugendhilfe zuständig sei. Es wurde auf § 19<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendhilfegesetz verwiesen. Dar<strong>in</strong> geht es um <strong>die</strong> stationäre Begleitung von Eltern<br />

und ihren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Die Klient<strong>in</strong> ist zurzeit noch im Urlaub. Wenn sie wie<strong>der</strong>kommt, muss ich ihr<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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mitteilen, dass ich nicht mehr für sie zuständig se<strong>in</strong> kann. Was raten Sie mir? Was kann ich <strong>in</strong><br />

dem Fall unternehmen?<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Sie versuchen jetzt e<strong>in</strong>e Fallkonferenz mit 300 Leuten. Frau Daun<br />

möchte dazu direkt e<strong>in</strong>e Antwort geben.<br />

Dorothee Daun (Vorsitzende des Sozial<strong>aus</strong>schusses): Ich möchte sagen: Deswegen sitzen wir<br />

heute hier zusammen. Diese Problematik und <strong>Thematik</strong> s<strong>in</strong>d ja deutlich geworden, weil wir erfahren<br />

haben, dass es <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Bereichen Probleme gibt.<br />

Das große Interesse, das unsere Veranstaltung heute gefunden hat, und <strong>die</strong> Diskussionen, <strong>die</strong><br />

wir geführt haben, machen deutlich, dass e<strong>in</strong> klarer Handlungsbedarf besteht, <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Richtung<br />

weiterzudenken. Ich glaube auch, dass <strong>der</strong> LVR <strong>die</strong> richtige Stelle ist, um konzeptionell <strong>die</strong><br />

Schlussfolgerungen zu ziehen, <strong>die</strong> sich aufgrund <strong>der</strong> heutigen Vorträge und Ausführungen anbieten.<br />

Der LVR ist ja nicht zum ersten Mal <strong>in</strong> solch e<strong>in</strong>e <strong>Thematik</strong> e<strong>in</strong>gestiegen. Ich er<strong>in</strong>nere daran,<br />

wie es vor vielen Jahren begann, als sich alle stritten: Wer ist denn für Betreutes Wohnen zuständig?<br />

Es hieß, das sei <strong>der</strong> örtliche Träger. Die an<strong>der</strong>en sagten: Ne<strong>in</strong>, das ist eigentlich e<strong>in</strong><br />

bisschen stationär und e<strong>in</strong> bisschen ambulant.<br />

Man hat sich auf <strong>der</strong> kommunalen und auf <strong>der</strong> LVR-Ebene gee<strong>in</strong>igt und gesagt: Der LVR trägt<br />

70 Prozent <strong>der</strong> Kosten, und <strong>die</strong> Kommunen 30 Prozent.<br />

Das war <strong>der</strong> E<strong>in</strong>stieg <strong>in</strong> unseren Paradigmenwechsel, <strong>der</strong> dazu führte, dass man erst e<strong>in</strong>mal<br />

e<strong>in</strong>gestiegen ist und gemacht hat. Der Gesetzgeber hat im Grunde genommen irgendwann begriffen,<br />

dass das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Hand gehört. Heute ist es selbstverständlich und wir wissen, wie positiv<br />

<strong>die</strong> Effekte s<strong>in</strong>d, dass sich auf <strong>die</strong>sem Gebiet etwas bewegt hat.<br />

Diese Art und Weise, <strong>in</strong>dem man nämlich sagt, wir unterlassen den Zuständigkeitsstreit, versuchen,<br />

praktikable Lösungen zu f<strong>in</strong>den und arbeiten alle geme<strong>in</strong>sam an denselben Zielen, würde<br />

sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> heute diskutierten <strong>Thematik</strong> anbieten. Ich b<strong>in</strong> dar<strong>in</strong> sehr zuversichtlich; wir haben<br />

damit Übung. Unsere LVR-Leute s<strong>in</strong>d im Konzeptionellen wirklich richtig gut. Von daher werden<br />

<strong>die</strong> Aspekte, <strong>die</strong> heute zum Tragen gekommen s<strong>in</strong>d, uns allen geme<strong>in</strong>sam weiterhelfen.<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Herzlichen Dank. – Zur gleichen Frage noch e<strong>in</strong>mal Herr Limbach<br />

bitte.<br />

Re<strong>in</strong>er Limbach (Leiter des Fachbereichs Sozialhilfe <strong>II</strong>): Me<strong>in</strong> Name ist Re<strong>in</strong>er<br />

Limbach; ich b<strong>in</strong> Leiter des Fachbereichs Sozialhilfe <strong>II</strong> im Dezernat Soziales,<br />

Integration.<br />

Man kann <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Rahmen natürlich schlecht solche E<strong>in</strong>zelfälle klären. Ich<br />

will trotzdem versuchen, das auf e<strong>in</strong>er etwas abstrakteren Ebene zu machen.<br />

Der Fall des § 19 SGB V<strong>II</strong>I, das heißt <strong>der</strong> Mutter-K<strong>in</strong>d-E<strong>in</strong>richtung, ist tatsächlich<br />

e<strong>in</strong> Son<strong>der</strong>fall, nämlich <strong>der</strong>, dass bei <strong>der</strong> stationären Hilfe, wie Sie sie beschreiben,<br />

<strong>der</strong> Jugendhilfeträger, sofern <strong>die</strong> sachlichen Vor<strong>aus</strong>setzungen vorliegen, sowohl für<br />

<strong>die</strong> Mutter als auch für das K<strong>in</strong>d sachlich zuständig wäre.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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Wenn Sie <strong>die</strong> „E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe“ ansprechen, so f<strong>in</strong>det sie sich <strong>in</strong> zwei Gesetzbüchern, nämlich<br />

im SGB X<strong>II</strong> wie auch <strong>in</strong> § 35 a SGB V<strong>II</strong>I wie<strong>der</strong>. Insofern muss man jeweils differenzieren.<br />

Was aber ansonsten <strong>die</strong> ambulanten Wohnformen angeht, verhält es sich so – und das ist<br />

schon <strong>in</strong> vielen Fällen <strong>Praxis</strong> –, dass beide Leistungssysteme <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> greifen sollen. Wenn<br />

wir, wie Sie es beschreiben, e<strong>in</strong>e junge Mutter mit e<strong>in</strong>er psychischen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung haben, <strong>die</strong><br />

e<strong>in</strong>en Anspruch auf ambulante Wohnhilfe durch den LVR hat, kämen <strong>die</strong> weiteren Ansprüche<br />

dazu, <strong>die</strong> das K<strong>in</strong>d hat, möglicherweise gegen den Jugendhilfeträger, aber auch <strong>die</strong> <strong>der</strong> Mutter<br />

ihrerseits auf möglicherweise Hilfe zur Erziehung. Das ist e<strong>in</strong>e Leistung nach SGB V<strong>II</strong>I. An <strong>der</strong><br />

Stelle kommt es auf Sie als Anbieter an, Ihre Klienten sauber durchs SGB zu navigieren.<br />

Ja, das ist <strong>in</strong> vielen Fällen e<strong>in</strong>e sehr anspruchsvolle Sache. Aber es gibt genug <strong>Beispiele</strong>, dass<br />

das durch<strong>aus</strong> funktioniert. Gerade <strong>in</strong> dem Fall <strong>der</strong> Komb<strong>in</strong>ation, den Sie beschrieben haben,<br />

gibt es genug positive <strong>Beispiele</strong>, dass das auch funktioniert.<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Es gibt dazu direkte Antworten vom Podium. Können Sie mit<br />

Ihrer Frage noch so lange <strong>aus</strong>harren? Frau Z<strong>in</strong>smeister, Frau Sprung und Herr Dürbaum.<br />

Prof. Dr. jur. Julia Z<strong>in</strong>smeister (Lehrgebiet Zivil- und Sozialrecht, FH Köln): Ich hatte vorh<strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

Urteil des Landessozialgerichts Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen angeführt, <strong>in</strong> dem Hilfen nach § 19 SGB<br />

V<strong>II</strong>I für e<strong>in</strong>e junge Mutter und ihr K<strong>in</strong>d zur Entscheidung standen. § 19 SGB V<strong>II</strong>I sieht <strong>die</strong><br />

Betreuung alle<strong>in</strong> erziehen<strong>der</strong> Mütter o<strong>der</strong> Väter <strong>in</strong> geme<strong>in</strong>samen Wohnformen vor. Adressaten<br />

<strong>die</strong>ser Hilfe s<strong>in</strong>d Mütter o<strong>der</strong> Väter, <strong>der</strong>en Entwicklung h<strong>in</strong> zur Übernahme von Verantwortung<br />

für e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d und positiver Lebensbewältigung noch nicht abgeschlossen ist und <strong>die</strong> Bedarf an<br />

e<strong>in</strong>er umfassenden För<strong>der</strong>ung ihrer Kompetenzen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Alltags- und Konfliktbewältigung und<br />

ihrer weiteren persönlichen wie beruflichen Entwicklung haben. Die Hilfe ist an e<strong>in</strong> bestimmtes<br />

Alter des K<strong>in</strong>des („unter sechs Jahren“), nicht aber an e<strong>in</strong> bestimmtes Alter <strong>der</strong> Mutter geknüpft.<br />

Sie könnte also theoretisch auch an Mütter und Väter über 26 gewährt werden, wenn man <strong>der</strong><br />

Me<strong>in</strong>ung ist, dass ihre Persönlichkeit noch nicht fertig entwickelt ist. Sieht man <strong>die</strong> Persönlichkeitsentwicklung<br />

<strong>der</strong> volljährigen Mutter h<strong>in</strong>gegen als abgeschlossen und ihren Hilfebedarf bei<br />

<strong>der</strong> Erziehung und Alltagsbewältigung als e<strong>in</strong>en von <strong>der</strong> Adoleszenz völlig unabhängigen beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungsbed<strong>in</strong>gten<br />

Bedarf an, wäre <strong>der</strong> Sozialhilfeträger zuständig. Das gilt grundsätzlich<br />

unabhängig davon, ob <strong>die</strong> Mutter nun seelisch, geistig o<strong>der</strong> körperlich beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t ist. Offen bleibt<br />

nun <strong>die</strong> Frage, wie sich <strong>die</strong> Persönlichkeitsentwicklung e<strong>in</strong>er jungen Mutter getrennt von ihrer<br />

Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung beurteilen lassen soll. Gel<strong>in</strong>gt Ihnen <strong>die</strong>se Trennung nicht, sollten Sie feststellen,<br />

dass <strong>die</strong> junge Mutter beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungsbed<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> ihrer Persönlichkeitsentwicklung bee<strong>in</strong>trächtigt<br />

ist, entsteht e<strong>in</strong>e Leistungskonkurrenz zwischen § 19 SGB V<strong>II</strong>I und <strong>der</strong> E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe.<br />

Diese wird wie<strong>der</strong>um von den Gerichten unterschiedlich gelöst, je nachdem, wie alt <strong>die</strong> Mutter<br />

ist, welche Art <strong>der</strong> Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung sie hat und welche Gesetzes<strong>aus</strong>legung das e<strong>in</strong>zelne Gericht<br />

vertritt.<br />

Wäre <strong>die</strong> junge Frau noch e<strong>in</strong> junger Mensch im S<strong>in</strong>ne des K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendhilferechtes d.h.<br />

noch nicht 27 Jahre alt und geistig o<strong>der</strong> körperlich beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t, wäre nach Auffassung des Landessozialgerichts<br />

<strong>der</strong> Sozialhilfeträger als Träger <strong>der</strong> E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe vorrangig zuständig.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs nur für <strong>die</strong> Leistungen <strong>der</strong> Mutter. Die Betreuungsleistungen für ihr K<strong>in</strong>d wären Aufgabe<br />

des Jugendhilfeträgers. Ist <strong>die</strong> junge Frau h<strong>in</strong>gegen wie im vorliegenden Fall seelisch beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t,<br />

gilt <strong>die</strong>ser <strong>aus</strong>nahmsweise Vorrang <strong>der</strong> Sozialhilfe vor <strong>der</strong> Jugendhilfe nicht. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit<br />

<strong>in</strong> NRW sieht das aber an<strong>der</strong>s. Die Verwaltungsgerichte s<strong>in</strong>d <strong>der</strong> Auffassung,<br />

dass e<strong>in</strong>e Mutter, <strong>die</strong> aufgrund ihrer Persönlichkeitsentwicklung zur Pflege und Erziehung<br />

ihres K<strong>in</strong>des auf e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Wohnform angewiesen ist, immer Anspruch auf Leistungen<br />

des § 19 SGB V<strong>II</strong>I hat, ungeachtet <strong>der</strong> Frage, ob und welche Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung sie hat. Mög-<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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licherweise sehen Sie aber gar nicht den Bedarf an e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen Wohnform nach § 19<br />

SGB <strong>II</strong>I? Son<strong>der</strong>n eher e<strong>in</strong>en Bedarf an Hilfen zur Erziehung nach § 27 SGB V<strong>II</strong>I o<strong>der</strong> nur an<br />

E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe für <strong>die</strong> Mutter <strong>in</strong> Form des betreuten Wohnens, wie sie es bislang bei Ihnen<br />

als Sozialhilfeleistung des LVR <strong>in</strong> Anspruch genommen hat?<br />

Ich fürchte, Ihre Klient<strong>in</strong> ist mit ihrem K<strong>in</strong>d genau zwischen <strong>die</strong>se von mir beschriebenen Fronten<br />

geraten. Wenn ihr bislang E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe gewährt, <strong>die</strong>se nun aber e<strong>in</strong>gestellt wurde, wäre<br />

<strong>der</strong> erste s<strong>in</strong>nvolle Schritt, hiergegen fristgerecht Wi<strong>der</strong>spruch e<strong>in</strong>zulegen, um <strong>die</strong> angesprochenen<br />

Fragen <strong>in</strong> Ruhe klären zu können, so gut <strong>die</strong>s <strong>in</strong> Anbetracht <strong>der</strong> so unklaren Rechtslage<br />

eben geht.<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Mit Wi<strong>der</strong>sprüchen kennen wir uns <strong>aus</strong>, genau.<br />

Gregor Dürbaum (Jugendamt Düren): Ich mache das jetzt nicht komplizierter, wenn ich <strong>die</strong><br />

Blickrichtung <strong>der</strong> Jugendhilfe dazu e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>ge. Aber so e<strong>in</strong>fach ist <strong>die</strong> Diskussion nicht, <strong>die</strong> wir<br />

führen. Wenn ich über e<strong>in</strong>e 19er-Hilfe spreche, bedeutet <strong>die</strong>s <strong>in</strong> <strong>der</strong> Konsequenz, dass <strong>die</strong> Mutter/<strong>der</strong><br />

Vater, <strong>die</strong>/<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> 19er-Hilfe untergebracht ist, etwas an Ausbildung o<strong>der</strong> für se<strong>in</strong>en<br />

beruflichen Weg tun muss. Es ist <strong>die</strong> Frage, ob jemand, <strong>der</strong> wegen e<strong>in</strong>er Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung nicht<br />

arbeitsfähig ist, überhaupt e<strong>in</strong>en Anspruch auf <strong>die</strong> § 19 SGB V<strong>II</strong>I-Hilfe hat.<br />

Die Frage <strong>der</strong> Rehabilitation erstreckt sich „nur“ – <strong>in</strong> Anführungszeichen, nicht bewertend – auf<br />

den Punkt <strong>der</strong> seelischen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung, für den <strong>die</strong> Jugendhilfe zuständig ist. Die Regelleistung<br />

ist mit 21 Jahren zu Ende. Über <strong>die</strong>ses Alter h<strong>in</strong><strong>aus</strong> ist es dann nur e<strong>in</strong>e Entscheidung im E<strong>in</strong>zelfall.<br />

Ich will nicht jetzt nicht auf <strong>die</strong> <strong>in</strong>haltliche Diskussion des SGB V<strong>II</strong>I h<strong>in</strong><strong>aus</strong>, son<strong>der</strong>n mache nur<br />

auf <strong>die</strong> Problematik <strong>in</strong>sgesamt <strong>aus</strong> unserer Perspektive aufmerksam. Die Klärung <strong>der</strong> Zuständigkeit<br />

kann nicht zulasten desjenigen gehen, <strong>der</strong> zurzeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Maßnahme ist. Wenn <strong>die</strong> Systeme<br />

sich verständigen müssen – Herr Limbach (Landessozialamt) und ich kennen uns schon<br />

Jahre und haben <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Bereichen Wege gefunden, bei denen es zunächst hakte.–, dann<br />

müssen <strong>die</strong> Maßnahmenträger auch Wege <strong>der</strong> e<strong>in</strong>vernehmlichen Klärung und Abgabe mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

abstimmen. Derjenige, <strong>der</strong> krank, beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t o<strong>der</strong> wie auch immer <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er schwierigen<br />

Situation ist, darf nicht den Systemen <strong>aus</strong>geliefert werden.<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Herzlichen Dank. – Sie merken: Wir laufen zu großer Form auf,<br />

wenn es um Schnittstellenprobleme geht. Frau Sprung.<br />

Christiane Sprung (Modellprojekt „Begleitete Elternschaft“, MOBILE e. V., Dortmund): Ich<br />

möchte noch sagen, dass natürlich <strong>der</strong> Aspekt <strong>der</strong> Kostenzuständigkeit e<strong>in</strong> ganz entscheiden<strong>der</strong><br />

und gravieren<strong>der</strong> ist, aber dass es auf <strong>der</strong> Angebotsseite immer noch deutliche Lücken gibt.<br />

Mir fällt dabei e<strong>in</strong>, dass ich bei dem Fallbeispiel von Frau Dr. Z<strong>in</strong>smeister gedacht habe: Gut,<br />

wenn <strong>die</strong> Kostenzuständigkeit geklärt ist, kann man <strong>die</strong>ser Frau welches Angebot machen?<br />

Denn <strong>der</strong> erste Gedanke war, vielleicht kann sie ambulant mit ihrem K<strong>in</strong>d unterstützt werden.<br />

Aber sie hat gesagt, sie möchte nicht alle<strong>in</strong>e leben.<br />

Gibt es e<strong>in</strong> stationäres Angebot, wo <strong>die</strong>se Frau mit ihrer psychischen Erkrankung leben und<br />

gleichzeitig ihr K<strong>in</strong>d geför<strong>der</strong>t werden kann?<br />

Für uns ist das immer e<strong>in</strong> drängendes Problem, weil wir relativ häufig Anfragen <strong>aus</strong> dem gesamten<br />

Bundesgebiet bekommen: Wir haben <strong>die</strong> und <strong>die</strong> Situation; können Sie uns irgend etwas<br />

nennen? Wir haben natürlich viele Adressen und wissen, welche stationären E<strong>in</strong>richtungen<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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und ambulante Träger es gibt. Aber manchmal s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Lebenssituationen so speziell, dass<br />

man nicht weiter weiß, son<strong>der</strong>n sagt: Die Frau gehört aber nicht zu e<strong>in</strong>em bestimmten Personenkreis.<br />

Deswegen ist ke<strong>in</strong>e stationäre Maßnahme angezeigt.<br />

Ich glaube, auf dem Gebiet <strong>der</strong> Angebote muss sich noch etwas verän<strong>der</strong>n. Das hatte im Pr<strong>in</strong>zip<br />

Frau Daun gesagt: dass Träger weiterdenken, was sie im Bereich <strong>der</strong> begleiteten Elternschaft<br />

machen wollen. Welchen Personenkreis können sie noch e<strong>in</strong>beziehen?<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Herzlichen Dank. – Jetzt aber darf ich um Ihre Frage bitten.<br />

Jutta Becker (Jugend- und Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>tenhilfe, Diakonie Michaelshoven): Me<strong>in</strong> Name ist Jutta<br />

Becker. Ich arbeite seit mittlerweile acht Jahren <strong>in</strong> <strong>der</strong> Diakonie Michaelshoven mit Eltern mit<br />

geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich. Uns ist es lei<strong>der</strong><br />

<strong>in</strong> den acht Jahren nicht immer gelungen, sicher durch das SGB zu navigieren, weil wir oft vor<br />

Wänden stoppen mussten o<strong>der</strong> durch Ne<strong>in</strong>s aufgehalten wurden.<br />

Ich b<strong>in</strong> genau wie Sie <strong>der</strong> Ansicht, dass <strong>die</strong> betroffenen Mütter, Eltern, K<strong>in</strong><strong>der</strong> nicht darunter<br />

leiden sollten. Es ist aber schwer, das im E<strong>in</strong>zelfall zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n.<br />

Ganz praktisch möchte ich vorschlagen: Wir scheitern im Alltag häufig daran, dass wir mit zwei<br />

Hilfeplänen arbeiten, wenn zwei Kostenträger beteiligt s<strong>in</strong>d. Das möchte ich Ihnen für <strong>die</strong> konzeptionelle<br />

Arbeit im Rahmen <strong>der</strong> Vernetzung mit auf den Weg geben, um zu prüfen, wie können<br />

<strong>die</strong>se zwei Systeme <strong>der</strong> Hilfeplanung so koord<strong>in</strong>iert werden, dass nachher e<strong>in</strong>e Planung für<br />

das Familiensystem her<strong>aus</strong>kommt. Das kann <strong>aus</strong> me<strong>in</strong>er Erfahrung durch unterschiedliche Hilfen<br />

und durch unterschiedliche Leistungsanbieter nachher geleistet werden. Ich glaube nicht,<br />

dass immer alles <strong>aus</strong> e<strong>in</strong>er Hand se<strong>in</strong> muss, aber es muss <strong>in</strong> <strong>der</strong> Form koord<strong>in</strong>iert werden, dass<br />

e<strong>in</strong> Auftrag mit unterschiedlichen Maßnahmen da ist.<br />

Dazu möchte ich gerne bemerken, dass wir seit e<strong>in</strong>igen Jahren <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesarbeitsgeme<strong>in</strong>schaft<br />

Begleitete Elternschaft organisiert s<strong>in</strong>d. Es s<strong>in</strong>d mittlerweile – es s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>ige Kollegen hier<br />

– an <strong>die</strong> zwanzig E<strong>in</strong>richtungen <strong>aus</strong> dem gesamten Bundesgebiet, <strong>die</strong> sich e<strong>in</strong>- o<strong>der</strong> zweimal<br />

jährlich treffen. Ich unterstelle, dass dort e<strong>in</strong>e Menge Know-how und e<strong>in</strong>e Menge Erfahrungen<br />

s<strong>in</strong>d, auf <strong>die</strong> vielleicht <strong>in</strong> so e<strong>in</strong>er konzeptionellen Arbeit zurückgegriffen werden könnte. Ich<br />

sage stellvertretend für <strong>die</strong> an<strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong>: Es besteht bestimmt sehr große Bereitschaft,<br />

mitzuarbeiten und <strong>die</strong> H<strong>in</strong><strong>der</strong>nisse, mit denen wir im Alltag zu kämpfen haben, <strong>aus</strong> dem Weg zu<br />

räumen.<br />

(Lebhafter Beifall)<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Okay, herzlichen Dank. – E<strong>in</strong> sehr pragmatischer Vorschlag war<br />

dabei. Das ist e<strong>in</strong>e hervorragende Überleitung. Ich wollte <strong>die</strong> Damen und Herren auf dem Podium<br />

abschließend um e<strong>in</strong>en kurzen Satz bitten. Wir gehen heute nach H<strong>aus</strong>e, haben viel gelernt,<br />

f<strong>in</strong>den das alles Klasse, können das Ganze überschlafen, kommen morgen <strong>in</strong>s Büro und<br />

sagen e<strong>in</strong>en Satz: Was tue ich als Nächstes, was ist s<strong>in</strong>nvoll? Gel<strong>in</strong>gt Ihnen das?<br />

Ich will jetzt angesichts des Zeitablaufs ke<strong>in</strong>e längeren Ausführungen mehr hören. Frau Daun<br />

greift schon zum Schlusswort. Wir s<strong>in</strong>d geme<strong>in</strong>sam verabredet, gegen 15 Uhr fertig zu werden.<br />

Also nur dann, wenn Sie mir quasi <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er knackigen Bemerkung sagen könnten, was wir morgen<br />

tun sollen, dann tun Sie <strong>die</strong>s. Ansonsten b<strong>in</strong> ich Ihnen nicht böse, wenn Sie sagen: Ich ha-<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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e alles schon gesagt, noch mal brauche ich das nicht. Wir fangen von mir <strong>aus</strong> gesehen h<strong>in</strong>ten<br />

bei Frau Staets an. Frau Staets ist jetzt vorne.<br />

Susanna Staets (Präventionsprojekt für K<strong>in</strong><strong>der</strong> psychisch kranker Eltern, KIPKEL, Haan): Ganz<br />

spontan fiel mir e<strong>in</strong>: Ich komme zurück und sage, ich mache weiter.<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Gen<strong>aus</strong>o habe ich es mir vorgestellt.<br />

Gregor Dürbaum (Jugendamt Düren): Bei mir ist es <strong>der</strong> Gedanke, tatsächlich mehr darauf zu<br />

schauen, dass niemand zwischen <strong>die</strong> Systeme gerät und <strong>in</strong> <strong>der</strong> eigenen Verantwortlichkeit e<strong>in</strong><br />

Stück sensibeler zu se<strong>in</strong>. Das ist me<strong>in</strong> Punkt, von dem ich denke: Das nehme ich mit.<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Okay.<br />

Barbara Mörsch-Müller (Jugendhilfe Rhe<strong>in</strong>land, Rhe<strong>in</strong>ische Erziehungsgruppen Viersen, Büro<br />

Köln): Es fällt mir jetzt sehr schwer, etwas zu sagen. Ich würde natürlich auch weitermachen. Ich<br />

f<strong>in</strong>de es gut, dass bestimmte Themen hier so klar formuliert wurden, dass komplexe Leistungen<br />

o<strong>der</strong> <strong>die</strong> Vernetzung <strong>der</strong> Abteilungen untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> mit dem, was noch daran hängt, Thema<br />

waren.<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Okay, danke schön.<br />

Christiane Sprung (Modellprojekt „Begleitete Elternschaft“, MOBILE e. V., Dortmund): Ich werde<br />

e<strong>in</strong>er Kolleg<strong>in</strong> sagen: Das Kl<strong>in</strong>kenputzen lohnt sich; denn ich b<strong>in</strong> begeistert, dass von dem<br />

Kostenträger <strong>die</strong>se Fachtagung <strong>aus</strong>gerichtet wurde. Vor zwei Jahren hätte ich mir das noch nicht<br />

träumen lassen, so wie wir <strong>in</strong> Dortmund angefangen hatten, dass es möglich ist, wirklich für das<br />

Thema zu sensibilisieren.<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Danke schön. – Frau Oberdorfer.<br />

Anne Oberdorfer (Sozial<strong>die</strong>nst kath. Frauen e. V., Wesel – St.-Josef-H<strong>aus</strong>, Heim für Eltern und<br />

K<strong>in</strong>d): Ich würde gern von me<strong>in</strong>em Traum erzählen: Ich komme zurück, und wir s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Zwittere<strong>in</strong>richtung<br />

zwischen Jugendhilfe und Sozialhilfe mehr, wie wir das bisher immer waren, son<strong>der</strong>n<br />

wir werden als ganz normale E<strong>in</strong>richtung gesehen.<br />

Prof. Dr. jur. Julia Z<strong>in</strong>smeister (Lehrgebiet Zivil- und Sozialrecht, FH Köln): Ist das das Normalisierungspr<strong>in</strong>zip?<br />

Ich verschiebe me<strong>in</strong>e guten Intentionen gar nicht auf morgen, son<strong>der</strong>n verwirkliche<br />

sie gleich. Ich werde nie wie<strong>der</strong> <strong>die</strong> Gelegenheit haben, so viel Fachkompetenz an<br />

e<strong>in</strong>em Ort anzutreffen, an <strong>die</strong> ich <strong>die</strong> Bitte richten darf, mir zu schreiben, wenn Sie <strong>in</strong>teressante<br />

E<strong>in</strong>zelfalldarstellungen haben, <strong>in</strong> denen es genau solche rechtlichen Fragestellungen gab, <strong>in</strong><br />

denen Sie Verfahren hatten, <strong>die</strong> gescheitert s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> denen <strong>der</strong> Hilfebedarf nicht gedeckt werden<br />

konnte.<br />

Ich b<strong>in</strong> sehr wild auf solche E<strong>in</strong>zelfallentscheidungen, vor<strong>aus</strong>gesetzt, Sie schicken sie mir bitte <strong>in</strong><br />

absolut anonymisierter Form zu. Das ist sehr wichtig. Der Datenschutz sollte beachtet werden.<br />

Ich möchte gerne, wenn ich Geldgeber dafür f<strong>in</strong>de, bald e<strong>in</strong>e entsprechende Untersuchung dazu<br />

<strong>in</strong>itiieren, mit <strong>der</strong> wir auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite prüfen, wie Verfahren <strong>in</strong> Bezug auf das Sorgerecht<br />

von Eltern mit psychischer Erkrankung o<strong>der</strong> Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung laufen, zum an<strong>der</strong>en aber auch, wie<br />

<strong>der</strong> Hilfeprozess wirklich verlaufen ist.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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Ich bitte um Ihre Mitwirkung. Sie f<strong>in</strong>den mich an <strong>der</strong> Fachhochschule Köln und können mich dort<br />

anmailen. Herzlichen Dank.<br />

(Lebhafter Beifall)<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Frau Pixa-Kettner.<br />

Prof. Dr. Ursula Pixa-Kettner (Lehrgebiet Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>tenpädagogik, Universität Bremen): Ich nehme<br />

e<strong>in</strong>e Erkenntnis mit, und zwar habe ich festgestellt, dass <strong>die</strong> umweltbezogenen Kontextfaktoren<br />

doch e<strong>in</strong>e ganz erhebliche Bedeutung haben und sicherlich nicht nur <strong>die</strong> betroffenen Eltern<br />

und Angehörigen und K<strong>in</strong><strong>der</strong> beh<strong>in</strong><strong>der</strong>n, son<strong>der</strong>n offenbar auch das Personal.<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Danke schön. – Herr Mertens.<br />

Landesrat Michael Mertens (Dezernat 4: Schulen, Jugend): Unter dem Stichwort Nachhaltigkeit<br />

sollten wir uns heute e<strong>in</strong> Stück selbst verpflichten, <strong>die</strong> Ideen, <strong>die</strong> hier zum Teil angeklungen<br />

s<strong>in</strong>d, zu vertiefen, uns also sozusagen selbst zu verpflichten, Ideen zu sammeln, erneut e<strong>in</strong>e<br />

solche Veranstaltung durchzuführen und auch Frau Dr. Z<strong>in</strong>smeister dazu e<strong>in</strong>zuladen, weil ich<br />

glaube, dass <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zwischenzeit sicherlich von <strong>die</strong>ser Veranstaltung e<strong>in</strong>e Art Signalwirkung<br />

<strong>aus</strong>gehen wird. Das muss man weiter verfolgen.<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Herzlichen Dank. – Frau Hoffmann-Badache.<br />

Landesrät<strong>in</strong> Mart<strong>in</strong>a Hoffmann-Badache (Dezernat 7: Soziales, Integration): Ich habe <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er<br />

Wortmeldung eben schon gesagt, was wir uns vorgenommen haben. Daran werden wir arbeiten.<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Okay. – Herr Bahr und danach Frau Daun mit dem Schlusswort.<br />

Lorenz Bahr (1. stellvertreten<strong>der</strong> Vorsitzen<strong>der</strong> des Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses): Frau Daun<br />

hat es im Grunde eben schon gesagt: Wir werden <strong>die</strong> Anregungen mit <strong>in</strong> <strong>die</strong> Ausschüsse nehmen.<br />

Auf jeden Fall wird das nicht <strong>die</strong> letzte Diskussion zu <strong>die</strong>sem Thema gewesen se<strong>in</strong>. Wir<br />

werden daran arbeiten müssen, wie wir <strong>die</strong> beiden bzw. <strong>die</strong> drei Systeme zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> br<strong>in</strong>gen,<br />

wenn nicht sogar übere<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, aber zunächst e<strong>in</strong>mal zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong>. Das kann <strong>die</strong> Trägerebene<br />

se<strong>in</strong>; das kann aber auch auf <strong>der</strong> Ebene des LVR se<strong>in</strong>.<br />

Mit <strong>der</strong> aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong> abgestimmten Hilfeplanung können wir im Grunde morgen schon beg<strong>in</strong>nen,<br />

eben über <strong>die</strong> KoKoBe´s. Sie müssten im Grunde wissen, ob K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit im Spiel s<strong>in</strong>d. Es<br />

bräuchte nur e<strong>in</strong>e Frage an <strong>die</strong> Anwesenden im Hilfeplangespräch: S<strong>in</strong>d K<strong>in</strong><strong>der</strong> vorhanden?<br />

Wer unterstützt <strong>die</strong>se?<br />

Mo<strong>der</strong>ator Lothar Flemm<strong>in</strong>g: Gut. – Dann kann ich nur noch sagen: Me<strong>in</strong> Job ist im Grunde<br />

beendet. Herzlichen Dank für Ihre Mitwirkung.<br />

Ich erlaube mir, noch e<strong>in</strong>en Dank loszuwerden. Ich b<strong>in</strong> sicher, auch Sie hätten das e<strong>in</strong>gebaut.<br />

Es haben im Vorfeld sehr viele sehr <strong>in</strong>tensiv für das Gel<strong>in</strong>gen <strong>die</strong>ser Veranstaltung gearbeitet.<br />

Das war e<strong>in</strong> Garant, neben Ihrem Auftrag und <strong>der</strong> Bereitschaft <strong>der</strong> Referent<strong>in</strong>nen und Referenten,<br />

heute hier zu se<strong>in</strong>.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

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Ihr überwältigendes Interesse ermuntert uns, auch den zweiten Auftrag – das hatte ich heute<br />

Morgen schon gesagt – ähnlich abzuarbeiten, wo es um Sexualität und Partnerschaft geht.<br />

Danke schön.<br />

Nun hören wir das Schlusswort <strong>der</strong> Vorsitzenden.<br />

Schlusswort<br />

Dorothee Daun (Vorsitzende des Sozial<strong>aus</strong>schusses): Ich will trotzdem noch e<strong>in</strong>mal denjenigen<br />

e<strong>in</strong> Dankeschön sagen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Tagung vorbereitet und fachlich begleitet haben. Herr Flemm<strong>in</strong>g,<br />

Dank auch an Sie; das haben Sie prima gemacht!<br />

(Beifall)<br />

Ich f<strong>in</strong>de, dass <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Veranstaltung vorbereitet haben, e<strong>in</strong> <strong>aus</strong>gesprochen gutes<br />

Händchen hatten, unsere Referent<strong>in</strong>nen und Referenten <strong>aus</strong>zuwählen, das gesamte Spektrum<br />

und <strong>die</strong> verschiedenen Aspekte abzudecken. Das ist sehr gut vorbereitet gewesen und <strong>aus</strong>gezeichnet<br />

gelungen. Jetzt auch Danke an <strong>die</strong> Referent<strong>in</strong>nen und den Referenten für <strong>die</strong> Ausführungen.<br />

Es ist sehr deutlich geworden, wie facettenreich <strong>die</strong> <strong>Thematik</strong> ist und wie viel Handlungsbedarf<br />

besteht. Wir haben deutlich vor Augen geführt bekommen, was es bedeutet, wie<br />

weit Rahmenbed<strong>in</strong>gungen Menschen beh<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Wir haben, das fand ich <strong>in</strong> den Ausführungen<br />

von Frau Professor Wagenblass sehr <strong>in</strong>teressant, <strong>die</strong> Sichtweise auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite <strong>der</strong> Eltern,<br />

auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en aber auch <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> verdeutlicht bekommen. Ich habe es als sehr empathisch<br />

empfunden, <strong>die</strong> beiden Sichtweisen zusammenzuführen und uns <strong>die</strong> ganzheitliche Sicht zu<br />

vermitteln.<br />

Frau Professor Z<strong>in</strong>smeister hat uns Wege aufgezeigt, wie wir mit dem komplizierten Rechtssystem,<br />

wie es nun e<strong>in</strong>mal ist, e<strong>in</strong>igermaßen zurechtkommen, und hat uns e<strong>in</strong> paar gute Tipps gegeben.<br />

Das halte ich für sehr wichtig. Ich f<strong>in</strong>de es auch sehr schön, dass Sie angeboten haben,<br />

<strong>die</strong> <strong>Thematik</strong> gerade anhand von schwierigen Situationen aufzubereiten. Das wird uns sicherlich<br />

weiterbr<strong>in</strong>gen.<br />

Der zweite Teil war noch ermutigen<strong>der</strong>. Der erste Teil war ja e<strong>in</strong> bisschen deprimierend, weil <strong>die</strong><br />

Verhältnisse <strong>in</strong> unserer Republik nicht so e<strong>in</strong>fach s<strong>in</strong>d. Aber im zweiten Teil ist deutlich geworden:<br />

Es geht doch! Es ist gezeigt worden, was <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Praxis</strong> möglich ist – trotz <strong>der</strong> beh<strong>in</strong><strong>der</strong>nden<br />

Faktoren, <strong>die</strong> wir kennen gelernt haben. Das soll uns sicherlich ermuntern, daran weiterzuarbeiten<br />

und <strong>die</strong>se Ansatzpunkte aufzugreifen.<br />

Wie schon gesagt: Die Politik hat <strong>der</strong> Verwaltung den Auftrag gegeben, im ersten Schritt das<br />

Heutige zu veranstalten, im zweiten Teil <strong>die</strong>se Erkenntnisse aufzubereiten, natürlich auch e<strong>in</strong>e<br />

Dokumentation zu erstellen, <strong>die</strong> ich für sehr wichtig halte, damit auch Sie alle daran partizipieren<br />

und alles für Ihre eigene konkrete <strong>Praxis</strong> <strong>aus</strong>werten können.<br />

Wir werden beraten, welche Konsequenzen dar<strong>aus</strong> zu ziehen s<strong>in</strong>d. Ich habe eben schon gesagt:<br />

Die Landschaftsverbände haben schon Übung, mit <strong>die</strong>ser <strong>Thematik</strong> <strong>der</strong> Zuständigkeit und<br />

<strong>der</strong> unterschiedlichen Rechtsgrundlagen zurechtzukommen, mit Modellprojekten, konzeptionellen<br />

Überlegungen weiterzukommen und <strong>Praxis</strong>erfahrungen zu gew<strong>in</strong>nen.<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

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Wir haben heute e<strong>in</strong> Forum für Innovation eröffnet. Wir s<strong>in</strong>d erst am Anfang <strong>die</strong>ses Weges.<br />

Aber ich b<strong>in</strong> zuversichtlich, dass mit Ihnen, <strong>die</strong> Sie <strong>aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Praxis</strong> kommen, und mit denjenigen,<br />

<strong>die</strong> <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Verwaltung kommen, sowie mit <strong>der</strong> Politik <strong>die</strong>ses wichtige Thema <strong>in</strong> Zukunft gut<br />

weiterbearbeitet wird.<br />

In dem S<strong>in</strong>ne wünsche ich den betroffenen Menschen und uns allen e<strong>in</strong>e glückliche Hand.<br />

Danke schön.<br />

(Lebhafter Beifall)<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

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Anhang:<br />

I. Verzeichnis <strong>der</strong> Referent<strong>in</strong>nen und Referenten<br />

Dorothee Daun<br />

Vorsitzende des Sozial<strong>aus</strong>schusses <strong>der</strong> Landschaftsversammlung Rhe<strong>in</strong>land,<br />

c/o Landschaftsverband Rhe<strong>in</strong>land, Amt 06, Kennedy-Ufer 2, 50679 Köln, post@lvr.de<br />

Gregor Dürbaum<br />

Amtsleitung Jugendamt Kreis Düren,<br />

Kreisverwaltung Düren, Bismarckstr. 16, 52348 Düren, g.duerbaum@kreis-dueren.de<br />

Mart<strong>in</strong>a Hoffmann-Badache<br />

Landesrät<strong>in</strong> des Dezernats Soziales, Integration,<br />

Landschaftsverband Rhe<strong>in</strong>land, Dezernat Soziales, Integration, Hermann-Pün<strong>der</strong>-Str. 1, 50663<br />

Köln, mart<strong>in</strong>a.hoffmann-badache@lvr.de<br />

Michael Mertens<br />

Landesrat des Dezernats Schulen und Jugend,<br />

Landschaftsverband Rhe<strong>in</strong>land, Dezernat Schulen und Jugend, Hermann-Pün<strong>der</strong>-Str. 1, 50663<br />

Köln, michael.mertens@lvr.de<br />

Barbara Mörsch-Müller<br />

Jugendhilfe Rhe<strong>in</strong>land, Rhe<strong>in</strong>ische Erziehungsgruppen Viersen, Büro Köln,<br />

barbara.moersch-mueller@lvr.de<br />

Anne Oberdorfer<br />

Sozial<strong>die</strong>nst kath. Frauen e. V., Wesel, St. Josef-H<strong>aus</strong>, Heim für Eltern und K<strong>in</strong>d,<br />

Sozial<strong>die</strong>nst Kath. Frauen, Wesel, Am Birkenfeld 14, 46485 Wesel, oberdorfer@skfwesel.de<br />

Prof. Dr. Ursula Pixa-Kettner<br />

Lehrgebiet Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>tenpädagogik, Universität Bremen,<br />

Universität Bremen, Fachbereich 12, Sportturm C6170, pixa@uni-bremen.de<br />

Dr. Jürge Rolle<br />

Vorsitzen<strong>der</strong> des Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses <strong>der</strong> Landschaftsversammlung Rhe<strong>in</strong>land,<br />

c/o Landschaftsverband Rhe<strong>in</strong>land, Amt 06, Kennedy-Ufer 2, 50679 Köln, post@lvr.de<br />

Christiane Sprung<br />

Modellprojekt „Begleitende Elternschaft“, MOBILE e. V., Dortmund,<br />

MOBILE Selbstbestimmtes Leben Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ter e.V., Roseggerstr. 36, 44137 Dortmund,<br />

be@mobile-dortmund.de<br />

Susanna Staets<br />

Präventionsprojekt für K<strong>in</strong><strong>der</strong> psychisch kranker Eltern, KIPKEL, Haan,<br />

För<strong>der</strong>kreis Kipkel e.V., Wal<strong>der</strong> Straße 5-7, 42781 Haan, vere<strong>in</strong>@kipkel.de<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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Prof. Dr. Sab<strong>in</strong>e Wagenblass<br />

Fachbereich Sozialwesen, Hochschule Bremen,<br />

Hochschule Bremen, Fakultät 3, Neustadtswall 30, 28199 Bremen,<br />

Sab<strong>in</strong>e.Wagenblass@hs-bremen.de<br />

Prof. Dr. jur. Julia Z<strong>in</strong>smeister<br />

Lehrgebiet Zivil- und Sozialrecht, FH Köln,<br />

Fachhochschule Köln, Ma<strong>in</strong>zer Str. 5, 50678 Köln, julia.z<strong>in</strong>smeister@fh-koeln.de<br />

Son<strong>der</strong>sitzung des Sozial<strong>aus</strong>schusses und des Elternschaft von Menschen mit geistiger<br />

Landesjugendhilfe<strong>aus</strong>schusses vom 12.03.2008 und psychischer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

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