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PDF 45 - Deutsche Sprachwelt

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AUSGABE <strong>45</strong><br />

Herbst 2011<br />

12. Jahrgang – 3<br />

ISSN1439-8834<br />

(Ausgabe für Deutschland)<br />

M<br />

Kostenloser Aufkleber<br />

Bestellen Sie auf Seite 5!<br />

Aufgedrückt<br />

Die Lernhilfe-Verlegerin Karin<br />

Pfeiffer-Stolz nennt Hintergründe<br />

zur geplanten Abschaffung<br />

der Schreibschrift.<br />

Seite 3<br />

Språkförsvaret<br />

Der Sprachwissenschaftler<br />

Frank-Michael Kirsch berichtet<br />

über den Kampf der schwedischen<br />

Sprachschützer gegen<br />

Svengelska und für die Muttersprache.<br />

Seite 4<br />

Sprachrede<br />

Der Schriftsteller Ota Filip hielt<br />

die diesjährige „Rede zur deutschen<br />

Sprache“ über Glanz<br />

und Elend des Exils.<br />

Seiten 6 und 7<br />

Sorben<br />

Kultursenator Dietrich Scholze<br />

berichtet, wie mitten in Deutschland<br />

das sorbische Volk seine<br />

Sprache bewahrt.<br />

Seite 9<br />

Schon gespendet?<br />

it Ihrer Spende sichern Sie nicht nur<br />

die Zusendung der DEUTSCHEN<br />

SPRACHWELT, sondern auch Aktionen<br />

für die deutsche Sprache wie den „Sprachwahrer<br />

des Jahres“ oder die Entwicklung<br />

einer „Straße der deutschen Sprache“.<br />

Unsere Aufgaben wachsen stetig.<br />

Können wir nach einer gewissen Zeit<br />

keine Spende verbuchen, senden wir die<br />

DSW nicht mehr zu, um Kosten zu sparen.<br />

Büchereien, Schulen oder Museen erhalten<br />

die Zeitung weiterhin. Falls Sie also<br />

schon lange nichts mehr gespendet haben<br />

sollten, holen Sie dies bitte möglichst<br />

bald nach, damit Sie nicht versehentlich<br />

aus dem Bezieherkreis ausscheiden.<br />

Falls sich Ihre Anschrift geändert hat<br />

oder Sie die Zeitung nicht mehr möchten,<br />

schreiben Sie am besten an:<br />

bestellung@deutsche-sprachwelt.de<br />

Vielen Dank!<br />

Ihr Verein für Sprachpflege<br />

Von Thomas Paulwitz<br />

J<br />

etzt soll also die Schreibschrift<br />

sterben. Kaum ein Schulfach hat<br />

in den vergangenen Jahrzehnten so<br />

unter „Reformen“ gelitten wie der<br />

Deutschunterricht. Das betrifft gerade<br />

die Grundschulen. Das ist um so verheerender,<br />

da Lesen und Schreiben die<br />

grundlegenden Kulturtechniken sind.<br />

Wie ein roter Faden zieht sich durch<br />

die Umgestaltungen das Versprechen,<br />

alles leichter machen zu wollen. Dabei<br />

sinkt die Qualität, während das<br />

Arbeitspensum eher noch steigt. Für<br />

die Schüler, die bei den Hausaufgaben<br />

schwitzen und die Fehlentscheidungen<br />

der Erwachsenen auszubaden<br />

haben, ist es nicht einfacher, sondern<br />

schwerer geworden. Von den gescheiterten<br />

Reformen lebt ein ganzer Berufszweig<br />

von Nachhilfelehrern und<br />

anderen Reparaturbetrieben der deutschen<br />

Bildungspolitik.<br />

So sollte die Rechtschreibreform das<br />

Schreiben einfacher machen – und hat<br />

dieses Ziel mit Pauken und Trompeten<br />

verfehlt. Doch das Durcheinander der<br />

Neuregelung mit ihren erzwungenen<br />

Nachbesserungen blieb nicht der einzige<br />

Mißgriff. Das „phonetische Schreiben“<br />

zum Beispiel, das in manchen<br />

Bundesländern üblich ist, soll die Lust<br />

am Schreiben fördern, indem Fehler<br />

nicht berichtigt werden – und verhindert<br />

gleichzeitig, daß sich die Grundschüler<br />

die richtige Rechtschreibung<br />

einprägen (vergleiche „Der Jäger wird<br />

zum ‚Jega‘“ in DSW 9, Seite 1).<br />

Heike Schmoll berichtet in der „Frankfurter<br />

Allgemeinen“ über Zuschriften<br />

von Grundschülern. Zur Frage, was<br />

sie an Zeitungen interessant finden,<br />

schrieb eine Viertkläßlerin aus Bremen:<br />

Und ich wörte gerne Reporterin<br />

werden. Es ist nämlich spannt in der<br />

Zeitung zu lesen. Wall das sind spannte<br />

Sachen drin sind.“ Ein anderer Schüler<br />

antwortet: „wall es schbas macht“.<br />

Schmoll fügt hinzu: „Diese Texte sind<br />

keine besonders mißratenen.“ Werden<br />

in zwanzig Jahren solche Texte in der<br />

Zeitung zu lesen sein?<br />

Etwa vier Prozent der Bevölkerung<br />

sind Legastheniker mit einer gene-<br />

Rettet die Schreibschrift!<br />

Eine neue „Reform“ droht, den Bildungsstand weiter zu senken<br />

Erfolge aus der Arbeit der DEUTSCHEN SPRACHWELT<br />

E-Petition:<br />

Arbeitsministerium<br />

überzeugt<br />

Viele folgten dem Aufruf der DEUT-<br />

SCHEN SPRACHWELT und unterstützten<br />

eine Petition an den <strong>Deutsche</strong>n<br />

Bundestag für deutschsprachige<br />

Regierungsberichte. Rund 2 000<br />

Bürger unterschrieben. Nun handelte<br />

das Bundesarbeitsministerium und<br />

antwortete: „Der Forschungsbericht<br />

wird aufgrund des hohen nationalen<br />

Interesses derzeit in die deutsche<br />

Sprache übersetzt und anschließend<br />

wieder ‚online‘ gestellt.“<br />

Siehe Seite 2.<br />

tisch bedingten dauerhaften Lese- und<br />

Rechtschreibschwäche. In Schleswig-<br />

Holstein stellen jedoch nicht Ärzte,<br />

sondern die Schulen selbst die<br />

Legasthenikerscheine aus. Dadurch<br />

sind 13 Prozent aller Schüler als Legastheniker<br />

anerkannt. Deren Rechtschreibleistungen<br />

dürfen nämlich bis<br />

zur zehnten Klasse nicht in die Benotung<br />

einfließen. Danach dürfen sie im<br />

Wörterbuch nachschlagen. Die Wörterbuchverlage<br />

freut’s.<br />

Schritt für Schritt senkten die Kultusminister<br />

zudem den Grundwortschatz,<br />

den ein Kind am Ende der<br />

4. Klasse beherrschen sollte. Heute<br />

beträgt er nur noch 700 Wörter. Das<br />

Ausfüllen von Lückentexten ersetzt<br />

das Schreiben ganzer Sätze. Schulkinder<br />

müssen kaum noch Gedichte<br />

auswendig lernen. Den literarischen<br />

Kahlschlag an deutschen Schulen<br />

bezeichnete der russische Germanist<br />

Lew Kopelew als „Kulturrevolution<br />

wie in China – nur ohne Mao“.<br />

Wie fragwürdig das Senken der Meßlatte<br />

ist, zeigt sich in den verheerenden<br />

Folgen. Die Sprachfähigkeiten<br />

schwinden. Wissenschaftler der Universität<br />

Siegen fanden im Jahr 2004<br />

heraus, daß sich zwischen 1972 und<br />

2002 die Fehlerquote in freien Texten<br />

von Viertkläßlern von durchschnittlich<br />

6,9 auf 12,9 Fehler je 100 Wörter<br />

verdoppelte. In dem standardisierten<br />

Testbogen für Lehrstellenbewerber<br />

bei BASF lag der durchschnittliche<br />

Tag der deutschen Sprache:<br />

Aktion für Schreibschrift<br />

ausgerufen<br />

Zusammen mit anderen Vereinen wie<br />

der Aktion <strong>Deutsche</strong> Sprache (ADS)<br />

rief die DEUTSCHE SPRACHWELT<br />

zum Tag der deutschen Sprache am<br />

10. September die Aktion „Rettet die<br />

Schreibschrift“ aus. Die DSW verteilt<br />

kostenlose Aufkleber und sammelt<br />

Unterschriften. Zahlreiche Medien<br />

berichteten bereits. Der Münchner<br />

Merkur stellte gar die bange Frage:<br />

„Ist das Abendland in Gefahr? Droht<br />

ein neuer Kulturkampf?“<br />

Siehe Seite 3.<br />

Diese Tafel erhalten<br />

Sie von<br />

uns im Format<br />

DIN A8 als<br />

kostenlosen<br />

Aufkleber. Bestellen<br />

Sie ihn<br />

bitte auf Seite<br />

5. Eine Spende<br />

für Druck<br />

und Versand<br />

hilft uns!<br />

Anteil richtiger Lösungen bei den<br />

Hauptschülern 1975 bei 51,0 Prozent,<br />

2008 nur noch 37,6 Prozent. Im selben<br />

Zeitraum ging dieser Anteil bei<br />

den Realschülern von 75,2 auf 58,2<br />

Prozent zurück.<br />

Der neueste Fehltritt ist nun der Versuch,<br />

die Schreibschrift abzuschaffen.<br />

In Umfragen sprechen sich 80<br />

bis 90 Prozent der Befragten gegen<br />

die Abschaffung der Schreibschrift<br />

aus. Dennoch hat es der Grundschulverband<br />

nach jahrelanger zäher Lobbyarbeit<br />

geschafft: Im schulpolitisch<br />

ohnehin angeschlagenen Hamburg ist<br />

es den Schulen ab diesem Schuljahr<br />

freigestellt, ob sie die Schreibschrift<br />

oder nur noch eine Druckschrift unterrichten,<br />

die sogenannte „Grundschrift“.<br />

Dabei gibt es keine einzige<br />

ernsthafte Untersuchung, welche diesen<br />

Schritt rechtfertigen könnte. 16<br />

Grundschulen in Baden-Württemberg<br />

haben in einem Schulversuch die<br />

Schreibschrift aus dem Unterricht<br />

verbannt. Im gesamten Bundesgebiet<br />

sind es rund einhundert Schulen.<br />

Die verantwortlichen Schulpolitiker<br />

sind ohne weiteres dazu bereit, ein<br />

Kulturgut zu opfern. Dies erinnert<br />

an einen – von den Siegermächten<br />

im nachhinein gebilligten – nationalsozialistischen<br />

Erlaß von 1941. Der<br />

Reichserziehungsminister verfügte<br />

damals, die deutsche Schreibschrift<br />

durch die lateinische, die sogenannte<br />

„Normalschrift“ zu ersetzen – ein<br />

Anti-SALE-Aktion:<br />

Modehaus zum<br />

Mitmachen angeregt<br />

Die SALE-Welle überflutet weiterhin<br />

das Land, doch es gibt immer<br />

wieder Ereignisse, die Mut machen.<br />

Sie halten die Hoffnung wach, daß<br />

die sprachliche Unvernunft irgendwann<br />

vorbei ist. So griff in Rostock<br />

das „Modehaus Nikolaus“ im Sommerschlußverkauf<br />

dieses Jahres die<br />

Aktion der DEUTSCHEN SPRACH-<br />

WELT auf und plakatierte in seinen<br />

zahlreichen Filialen: „Schluß mit dem<br />

Ausverkauf der deutschen Sprache“.<br />

Siehe Seite 12.<br />

tiefer Kulturbruch. Es geht aber um<br />

noch viel mehr, nämlich darum, daß<br />

Kinder in ihrer geistigen Entwicklung<br />

gezielt behindert werden sollen.<br />

Die bekannte Schreiblehrerin<br />

Ute Andresen weist auf die wichtige<br />

Bedeutung des Schreibenlernens<br />

hin: „Schreibschrift lernen ist mehr<br />

als das Verketten von Buchstaben<br />

zu Informationen; es enthält motorische<br />

und ästhetische Lernvorgänge<br />

und fokussiert das Denken.“ Untersuchungen<br />

zeigen, daß Schüler, die<br />

sich keine fließende Handschrift angeeignet<br />

haben, häufig zu einseitig<br />

und oberflächlich denken. Mit anderen<br />

Worten: Wer die Schreibschrift<br />

abschafft, riskiert den funktionalen<br />

Analphabetismus.<br />

Der Präsident des Lehrerverbandes,<br />

Josef Kraus, sagt voraus: „Die Lesbarkeit<br />

wird sich nicht verbessern,<br />

sondern deutlich verschlechtern, weil<br />

jeder Schüler die Buchstaben so verbindet,<br />

wie es ihm Spaß macht. Auch<br />

das Schreibtempo wird sich deutlich<br />

verlangsamen. Dazu strengt Druckschrift<br />

die Kinder viel mehr an, weil<br />

sie für jeden Buchstaben den Stift<br />

kurz anheben müssen. Pädagogisch<br />

ist das eine Bankrotterklärung, ein<br />

Irrweg. Ich hoffe sehr, daß sich die<br />

anderen Länder dem Hamburger Modell<br />

nicht anschließen werden.“<br />

Daß der Wahnsinn auf Hamburg<br />

beschränkt bleibt, dürfen wir bezweifeln.<br />

Auch andere Bundesländer<br />

experimentieren bereits mit<br />

der Grundschrift. Deren Verfechter<br />

geben sich siegesgewiß: „Wir sind<br />

sicher, daß die Grundschulreferentinnen<br />

und -referenten der anderen<br />

Bundesländer uns auch unterstützen<br />

werden.“ Bei der Durchsetzung soll<br />

ein Taschenspielertrick helfen. Die<br />

„Grundschrift“ wird dabei nicht als<br />

Druckschrift, sondern einfach als<br />

neue Schreibschrift verkauft, schließlich<br />

„werden ja die Buchstaben beim<br />

Schreiben in der Luft miteinander<br />

verbunden“, wie es allen Ernstes in<br />

einem Papier heißt.<br />

So scheint es nur eine Frage der Zeit<br />

zu sein, bis andere Kultusministerien<br />

einknicken. In dieser Lage wirkt der<br />

Vorschlag des sächsischen Kultusministers<br />

Robert Wöller befreiend. Der<br />

Minister forderte, zehn Jahre lang<br />

alle Schulreformen auszusetzen. Er<br />

wünscht sich an jedes Klassenzimmer<br />

das Schild: „Bitte nicht stören. Laßt<br />

die Lehrer einfach ihre Arbeit machen.“<br />

Mit anderen Worten: Nur keine<br />

Reform wäre eine echte Reform.<br />

Helfen Sie mit! Sammeln Sie Unterschriften,<br />

bekennen Sie Farbe!<br />

Versorgen Sie sich dazu mit unseren<br />

kostenlosen Aufklebern (Seite 5).<br />

Fordern Sie bei uns Unterschriftenlisten<br />

an. Mit Ihrer Unterschrift fordern<br />

Sie die Kultusminister dazu auf,<br />

dafür zu sorgen, daß an den Schulen<br />

weiterhin Schreibschrift unterrichtet<br />

wird. Verhindern wir gemeinsam die<br />

Abschaffung der Schreibschrift!<br />

Unsere Aktionsseite:<br />

www.facebook.de/Schreibschrift


Seite 2 Leserbriefe<br />

Endlich Klartext<br />

Zum Beitrag „Deutschland schafft seine Sprache ab“ (Teil 1) von Wolfgang<br />

Hildebrandt in DSW 44, Seite 3<br />

E<br />

ndlich redet jemand Klartext<br />

und fragt die Englischpropagandisten<br />

unserer Republik nach<br />

ihren eigentlichen Absichten. Damit<br />

haben Sie mir aus der Seele gesprochen.<br />

Zu den Sprachsündern gehören<br />

auch Klaus Wowereit mit „Be Berlin“<br />

und Ex-Ministerin Christa Thoben<br />

mit dem teuren englischen Werbespruch<br />

für NRW, den sie billiger<br />

und besser aus der DEUTSCHEN<br />

SPRACHWELT übernommen hätte<br />

(nämlich „Land mit Energie“). Eine<br />

D<br />

Leser-Umfrage würde gewiß noch<br />

mehr abstoßende Beispiele liefern.<br />

Hoffentlich stellen sich die kritisierten<br />

Wissenschaftler und Politiker<br />

endlich der öffentlichen Diskussion,<br />

anstatt auszuweichen, indem sie ihre<br />

Kritiker notorisch als deutschtümelnde<br />

Deppen von gestern abtun. Das<br />

progressive Mäntelchen sollte man<br />

den unpatriotischen Meinungsmachern<br />

ausziehen. Sie nutzen es als<br />

Tarnkappe.<br />

Josef Fliegner, Leverkusen<br />

Überspannt<br />

Zum inflationären Gebrauch des Wortes „spannend“<br />

ie deutsche Sprache ist so vielfältig!<br />

Um einen Zustand oder<br />

ein Objekt zu beschreiben, gibt es<br />

zahlreiche Wörter. In unserer Presselandschaft<br />

– besonders im Rundfunk<br />

– kennt man jedoch nur noch ein Wort,<br />

und das heißt „spannend“! Dieses<br />

Wort „spannend“ wird in Reiseberich-<br />

<strong>Deutsche</strong>r Werberat<br />

10873 Berlin<br />

Sehr geehrter Herr G.,<br />

ten, Reportagen, Erzählungen und so<br />

weiter immer wieder und wieder gebraucht.<br />

So wird die deutsche Sprache<br />

vergewaltigt und vereinfacht. Das liegt<br />

jedoch leider im Trend der professionellen<br />

Sprachbenutzer. Der Trend heißt<br />

„vereinfachen“. Das ist sehr schlecht!<br />

Lothar Kädtler, Wesseling<br />

Liebe Leser!<br />

Was hat Ihnen gefallen? Was hätten wir<br />

besser machen können? Worauf sollten<br />

wir stärker eingehen? Schreiben Sie uns,<br />

wir freuen uns auf Ihre Meinung! Auch<br />

wenn wir nicht jeden Brief beantworten<br />

und veröffentlichen können, so werten<br />

wir doch alle Zuschriften sorgfältig aus.<br />

Bei einer Veröffentlichung behält sich<br />

die Redaktion das Recht vor, sinnwah-<br />

rend zu kürzen. Auf diese Weise wollen<br />

wir möglichst viele Leser zu Wort kommen<br />

lassen. Schreiben Sie bitte an:<br />

DEUTSCHE SPRACHWELT<br />

Leserbriefe<br />

Postfach 1449, D-91004 Erlangen<br />

schriftleitung@deutsche-sprachwelt.de<br />

Gedenkt dem<br />

Genitiv!*<br />

O guter, edler Genitiv, wie fern bist<br />

du entschwunden!<br />

Mit Dativ und Verhältniswort hat man<br />

Ersatz gefunden,<br />

zum Beispiel: Wir gedenken „an“,<br />

statt wir gedenken „wessen“.<br />

Das predigte ich meinem Sohn. Auch<br />

der hat’s nicht gefressen<br />

Claus Ritterling, Leipzig<br />

*Richtig wäre: „Gedenkt des Genitivs!“.<br />

Ist Berlinern unfein?<br />

Zum Berlinischen erreichten uns<br />

weitere Zuschriften<br />

um Leserbrief „Jelernt, nich je-<br />

Z worden“ von Wolfgang A. Lauterbach<br />

in DSW 44, Seite 2: Darin<br />

hieß es: „Man ‚berlinert‘ nicht, man<br />

‚balinat‘“. Man berlinert doch! In Berlin<br />

wird „er“ gerne zu „a“, aber nicht<br />

im Wort Berlin! Außerdem weiß der<br />

echte Berliner, daß berlinern unfein<br />

ist. Det könnse mia jloben, wenn ick<br />

det saje. Vielleicht bin ich allerdings<br />

doch kein echter Berliner, meine vier<br />

Großeltern sind zugezogen, aus verschiedenen<br />

Gegenden Deutschlands.<br />

Jedoch bin ich mit dem Leserbrief<br />

nicht einverstanden.<br />

Klaus Krause, Berlin<br />

B<br />

alina Schulstunde (1941/42):<br />

Kinna, ick werd euch jetzt den<br />

Unnaschied zwischen rundem und<br />

scharfem „S“ erklären. Also: Det det,<br />

det man mit runden „S“ schreibt, det<br />

is det det, det in dem Satz vorkommt:<br />

„Det reechnjet“. Aber det det, det<br />

man mit scharfem „S“ schreibt, det<br />

is det det, det in dem Satz vorkommt:<br />

„Schade, det det reechnjet“.<br />

Prof. Dipl.-Ing. Karlheinrich Tinti,<br />

Leoben<br />

Briefe an uns und unsere Leser<br />

(Rechtschreibung im Original)<br />

<strong>Deutsche</strong>r Werberat: Vermeidung von Anglizismen wäre „künstlich“<br />

… Der von Ihnen gerügte Gebrauch<br />

der englischen Sprache in der Werbung<br />

ist eine Zeiterscheinung, die<br />

der Werberat, die selbstdisziplinäre<br />

Einrichtung der <strong>Deutsche</strong>n Werbewirtschaft,<br />

nicht unterbinden kann.<br />

Der <strong>Deutsche</strong> Werberat schreitet<br />

allerdings dann gegen eine werbliche<br />

Maßnahme ein, wenn sie gegen<br />

die herrschenden gesellschaftlichen<br />

Grundüberzeugungen verstößt. Maßgeblich<br />

hierfür ist die inhaltliche<br />

Aussage einer werblichen Maßnahme<br />

und nicht allein die Verwendung<br />

von Anglizismen.<br />

Es ist auch nicht die Aufgabe der Werbung,<br />

Sprachpflege zu betreiben. Im<br />

Übrigen ist die Werbesprache nur die<br />

Reflektion dessen, was in der Gesellschaft<br />

passiert. Wer ein Produkt bewirbt,<br />

der blickt auf die Gesellschaft,<br />

ermittelt, wie gesprochen wird, welche<br />

Trends dort vorherrschen. Darauf muss<br />

man sich spiegelbildlich einstellen. Die<br />

Werbung einer Firma spricht spezielle<br />

Gruppen an, bei denen sie ein Interesse<br />

an ihrem Angebot voraussetzt. Jüngere<br />

oder junge Leute etwa pendeln beruflich<br />

ständig zwischen Englisch und Deutsch<br />

hin und her, so dass nicht ausgeschlossen<br />

werden kann, dass schon mit entsprechenden<br />

Vokabeln – auch Anglizismen<br />

– Ausdruck von Modernität und<br />

Zukunftsorientierung durch die werbenden<br />

Unternehmen vermittelt wird.<br />

Der Werberat befürwortet, dass die<br />

deutsche Sprache lebendig und offen<br />

gehalten, dass ihre Integritätskraft [!]<br />

nicht unterschätzt wird. Dazu gehört,<br />

dass derjenige, der sich mit seinen<br />

Waren und Dienstleistungen bewirbt,<br />

das Recht und die betriebswirtschaftliche<br />

Pflicht hat, auf die jeweils aktuellen<br />

Sprachgewohnheiten Rücksicht<br />

zu nehmen, sonst wird er seine Zielgruppen<br />

nicht erreichen, weil dort<br />

eine künstliche Sprache außerhalb<br />

des Alltags nicht akzeptiert wird.<br />

Im Übrigen möchten wir darauf verweisen,<br />

dass die Verwendung der<br />

englischen Sprache – sollte sie einmal<br />

tatsächlich überflüssig sein – zuvorderst<br />

dem werbenden Unternehmen<br />

selbst Schaden zufügt. Eine werbli-<br />

che Botschaft, die von den Adressaten<br />

nicht verstanden bzw. akzeptiert<br />

wird, wirkt sich in diesem Sinne also<br />

unmittelbar negativ für das werbende<br />

Unternehmen aus. Es kann davon ausgegangen<br />

werden, dass solche Maßnahmen<br />

dann in Zukunft auch nicht<br />

mehr geschaltet werden. Dies ist jedoch<br />

eine Entscheidung, die allein die<br />

werbenden Firmen zu treffen bzw. zu<br />

vertreten haben. Der Werberat jedenfalls<br />

kann nicht allein an der formellen<br />

Tatsache, dass in englischer Sprache<br />

geworben wird, Anstoß nehmen.<br />

Gleichwohl danken wir für Ihren<br />

Hinweis und verbleiben mit freundlichen<br />

Grüßen<br />

Katja von Heinegg<br />

Bundesarbeitsministerium: Forschungsbericht wird jetzt ins <strong>Deutsche</strong> übersetzt<br />

Bundesministerium<br />

für Arbeit<br />

und Soziales<br />

53107 Bonn<br />

2. August 2011<br />

Sehr geehrter Herr H.,<br />

vielen Dank für Ihr Schreiben vom<br />

22. Juli 2011 an Frau Bundesmini-<br />

Anton Schlecker<br />

Im Schleckerland<br />

Talstraße 14<br />

89579 Ehingen (Donau)<br />

1. September 2011<br />

Sehr geehrter Herr Dr. W.,<br />

zunächst vielen Dank für Ihre engagierte,<br />

durch die kleine Unterschriftensammlung<br />

bekräftigte Zuschrift,<br />

die unser neues Unternehmensmotto<br />

„FOR YOU. VOR ORT.“ kritisiert.<br />

Persönlich kann ich das nachvollziehen,<br />

denn als Geisteswissenschaftler<br />

fühle auch ich mich im privaten<br />

sterin Dr. Ursula von der Leyen. Frau<br />

Ministerin hat mich gebeten, Ihr<br />

Schreiben zu beantworten. Ihre kritischen<br />

Anmerkungen im Schreiben<br />

zur englischsprachigen Veröffentlichung<br />

des Forschungsberichtes FB<br />

400 „Elektromagnetische Felder am<br />

Arbeitsplatz“ habe ich zur Kenntnis<br />

genommen.<br />

Der Originaltext des Forschungsberichts<br />

wurde durch ein ehrenamtliches<br />

Expertengremium des Bundesministeriums<br />

für Arbeit und Soziales<br />

in englischer Sprache erarbeitet.<br />

Der Bericht dient dem Ministerium<br />

Schlecker: Unsere Kunden haben niedriges Bildungsniveau<br />

Sprachgebrauch der Stiltugend der<br />

Latinitas verpflichtet und sehe die<br />

Bestrebungen des Vereins <strong>Deutsche</strong><br />

Sprache mit großem Wohlwollen.<br />

Um jedoch die Position des Unternehmens<br />

Schlecker zu verstehen, lade<br />

ich Sie ein, Ihre Perspektive zu wechseln<br />

und die Sache aus unternehmerischem<br />

Blickwinkel zu betrachten.<br />

Schlecker hat nach einem neuen Unternehmensmotto<br />

gesucht. Dieses<br />

Motto sollte die durchschnittlichen<br />

Schlecker-Kunden, die niederen<br />

bis mittleren Bildungsniveaus zuzuordnen<br />

sind, ansprechen. Wir haben<br />

renommierteste Marketing- und<br />

Marktforschungsagenturen beauftragt,<br />

unter diesen Gesichtspunkten<br />

eine optimale Parole für uns zu finden.<br />

Der so zustande gekommene<br />

als wissenschaftliche Grundlage für<br />

fachliche Diskussionen mit anderen<br />

EU-Mitgliedstaaten sowie mit europäischen<br />

und internationalen Experten<br />

im Rahmen der Überarbeitung<br />

der EU-Arbeitsschutz-Richtlinie<br />

2004/40/EG „Elektromagnetische<br />

Felder“. Der FB 400 wurde auf mehreren<br />

europäischen und internationalen<br />

Fachkonferenzen vorgestellt und<br />

ist in den betroffenen Fachkreisen<br />

auf große Resonanz gestoßen. Die<br />

Zugriffszahlen auf die entsprechende<br />

Internetseite des Ministeriums bestätigten<br />

ebenfalls das hohe Interesse<br />

der Fachwelt.<br />

Vorschlag „FOR YOU. VOR ORT.“<br />

machte am Ende vor allem deshalb<br />

das Rennen, weil er beim für unsere<br />

Haupt-Zielgruppen repräsentativen<br />

Testpublikum am besten abschnitt.<br />

Dies lag nicht zuletzt daran, dass er<br />

durch sein provokant kalauerndes<br />

Denglisch im Gedächtnis hängen<br />

bleibt und gleichzeitig kontroversen<br />

Gesprächsstoff liefert. Mit einer rein<br />

deutschen, sprachrichtigen Formulierung<br />

würden diese Effekte verloren<br />

gehen. Wir geben Ihnen daher<br />

zweierlei zu bedenken: Zweck eines<br />

Werbespruchs ist nicht, einen Beitrag<br />

zur Bereicherung oder Reinhaltung<br />

der deutschen Sprache zu liefern; die<br />

Zielgruppe unseres Werbespruchs<br />

sind auch nicht die vielleicht 5% der<br />

Bevölkerung, zu denen Sie und Ihre<br />

Mitunterzeichner gehören (nämlich<br />

Ich habe aber jetzt Anfragen zum<br />

Anlass genommen, den Bericht vorerst<br />

von der Webseite zu nehmen.<br />

Der Forschungsbericht wird aufgrund<br />

des hohen nationalen Interesses<br />

derzeit in die deutsche Sprache<br />

übersetzt und anschließend wieder<br />

„online“ gestellt.<br />

Mit freundlichem Gruß<br />

Wolfgang Doll<br />

promovierte Akademiker, Philologen<br />

und andere reflektierte Sprachverwender)<br />

– sondern die übrigen 95%.<br />

Die Funktion eines Werbespruchs ist<br />

es, in dieser breiten Masse der Bevölkerung<br />

nachhaltig positive Aufmerksamkeit<br />

zu erregen.<br />

Wir nehmen Ihren Protest also mit<br />

Sympathie zur Kenntnis, müssen Ihnen<br />

aber gleichzeitig mitteilen, dass<br />

wir aus den dargelegten Gründen<br />

„FOR YOU. VOR ORT.“ nicht infrage<br />

stellen und bitten dafür um Ihr<br />

geschätztes Verständnis.<br />

Mit freundlichen Grüßen<br />

Florian Baum M. A.<br />

(Leiter Unternehmenskommunikation)<br />

<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>45</strong>_Herbst 2011<br />

Sprachkultur im Kanzleramt<br />

„Wenn ich so eine Scheiße höre wie<br />

Gewissensentscheidung.“<br />

(Kanzleramtsminister Ronald Pofalla<br />

laut „Frankfurter Allgemeiner Sonntagszeitung“<br />

vom 2. Oktober 2011)<br />

BRD<br />

<br />

Mein Gott, wie ändern sich die Zeiten –<br />

Was ist nur los mit der Natur?<br />

Nun wächst sogar in unsren Breiten<br />

Die gelbe Frucht in „Rhein-Kultur“<br />

Man schaut verdutzt auf die Plantagen,<br />

So weit das Auge reicht,<br />

Und kämpft mit härteren Bandagen<br />

Bis der AnStand völlig weicht.<br />

Das rüde Klima macht den Wandel<br />

Möglich, und die UnMoral<br />

Dominiert nicht nur den Handel;<br />

Moral gilt längst als abnormal!<br />

Wir leben im Bananen-Land<br />

Und sind unendlich tüchtig,<br />

Die Korruption nimmt überhand …<br />

Bananen machen süchtig!<br />

AnMerkelung:<br />

Staunend blicken unsre Ahnen,<br />

Statt auf Kartoffeln – auf Bananen.<br />

Günter B. Merkel, Wilhelmsfeld<br />

Einstieg in die dichterische Merkelwelt:<br />

Günter B. Merkel: Große Sprüche vom<br />

gnadenlosen Dichter, SWP-Buch-Verlag,<br />

Wilhelmsfeld 2007, 128 Seiten, fester Einband,<br />

9,50 Euro. Bestellung unter Telefon<br />

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Gegründet im Jahr 2000<br />

Erscheint viermal im Jahr<br />

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Die jährliche Bezugsgebühr beträgt 10 Euro.<br />

Für Nicht- und Geringverdiener ist der Bezug<br />

kostenfrei. Zusätzliche Spenden sind sehr<br />

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Wiener Straße 80, A-3580 Horn<br />

Namentlich gekennzeichnete Artikel geben<br />

nicht unbedingt die Meinung der<br />

Redaktion wieder. Das gilt besonders für<br />

Leserbriefe.<br />

Die 46. Ausgabe erscheint zu Weihnachten<br />

2011. Redaktions- und Anzeigenschluß<br />

sind am 11. November 2011.


<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>45</strong>_Herbst 2011 Hintergrund<br />

Seite 3<br />

Von Karin Pfeiffer-Stolz<br />

M<br />

al ehrlich: Würden Sie in<br />

Holzpantoffeln zu einem<br />

Wettlauf antreten? Sie halten das für<br />

eine dumme Frage? Etwas vergleichbar<br />

Dummes wird jedoch zur Zeit für<br />

das schulische Lernen vorgeschlagen<br />

und ist kurz davor, auf politischem<br />

Wege verwirklicht zu werden. So<br />

manchem dürfte noch nicht hinreichend<br />

klar sein, was mit der „Grundschrift“<br />

auf die Schule zukommt.<br />

Den Fuß hat sie bereits in der Hamburger<br />

Tür. Aktuelle Umfragen haben<br />

gezeigt, daß knapp 90 Prozent der<br />

Befragten gegen diese neue Druckschrift<br />

sind und für die Beibehaltung<br />

der Schreibschrift. Wie jedoch die<br />

Erfahrung zeigt, werden politische<br />

Entscheidungen zunehmend gegen<br />

den erklärten Willen der Betroffenen<br />

durchgeboxt. Bereits lange bevor<br />

überhaupt öffentliche Diskussionen<br />

geführt werden, sind hinter den Kulissen,<br />

still und gänzlich demokratiefern,<br />

Geschäfte angebahnt und<br />

Verträge geschlossen worden. Wenn<br />

es ums Geld geht, dann ist der Volkswille<br />

bloß lästiger Störfaktor.<br />

Ehe Sie sich von harmonisch tönender<br />

Propaganda wohlig davontragen<br />

lassen, stellen Sie sich bitte einige<br />

der folgenden Fragen: Worum geht<br />

es? Wer hat Interesse an der Durchsetzung?<br />

Welche Argumente werden<br />

gebraucht? Ist das Interesse wirtschaftlicher<br />

Art? Welche Nachteile<br />

gibt es? Was wird verschwiegen?<br />

Gibt es neutrale Untersuchungen und<br />

Praxiserfahrungen? Wird wirklich<br />

etwas Neues gebraucht? Wieviel Zeit<br />

wird es kosten? Wer bezahlt es?<br />

Die zähe Lobbyarbeit eines in Frankfurt<br />

ansässigen Interessenverbandes<br />

beginnt Früchte zu tragen: Der Grundschulverband<br />

e.V., dessen ideelle Wurzeln<br />

in die 1968er-Zeit zurückreichen,<br />

hat erreicht, daß in Hamburg ab dem<br />

kommenden Schuljahr wieder einmal<br />

eine neue Retortenschrift für den<br />

Schreibunterricht zugelassen wird:<br />

die „Grundschrift“, wie sie von den<br />

Reformern genannt wird. Um der zu<br />

erwartenden Kritik den Wind aus den<br />

Segeln zu nehmen, kleben die Frankfurter<br />

der Verkaufspackung ein vom<br />

Inhalt ablenkendes Mogeletikett auf.<br />

Die „Grundschrift“ sei keine Druckschrift,<br />

sondern eine Schreibschrift.<br />

Hamburgs Schüler befinden sich also<br />

in derselben Lage wie Sportler, denen<br />

die Trainer moderne Pantinen<br />

verordnen, mit denen man angeblich<br />

schneller und besser läuft als in<br />

den altmodischen Turnschuhen. Die<br />

Druckschrift ist für die Hand ungefähr<br />

dasselbe, was der Holzpantoffel<br />

für den Fuß ist. Nun ja, es wird wohl<br />

nichts klappern beim Schreiben. Das<br />

aber auch nur, weil sich Schreibstottern<br />

akustisch nicht bemerkbar<br />

macht. Beim Schreiben längerer<br />

Texte in Druckschrift dürften sich<br />

die Finger lautlos verkrampfen und<br />

bloß auf Papier sichtbare Spuren in<br />

Form von Buchstabenverknotungen<br />

hinterlassen. Aussagekräftiges<br />

Bildmaterial von bis zur Blutleere<br />

verkrampften Schreibhänden liefert<br />

der Grundschulverband selbst in<br />

seinem vereinseigenen Netzauftritt.<br />

Dennoch wirbt der Vorsitzende des<br />

Grundschulverbandes, Horst Bartnitzky,<br />

für die neue Schrift: „Damit<br />

Kinder besser schreiben lernen!“<br />

Ob wir es mögen oder nicht, so gut<br />

wie alle Dinge, von denen wir um-<br />

Schreiben wie in Holzpantoffeln<br />

Grundsätzliche Gedanken zur geplanten Abschaffung der Schreibschrift<br />

geben sind, dienen einem speziellen<br />

Zweck. Nicht illusionäres Wünschen<br />

und Wollen, sondern die zweckgebundene<br />

Verwendung dieser Dinge<br />

macht deren eigentlichen Wert aus.<br />

Auch ein noch so lobbymächtiger<br />

Grundschulverband wird an dieser<br />

Tatsache nichts ändern. Der Holzpantoffel<br />

bleibt ein Holzpantoffel,<br />

auch wenn hundert Dummköpfe<br />

damit Marathon laufen. Bedauerlicherweise<br />

gilt das auch für die<br />

Druckschrift. Die Druckschrift ist<br />

die ideale Schrift zum Zwecke des<br />

mechanischen Druckens. Für die<br />

Hand gibt es die Schreibschrift. Deren<br />

Buchstabengestalt hat sich im<br />

Verlaufe der Schriftgeschichte allmählich<br />

ökonomisch geformt. Miteinander<br />

verbundene Buchstaben<br />

erwiesen sich als bestgeeignetes Medium<br />

für handgeschriebene Texte.<br />

Schreibschrift ermöglicht fließendes,<br />

schnelles Schreiben. Schreibschrift<br />

ist keine Druckschrift, sie besitzt andere<br />

Buchstabenformen.<br />

Wenn nun ein Interessenverband<br />

der gutmütigen Kundschaft mittels<br />

semantischer Verdunkelung die<br />

Einzellettern der Druckschrift als<br />

Handschrift verkaufen will, dann<br />

ist dies schon mehr als eine bloße<br />

Dummheit, es ist Chuzpe aus rein<br />

wirtschaftlichem Interesse. Was ist<br />

von den Argumenten zu halten, mit<br />

welchen der Grundschulverband,<br />

allen voran dessen Vorsitzender, der<br />

betroffenen Öffentlichkeit die neue<br />

Druckschrift schmackhaft machen<br />

will? „Die Grundschrift als handgeschriebene<br />

Druckschrift ist die erste<br />

Schreibschrift der Kinder“ (Horst<br />

Bartnitzky). Übertragen in die Holzpantoffelmetapher<br />

heißt das: „Der<br />

Grundpantoffel als lauftüchtiger<br />

Holzpantoffel ist der erste Laufschuh<br />

der Sportler.“ Mittels rhetorischer<br />

Gymnastik wird die Quadratur des<br />

Kreises bemüht.<br />

Die Schrift ist ein Medium, das<br />

Schreiben hingegen ein Prozeß. Die<br />

Schrift selbst besteht aus Buchstaben,<br />

die eine spezifische Form aufweisen,<br />

nach der die jeweilige Schrift<br />

benannt ist: Druckschrift, wenn der<br />

Zweck das (mechanische) Drucken<br />

ist. Schreibschrift, wenn der Zweck<br />

die handschriftliche Verwendung<br />

ist. So einfach ist das. Das versteht<br />

jeder. Man kann eine Schreibschrift<br />

mechanisch drucken, und trotzdem<br />

bleibt das visuelle Ergebnis eine<br />

Schreibschrift. Umgekehrt kann eine<br />

Druckschrift jederzeit mit der Hand<br />

nachgeschrieben werden; auch chinesische<br />

Bildzeichen können wir<br />

manuell schreiben. Die Schreibhandlung<br />

aber macht weder aus den<br />

chinesischen Zeichen noch aus der<br />

Druckschrift eine Schreibschrift.<br />

Diese Banalität kann gar nicht oft<br />

genug wiederholt werden, da die<br />

rührigen Vertreter des Grundschulverbandes<br />

nicht müde werden, wider<br />

jede Logik zu behaupten, aus der<br />

Druckschrift werde – Abrakadabra –<br />

durch zweckfremden Gebrauch eine<br />

Schreibschrift. Listig werden zwei<br />

unterschiedliche Tatsachen semantisch<br />

vermengt: der Begriff „Schrift“<br />

wird wahlweise für die Buchstabenform<br />

oder für den Vorgang der „Niederschrift“,<br />

also den Schreibprozeß,<br />

verwendet. Daraus entstehen sinnwidrige<br />

Behauptungen, die Tatsachen<br />

stehen auf dem Kopf. In der politischen<br />

Diskussion ist dies eine belieb-<br />

te Methode zur geistigen Verwirrung<br />

der Wählerschaft. Intellektuell ist sie<br />

unredlich. Offensichtlich hat man im<br />

Grundschulverband von Anfang an<br />

befürchtet, daß die mit schulbehördlichem<br />

Segen vorangetriebene Abschaffung<br />

der Schreibschrift bei der<br />

Mehrheit der Verantwortlichen, also<br />

bei Eltern und Lehrern, auf heftige<br />

Ablehnung stoßen würde. Den Beleg<br />

dafür liefert ein erstaunlich offenherziges<br />

Eingeständnis des Vorsitzenden<br />

Barntnitzky: „Da der Begriff ,Druckschrift‘<br />

gemeinhin mit dem Vorgang<br />

des Druckens verbunden wird, suchten<br />

wir einen anderen Begriff für<br />

die handgeschriebenen Druckbuchstaben.<br />

… Wir wählten den Begriff<br />

Grundschrift.“<br />

Die perfekten, mechanisch geformten<br />

Druckschriftlettern, die bislang ohne<br />

irgendwelche Nachteile an Schulen<br />

verwendet wurden, sind dem Grundschulverband<br />

ein Dorn im Auge.<br />

Geht es nach dem Willen der Reformer,<br />

so werden den Schülern im<br />

Unterricht demnächst vervielfältigte<br />

handgeschriebene Druckbuchstaben<br />

vorgesetzt. Eine „handgeschriebene“<br />

Druckschriftvorlage muß her, aber<br />

nicht irgendeine! Fortschrittlicher<br />

Unterricht muß offenbar bürokratisch<br />

überwacht werden, damit ein hohes<br />

wissenschaftliches Niveau erreicht<br />

wird. Der Grundschulverband hat<br />

vorgesorgt: Er bietet Materialpakete<br />

mit den handgeschriebenen Druckvorlagen<br />

zum Preis von 39 Euro feil.<br />

Ein solcher Werbekniff muß einem<br />

erst einmal einfallen!<br />

Alles wird auf den Kopf gestellt.<br />

Während für die Schulkinder alle<br />

möglichen Freiheiten gelten, sollen<br />

sich deren Lehrer nach einer stren-<br />

gen Norm richten. Die Lehrperson<br />

bekommt die Anweisung, im Schreibunterricht<br />

keinesfalls die exakten<br />

Buchstabenformen sowie eine ökonomische<br />

Schreibbewegung zu unterrichten.<br />

Das ist Nichtunterricht<br />

der allerfeinsten Sorte! Jede Einmischung<br />

in den Lernprozeß der Kinder<br />

beeinträchtige nämlich den Lernerfolg.<br />

Grobe pädagogische Fehler<br />

seien zum Beispiel das Vorgeben der<br />

Schreibrichtung oder das Verwenden<br />

von Linien als Hilfe zum Einüben<br />

der unterschiedlichen Größenverhältnisse<br />

bei Buchstabenformen. Auf<br />

liniertes Papier müsse unbedingt verzichtet<br />

werden, denn ganz frei, ganz<br />

ungebunden entwickle sich die ideale<br />

Handschrift! Völlig unverzeihlich<br />

sei außerdem der Lehrerhinweis auf<br />

Verletzungen der orthographischen<br />

Norm. Aber das ist heute keinen<br />

Aufreger mehr wert. Seit 1996 weiß<br />

ohnehin kaum noch jemand, was in<br />

der Rechtschreibung verletzt werden<br />

könnte. Die „Grundschrift“ zeigt<br />

sich hier als ideale Ergänzung der sogenannten<br />

Rechtschreibreform.<br />

Einige Regeln zum Schreiben gibt<br />

Bartnitzky uns dann doch mit auf<br />

den Weg: „Beim kleinen a oder d<br />

könnte zuerst rechts der Abstrich geschrieben,<br />

dann nach links der Bauch<br />

ergänzt werden.“ Wo immer es geht,<br />

aber ja doch. Geneigter Leser, jetzt<br />

sind Sie dran. Holen Sie sich ein Blatt<br />

Papier, schreiben Sie die Druckbuchstaben<br />

„a“ und „d“ in der eben geschilderten<br />

Weise mehrmals hintereinander<br />

auf. Schreiben Sie dann, so<br />

flüssig und flott wie möglich, weiter.<br />

Nicht vergessen: zuerst den Abstrich,<br />

entweder von oben nach unten, oder<br />

umgekehrt, und danach den neckischen<br />

„Bauch“: bald, da, Rad, Bana-<br />

Die DSW in der Presse<br />

Die Nachrichtenagentur dpa meldete am 9. September 2011:<br />

Sprachschützer für Erhaltung<br />

der Schreibschrift<br />

rlangen (dpa) – Sprachschützer haben sich zum „Tag der <strong>Deutsche</strong>n<br />

Sprache“ an diesem Samstag (10. September) für eine Bewahrung der<br />

Schreibschrift ausgesprochen. Diese müsse auch künftig in den Grundschulen<br />

gelehrt werden, forderte der Herausgeber der Zeitung „<strong>Deutsche</strong><br />

<strong>Sprachwelt</strong>“, Thomas Paulwitz, am Freitag in Erlangen. Sie sei ein Abbild<br />

der deutschen Sprache und von hoher kultureller Bedeutung. Die „<strong>Deutsche</strong><br />

<strong>Sprachwelt</strong>“ habe daher unter dem Motto „Rettet die Schreibschrift“<br />

gemeinsam mit anderen Vereinen eine Unterschriftenaktion gestartet. Außerdem<br />

sollen kostenlos Aufkleber mit der Aufschrift „Schreibschrift ist<br />

schön!“ verteilt werden. Hintergrund der Aktion sei eine Neuregelung in<br />

Hamburg. Dort stehe es den Grundschulen seit dem Schuljahr 2011/12<br />

frei, ob sie die bisherige Schreibschrift oder die sogenannte Grundschrift<br />

unterrichteten. Auch in Baden-Württemberg und Bayern erprobten einzelne<br />

Schulen die Grundschrift. Gegen diese Entwicklung wendeten sich die<br />

Sprachschützer. Mit Blick auf die Erfahrungen aus der Rechtschreibreform<br />

warnen sie die Kultusminister vor einem „weiteren schulpolitischen Mißgriff“.<br />

Die Grundschrift orientiert sich stark an der Druckschrift.<br />

Dirk Walter schrieb am 12. September 2011 im Münchner Merkur:<br />

Sorge um Abschaffung<br />

der Schreibschrift<br />

st das Abendland in Gefahr? Droht ein neuer Kulturkampf? Der Appell<br />

der Zeitschrift „<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>“ (Erlangen) klingt jedenfalls<br />

dramatisch: „Rettet die Schreibschrift“ heißt die Kampagne, die Thomas<br />

Paulwitz vom Verein für Sprachpflege zusammen mit einigen anderen Organisationen<br />

gestartet hat. Anlaß war der Tag der deutschen Sprache am<br />

vergangenen Samstag. An 100 Schulen bundesweit werde schon eine neue<br />

Grundschrift erprobt, warnen die Sprachschützer. „Wer die Schreibschrift<br />

abschafft, gibt nicht nur ein wertvolles Kulturgut auf, sondern behindert<br />

auch die geistige Entwicklung der Kinder.“<br />

ne, darauf. Nun? Klappt es? Man darf<br />

davon ausgehen, daß sich die von der<br />

Kinderhand auf Papier hinterlassenen<br />

Buchstaben zu lustigen Haufen<br />

zusammenballen, die an alle möglichen<br />

Phantasiegebilde erinnern, bloß<br />

nicht an Schrift.<br />

Merke: Beliebigkeitspädagogik ist<br />

schlechte Pädagogik. Ob es intelligenten<br />

Kindern Spaß macht, wenn<br />

sie schreiben sollen, wie sie möchten,<br />

ist mehr als fraglich. Kinder haben<br />

den Wunsch zu lernen, wie man<br />

es richtig macht. Sie wollen nicht<br />

selbst entdecken, was sie mangels<br />

Erfahrung gar nicht wissen können.<br />

Die Zurückhaltung der Erwachsenen<br />

werden sie als Gleichgültigkeit interpretieren<br />

und damit den Eindruck<br />

gewinnen, daß die Schreib- und<br />

Lesekunst nicht wichtig und daher<br />

wertlos sei. Schriftkultur muß gepflegt<br />

werden, sonst verfällt sie.<br />

Allen schmerzhaften Erfahrungen<br />

zum Trotz gibt es immer wieder Personen,<br />

die das Rad abschaffen und<br />

neu erfinden wollen. Pädagogische<br />

Reformen sind meist steuergeldfinanziert,<br />

und daher einflußreicher<br />

und durchsetzungskräftiger als Ideen,<br />

die aus der Praxis selbst erwachsen,<br />

aber keine Lobby haben. Für eventuelle<br />

negative Folgen ihres Tuns sind<br />

die staatlich unterstützten Reformer<br />

nicht verantwortlich, im öffentlichen<br />

Bereich ist Haftungspflicht so gut<br />

wie unbekannt.<br />

Der Grundschulverband stellt die<br />

forsche Behauptung auf, die Schreibschrift<br />

sei „historisch überholt“<br />

(Bartnitzky). Bei genauem Hinsehen<br />

wird deutlich, daß die traditionelle<br />

Schreibschrift der flächendeckenden<br />

und lukrativen Vermarktung des<br />

eigenen Schriftproduktes im Wege<br />

steht. Sollte die „Grundschrift“ tatsächlich<br />

die bessere Alternative sein,<br />

dann wird sie sich im freien Wettbewerb<br />

auf dem pädagogischen Markt<br />

behaupten, ohne dafür die Politik<br />

als Erfüllungsgehilfe einspannen<br />

zu müssen. Pädagogische Probleme<br />

können nur mit pädagogischen Mitteln<br />

gelöst werden, nicht aber mit politischen!<br />

Die fortlaufenden Verstöße<br />

gegen diesen Grundsatz sind Hauptursache<br />

für die dauernden Unruhen<br />

an den Schulen und den daraus resultierenden<br />

Leistungsverfall im Lesen,<br />

Schreiben und Rechnen.<br />

„Schluß mit dem Schriftenwirrwar!“<br />

tönt es aus Frankfurt. Und als Maßnahme,<br />

die selbst den Schildbürgern<br />

zur Ehre gereichen würde, wird just<br />

das getan, was man beklagt: Man<br />

vergrößert die Verwirrung und fügt<br />

zu den bereits bestehenden Schriften<br />

eine weitere hinzu. Ja, Schluß<br />

damit! Schluß mit der Reformitis<br />

an unseren Schulen! Schluß mit<br />

der penetranten Einmischung von<br />

außen! Laßt unsere Kinder endlich<br />

unbehelligt lernen! Laßt unsere Lehrer<br />

endlich in Ruhe unterrichten!<br />

Sie wissen am besten, wie das geht.<br />

Sie brauchen keine Holzpantoffel-<br />

und Druckschriftvertreter, die sich<br />

ständig in ihre Arbeit einmischen.<br />

Sie brauchen alle Zeit der Welt für<br />

sich selbst und ihre gar nicht einfache<br />

Aufgabe, den Schülern wider<br />

den strammen Gegenwind des Zeitgeistes<br />

von Oberflächlichkeit und<br />

Hedonismus ein wenig Bildung zu<br />

vermitteln. Eine neue Druckschrift?<br />

Nein danke. Es reicht!


Seite 4 Ausland<br />

Von Frank-Michael Kirsch<br />

S<br />

pråkförsvaret – Verteidigung<br />

der Sprache – heißt der schwedische<br />

Schwesterverband der deutschen<br />

Sprachvereine. Aktiv sind wir<br />

als Mitglieder auf drei Feldern: Wir<br />

versuchen das Schwedische vor der<br />

Expansion des Englischen zu schützen.<br />

Wir treten ein für das Erlernen<br />

von Fremdsprachen über das Englische<br />

hinaus. Und wir stützen die<br />

nordischen Nachbarsprachen und<br />

den Gebrauch von Schwedisch in<br />

Finnland.<br />

Wenn ich meinen schwedischen Mitstreitern<br />

vom Werbespruch „Come<br />

in and find out“ und der wunderbar<br />

pragmatischen Übersetzung durch<br />

deutsche Kunden, „Komm rein und<br />

finde wieder heraus“, erzähle, lächeln<br />

sie verstehend. Wenn aus „Powered<br />

by emotions“ „Kraft durch Freude“<br />

wird, ist auch dem Letzten klar:<br />

Englisch als Werbeträger hat eigene,<br />

ungeahnte, meist gegenteilige Wirkungen.<br />

Das ist in Schweden nicht<br />

anders. Als der Flugplatz Kramfors/<br />

Sollefteå in „High Coast Airport“<br />

umbenannt werden sollte, protestierten<br />

die Einwohner: Statt an die<br />

Weltkulturerbe-Landschaft „Hohe<br />

Küste“ erinnere die Bezeichnung an<br />

„high cost“, und was teuer klinge, sei<br />

kontraproduktiv. Warum dann nicht<br />

gleich auch noch den nahegelegenen<br />

Fluß „Ångermanälven“ in „Regret<br />

Man River“ umbenennen?<br />

Svengelska<br />

Was in Deutschland Denglisch heißt,<br />

ist für Schweden svengelska: eine<br />

Mischung aus Schwedisch, svenska,<br />

und Englisch, engelska. Es gibt sie<br />

auch hier zuhauf: jene Informatik-<br />

Spezialisten, Geschäftsführer, Politiker<br />

und leider auch Hochschullehrer,<br />

die ihren muttersprachlichen<br />

Minderwertigkeitskomplex hinter<br />

phrasendurchtränkten Anglizismen<br />

verstecken. Nicht immer ist es so einfach,<br />

die Attitüde als Aufschneiderei<br />

und Abgehobenheit abzutun wie bei<br />

jenem einstigen deutschen Ministerpräsidenten,<br />

der gerade erst das Englische<br />

als künftige Verkehrssprache<br />

der <strong>Deutsche</strong>n ausgerufen hatte und<br />

dann bei YouTube in seiner neuen<br />

Anzeige<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Vitamin-D-Mangel ist die Ursache<br />

vieler Erkrankungen und kann zu<br />

Muskelschmerzen führen, zu<br />

Krämpfen, Zuckungen, zu Schlafstörungen,<br />

Unruhe, Erschöpfung,<br />

Depressionen, Rücken- und Kopfschmerzen,<br />

Kältegefühl in Händen<br />

und Füßen sowie Kreislauf- und<br />

Durchblutungsstörungen.<br />

Gesund in sieben Tagen<br />

Taschenbuch, 118 Seiten 14,80 Euro<br />

Portofreier Versand in Deutschland<br />

Hygeia-Verlag www.hygeia.de<br />

Fax: 0351- 476 46 05 Tel.: - 421 66 18<br />

Das Schwedische verteidigen<br />

„Språkförsvaret“ kämpft gegen Sprachflucht und „Svengelska“<br />

EU-Funktion zur englisch radebrechenden<br />

Lachnummer aufstieg.<br />

Schweden sprechen gemeinhin ein<br />

passables Englisch. 1946 löste es<br />

Deutsch als erste Fremdsprache in<br />

der Schule ab. Und wenn es nach<br />

Marian Radetzki geht, einem Professor<br />

für Wirtschaftswissenschaften,<br />

der Jahr für Jahr Raum<br />

in den Medien erhält,<br />

sollte Schweden nun<br />

Englisch als neue Muttersprache<br />

einführen.<br />

Das dauere nur zwei<br />

Generationen lang und<br />

brächte Vorteile ungeahnten<br />

Ausmaßes. Der Mann meint<br />

das ernst! Ich versprach ihm in einem<br />

Beitrag für „Dagens Nyheter“, die<br />

größte schwedische Tageszeitung,<br />

die Idee an einige deutsche Kabarettisten<br />

weiterzuleiten. Sie gehöre<br />

nach Absurdistan, wenngleich selbst<br />

dessen Bürger nicht so beschränkt<br />

wären, ihr Absurdistanisch aufzugeben.<br />

Eine schwedische Kollegin von<br />

Språkförsvaret schrieb, der Professor<br />

polnischer Herkunft möge doch die<br />

Idee, um seiner selbst willen ganz<br />

vorsichtig nur, einmal in Polen äußern.<br />

Gefiele sie dort, dürfe er gern<br />

weiterwandern und Deutschland und<br />

Frankreich damit beglücken.<br />

Von Deutsch zu Englisch<br />

Anders als in Deutschland ist das<br />

Englische in Schweden im Alltag<br />

ständig gegenwärtig. Sieht man<br />

abends fern, kann es passieren, daß<br />

die zwei staatlichen Kanäle, die bezeichnenderweise<br />

„Public Service“<br />

heißen, und die drei größten Privatanstalten<br />

allesamt angloamerikanische<br />

Programme im Original, mit<br />

schwedischen Untertiteln, zeigen.<br />

Per Landin, seinerzeit Kulturredakteur<br />

bei „Dagens Nyheter“, prägte<br />

den immer wahrer werdenden Satz,<br />

Schweden sei das amerikanisierteste<br />

Land der Welt, mit den USA als guten<br />

Zweiten.<br />

Schwedens Rolle während des Zweiten<br />

Weltkrieges bereitete dafür den<br />

Boden. Mit Schuldgefühlen im Nakken,<br />

„verstießen wir in Schweden<br />

nach dem Krieg in kürzester Zeit das<br />

deutsche Erbe“ – so der Ständige Sekretär<br />

der Schwedischen Akademie,<br />

Peter Englund, unlängst in seiner Begrüßungsansprache<br />

vor über einhundert<br />

Gästen der <strong>Deutsche</strong>n Akademie<br />

für Sprache und Dichtung in Stockholm.<br />

„Der Prozeß verlief unnötig<br />

schroff“, so Englund weiter. „Während<br />

man sich in Deutschland auf die<br />

Zeit vor dem Nationalsozialismus<br />

besann, den Wert klassischer Bildung<br />

und der Geschichte betonte, nahmen<br />

wir in Schweden Abstand von AL-<br />

LEM, was an das deutsche Kulturerbe<br />

erinnerte … Die großen Lücken,<br />

die der Verlust des <strong>Deutsche</strong>n riß,<br />

sind einer der Gründe für das rasante<br />

Tempo des Anglifizierungsprozesses<br />

gerade in Schweden.“<br />

Fehlende Deutschkenntnisse behindern<br />

die Ausfuhr<br />

Dieser Prozeß reißt Bewährtes mit<br />

sich und stellt Dinge auf den Kopf.<br />

Die zuweilen mit näselnder Oberlehrerhaftigkeit<br />

vorgetragene Empfehlung,<br />

die <strong>Deutsche</strong>n mögen sich<br />

doch nun auch des Englischen befleißigen,<br />

wirkt etwas deplaziert,<br />

sieht man sich die Handelsbilanz<br />

Etwa 8,5 Millionen Menschen sprechen Schwedisch als Muttersprache. Davon<br />

leben 8 Millionen in Schweden. Seit dem 1. Juli 2009 verpflichtet ein schwedisches<br />

Gesetz alle staatlichen Stellen dazu, die schwedische Sprache zu verwenden<br />

und zu entwickeln. In Finnland ist Schwedisch auf nationaler Ebene<br />

mit Finnisch gleichberechtigte Amtssprache. Aufgrund der Sprachverwandtschaft<br />

können sich Schweden mit Norwegern und Dänen in der Regel gut verständigen.<br />

Der „Språkrådet“ (Sprachenrat) ist Schwedens amtliche Stelle für<br />

Sprachpflege. Daneben gibt es „Språkförsvaret“ (Verteidigung der Sprache)<br />

als private Einrichtung.<br />

mit Schwedens größtem Handelspartner<br />

Deutschland einmal genauer<br />

an. Der Regel, wolle man verkaufen,<br />

sollte man die Sprache des Kunden<br />

sprechen, kann man nicht mehr Folge<br />

leisten, denn weniger als 1.000<br />

Studenten lernen noch Deutsch.<br />

Der Umfang des schwedischen Exports<br />

nach Deutschland ist nur halb<br />

so groß wie umgekehrt. Fehlende<br />

Sprachkenntnisse behindern Exportmöglichkeiten.<br />

Man versteht Angebote<br />

nicht mehr, umgeht Telefonate<br />

und traut sich nicht, Rückfragen zu<br />

beantworten.<br />

Deutsch wird hier amtlich „Kleinsprache“<br />

genannt, wie übrigens auch<br />

die weltweit zweitgrößte Sprache<br />

Spanisch, wie Französisch, Russisch<br />

und Polnisch. Man verwechselt Größe<br />

und Einfluß von Weltsprachen mit<br />

der Zahl derer, die sie in Schweden<br />

noch beherrschen. Die Auffassung,<br />

schließlich reiche Englisch doch aus,<br />

wird von zahlreichen schwedischen<br />

Entscheidungsträgern mal offen<br />

und mal hinter vorgehaltener Hand<br />

vertreten. Das Gegenteil beweisen<br />

Forschungen wie die von der EU<br />

in Auftrag gegebene ELAN-Studie<br />

(„Auswirkungen mangelnder Fremdsprachenkenntnisse<br />

in den Unternehmen<br />

auf die europäische Wirtschaft“,<br />

2006) oder die Dissertation des<br />

schwedischen Wirtschaftsforschers<br />

Kjell Ljungbo „Language as a Leading<br />

Light to Business Cultural Insight“,<br />

Stockholm 2010.<br />

Ohne Språkförsvaret gäbe es kein<br />

Sprachgesetz<br />

Bei dieser Ausgangslage wird verständlich,<br />

daß die Mitglieder unserer<br />

kleinen, aber feinen und äußerst<br />

schlagkräftigen Organisation „Språkförsvaret“<br />

mehr als genug zu tun haben.<br />

Ohne uns gäbe es noch heute<br />

kein Gesetz, das Schwedisch als Nationalsprache<br />

festschreibt. Allerdings<br />

ist die Durchsetzung dieses Gesetzes<br />

ein nicht endenwollender Hürden-,<br />

um nicht zu sagen Spießrutenlauf.<br />

Nimmt der gemeinhin selbstherrlich<br />

entscheidende Justizombudsmann<br />

eine Klage einmal an und gibt tatsächlich<br />

dem Kläger recht, ist noch<br />

lange nicht gesagt, daß sich etwas<br />

ändert. Beispiel dafür sind die nach<br />

wie vor nur in englischer Sprache<br />

vorhandenen E-Post-Anschriften der<br />

gesamten schwedischen Regierung<br />

und ihrer Instanzen.<br />

Manch ein Mitglied von Språkförsvaret<br />

ist inzwischen der kräftezehrende<br />

und schier endlos scheinende Kampf<br />

mit der Bürokratie leid. Ein Gesetz,<br />

das zahm ist wie eine Schoßkatze,<br />

ist als Bollwerk gegen das mit brachialer<br />

Gewalt in alle Lebenssphären<br />

eindringende und das Schwedische<br />

häufig verdrängende Englisch nun<br />

einmal wenig geeignet.<br />

Es gibt andere Mittel und Wege, die<br />

schwedische Sprache zu verteidigen.<br />

Schwedischkundigen Lesern sei der<br />

vom Vorsitzenden Per-Åke Lindblom<br />

hingebungsvoll gepflegte Netzauftritt<br />

www.sprakforsvaret.se empfohlen.<br />

Er ist ein Spiegel der schwedischen<br />

Gesellschaft und einer Sprache, die<br />

heute um ihr Existenzrecht kämpfen<br />

muß. Diese Rolle ist ihr, die in ihrer<br />

jüngeren Geschichte Unterdrückung<br />

und darauffolgenden Widerstand nie<br />

erfahren hat, fremd.<br />

Beherzter Widerstand<br />

Um so ungezügelter, spontan, beherzt<br />

und voller Unbefangenheit ist<br />

dieser Widerstand. Da gibt es die<br />

Krankenschwester, die sieht, daß die<br />

von der Krankenhausleitung vorgeschriebenen<br />

englischsprachigen Formulare<br />

weder von den Ärzten noch<br />

von den Patienten verstanden werden<br />

und Zeitverluste wie Fehlbehandlungen<br />

zur Folge haben, was sie nun öffentlich<br />

macht. Da gibt es die Schwedischlehrerin,<br />

die beklagt, daß ihre<br />

Schüler modeprägende Phänomene<br />

aus dem Englischen ins Schwedische<br />

übertragen, wo sie sinnhemmend<br />

oder gar sinnlos wirken.<br />

<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>45</strong>_Herbst 2011<br />

Da ist der englische Ingenieur Jonathan<br />

Smith, der seinen schwedischen<br />

Kollegen erklärt, warum er sich weigert,<br />

das Schwedische, das weltberühmte<br />

Forscher wie Carl von Linné,<br />

Svante Arrhenius, Anders Celsius und<br />

Alfred Nobel sprachen und schrieben,<br />

zu opfern: „Die großen, weltbekannten<br />

Unternehmen, die noch<br />

vor nur einigen Jahren ganzheitlich<br />

schwedische Organsationen waren,<br />

werden nun in rasendem Tempo in<br />

wurzellose globale ‚brands‘ umfunktioniert,<br />

wozu ihnen hastig ein<br />

englisches Sprachkleid übergestreift<br />

wird. Dies zu tun, meine ich, kommt<br />

schwerwiegendem Verrat gleich, einem<br />

nationalen Selbstmord, initiiert<br />

von den höchsten ‚Stützen‘ der Gesellschaft.“<br />

Urkunden für Sprachbewahrer<br />

und Sprachsünder<br />

Språkförsvaret verleiht im Monatsrhythmus<br />

Urkunden an Unternehmen<br />

und Personen, die die schwedische<br />

Sprache pflegen und weiterentwikkeln.<br />

Kampagnen wie jene der „Library<br />

Lovers“ – ausgehend von den<br />

schwedischen Volksbibliotheken,<br />

die die schriftlichen Zeugnisse der<br />

nationalen Kultur verwalten sollen –<br />

erhalten dagegen „Tummen ner“-Diplome:<br />

ein Daumen, der nach unten<br />

zeigt, verbunden mit einer Begründung<br />

für die öffentlich zur Schau gestellte<br />

Wahl.<br />

Als Mitglieder von Språkförsvaret<br />

engagieren wir uns überdurchschnittlich<br />

häufig in den Medien zu<br />

Fragen der Mutter- und Fremdsprachen<br />

im Alltag, im Wirtschaftsleben<br />

und im Ausbildungssektor. Nicht zuletzt<br />

erarbeiteten wir einen Vorschlag<br />

für eine angemessene Sprachpolitik<br />

an schwedischen Universitäten und<br />

Hochschulen und reichten diesen bei<br />

den entsprechenden parlamentarischen<br />

und Regierungsinstanzen ein.<br />

Bald erscheint das erste Buch unseres<br />

Verbandes mit ausgewählten Beiträgen<br />

seiner Mitglieder aus sechs<br />

Jahren Verbandsarbeit.<br />

Eine der gelungensten Veranstaltungen<br />

von Språkförsvaret war unlängst<br />

ein öffentliches Seminar mit EU-<br />

Dolmetschern. Schweden – und zuweilen<br />

Dänemark –, so hieß es, gebe<br />

in der EU das wenigste Geld für Dolmetschleistungen<br />

in die Muttersprache<br />

aus. Das hat Folgen. Politiker<br />

halten Reden auf englisch, denen der<br />

Nuancenreichtum der Muttersprache<br />

fehlt. Jene Reden werden dann<br />

in andere Sprachen gedolmetscht,<br />

zuweilen mit Anfragen der Kollegen<br />

an die schwedische Kabine,<br />

was der oder die Abgeordnete denn<br />

meine. Schließlich wird der Text von<br />

Übersetzern auch ins Schwedische<br />

übertragen. So landet er dann bei<br />

schwedischen Behörden, die einst<br />

dem Politiker zuarbeiteten. Die Angestellten<br />

wundern sich zuhauf, daß<br />

Brüssel schwedische Verhältnisse<br />

einfach nicht versteht.<br />

Prof. Dr. Frank-Michael Kirsch ist<br />

Professor für Deutsch und lehrt Skandinavistik.<br />

Außerdem ist Kirsch Mitglied<br />

bei Språkförsvaret. Seit 1991<br />

lebt und arbeitet er in Schweden.<br />

www.sprakforsvaret.se<br />

sprakforsvaret@sprakforsvaret.se


<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>45</strong>_Herbst 2011 Hintergrund<br />

Seite 5<br />

Von Wolfgang Hildebrandt<br />

mfragen erinnern uns immer<br />

U wieder daran, daß die Mehrheit<br />

des deutschen Volkes die inflationäre<br />

Übernahme von Anglizismen<br />

ablehnt. Besonders deutlich zeigte<br />

dies eine Umfrage der Meinungsforscher<br />

von „infratest“ aus dem Jahr<br />

2006. Das Nachrichtenmagazin „Der<br />

Spiegel“ hatte sie in Auftrag gegeben.<br />

66 Prozent der Befragten waren demnach<br />

der Ansicht, daß englische Ausdrücke<br />

im <strong>Deutsche</strong>n „im großen und<br />

ganzen überflüssig“ seien. Lediglich<br />

27 Prozent empfanden sie als Bereicherung.<br />

Sogar 74 Prozent antworteten<br />

mit „Ja“ auf die folgende Frage:<br />

„Sollten die <strong>Deutsche</strong>n deutsch-englische<br />

Mischwörter wie ‚brainstormen‘<br />

oder ‚Automaten-Guide‘ im<br />

Sprachgebrauch vermeiden?“<br />

Einer Allensbach-Umfrage vom<br />

April 2008 zufolge sind 65 Prozent<br />

der <strong>Deutsche</strong>n der Ansicht, daß die<br />

deutsche Sprache immer mehr zu<br />

verkommen droht. Ein Jahr später<br />

veröffentlichte das Institut für deutsche<br />

Sprache eine repräsentative<br />

Untersuchung zu Spracheinstellungen<br />

in Deutschland. Demnach meinen<br />

78 Prozent der <strong>Deutsche</strong>n, daß<br />

mehr für die deutsche Sprache getan<br />

werden sollte.<br />

Betrachten wir diese Zahlen, dann<br />

taucht folgerichtig die Frage auf,<br />

wie unter diesen Umständen ein solches<br />

Mißverhältnis entstehen kann:<br />

Einerseits pfropfen uns die Medien<br />

in zunehmenden Maße Angloamerikanismen<br />

auf, andererseits hat sich<br />

jedoch noch immer keine Massenbewegung<br />

formiert, um sich dagegen<br />

aufzulehnen. Immerhin handelt<br />

Unterstützen Sie bitte die <strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>!<br />

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Überweisung<br />

Bitte nutzen Sie den beigelegten Zahlschein<br />

(Bankverbindungen umseitig).<br />

Bank<br />

Einzugsermächtigung<br />

Zur Erhaltung der DEUTSCHEN SPRACHWELT<br />

möchte ich den Verein für Sprachpflege e. V.<br />

regelmäßig unterstützen. Darum ermächtige ich<br />

diesen Verein,<br />

einmalig - vierteljährlich - halbjährlich - jährlich<br />

Nichtzutreffendes bitte durchstreichen<br />

einen Betrag von Euro<br />

von meinem Konto abzubuchen.<br />

Diese Einzugsermächtigung kann ich jederzeit<br />

widerrufen.<br />

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Meine Anschrift Postfach 1449, D-91004 Erlangen, bestellung@deutsche-sprachwelt.de<br />

Name, Vorname<br />

Straße<br />

Dauerauftrag<br />

Bitte deutlich schreiben!<br />

Deutschland schafft seine Sprache ab<br />

Teil 2: Psychologische Hintergründe der fehlenden Sprachtreue<br />

es sich bei den genannten Bevölkerungsanteilen<br />

um über 50 Millionen<br />

Menschen! Eine Antwort auf diese<br />

Frage ist nur möglich, wenn wir den<br />

Mut haben, psychologische Hintergründe<br />

aufzuspüren.<br />

Nicht nur die vielen „echten“ englisch-amerikanischen<br />

Wörter und<br />

deren Falschanwendungen (Handy,<br />

Beamer, Oldtimer), sondern auch die<br />

vielen bizarren pseudo-englischen<br />

Mißbildungen (Mobbing, Slow<br />

Food, Talkmaster) zeugen von einer<br />

gewissen Sehnsucht, sich an die Sieger<br />

zweier Weltkriege anzulehnen.<br />

In einigen Bundesländern müssen<br />

sich Polizeibeamte mittlerweile wie<br />

amerikanische „Cops“ kleiden. Eine<br />

Fernsehserie im ZDF heißt sogar<br />

„Die Rosenheim-Cops“.<br />

Hinzu kommt die ständige Berieselung<br />

durch amerikanische Filme<br />

und Musik sowohl im Fernsehen als<br />

auch im Hörfunk. Dies alles führt zu<br />

einem völlig verzerrten Amerikabild.<br />

Das Volk nimmt an „American<br />

Weekends“ teil und besucht Feste<br />

mit Cowboy-Hüten, Cheerleaders,<br />

Line-dance, Squaredance und American<br />

Football. Musikgruppen spielen<br />

Stücke, die aus Stilrichtungen<br />

wie Soul, Heavy Metal, Country,<br />

Blues und Southern Rock zusammengesetzt<br />

sind. In Kultur, Wissenschaft,<br />

Sprache und Lebensweise<br />

gehen wir also eine immer engere<br />

Verbindung mit den USA ein; je<br />

geringer der Bildungsstand und das<br />

Bewußtsein, desto stärker.<br />

Jens Jessen, der das Feuilleton der<br />

Wochenzeitung „Die Zeit“ leitet,<br />

Bezug – kostenlos!<br />

Einfacher Bezug: Bitte senden Sie mir regelmäßig<br />

kostenlos und unverbindlich die DEUTSCHE<br />

SPRACHWELT. Ich verpflichte mich zu nichts. Bei Gefallen<br />

werde ich spenden. Ich kann sie jederzeit abbestellen.<br />

Mehrfachbezug: Ich habe die Gelegenheit, die<br />

DEUTSCHE SPRACHWELT auszulegen, um für<br />

die deutsche Sprache zu werben (z. B. Arztpraxis, Friseursalon,<br />

Museum). Bitte schicken Sie mir daher von jeder<br />

neuen Ausgabe _____ Stück.<br />

Frühere Ausgaben – kostenlos!<br />

______ x DSW-Nummer ______<br />

______ x DSW-Nummer ______<br />

______ x DSW-Nummer ______<br />

Geburtsdatum<br />

Postleitzahl und Ort<br />

meinte zu diesem Phänomen: „In<br />

den Anglizismen zeigt sich keine<br />

Unterlegenheit des <strong>Deutsche</strong>n,<br />

wohl aber ein Unterlegenheitsgefühl<br />

der <strong>Deutsche</strong>n. … Wenn man die<br />

<strong>Deutsche</strong>n von Amerikanismen abbringen<br />

wollte, müßte man sie auch<br />

von der Bewunderung für Amerika<br />

abbringen“ („Die Zeit“ 11/2001).<br />

In einem späteren Beitrag („Die<br />

Zeit“ 31/2007) schreibt Jessen: „Es<br />

lohnt sich, bei der Psychologie des<br />

Sprachimporteurs zu verweilen. Es<br />

ist nicht deutscher Selbsthaß, der ihn<br />

antreibt, wie manche Sprachschützer<br />

meinen. Der Sprachimporteur ist<br />

vor allem ein Marketingexperte in<br />

eigener Sache. Er will angeben mit<br />

der frisch erworbenen Kenntnis, er<br />

kehrt ins verschnarchte Dorf seines<br />

Ursprungs zurück und brilliert dort<br />

im Glanze seiner Glasperlen, die er<br />

den zurückgebliebenen Landsleuten<br />

andrehen will.“<br />

Ein interessanter Aspekt, doch handelt<br />

es sich bei der Anglizismenhuberei<br />

wirklich nur um die Auswüchse<br />

einzelner Verkäufer und Vermarkter,<br />

die uns etwas andrehen wollen?<br />

Auch wenn viele jetzt protestieren,<br />

an dieser Stelle muß Jessen widersprochen<br />

werden: Hilfreich bei der<br />

Hinwendung nach Amerika waren<br />

und sind der vorauseilende Gehorsam<br />

und die Unterwürfigkeit sowie<br />

der mangelnde Bürgermut vieler<br />

<strong>Deutsche</strong>r. Diese Gegebenheiten<br />

hindern sie, sich dem Zeitgeist und<br />

somit dem weiteren Sprachverfall<br />

entgegenzustellen. Wie oft hörte ich<br />

schon den Satz: „Ja, die Franzosen<br />

– die lassen sich nichts gefallen, die<br />

tun etwas!“ Doch auf meine Nach-<br />

Werbematerial – kostenlos!<br />

______ x Faltblatt „Rettet die deutsche Sprache“<br />

______ x Aufkleber „Schluß mit dem Ausverkauf“<br />

gegen SALE (9,5 x 14,5 cm)<br />

______ x Aufkleber „Freie Fahrt“ gegen Denglisch<br />

(5,2 x 7,4 cm)<br />

______ x Aufkleber „Schreibschrift ist schön!“<br />

(5,2 x 7,4 cm)<br />

Die Aufkleber sind witterungsbeständig (Abbildungen umseitig)<br />

frage, was sie selbst denn unternähmen,<br />

ernte ich bloß Schulterzucken<br />

und löchrige Ausreden.<br />

Der amerikanische Journalist David<br />

Binder äußerte sich im Nachrichtenmagazin<br />

der Spiegel“ (2/1998)<br />

verwundert: „Dabei überrascht<br />

mich nach wie vor die Loyalität der<br />

<strong>Deutsche</strong>n gegenüber Amerika, die<br />

an Unterwürfigkeit grenzt … Die<br />

Ironie liegt darin, daß uns Amerikanern<br />

… die deutsche Ehrerbietung<br />

völlig schnuppe ist. Allein das<br />

Gegenteil würde uns beunruhigen.“<br />

Der britische Kriegspremier Winston<br />

Churchill meinte bekanntlich,<br />

die <strong>Deutsche</strong>n habe man „entweder<br />

an der Gurgel oder zu Füßen“. Und<br />

die „London Times“ schrieb schon<br />

im Jahr 1960, bei der Haltung der<br />

(West-)<strong>Deutsche</strong>n handele es sich<br />

um eine sprachliche Unterwürfigkeit<br />

(„linguistic submissiveness“). Sie<br />

glaubten nicht mehr, so die „Times“<br />

weiter, „daß Deutsch eine der großen<br />

Sprachen der Welt ist. Auch<br />

ihre Sprache scheint 19<strong>45</strong> eine Niederlage<br />

erlitten zu haben.“ Dieser<br />

Zustand hat sich seit dem Befund<br />

der „Times“ vor fünfzig Jahren offenkundig<br />

nicht verbessert, sondern<br />

eher verschlimmert.<br />

Durch die Bereitschaft vieler Bürger,<br />

die Welt durch die angloamerikanische<br />

Brille zu sehen, wächst<br />

schleichend die Verachtung für<br />

die Muttersprache und damit das<br />

Bedürfnis, sich allmählich aus ihr<br />

wegzustehlen. Für diese Menschen<br />

ist die Bezeichnung von neuen wie<br />

auch von alten Dingen mit englischen<br />

Bezeichnungen ein Zwang.<br />

Bitte senden Sie die DEUTSCHE SPRACHWELT auch an:<br />

Bitte deutlich schreiben!<br />

1<br />

Name, Vorname<br />

Straße, Postleitzahl und Ort<br />

2<br />

Name, Vorname<br />

Straße, Postleitzahl und Ort<br />

3<br />

Name, Vorname<br />

Straße, Postleitzahl und Ort<br />

4<br />

Name, Vorname<br />

Straße, Postleitzahl und Ort<br />

5<br />

Name, Vorname<br />

Straße, Postleitzahl und Ort<br />

6<br />

Name, Vorname<br />

Straße, Postleitzahl und Ort<br />

Sie empfinden das <strong>Deutsche</strong> offenbar<br />

als Nazi-Dialekt und glauben,<br />

sich mit Denglisch selbst entnazifizieren<br />

zu können; frei nach dem<br />

Motto „Lieber ein halber Ami als<br />

ein ganzer Nazi“, wie es einst Walter<br />

Krämer ausdrückte, Gründer und<br />

Vorsitzender des Vereins <strong>Deutsche</strong><br />

Sprache.<br />

Dies ist die moderne (Zeitgeist-)<br />

Form des Selbsthasses und der Verleugnung<br />

der eigenen Identität. Dabei<br />

sollten wir nicht vergessen, daß<br />

Selbsthaß der Zwillingsbruder des<br />

Fremdenhasses ist! Diese Menschen<br />

sind Opfer und Täter zugleich, denn<br />

sie manipulieren, ohne zu begreifen,<br />

wem sie gehorchen. Sie fühlen sich<br />

als Gut- und Fortschrittsmenschen<br />

und merken nicht, daß sie Marionetten<br />

in einem korrupten System sind.<br />

Denn die Angloamerikanismen fallen<br />

nicht vom Himmel, sie werden<br />

gezielt in unsere Sprache gelenkt.<br />

Dahinter verbergen sich wirtschaftliche<br />

Interessen und somit das Kapital,<br />

das die Politik bestimmt. Und<br />

diesem Kapital ist die deutsche<br />

Sprache nicht teuer, sondern – viel<br />

zu teuer. Es braucht den genormten<br />

und verblödeten Verbraucher, den es<br />

sich durch eine Teletubby-Sprache<br />

schafft.<br />

Können die Bildungseinrichtungen<br />

dieser sprachzerstörerischen Entwicklung<br />

entgegensteuern oder ist<br />

für sie der Zug schon längst abgefahren?<br />

Fortsetzung folgt.


Seite 6<br />

Von Ota Filip<br />

V<br />

ertreibungen, Verbannungen<br />

und auch das Morden von unbequemen<br />

Dichtern sind seit eh und<br />

je Bestandteil einer jeden Geschichte<br />

eines totalitären oder despotischen<br />

Regimes. Der freie Geist und das frei<br />

geschriebene Wort hatten es immer<br />

schwer, sie wurden – und werden<br />

heute noch – in vielen Teilen unserer<br />

Erde viel konsequenter und brutaler<br />

verfolgt als gewöhnliche Kriminelle,<br />

die ja „nur“ betrügen, klauen, überfallen<br />

und morden, also im Prinzip<br />

keinen geistigen Keimboden für berechtigte<br />

Revolutionen, für notwendige,<br />

ein unterjochtes Volk von der<br />

Last eines Diktators befreiende Umstürze,<br />

darstellen. …<br />

„Das Exil ist eine Krankheit, sie erfaßt<br />

den Geist, das Gemüt, häufig<br />

auch den Körper. Zu sehr ist der Emigrant,<br />

der Jahre oder Jahrzehnte in<br />

der weiten, fremden Welt verbracht<br />

hat, seinem Ursprung entfremdet“,<br />

schrieb Hilde Spiel. Wahrscheinlich<br />

sind wir alle, die in der Fremde leben,<br />

hier schreiben, verlegen oder<br />

versuchen, verlegt zu werden, von einer<br />

uralten Exilkrankheit angesteckt,<br />

deren Symptome von Ausbrüchen<br />

einer weinerlichen Nostalgie über<br />

Selbstmitleid bis zu einem selbstzerstörerischen<br />

Zynismus reichen.<br />

Auch nach langen Jahren werde ich<br />

in der Bundesrepublik Deutschland<br />

immer wieder mit der Frage belästigt,<br />

ob ich mich in der Fremde nicht<br />

entwurzelt fühle und ob ich meine<br />

Verwurzelung in der heimatlichen<br />

tschechisch-mährischen Erde nicht<br />

vermisse. Man erwartet von mir eine<br />

sentimental-melancholische, weinerliche<br />

Antwort etwa in dem Sinne,<br />

daß ich mich in der deutschen Fremde<br />

entwurzelt und ausgetrocknet<br />

fühle, daß ich hier nicht verstanden,<br />

ja ständig auf eine kränkende Art<br />

und Weise übersehen oder immer<br />

noch als Ausländer beleidigt werde.<br />

Manchmal habe ich sogar den Verdacht,<br />

daß meine bundesdeutschen<br />

Kollegen, Freunde oder Bekannten<br />

mich, einen in der bundesdeutschen<br />

Fremde schreibenden Menschen, so<br />

haben wollen, wie sie sich – in ihren<br />

nicht seltenen Anfällen von intellek-<br />

← Bestellschein umseitig!<br />

Aufkleber<br />

Kleben Sie den<br />

Sprachverderbern eine!<br />

Anti-Sale-Aufkleber<br />

Auflage: 35 500<br />

Freie-Fahrt-Aufkleber<br />

Auflage: 20 000<br />

Schreibschrift-Aufkleber<br />

Auflage: 10 000<br />

Unsere Arbeit ist<br />

abhängig von<br />

Ihrer Spende!<br />

Verein für Sprachpflege e.V.<br />

Bundesrepublik Deutschland<br />

Stadt- und Kreissparkasse<br />

Erlangen<br />

Bankleitzahl 763 500 00<br />

Kontonummer 400 1957<br />

BIC: BYLADEM1ERH<br />

IBAN:<br />

DE63763500000004001957<br />

Republik Österreich<br />

Volksbank Salzburg<br />

Bankleitzahl <strong>45</strong>010<br />

Kontonummer 000 150 623<br />

Faltblatt<br />

Hintergrund<br />

Glanz, Gloria und Elend des Exils<br />

Köthener Rede zur deutschen Sprache 2011<br />

tuellem Masochismus oder in ihre<br />

Mitleidsgefühle verfallen – einen<br />

Dichter im Exil ausgedacht oder gedichtet<br />

haben: nämlich als ein schreibendes<br />

Wesen, das in Deutschland,<br />

ständig vom Ausländerhaß verfolgt<br />

und bedroht, nach Liebe und nach<br />

Sicherheit, zwischendurch nach zahlungskräftigen<br />

Verlegern und nach<br />

Ruhm schreit.<br />

Nomade zwischen zwei Sprachen<br />

Meine deutschen Freunde und Bekannten<br />

sind bereit, Mitgefühl zu<br />

zeigen, mich, den<br />

in ihren Augen Entwurzelten,<br />

zu trösten<br />

und sich selbst für<br />

ihre Gleichgültigkeit<br />

gegenüber einem<br />

heimat- und vaterlandlosen<br />

Ausländer<br />

im hochgestochenen,<br />

spätromantischen<br />

Wortschall zu strafen.<br />

Ich verwirre sie, indem<br />

ich auf ihre Frage<br />

nach meinen Wurzeln<br />

antworte: Ich bin<br />

weder ein Baum noch<br />

eine zarte, auf frem-<br />

de Pflege oder auf Berieselung mit<br />

wärmendem Mitleid angewiesene<br />

Zierpflanze, ich habe keine Wurzel<br />

und keine Verwurzelung in irgendwelcher<br />

Scholle nötig. Ich bin ein<br />

zeitgenössischer Nomade zwischen<br />

zwei europäischen Sprachen und<br />

zwei europäischen Kulturen.<br />

Ich gestehe: Als ich 1930 auf die Welt<br />

kam, hat mich keiner gefragt, ob ich<br />

ausgerechnet als Mähre in der Tschechoslowakei<br />

geboren werden will,<br />

und ob ich das Tschechische als meine<br />

Muttersprache akzeptiere. Hätte<br />

mich damals mein Schöpfer gefragt,<br />

wo ich geboren werden will, hätte ich<br />

klar und deutlich geantwortet: Bitte,<br />

Allmächtiger, bringe mich nicht in<br />

Mähren, sondern in der italienischen<br />

Toskana, noch lieber in Kalifornien,<br />

im schlimmsten Falle in dieser<br />

schrecklich langweiligen Schweiz<br />

oder, wenn es nicht anders geht,<br />

dann, meinetwegen, auch in diesem<br />

fürchterlichen Wien auf die Welt!<br />

Auflage: 22 500<br />

Ota Filip Bild: Hildebrandt<br />

Mein Verhältnis zur Heimat und<br />

zum Vaterland ist gestört. … Mein<br />

Zuhause in der deutsch-bayerischen<br />

Fremde bedeutet für mich heute viel<br />

mehr als Heimat und Vaterland, denn<br />

mein Zuhause in der Bundesrepublik<br />

Deutschland habe ich vor siebenunddreißig<br />

Jahren zum ersten Mal frei<br />

wählen können.<br />

Lieferbare Ausgaben<br />

<strong>45</strong><br />

44<br />

Aufgesetzte Vaterlandsliebe<br />

Vor mehr als fünfundzwanzig Jahren<br />

schrieb mir aus Prag nach München<br />

ein bedeutender tschechischer, in seiner<br />

Heimat immer<br />

wieder verfolgter und<br />

gedemütigter Dichter,<br />

diese für mich unerträglich<br />

pathetischen<br />

Worte: „Ich könnte<br />

nicht in der Fremde<br />

leben. Ich muß ab<br />

und zu den Duft des<br />

blühenden Lindenbaumes<br />

links vor der<br />

Vorschwelle meines<br />

Vaterhauses einatmen,<br />

ich muß mindestens<br />

einmal in der Woche<br />

Herbst 2011<br />

Sommer 2011<br />

Unter anderem: Thomas Paulwitz: Werber,<br />

Werber, Sprachverderber / Briefe an<br />

uns und unsere Leser / Wolfgang Hildebrandt:<br />

Deutschland schafft seine Sprache<br />

ab (1) – Wissenschaftler und Politiker als<br />

Sprachverräter / Straße der deutschen Sprache:<br />

Die Bauarbeiten haben begonnen / Gespräch<br />

mit Michael Olbrich: Aktiengesellschaften<br />

verklagen? / Dirk Herrmann: Zur<br />

Sprachkritik von Christian Weise / Franz<br />

Neugebauer, Harald Süß: 60 Jahre Bund<br />

für deutsche Schrift und Sprache / Wieland<br />

Kurzka: Vermeintliche Sprachkultur<br />

der ERGO-Versicherung / Rolf Stolz:<br />

Franz Kafka, ein tschechischer Klassiker?<br />

/ Margund Hinz: Die Abschaffung der<br />

Schreibschrift droht / Sprachsünder-Ecke:<br />

Schlecker / Lienhard Hinz: Bericht aus<br />

Berlin / Rolf Zick: Preise für gute deutsche<br />

Marken- und Produktnamen / Günter<br />

Körner: „Wegbrechen“ bis zum Erbrechen<br />

– Sprachkritik aus naturwissenschaftlicher<br />

Sicht (7) / Ehrung für Peter Ramsauer /<br />

Dagmar Schmauks: Der Mütos lebt / Jürgen<br />

K. Klimpke: Schleizer Bücherwurm /<br />

Wolfgang Hildebrandt: Sprachliche Kernschmelze<br />

(Anglizismenmuffel)<br />

Frühling 2011<br />

auf der Karlsbrücke in<br />

Prag spazierengehen<br />

und den großartigen Hradschin, die<br />

Burg der böhmischen Könige, bewundern.“<br />

Diese für mich aufgeblasenen<br />

Worte mögen in manchen Ohren erhaben<br />

klingen, sie scheinen für so viele<br />

einen überzeugenden Beweis für eine<br />

fast unlösbare, tiefe Verwurzelung in<br />

der Heimat zu liefern.<br />

Ich jedoch werde immer, wenn ich<br />

ein solches Gerede zu hören oder zu<br />

lesen bekomme, sehr skeptisch und<br />

frage mich: Ist eine so demonstrativ<br />

und sentimental formulierte Liebeserklärung<br />

an die Heimat nicht eher<br />

ein verdrängter Ausdruck der Angst<br />

vor der freien weiten Welt außerhalb<br />

des engen Raumes, der meinem dichtenden<br />

Freund – und nicht nur ihm –<br />

in seinem damals kommunistischen<br />

Vaterland übrig blieb?<br />

Das Exil als Entschuldigung<br />

Das Exil kann auf eine seltsam großzügige<br />

Art und Weise zu uns, vor al-<br />

43<br />

Unter anderem: Thomas Paulwitz: Bundesverkehrsminister<br />

und <strong>Deutsche</strong> Bahn<br />

wollen wieder mehr Deutsch / Briefe an<br />

uns und unsere Leser / Lienhard Hinz:<br />

Anliegen und Arbeit eines Sprecherziehers<br />

/ Straße der deutschen Sprache: Merseburg<br />

/ Leserbefragung: 97 Prozent sind für die<br />

lem zu unseren menschlichen Fehlern<br />

und zu unseren literarischen Mißgeschicken,<br />

auch barmherzig sein. Das<br />

Dasein in der Fremde bietet nämlich<br />

auch einem minder begabten Dichter<br />

oder einem Dichter, den in der Fremde<br />

das Glück verließ und der keinen<br />

Verleger fand, eine erträgliche und<br />

leichte Art des Scheiterns: Ein Dichter,<br />

der im Exil nicht verlegt wird –<br />

die Gründe, weshalb ein Dichter im<br />

Exil keinen Verlag findet, reichen von<br />

der Tatsache, daß seine Texte literarisch<br />

nicht gut genug sind bis zum<br />

ganz gewöhnlichen Pech – kann die<br />

Verantwortung für die Mängel seiner<br />

literarischen Arbeit oder die Schuld<br />

für sein Mißgeschick mit einer groß<br />

angelegten, pathetischen, in der<br />

Fremde immer glaubwürdig wirkenden<br />

Geste, seinen fremdsprachigen<br />

Nächsten und den deutschen Verlegern,<br />

diesen Ignoranten, die einem<br />

Dichter im Exil den Weg zum Ruhm<br />

versperren, in die Schuhe schieben.<br />

Sein Scheitern im Exil kann ein Dichter<br />

leicht begründen, darüber hinaus<br />

kann er sich mit einer pathetischvorwurfsvollen<br />

Geste als ein in der<br />

Fremde von fremden Verlegern nicht<br />

begriffener Genius, als ein nicht gekreuzigter,<br />

eher vom ungerechten<br />

Schicksal in der Fremde aufs Kreuz<br />

gelegter literarischer Messias, kurzum<br />

als eine tragische Figur inszenieren,<br />

auch die <strong>Deutsche</strong>n zum Tränen<br />

bringen, um Mitleid flehen und vom<br />

Mitleid berieselt und belebt weiter<br />

dahinvegetieren.<br />

Unverzeihlicher Erfolg im Exil<br />

Bitter und ungerecht ist eine weitere<br />

Tatsache: Meine tschechischen und<br />

mährischen Landsleute – die Landsleute<br />

meiner Kollegen im Exil werden<br />

in dieser Hinsicht nicht besser<br />

sein – können einen Dichter, der im<br />

Exil durch seine Literatur berühmt<br />

oder sogar weltbekannt wurde und<br />

der sich – wie unverschämt – im<br />

Westen mit Literatur ernährt, vieles<br />

verzeihen, nur eines nicht: nämlich<br />

Talent und literarischen Erfolg.<br />

Für ihren Erfolg im Exil werden<br />

Dichter in ihrer Heimat bestraft: Die<br />

Straße / Horst Meyer: Berlinisch / Lienhard<br />

Hinz: Berliner Kongreß zu Regional-<br />

und Minderheitensprachen / Johannes<br />

Heinrichs: Sprachpolitische Thesen (Teil<br />

2) / Elmar Tannert: Fehlerhafte Wörter<br />

ziehen fehlerhafte Dinge nach sich / Thomas<br />

Paulwitz: Einzelheiten zur winzigen<br />

Rechtschreibreform 2011 / Sprachsünder-<br />

Ecke: Niedersächsisches Kultusministerium<br />

/ Sprachwahrer des Jahres 2010 / Hartmut<br />

Heuermann: Steckt hinter Denglisch eine<br />

Ideologie? / Günter Körner: Den Fokus<br />

an den Hörnern gepackt! – Sprachkritik aus<br />

naturwissenschaftlicher Sicht (6) / Reingard<br />

Böhmer und Diethold Tietz: „Sprache<br />

ist Heimat“ – Kongreß der Unionsfraktion<br />

im Bundestag / Thomas Paulwitz: Ali<br />

schlägt Mohammed / Rominte van Thiel:<br />

Wir <strong>Deutsche</strong> oder wir <strong>Deutsche</strong>n? / Lienhard<br />

Hinz: Bericht aus Berlin / Wolfgang<br />

Hildebrandt: Die Weichen stellen? (Anglizismenmuffel)<br />

42 Winter 2010/11<br />

Unter anderem: Thomas Paulwitz: Englisch<br />

darf in Deutschland nicht zur Gerichtssprache<br />

werden / Leserdiskussion (2):<br />

E-Mail oder E-Post? / Helmut Delbanco:<br />

Paul Gerhardt – der größte deutsche<br />

Sprachmeister nach Martin Luther / Straße<br />

der deutschen Sprache: Gräfenhainichen /<br />

Andreas Raffeiner: Südtirol spricht immer<br />

noch Deutsch (2) / Johannes Heinrichs:<br />

Das wichtigste nationale Kulturprojekt: die<br />

Sprache (Sprachpolitische Thesen, Teil1)<br />

/ Ursula Bomba: Hildebrandts zweiter<br />

Glossen-Band „Mal ganz ehrlich“ / Robert<br />

Mokry: Der Löwenzahn und sein Traum<br />

(Ausgewählter Beitrag aus dem Schülerwettbewerb<br />

„Schöne deutsche Sprache“<br />

2010) / Sprachsünder-Ecke: ZDF / Lienhard<br />

Hinz: Schlagabtausch zwischen GfdS<br />

und VDS in Berlin / Gespräch mit Werner<br />

<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>45</strong>_Herbst 2011<br />

Steuer, die sie für ihren Erfolg im<br />

Ausland zu Hause zahlen müssen,<br />

wird mit Neid ihrer einstigen Landsleute<br />

beglichen. Diesen Zinseszins<br />

kassieren erfolgreiche literarische<br />

Exilanten in der frostigen Entfremdung,<br />

die ihnen in der Heimat ihr Vaterland<br />

ins Gesicht bläst.<br />

Eine traurige Geschichte, die die Rückkehr<br />

aus dem Exil in die Heimat schwer<br />

macht … Die Geschichte hat uns Exilanten<br />

überrollt. Die Helden des geistigen<br />

Widerstandes gegen das kommunistisch-totalitäre<br />

Regime, Märtyrer,<br />

Dissidenten und Exilanten der Jahre<br />

zwischen 1968 und 1989, diese rechtschaffenen<br />

Propheten, hat das Volk in<br />

der ersten freien Wahl nach der „Sanften<br />

Revolution“ nicht gewählt. Die<br />

Creme der Prager Dichter und Intellektuellen<br />

und auch meine Freunde, ich<br />

nenne sie X und Y, die zwanzig Jahre<br />

ihres Lebens ihrem Kampf für Freiheit<br />

geopfert haben, fühlten sich – ich glaube<br />

zu Recht – wieder einmal gekränkt.<br />

An ihre Stelle traten schon im Sommer<br />

1992 Technokraten und Macher, die<br />

bis heute in Prag die politische Szene<br />

beherrschen und – müssen wir verärgert<br />

feststellen – meisterhaft zu manipulieren<br />

verstehen.<br />

Václav Havel schrieb und hielt – intellektuell<br />

bewertet – als Präsident<br />

der Tschechoslowakischen und später<br />

der Tschechischen Republik großartige<br />

Reden, die zwar in die Geschichte<br />

der tschechischen Literatur und Politik<br />

eingehen, jedoch vom Volk nicht<br />

verstanden werden oder nicht verstanden<br />

werden wollten, denn Havel<br />

sprach – und predigt heute noch – von<br />

moralischen Prinzipien, von Ehrlichkeit<br />

und von Wahrhaftigkeit, also von<br />

Themen, die ein großer Teil des dem<br />

„westlichen“ Konsumwahn verfallenen<br />

Volkes – geben wir es endlich zu<br />

– eigentlich lästig findet.<br />

Mein Freund X, der Intellektuelle<br />

und Dichter, in beiden Bereichen eine<br />

Autorität, 1970 Mitbegründer und<br />

Initiator der tschechischen geistigen<br />

Opposition, einst Kommunist, rechtzeitig<br />

zu den Konservativen übergelaufen,<br />

steht jetzt wieder einmal auf<br />

der „richtigen Seite der Barrikade“<br />

Kieser: „Die Sprache eines Unternehmens<br />

ist ein Qualitätsmerkmal“ / Lienhard Hinz:<br />

Bericht aus Berlin / Günter Körner: Flüssig<br />

oder fließend? – Sprachkritik aus naturwissenschaftlicher<br />

Sicht (5) / Wolfgang<br />

Hildebrandt: Staatssprache Deutsch: Wohin<br />

geht die Reise? (Anglizismenmuffel)<br />

41 Herbst 2010<br />

Unter anderem: Thomas Paulwitz: Operation<br />

Rechtschreibung: streng geheim! Im<br />

Jahr 2011 wird die Reform wieder einmal<br />

reformiert / Leserdiskussion: E-Mail oder<br />

E-Post? / Peter Müller, Ministerpräsident<br />

des Saarlandes: Deshalb sollte Deutsch ins<br />

Grundgesetz / Straße der deutschen Sprache:<br />

Bad Lauchstädt / Andreas Raffeiner:<br />

Südtirol spricht immer noch Deutsch (1) /<br />

Hans Joachim Meyer: Kleid oder Haut?<br />

Was ist uns unsere deutsche Sprache?<br />

(Rede zur deutschen Sprache) / Walter<br />

Krämer: „Die englische Verdrengung“<br />

/ Ernst Jordan: Time to make Tennis /<br />

Thomas Paulwitz: Wie schreibt man eine<br />

Anti-Sprachschutz-Glosse? / Goethes später<br />

Gegenspieler / Jürgen Langhans: Ein<br />

Hilfsprogramm wandelt Neuschrieb in herkömmliche<br />

Rechtschreibung um / Sprachsünder-Ecke:<br />

REWE-Baumarkt „toom“<br />

/ Lienhard Hinz: Köthener Sprachtag<br />

über zweisprachige Erziehung / Andreas<br />

Raffeiner: Bericht aus Bozen / Lienhard<br />

Hinz: Bericht aus Berlin / Sprachschützer<br />

trifft Kulturredakteur / Günter Körner:<br />

Was bedeutet Wertigkeit? – Sprachkritik aus<br />

naturwissenschaftlicher Sicht (4) / Dagmar<br />

Schmauks: Noch mehr Quantensprünge /<br />

Klemens Weilandt: Binde-Strichitis / Wolfgang<br />

Hildebrandt: Deutschland schafft<br />

seine Sprache ab (Anglizismenmuffel)<br />

Lieferbar sind auch noch alle früheren Ausgaben. Die Inhaltsverzeichnisse<br />

sämtlicher Ausgaben finden Sie unter<br />

www.deutsche-sprachwelt.de/archiv/papier/index.shtml


<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>45</strong>_Herbst 2011 Hintergrund<br />

Seite 7<br />

Köthener Rede<br />

Fortsetzung<br />

und holt auf, was er in den Jahren<br />

nach dem Scheitern des Prager Frühlings<br />

im Jahr 1968 wohl am meisten<br />

vermißte, nämlich Anerkennung und<br />

literarischen Ruhm.<br />

Mein zweiter Freund Y, nach 1989 ein<br />

wohlhabender Rentner, Vater von drei<br />

ehelichen und zwei unehelichen Kindern,<br />

hat sich im hohen Alter ein um<br />

vierzig Jahre jüngeres Mädchen als<br />

Geliebte organisiert und schrieb, endlich<br />

von der Pflicht befreit, die Rolle<br />

eines von erhabener Wahrheit und<br />

endgültiger Moral vollgestopften Intellektuellen<br />

spielen zu müssen, einen<br />

köstlichen Pornoroman. Und wenn<br />

wir, die Achtundsechziger, zusammenkommen,<br />

dann sehe ich alt gewordene,<br />

sanfte Zyniker oder Dichter, die immer<br />

noch Messiasse, Weltverbesserer oder<br />

Richter spielen wollen, kurzum Verlierer,<br />

Veteranen der zeitgenössischen<br />

tschechischen Geschichte.<br />

Ein Häuflein von alten Knackern<br />

Und wenn ich meine Bekannten oder<br />

Freunde so sehe, wie sie heute sind,<br />

dann bin ich froh, daß die Geschichte,<br />

die meine Generation fallen ließ,<br />

am Ende zu uns auf ihre seltsam-ironische<br />

Art und Weise doch gnädig ist:<br />

Unser Abgang von der tschechischen<br />

intellektuell-politisch-literarischen<br />

Bühne fällt zeitlich mit unserem fortgeschrittenen<br />

Alter zusammen. Was<br />

für ein Glück!<br />

Wenn ich heute die gelichteten Reihen<br />

der „Achtundsechziger“ überblicke,<br />

dann sehe ich ein Häuflein<br />

von alten Knackern, die nicht das<br />

Recht haben, der Generation nach<br />

uns Ratschläge zu erteilen. Jede Generation<br />

hat das Recht, ihre eigenen<br />

Irrtümer zu begehen und muß für sie<br />

und für ihre bitteren Folgen sehr oft<br />

teuer bezahlen.<br />

Ich bin dennoch zufrieden: Die Geschichte<br />

hätte uns alle, den letzten<br />

noch lebenden Rest von literarischen<br />

Propheten des Jahres 1968, reumütige<br />

oder gebesserte Marxisten, rechthaberische<br />

Antimarxisten, fromme<br />

und nicht ganz fromme Christen,<br />

echt böhmische Agnostiker oder kluge<br />

böhmisch-mährische Häretiker,<br />

noch schlimmer erwischen können.<br />

In meiner einstigen Heimat, in der<br />

Tschechischen Republik, gibt es<br />

zwar an die zwanzigtausend Leser,<br />

die mich kaufen und wahrscheinlich<br />

auch lesen; der Rest meines Volkes,<br />

an die acht Millionen Bürger, die<br />

keine Analphabeten sind, kaufen<br />

meine Bücher nicht, sie lesen mich<br />

nicht. Soll ich sie deswegen für geistig<br />

unterentwickelte Menschen, für<br />

Literaturbanausen halten, die meine<br />

„Genialität“ nicht begreifen und<br />

nicht genießen wollen?<br />

Nicht ins Ghetto zurückziehen<br />

Von den hundert Millionen Bürgern,<br />

die auf der Welt deutsch lesen, kaufen<br />

meine Bücher zehn- oder fünfzehntausend.<br />

Das ist natürlich zum Verzweifeln<br />

und ungerecht! Unser Dasein als<br />

Literaten in der bundesdeutsch-republikanischen<br />

Fremde sehe ich jedoch<br />

nüchtern und ohne Pathos:<br />

Erstens: Keinen von uns hat die Bundesrepublik<br />

Deutschland gezwungen,<br />

dieses Land als Asyl- oder Zufluchtsland<br />

zu wählen, die deutsche<br />

Sprache als unsere zweite literarische<br />

Sprache zu akzeptieren. Zweitens:<br />

Uns Intellektuellen, und wir<br />

alle halten uns doch für kritisch und<br />

sachlich denkende und handelnde<br />

Menschen, kann man schon zumuten,<br />

daß wir im Augenblick, als wir<br />

uns entschlossen haben, in der Bundesrepublik<br />

Deutschland zu leben,<br />

genau wußten, daß wir es von nun an<br />

mit einer anders gewachsenen Kultur<br />

und Literatur, mit einer anderen<br />

Tradition und mit einer uns fremden<br />

Sprache zu tun bekommen.<br />

Und wollen wir uns, die aus der<br />

vaterländischen Heimat, in der wir<br />

nicht mehr leben konnten, zwangsweise<br />

ausgewanderte oder geflohene<br />

Exilanten in Deutschland oder in einer<br />

anderen Fremde tatsächlich in ein<br />

kleinrussisches, kleinukrainisches,<br />

ein kleinpolnisches, kleintürkisches<br />

oder kleintschechisches Ghetto zurückziehen<br />

und freiwillig einsperren?<br />

Wollen wir uns hier, in der Freiheit,<br />

auf einem engen Raum voll von gefälschter,<br />

patriotischer Sentimentalität<br />

erdrücken lassen? Wollen wir in<br />

der Umarmung eines nachträglich,<br />

meistens erst in der Fremde erwachten,<br />

egal ob rechts oder links ausgerichteten,<br />

politischen, patriotischen<br />

oder religiösen Fundamentalismus<br />

geistig ersticken?<br />

Es wird nicht mir und keinem von<br />

uns gelingen, den <strong>Deutsche</strong>n unsere<br />

aus der Heimat mitgebrachten Traditionen,<br />

unsere Kultur und Literatur,<br />

unsere Angewohnheiten oder unsere<br />

Sprache aufzuzwingen. Ich habe es<br />

bereits aufgegeben, den bayerischen<br />

Pfaffenwinkel, das bayerischste<br />

Stück von Bayern, wo ich wohne, in<br />

ein kleines Mähren zu verwandeln<br />

oder den mehr als zehn Millionen<br />

Bayern die tschechische Sprache<br />

beizubringen, damit sie begreifen,<br />

was für ein literarisches Kleinod der<br />

Freistaat Bayern in mir besitzt.<br />

Erlauben Sie mir einige ironische<br />

Bemerkungen an meine ausländischen,<br />

auch deutsch schreibenden<br />

Kollegen: Ich hoffe, daß es meinen<br />

auch deutsch dichtenden türkischen<br />

Freunden nicht gelingt, Berlin in ein<br />

Istanbul, Dortmund in ein Ankara<br />

umzuorganisieren. Ich hoffe auch,<br />

daß mich meine russischen Kollegen<br />

im Exil nicht mit ihrem linken oder<br />

rechten großrussischen Messiastum<br />

oder mit ihrem orthodox-volkstümlichen<br />

Antisemitismus anstecken.<br />

Sind die <strong>Deutsche</strong>n<br />

Kulturbanausen?<br />

Bei einer P.E.N.-Klub-Tagung moderierte<br />

ich eine Diskussion mit unseren<br />

deutsch dichtenden Kollegen aus<br />

vorwiegend arabischen Ländern im<br />

mittleren Orient. Mein Freund, ein<br />

Dichter im deutschen Exil, nennen<br />

wir ihn Abdulah, erhob die Stimme<br />

und sagte: „Die <strong>Deutsche</strong>n, angeblich<br />

ein Volk von Dichtern und Denkern,<br />

sind eigentlich Kulturbanausen, die<br />

meine deutsche Dichtung nicht lesen.<br />

Von meinem Sammelband wurden<br />

nur 300 Exemplare verkauft, und<br />

das bitte in einem Land mit achtzig<br />

Millionen Einwohnern!“<br />

Ich wurde aufgefordert, Abdulah,<br />

meinem Freund, zu antworten. „Es<br />

ist wirklich traurig“, sagte ich, nachdem<br />

ich mir meine Antwort überlegt<br />

hatte, „daß dein deutscher Verleger<br />

nur dreihundert Exemplare deines in<br />

deutscher Sprache gedichteten Sammelbandes<br />

verkaufen konnte und<br />

daß dich nur dreihundert <strong>Deutsche</strong><br />

gelesen haben. Was soll ich, lieber<br />

Abdulah, dazu sagen? Stell dir vor“,<br />

fuhr ich nach einer Atempause fort,<br />

„daß mich, den ‚großen‘ tschechischen<br />

Erzähler“, ich verlieh meiner<br />

Stimme einen bitteren Unterton, „in<br />

den arabischen Ländern kein Verleger<br />

kennt, geschweige denn auch nur<br />

in einer kleiner Auflage publizieren<br />

möchte. Soll ich deswegen alle Leser<br />

in den arabischen Ländern für<br />

Kulturbanausen halten?“ Abdulah<br />

setzte sich, rot im Gesicht, hin und<br />

schwieg. Seit jenem Tag ist unsere<br />

Freundschaft zerbrochen.<br />

Das Exil ist kein Naturschutzgebiet<br />

Eines habe ich im Exil sehr bald begriffen:<br />

Die fremde Welt akzeptiert<br />

und beschützt nur jene, und das gilt<br />

vor allem für Dichter im Exil, die ihr<br />

entgegenkommen, die sie bereichern<br />

und ohne deren geistige Aktivitäten<br />

die deutsche Welt, die deutsche Kultur<br />

und Literatur ärmer wären. Und<br />

wenn wir die deutsche Kultur und<br />

Literatur, die deutsche Gesellschaft<br />

nicht bereichern, dann haben wir<br />

auch keinen Anspruch darauf, von ihr<br />

Geschenke anzunehmen oder materielle<br />

und geistige Gaben zu fordern.<br />

Das Exil ist kein Naturschutzgebiet, in<br />

dem einige exotische Arten von schreibenden<br />

Menschen vor den Gefahren<br />

der fremden Welt geschützt überleben<br />

und gut gefüttert werden. Eine Integration<br />

der dichtenden Ausländer –<br />

und der Ausländer überhaupt – in die<br />

neue Heimat kann nicht erzwungen,<br />

nicht durch Gesetze begünstigt oder<br />

durch demonstrative Liebeserklärungen<br />

vorangetrieben werden.<br />

Einige Beispiele: Wenn ein türkischer<br />

oder ein russischer Intellektueller<br />

im deutschen Exil nach Jahren<br />

in Deutschland kein Deutsch spricht,<br />

wenn er lange Jahre sein türkisches<br />

oder russisches Exil-Ghetto nicht<br />

verlassen hat, wenn er am deutschen<br />

kulturellen und literarischen Leben<br />

nicht teilnimmt, dann hat er sich in der<br />

deutschen Gesellschaft selbst ins Abseits<br />

gestellt, dann ist ihm nicht zu helfen.<br />

Und auf der anderen Seite: Wenn<br />

sich ein Tscheche nach einigen Jahren<br />

in Deutschland germanischer als ein<br />

echter Germane gibt, dann ist er selbst<br />

schuld; die Tschechen können froh<br />

sein, daß sie ihn los sind, und was die<br />

<strong>Deutsche</strong>n mit einem solchen Deppen<br />

anfangen, das ist dann ihr Problem.<br />

Peinliche deutsche Ausländerfreundlichkeit<br />

Der Verlust unserer Heimat, der vielen<br />

von uns unbeschreibliche und<br />

immer wieder in der Exilliteratur<br />

beschriebene Qualen bereitet, unsere<br />

zu oft aufgeblasene, literarisch gesehen<br />

jedoch öfters als uns angenehm<br />

mißglückten Moralpredigten, unsere<br />

immer wieder rechthaberisch verkündeten<br />

politischen, religiösen oder<br />

ideologischen Standpunkte, unser<br />

patriotischer, religiöser oder nationaler<br />

Fundamentalismus, den wir vorwiegend<br />

erst in der Fremde entdekken<br />

oder wieder beleben, werden in<br />

den Augen der Generation nach uns<br />

unsere Fehltritte im Exil und in unserer<br />

Literatur nicht aufwiegen.<br />

Als Ausländer mit bundesdeutschem<br />

Reisepaß empfinde ich die zahlreichen<br />

Ausbrüche deutscher Ausländerfreundlichkeit<br />

zumindest peinlich.<br />

Es geht bei mir so weit, daß ich<br />

ein Taxi mit der Aufschrift – „Der<br />

Ausländer ist mein Freund“ – nicht<br />

besteige. Von der Gesellschaft, in der<br />

ich lebe, erwarte ich nicht mit Kerzenlichtketten<br />

illuminierte Freundschaftsbekenntnisse<br />

oder Liebeserklärungen.<br />

Ich will als Ausländer so<br />

leben wie mein deutscher Nachbar.<br />

Und ich fühle mich überhaupt nicht<br />

dazu verpflichtet, meine deutschen<br />

Nachbarn zu lieben, und ich will von<br />

ihnen auch nicht geliebt, sondern<br />

ganz einfach so, wie ich sie akzeptiere,<br />

auch von meinem deutschsprachigen<br />

Nächsten akzeptiert werden.<br />

Ich als Ausländer empfinde gegenüber<br />

den <strong>Deutsche</strong>n keinen Ausländerhaß.<br />

Erschrecken Sie nicht, wenn<br />

ich behaupte, daß es in der Bundesrepublik<br />

Deutschland außer dem<br />

hausgemachten deutschen Ausländerhaß<br />

noch eine zweite Abart vom<br />

Ausländerhaß gibt, nämlich den Haß<br />

von vielen hier lebenden Ausländern<br />

gegen <strong>Deutsche</strong>. Beispiele für diese<br />

Abart des Ausländerhasses will ich<br />

heute lieber nicht anführen.<br />

Mit jeder neuen Sprache öffnet<br />

sich ein neues Leben<br />

Wenn man die Heimat und das Vaterland,<br />

egal ob freiwillig oder gezwungen,<br />

verläßt, verliert man zwar nicht<br />

alles, dennoch viel. Aber man gewinnt<br />

in der Fremde jedoch einen neuen<br />

Reichtum! … Mit einer jeden neuen<br />

Sprache, die wir erlernen und als einen<br />

willkommenen Gast in uns und<br />

auch in unsere Literatur aufnehmen,<br />

öffnet sich für uns in der neuen, wunderlichen<br />

Welt eine neue Geschichte,<br />

eine neue Kultur, kurzum ein neues<br />

Leben! Aber auch das neue Leben bereitete<br />

mir Schwierigkeiten …<br />

Nach der wunderbaren Wende und<br />

nach dem Zerfall der so genannten<br />

Sozialistischen Tschechoslowakischen<br />

Republik im Spätherbst 1989<br />

durfte ich wieder in der Heimat publizieren,<br />

was ich bis heute als ein<br />

Wunder empfinde. Zugleich stand ich<br />

jedoch vor zwanzig Jahren vor der<br />

schwierigen Frage: In welcher Sprache<br />

wirst du jetzt schreiben, wenn du<br />

deine Bücher nicht mehr nur in deutscher<br />

Sprache oder in einigen Übersetzungen,<br />

sondern auch in deiner<br />

Muttersprache herausgeben kannst?<br />

Eine Antwort auf diese Frage habe<br />

ich erst nach einem Jahr gefunden:<br />

Die Wahl der Sprache, in der ich nach<br />

1989 die ersten Fassungen meiner<br />

Romane schrieb und schreibe, hängt<br />

vom Thema ab. Romane, deren Geschichten<br />

in der deutschen <strong>Sprachwelt</strong><br />

verwurzelt sind, schreibe ich zuerst<br />

in deutscher Sprache und erst dann<br />

erzähle ich sie neu tschechisch. Ich<br />

übersetze mich nicht, sondern versuche,<br />

das ursprünglich deutsche Thema<br />

in tschechische „sprachliche“ Atmosphären<br />

zu verpflanzen. So entsteht<br />

eine tschechische Variante – keine<br />

Übersetzung! – eines erst deutsch geschriebenen<br />

Buches oder umgekehrt.<br />

Doppeltes Schreiben<br />

Diese Art zu schreiben, also alles<br />

zweimal, einmal deutsch und dann<br />

tschechisch – oder umgekehrt –, die<br />

ich jetzt schon zwanzig Jahre lang<br />

betreibe, ist für mich eine Belastung<br />

und nicht ohne Folgen geblieben:<br />

Wenn ich deutsch schreibe, überfällt<br />

mich öfters eine besonders beklemmende<br />

Art von metaphysischer Angst,<br />

daß ich mein Tschechisch verliere,<br />

leichtsinnig aufgebe, daß ich auf eine<br />

seltsam schmerzliche Art und Weise<br />

sprachlich zerspringe. Und wenn ich<br />

tschechisch schreibe, spreche oder<br />

lese, fühle ich, wie aus mir mein angelerntes<br />

Deutsch entweicht, wie die<br />

Luft aus einem löchrigen Ball.<br />

Unlängst stand ich in der einst<br />

böhmisch-königlichen Stadt Saaz –<br />

tschechisch Žatec – vor dem altehrwürdigen<br />

Rathaus, in dem – so verkündet<br />

eine in Bronze gegossene,<br />

links vom Haupteingang angebrachte<br />

Tafel – Anfang des 15. Jahrhunderts<br />

der „Ackermann von Böhmen“, ein<br />

Kleinod der deutschen spätmittelalterlichen<br />

Literatur, gedichtet wurde.<br />

Ich versuchte vergeblich, mich an die<br />

ersten deutschen Verse aus dem „Akkermann<br />

von Böhmen“ zu erinnern,<br />

hörte die Leute vor dem Rathaus<br />

tschechisch sprechen, und plötzlich,<br />

weil ich vergessen hatte, daß ich in<br />

Saaz – Žatec bin, schoß es mir durch<br />

den Kopf: Mein Gott, gibt es hier<br />

aber viele Tschechen! Wo kommen<br />

die alle nur her? Auch nach siebenunddreißig<br />

Jahren in Bayern passiert<br />

es mir in München oder in einer anderen<br />

deutschen Stadt, daß ich mich<br />

auf der Straße, von der deutschen<br />

Sprache umringt, wie in einem Netz<br />

gefangen fühle und keine Antwort auf<br />

die Frage finde: Wieso bist du hier,<br />

wo doch alle nur deutsch reden?<br />

Oder: Ich sitze an einem warmen<br />

Sommerabend in Murnau auf der<br />

Terrasse unseres Hauses mit dem<br />

Ausblick auf die Alpen und trinke<br />

mit meiner Frau Wein. Spätestens<br />

nach dem dritten Glas Rotwein<br />

überfällt mich eine eigenartige Art<br />

von ratloser Verzweiflung, und ich<br />

schaffe es nie, folgende, aufdringliche<br />

Fragen zu verscheuchen: Was hat<br />

die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts<br />

mit dir angestellt? Wieso<br />

bist du jetzt in Murnau? Mit achtzig<br />

Jahren hättest du, und das wäre gerecht,<br />

achthundert Kilometer östlich<br />

von Bayern auf der Terrasse deines<br />

Vaterhauses in Hošt’álková bei einem<br />

Glas Sliwowitz sitzen und den<br />

Untergang der Sonne in die Tiefe der<br />

mährisch-wallachischen Wälder beobachten<br />

sollen!<br />

Gefangen in der eigenen Sprache<br />

Nach diesen Fragen und Überlegungen<br />

muß ich meine Begeisterung für<br />

fremde Sprachen, vor allem für die<br />

deutsche Sprache, die mir, einem kosmopolitischen<br />

Wanderer aus Mitteleuropa,<br />

neue Erdteile entdeckte, bremsen<br />

und mich mit Demut an die Worte des<br />

in Paris lebenden rumänischen Dichters<br />

Emil M. Cioran erinnern: „Der<br />

Dichter im Exil ist für immer Gefangener<br />

seiner eigenen Sprache.“<br />

Cioran bietet zwar seine kleine,<br />

künstlich im Exil erschaffene rumänische<br />

Welt mitten in Paris Schutz<br />

und menschliche Wärme. Die fremde<br />

Welt, in der Cioran in Freiheit lebt,<br />

ist jedoch für ihn von der Fremdsprache<br />

seiner fremdsprachigen Nächsten<br />

eingekreist, auf ein kleines, von<br />

rumänischen Exilanten freiwillig errichtete<br />

Ghetto, zusammengedrängt.<br />

Diese Tatsache treibt Cioran in seine<br />

alltägliche Verzweiflung, sie provoziert<br />

seinen Widerstand gegen das<br />

Französische und weckt zugleich<br />

seinen pseudoromantischen Patriotismus,<br />

den er glaubte in Rumänien<br />

zurückgelassen zu haben.<br />

Meiner Ansicht nach sitzt Cioran in<br />

der Falle: Zu Hause, in Bukarest, in<br />

einer „klassenlosen“ Gesellschaft,<br />

wurde er zum Bürger dritter Klasse<br />

und zum schweigenden Dichter<br />

deklassiert. In Paris, im freien Exil,<br />

schweigt er, von der Fremdsprache<br />

erdrückt. „Die Schreie nach Freiheit“,<br />

schreibt Cioran, „auf die der<br />

Dichter in seiner Heimat so stolz<br />

war, verwandeln sich in der Fremde<br />

in Bitterkeit.“<br />

Mein Freund, der russische Dichter<br />

Andrej Donatowitsch Sinjawski,<br />

der vor einigen Jahren in Paris starb,<br />

schrieb in seinem Essay „Lob des<br />

Exils“: „Im Exil wird der Dichter zu<br />

einem Ausländer, zum Ausländer in<br />

doppelter Beziehung: Sowohl für das<br />

Land, in dem er nun lebt, als auch im<br />

Verhältnis zu seiner Heimat, die er verlassen<br />

hat und wahrscheinlich niemals<br />

wieder sehen wird.“ Mein Freund Sinjawski<br />

sah zwar sein geliebtes Moskau<br />

wieder, aber Mütterchen Rußland<br />

wollte ihn, den verlorenen Sohn, den<br />

es zuerst nach Sibirien und dann nach<br />

Paris verbannt hatte, nicht mehr zurückhaben.<br />

Das brach meinem russischen<br />

Freund das Herz. Ich habe<br />

mir für alle Fälle vor zwei Jahren in<br />

Garmisch-Partenkirchen einen Herzschrittmacher<br />

einsetzen lassen …<br />

Der Schriftsteller Ota Filip hielt am<br />

10. September dieses Jahres die fünfte<br />

Köthener „Rede zur deutschen<br />

Sprache“. Wir drucken hier eine stark<br />

gekürzte Fassung der Rede ab. Der<br />

vollständige Text wird in der Schriftenreihe<br />

„Unsere Sprache“ erscheinen,<br />

herausgegeben von der Neuen<br />

Fruchtbringenden Gesellschaft.<br />

Jedes Jahr am Tag der deutschen<br />

Sprache trägt ein bedeutender<br />

Sprachfreund vor der Neuen Fruchtbringenden<br />

Gesellschaft zu Köthen/<br />

Anhalt eine Grundsatzrede vor. 2007<br />

sprach der Dichter Reiner Kunze,<br />

2008 der Präsident des <strong>Deutsche</strong>n<br />

Lehrerverbandes, Josef Kraus, 2009<br />

Kurt Reinschke, Vorstandsmitglied<br />

des Bundes Freiheit der Wissenschaft,<br />

und 2010 Hans Joachim Meyer, ehemaliger<br />

Sächsischer Staatsminister<br />

für Wissenschaft und Kunst. Die Reden<br />

sind in den DSW-Ausgaben 29<br />

(3/2007), 33 (3/2008), 37 (3/2009)<br />

und 41 (3/2010) abgedruckt. Wie<br />

alle Ausgaben der DEUTSCHEN<br />

SPRACHWELT sind auch diese<br />

Nummern noch lieferbar. Den Bestellschein<br />

finden Sie auf Seite 5.


Seite 8 Besprechungen<br />

Kafka vertritt die deutsche Position<br />

Die verschlüsselte Erzählung „Der Heizer“ gibt eindeutige Hinweise<br />

Von Rolf Kamradek<br />

Zum Beitrag „Franz Kafka, ein tschechischer<br />

Klassiker?“ von Rolf Stolz in<br />

DSW 44, Seite 9<br />

W<br />

ar Franz Kafka ein tschechischer<br />

Klassiker? Rolf Stolz<br />

widerspricht in der DEUTSCHEN<br />

SPRACHWELT zu Recht der Behauptung.<br />

Diese wurde im Netz von der<br />

Zitatensammlung www.zitante.de aufgestellt.<br />

Sie beruft sich auf Wikipedia,<br />

wo behauptet wird, der Dichter habe<br />

sich nie zu seiner Nationalität geäußert.<br />

Da Kafka deutsch schrieb, ist er natürlich<br />

ein deutscher Dichter. Aber er hat<br />

sich auch dazu geäußert. In seiner 1913<br />

verfaßten Erzählung „Der Heizer“ (später<br />

das erste Kapitel seines Romanfragmentes<br />

„Amerika“) hat er verschlüsselt<br />

erkennbar die Position der <strong>Deutsche</strong>n<br />

in Böhmen vertreten. Es ist erstaunlich,<br />

daß diese Deutung, die allerdings die<br />

Kenntnis der Geschichte Böhmens im<br />

19. Jahrhundert und vor dem 1. Weltkrieg<br />

voraussetzt, meines Wissens bisher<br />

nicht erfolgte.<br />

Im 19. Jahrhundert erfaßte das Nationalbewußtsein<br />

auch den tschechischen<br />

Teil Böhmens und Mährens. Die vom<br />

Aussterben bedrohte tschechische<br />

Sprache belebte sich wieder, häufig mit<br />

deutscher Hilfe. Das Selbstbewußtsein<br />

der Tschechen blühte auf. Leider wurde<br />

auch hier das Nationalbewußtsein<br />

ab Mitte des Jahrhunderts vom Nationalismus<br />

verdrängt und entwertet.<br />

František Palacký stellte die Geschichte<br />

Böhmens als ständigen Kampf zwischen<br />

<strong>Deutsche</strong>n und Tschechen dar.<br />

Václav Hanka entwarf mit der Grünberger<br />

und der Königshofener Handschrift<br />

Fälschungen, die später durch<br />

Tomáš Masaryk entlarvt wurden, und<br />

förderte extreme tschechische Tendenzen.<br />

Die berechtigten Forderungen<br />

nach sprachlicher Gleichberechtigung<br />

der Tschechen wandelten sich, nachdem<br />

sie durchgesetzt waren, in den<br />

Anspruch auf alleinige tschechische<br />

Führung. Die seit achthundert Jahren<br />

in geschlossenen Siedlungsgebieten<br />

lebenden Deutschböhmen wurden als<br />

Fremde verunglimpft.<br />

Die überraschten <strong>Deutsche</strong>n reagierten<br />

ungeschickt und mit Gegenreaktionen,<br />

polemisierten etwa gegen die Gründung<br />

einer tschechischen Universität<br />

im damals noch deutschen Brünn, was<br />

die Tschechen wiederum geschickt der<br />

Auslandspresse zuspielten. In der gereizten<br />

Atmosphäre wurden Prestigefragen<br />

hochgespielt, Demonstrationen<br />

in gemischtsprachigen Städten endeten<br />

in Straßenschlachten. Falschmeldungen<br />

der tschechischen Presse führten<br />

zur Plünderung des Universitätsgebäudes<br />

in Prag, zu Angriffen auf das deutsche<br />

Theater, Rollkommandos verübten<br />

Übergriffe auf deutsche Studenten<br />

und deutsche Juden, die im deutschen<br />

Liberalismus und Kulturleben eine<br />

wichtige Rolle spielten. 1893 bis 1895<br />

mußte in Prag der Ausnahmezustand<br />

verhängt werden, erneut 1897 und<br />

nochmals 1908.<br />

Vorschläge, etwa die sprachliche Aufteilung<br />

des Landes, ein Nationalitätengesetz<br />

oder die Sprachverordnung der<br />

Wiener Regierung wurden von der jeweils<br />

anderen Seite grundsätzlich abgelehnt.<br />

Es gab Prügeleien im Reichstag<br />

und Landtag, Abgeordnete duellierten<br />

sich. Als die Grundsteinlegung für ein<br />

Gebäude der deutschen Universität gewaltsam<br />

verhindert wurde und Rektor<br />

Anzeigen<br />

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Sieg|Geiz oder Zeig? Einfach:<br />

Sieg angezeigt!<br />

ANDERS<br />

Dieses BUCH<br />

sucht seine LESERinnen<br />

www.anders.ingeborgseinn.de<br />

wie Senat aus Protest zurücktraten, rief<br />

der Rektor der tschechischen Universität<br />

die Worte Jan Hus’ von 1409 aus: „Gelobt<br />

sei der allmächtige Gott, daß wir<br />

die <strong>Deutsche</strong>n ausgeschlossen erreicht<br />

haben und daß wir Sieger wurden.“<br />

Presseorgane forderten die kriegerische<br />

Zerstückelung Deutschlands und Österreichs,<br />

sowie die Unterbringung der<br />

<strong>Deutsche</strong>n in Reservaten. Die Wiener<br />

Regierung konnte es keinem recht machen.<br />

Ängstlich vermied sie, was nach<br />

einer Bevorzugung der <strong>Deutsche</strong>n hätte<br />

aussehen können. Obgleich mit tschechischen<br />

Ministern durchsetzt, galt sie<br />

den nationalen Tschechen als deutsch<br />

und damit hassenswert, die <strong>Deutsche</strong>n<br />

wiederum vermißten ihren Schutz und<br />

bezichtigten sie des Verrates.<br />

In dieser Atmosphäre schrieb Kafka<br />

1913, noch vor dem 1. Weltkrieg, sein<br />

Romanfragment „Amerika“. Karl Roßmann,<br />

der Held des Romans, ist, so wie<br />

K. im „Schloß“ und im „Prozeß“, das<br />

literarische „Ich“ Kafkas, wie schon<br />

Max Brod erkannte, der das Fragment<br />

nach des Dichters Tod vor der Vernichtung<br />

rettete. Karl bejaht die Frage „Sie<br />

sind ein <strong>Deutsche</strong>r?“ mit „Ja“ und ergänzt<br />

„aus Prag in Böhmen“ (Kapitel<br />

„Hotel Occidental“). Im ersten Kapitel,<br />

„Der Heizer“, erlebt Karl, wie „auf<br />

einem deutschen Schiff“ der Hamburg-Amerika-Linie<br />

(Österreich), der<br />

Obermaschinist Schubal, ein Rumäne<br />

(Tscheche), „uns <strong>Deutsche</strong> auf einem<br />

deutschen Schiff schinden“ darf, und<br />

der fleißige deutsche Heizer muß befürchten,<br />

„hinausgeworfen zu werden“<br />

(Austreibungsdrohungen).<br />

„Waren Sie denn schon beim Kapitän?“<br />

fragt Karl. Doch bei seiner Beschwerde<br />

vor dem betreßten, degentragenden<br />

deutschen Kapitän (Kaiser Franz<br />

Joseph) vor internationalem Publikum<br />

wird der Heizer bereits als Querulant<br />

angekündigt. Sein Auftritt ist ungeschickt,<br />

die Fülle seiner Beschwerden<br />

wirkt unverständlich, die vielen Einzelheiten<br />

setzen Kenntnisse voraus, die<br />

der Kapitän nicht haben kann. „Kennt<br />

er denn alle Maschinisten und Laufburschen<br />

… beim Taufnamen …, daß<br />

er gleich wissen kann, um wen es sich<br />

handelt?“ (Einzelheiten des Nationalitätenproblems<br />

und der Vorfälle). Des<br />

Heizers Beschwerde wird ein unerträgliches<br />

Geschwätz (ungeschicktes Reagieren<br />

der <strong>Deutsche</strong>n).<br />

Der Kapitän findet zwar, „der Schubal<br />

wird mir … viel zu selbstständig“<br />

(tschechischer Separatismus), doch<br />

„der Kapitän mochte ja ein guter Mann<br />

sein … und Gründe haben, sich als<br />

gerechter Vorgesetzter zu zeigen, aber<br />

schließlich war er kein Instrument, das<br />

man in Grund und Boden spielen konnte<br />

– und gerade so behandelte ihn der<br />

Heizer … allerdings aus seinem grenzenlos<br />

empörten Inneren heraus“. Er<br />

geriet „außer Rand und Band“ (Verrätervorwurf<br />

an Wien) und begann sogar,<br />

mit seinem Landsmann Karl zu streiten<br />

(Uneinigkeit der <strong>Deutsche</strong>n), bis alle<br />

im Raum „abgestumpft gegen den Heizer,<br />

ja von ihm angewidert“ waren.<br />

„Ich glaube, wir haben vom Heizer genug“,<br />

sagt Karls amerikanischer Onkel<br />

(Auslandsmeinung). „Darauf kommt<br />

es doch gar nicht an“, wendet Karl ein.<br />

„Aber gleichzeitig handelt es sich um<br />

eine Sache der Disziplin“, entgegnet<br />

der Onkel, „und diese unterliegt der<br />

Beurteilung des Kapitäns.“ „Ja“, stellt<br />

Karl fest, „bei der Disziplin hört seine<br />

Höflichkeit auf.“ (Respektforderung<br />

des Wiener Hofes).<br />

In dieser Situation tritt Schubal wohlvorbereitet<br />

(Presse) mit falschen und<br />

sich unpassend benehmenden Zeugen<br />

(Geschichtsfälschung und Falschmeldungen)<br />

auf und gewinnt trotz erkennbarer<br />

Unredlichkeit (Entlarvung der<br />

Fälschungen) die Herren für sich. „Dir<br />

ist ja Unrecht geschehen wie keinem<br />

auf dem Schiff“, sagt Karl zum Heizer<br />

und „du mußt dich zur Wehr setzen.<br />

Aber der Heizer scheint „nichts mehr<br />

für sich zu hoffen“. Der Kapitän würde<br />

„lauter Rumänen (tschechische Minister<br />

und Beamte) einstellen können, es<br />

würde überall rumänisch gesprochen<br />

werden, und vielleicht würde dann<br />

wirklich alles besser gehen.“<br />

Als Karl mit seinem Onkel das Schiff<br />

verläßt, sind dessen Fenster mit Zeugen<br />

Schubals besetzt, die freundschaftlich<br />

winken. Es war wirklich, als gäbe<br />

es keinen Heizer mehr. Der amerikanische<br />

Onkel weicht Karls Blick aus. Die<br />

später angefügten Kapitel des Romanfragmentes<br />

schildern, wie sich Karl,<br />

der reine und naive junge <strong>Deutsche</strong> in<br />

Amerika, gegenüber den Gemeinheiten<br />

von Einheimischen und Auswanderern<br />

aus Irland und Frankreich, „als anständiger<br />

Mensch bewähren wird“ (Max<br />

Brod). Dabei wird seine deutsche Herkunft<br />

immer wieder betont, also die<br />

des literarischen „Ichs“ Kafkas.<br />

Franz Kafka: Der Heizer, Schriftenreihe<br />

„Der jüngste Tag“, Kurt-Wolff-<br />

Verlag, Leipzig 1913.<br />

<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>45</strong>_Herbst 2011<br />

Mitteldeutsches Jahrbuch 2010<br />

eit 1994 erscheint das Mitteldeut-<br />

S sche Jahrbuch für Kultur und Ge-<br />

schichte. Die gemeinnützige Stiftung<br />

Mitteldeutscher Kulturrat gibt es heraus.<br />

In diesem Rat hatten sich nach dem<br />

Krieg Persönlichkeiten aus den Ländern<br />

der späteren DDR zusammengefunden,<br />

um die „unlösbare Bindung“ aller <strong>Deutsche</strong>n<br />

aufrecht zu erhalten, Trennendes<br />

überwinden zu helfen und „Vorarbeit<br />

für das Deutschland der überwundenen<br />

Spaltung“ zu leisten. Laut Satzung ist<br />

der Zweck der Stiftung die „länderübergreifende<br />

Pflege der mitteldeutschen<br />

Beiträge zur deutschen Kultur“. Bis zur<br />

Wiedervereinigung hat die Stiftung daher<br />

in der Bundesrepublik Deutschland<br />

immer wieder öffentlich durch Veranstaltungen<br />

und Publikationen auf die gemeinsame<br />

Geschichte und Kultur aller<br />

<strong>Deutsche</strong>n hingewiesen.<br />

Seit der Wiedervereinigung unterstützt<br />

sie vor allem die kulturellen Aktivitäten<br />

in Sachsen-Anhalt, Sachsen,<br />

Thüringen, Berlin, Brandenburg und<br />

Mecklenburg-Vorpommern. Das geschieht<br />

durch eigene Tagungen und<br />

Vorträge in den Bundesländern sowie<br />

durch Veröffentlichungen. Zur Erforschung<br />

der DDR-Kultur schreibt die<br />

Stiftung Wissenschaftspreise aus.<br />

Das Mitteldeutsche Jahrbuch für Kultur<br />

und Geschichte bietet in Aufsätzen,<br />

Gedenkartikeln, Berichten und Rezensionen<br />

ein breites Spektrum mitteldeutscher<br />

Kultur dar. Den Einband<br />

des Jahrbuches für 2010 schmückt ein<br />

Bild der Königin Luise von Preußen,<br />

an deren Todestag vor 200 Jahren zahlreiche<br />

Veranstaltungen erinnern. Ihr<br />

sind zwei Beiträge gewidmet. Im Aufsatzteil<br />

werden Themen der mitteldeutschen<br />

Kultur- und Geistesgeschichte<br />

von den Anfängen bis zur Gegenwart<br />

in ausführlicher Form behandelt. Als<br />

Bauwerke werden vorgestellt die Burg<br />

Falkenstein und die St.-Maria-Magdalena-Kapelle<br />

in der Moritzburg zu<br />

Halle/Saale, als Kunstwerke der „Jüterboger<br />

Altar“ in Fürstenwalde und<br />

die Ansichten des Englischen Gartens<br />

in Meiningen. Die Literatur ist mit<br />

Beiträgen über Georg Rollenhagen<br />

und der Vorstellung der neuen großen<br />

Wieland-Ausgabe präsent. Verlagsgeschichte<br />

wird in den Beiträgen über<br />

den Reimer- und den Kiepenheuer-<br />

Verlag behandelt. Einen Schwerpunkt<br />

dieses Bandes stellen die Aufsätze zu<br />

bekannten Frauen dar; stellvertretend<br />

seien Kaiserin Auguste Victoria und<br />

Anna von Helmholtz genannt.<br />

Erinnert wird des weiteren an Persönlichkeiten<br />

und Ereignisse: den Mystiker<br />

Meister Eckhart, den Philosophen Paul<br />

Menzer, die Maler Philipp Otto Runge<br />

und Hans von Volkmann, die Schriftstellerin<br />

und Reisende Marie von Bunsen; die<br />

Gründung der Cansteinschen Bibelanstalt<br />

zu Halle, den Beginn der Porzellanindustrie<br />

in Thüringen und das Wörterbuch der<br />

deutschen Sprache von Daniel Sanders.<br />

Nachrufe gedenken des Schriftstellers<br />

Heinz Czechowski, des Schauspielers Erwin<br />

Geschonneck und des Germanisten<br />

Gerhard Kettmann. Berichte informieren<br />

über zahlreiche kulturelle Aktivitäten in<br />

Mitteldeutschland, Literaturhinweise<br />

über eine Auswahl an Büchern aus den<br />

verschiedenen Bereichen der Kultur- und<br />

Geistesgeschichte. (dsw)<br />

Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur<br />

und Geschichte, herausgegeben von<br />

der Stiftung Mitteldeutscher Kulturrat,<br />

Band 17, Monumente Publikationen,<br />

Bonn 2010.<br />

Geschäftsstelle des Kulturrats: Telefon<br />

+49-(0)228-655138, Telefax +49-<br />

(0)228697710, info@Stiftung-MKR.de<br />

Sprache, Stil und starke Sprüche<br />

Kritik an Bastian Sick und seinen Kritikern<br />

Von Thomas Paulwitz<br />

E<br />

s wurde zum geflügelten Wort:<br />

„Der Dativ ist dem Genitiv sein<br />

Tod“. – Mit seinen Büchern, die unter<br />

diesem Titel erschienen, ist Bastian<br />

Sick der erfolgreichste Sprachkritiker,<br />

zumindest hinsichtlich des Verkaufs.<br />

Gewiß gibt es Neider, die ihm diesen<br />

wirtschaftlichen Erfolg und die große<br />

Bekanntheit mißgönnen. Es gibt aber<br />

auch ernstzunehmende Kritik, sowohl<br />

von sprachschützerischer als auch von<br />

sprachwissenschaftlicher Seite.<br />

Auf der einen Seite beanstanden<br />

Sprachwissenschaftler bei Sick, daß<br />

seine Bücher wissenschaftlichen Ansprüchen<br />

nicht genügten und sachliche<br />

Fehler enthielten. Auf der anderen Seite<br />

fehlt den Sprachschützern „der zweite<br />

Schritt“. Sick sieht sich nämlich in erster<br />

Linie als Unterhalter. Daher unterscheidet<br />

er nicht zwischen harmlosen<br />

Sprachausrutschern, die menschlich<br />

sind, und gezielter Sprachverderberei.<br />

Auch auf eine sprachpolitische Aufforderung<br />

an die Sprachpräger in Wirtschaft,<br />

Medien und Politik und an den<br />

Schulen, ihrer Verantwortung gerecht<br />

zu werden, wartet man vergeblich.<br />

Diese Kritik an Sick hat die DEUTSCHE<br />

SPRACHWELT in ihrer Ausgabe 33 auf<br />

einer ganzen Seite dokumentiert. Eines<br />

der damals vorgestellten Werke war ein<br />

Buch des Sprachwissenschaftlers André<br />

Meinunger, das den Titel trägt: „Sick of<br />

Sick? Ein Streifzug durch die Sprache<br />

als Antwort auf den ‚Zwiebelfisch‘“.<br />

Nun hat Karsten Rinas eine Streitschrift<br />

über „Bastian Sick und seine Kritiker“<br />

vorgelegt, in der er nicht nur Sick, sondern<br />

auch seine sprachwissenschaftlichen<br />

Kritiker rügt. Rinas ist selbst<br />

Sprachwissenschaftler. Er lehrt am<br />

germanistischen Institut der Universität<br />

Olmütz. Das Buch von Rinas ist flüssig<br />

zu lesen. Es gefällt durch Urteilsfreude<br />

und Mut zur Meinung. Das ist kein<br />

Wunder, denn Rinas selbst gibt an, daß<br />

er die Schrift verfaßt habe, um seinem<br />

Ärger Luft zu machen: „Ich ärgere mich<br />

über die schon mehrere Jahre währende<br />

Kontroverse um Bastian Sicks ‚Zwiebelfisch‘,<br />

genauer gesagt: über deren oft<br />

erschreckend niedriges Niveau.“<br />

Dabei richtet sich sein Ärger gar nicht so<br />

sehr gegen Sick, obwohl Rinas es „befremdlich“<br />

findet, daß diesem die Rolle<br />

eines „Sprachpapstes“ zugeschrieben<br />

wird, da es dafür weitaus belesenere<br />

Sprachkritiker wie Wolf Schneider oder<br />

Max Goldt gibt. „Viel schlimmer finde<br />

ich, was in letzter Zeit von einigen<br />

Vertretern meiner Zunft, der Sprachwissenschaft,<br />

über Sicks Werke und die<br />

Sprachkritik insgesamt geäußert wurde.“<br />

Rinas wirft ihnen eine „Schlichtheit“<br />

vor, die an „Dummheit“ grenze.<br />

„Besonders krasse Beispiele für diese<br />

Unbedarftheit“ seien vor allem in einem<br />

Werk zu finden: in dem Buch „Sick of<br />

Sick?“ von André Meinunger.<br />

In dem bereits Jahrzehnte andauernden<br />

Streit zwischen normativer Sprachkri-<br />

tik und deskriptiver Linguistik markiere<br />

die Debatte um Sick und Meinunger<br />

„einen Tiefpunkt“. Wohl nie zuvor<br />

seien „die Leistungen der Vorgänger<br />

so vollständig ignoriert worden wie<br />

in dieser Debatte“. Das Ausblenden<br />

der in der Vergangenheit bereits entwickelten<br />

Argumentationen führe zur<br />

Verflachung. Beide Autoren zeigten<br />

außerdem „ein erhebliches Maß an Arroganz<br />

und Ignoranz“. Sick gründe seine<br />

Urteile auf sein Sprachgefühl. Wer<br />

ihm nicht zu folgen vermag, habe eben<br />

sein Sprachgefühl verloren. Und Meinunger<br />

„bekämpft fanatisch alles, was<br />

ihm irgendwie normativ erscheint“.<br />

Er versuche erst gar nicht, das Anliegen<br />

der Sprachpfleger zu verstehen.<br />

Dabei verkenne Meinunger wie viele<br />

andere Sprachwissenschaftler, daß der<br />

traditionelle Streit zwischen normativen<br />

Sprachkritikern und deskriptiven<br />

Linguisten „aus genuin linguistischer<br />

Sicht fruchtbar war, indem er die<br />

Sprachwissenschaft um interessante<br />

Probleme bereichert hat“.<br />

Das Verdienst von Reinas besteht darin,<br />

daß er beide Seiten versteht und für<br />

die wissenschaftliche Begleitung der<br />

Sprachkritik eintritt. Damit trägt er<br />

trotz seiner Angriffslust zur Versachlichung<br />

der Debatte bei.<br />

Karsten Rinas: Sprache, Stil und starke<br />

Sprüche – Bastian Sick und seine Kritiker,<br />

Lambert-Schneider-Verlag, Darmstadt<br />

2011, 208 Seiten, 19,90 Euro.<br />

Bücher von Johannes Dornseiff<br />

Rechte Notizen<br />

Der Verfasser der Bücher Tractatus absolutus (2000), Recht und Rache (2003),<br />

Sprache, wohin? (2006) und Kant (2009) legt als eine Art Nachlaß zu Lebzeiten<br />

seine politischen Notizen aus der Zeit seit 1993 vor, als Anhang zu seinem Neuen<br />

Deutschlandlied („Deutschland, Deutschland, bist verblichen ...“). – Mehr als<br />

Notizen sind es tatsächlich nicht. Aber vielleicht doch so treffend, daß die Vertreter<br />

des Gutmenschentums und der „political correctness“ daran Anstoß nehmen<br />

werden. Von den (von sich selbst) so genannten Antifaschisten ganz zu schweigen.<br />

136 Seiten • 10,00 € • ISBN 978-3-940190-66-6 • Vertrieb: xlibri.de Buchproduktion,<br />

Tel.: 08243 / 99 38 46, E-Mail: autor@xlibri.de<br />

Inhaltsangaben und Auszüge der Bücher des Verfassers unter<br />

www.johannesdornseiff.de


<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>45</strong>_Herbst 2011 Sprachraum<br />

Seite 9<br />

Von Dietrich Scholze<br />

I<br />

m Jahr 631 traten die Vorfahren<br />

des kleinen Volkes ins Licht der<br />

Überlieferung: Sie wurden – auf Latein<br />

als Surbi – in einer fränkischen<br />

Chronik erstmals erwähnt. Zu der<br />

westslawischen Gruppe gehörten<br />

damals etwa 20 Stämme. Darunter<br />

waren die Milzener, die späteren<br />

Obersorben, und die Lusizer, die<br />

späteren Niedersorben, die der Region<br />

ihren Namen gaben: Łužica –<br />

Lausitz. Weitere deutsch-slawische<br />

Berührungsräume existierten an Elbe<br />

und Saale, an Main und Regnitz oder<br />

im Hannoverschen Wendland. Doch<br />

nur die Lausitzer Sorben – bis 19<strong>45</strong><br />

meist Wenden genannt – konnten<br />

Neues zur Straße<br />

der deutschen Sprache<br />

Treffen der Arbeitsgemeinschaft „Straße der deutschen Sprache“ am 7. Juli in<br />

Reppichau Bild: Hildebrandt<br />

A<br />

uf ihrem zweiten Arbeitstreffen,<br />

das am 7. Juli in Reppichau<br />

stattfand (siehe Bild), legte<br />

die Arbeitsgemeinschaft „Straße der<br />

deutschen Sprache“ (AG SddS) die<br />

Zielgruppen der geplanten Ferienstraße<br />

fest. Sie unterscheidet dabei nationale<br />

und internationale Zielgruppen,<br />

und diese schlüsselt sie wiederum<br />

nach Reisemotiven und Bevölkerungsmerkmalen<br />

auf. Außerdem legte<br />

die AG die folgenden Leitsprüche<br />

fest: „Sprache verbindet“; „Sprache<br />

erfahren“; „Wo Sprache lebendig<br />

wird“; „Auf der Spur der deutschen<br />

Sprache“. Diese Leitsprüche sollen<br />

auch die Grundlage für ein Erkennungszeichen<br />

bilden. Dazu wird die<br />

AG voraussichtlich im Frühjahr 2012<br />

einen Wettbewerb ausschreiben.<br />

Weiterhin entwickelte die AG Richtlinien<br />

für die Teilnahme an der Straße.<br />

Dies geschah im Zusammenhang<br />

mit der Erstellung eines Erfassungsbogens,<br />

in dem die Sehenswürdigkeiten<br />

der einzelnen Orte verzeich-<br />

Kleinanzeige<br />

900 Jahre Zisterzienser –<br />

900 Jahre literarisches Schaffen<br />

Für Sie als Autor die besondere Gelegenheit,<br />

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0241.873434; www.bernardus-verlag.de<br />

Einem Teil unserer Ausgabe liegen Prospekte<br />

des Bundes für deutsche Schrift<br />

und Sprache e.V. und des Verlags für<br />

die deutsche Wirtschaft bei. Wir bitten<br />

um freundliche Beachtung. Vielen Dank.<br />

Gering an Zahl, doch sprachbewußt<br />

Wie das kleine Volk der Lausitzer Sorben seine Sprache bewahrt<br />

ihre Sprache, Kultur und Tradition<br />

bis in die Gegenwart bewahren. Diesem<br />

Phänomen liegen zumindest drei<br />

Ursachen zugrunde:<br />

1. der geographische Aspekt: Ober-<br />

und Niederlausitz bilden eine<br />

relativ isolierte, im Norden von<br />

Wäldern und Sümpfen (etwa dem<br />

Spreewald), im Süden von Gebirgen<br />

begrenzte Region.<br />

2. der demographische Aspekt: Die<br />

zahlenmäßige Stärke des Lusizer-,<br />

insbesondere aber des Milzenerstammes<br />

ermöglichte die Ausdehnung<br />

in das zwischen beiden<br />

net werden. All diese Maßnahmen<br />

dienen dazu, die Außendarstellung<br />

vorzubereiten, wie sie zum Beispiel<br />

in Form eines Netzauftritts und eines<br />

Faltblattes geplant ist. Dies ist<br />

in Zusammenarbeit mit den Tourismusvermarktungsgesellschaften<br />

der<br />

Länder geplant.<br />

Unterdessen hat die Magdeburger<br />

Stadtratsfraktion von Bündnis 90/<br />

Den Grünen beantragt, daß die Stadt<br />

sich entgegen einer früheren Entscheidung<br />

der Stadtverwaltung doch<br />

an der „Straße der deutschen Sprache“<br />

beteiligen möge. Im November<br />

soll der Stadtrat darüber entscheiden.<br />

Zwischenzeitlich befaßt sich der Kulturausschuß<br />

damit. „Zeit genug für<br />

die Grünen, um Überzeugungsarbeit<br />

zu leisten“, meinte die „Magdeburger<br />

Volksstimme“ am 21. September.<br />

Das nächste Arbeitstreffen der AG<br />

SddS findet am 17. November in Bad<br />

Lauchstädt statt. (dsw)<br />

www.straße-der-deutschen-sprache.de<br />

Das einzige<br />

Lehrbuch<br />

Stämmen gelegene Heidegebiet.<br />

Der mittelalterliche<br />

Landesausbau aber<br />

betraf diesen Zweig der<br />

Elbslawen nur an der Peripherie.<br />

3. der politische Aspekt:<br />

Die beiden Lausitzer<br />

Markgraftümer befanden<br />

sich zur böhmischen (bis<br />

1635), meißnisch-sächsischen<br />

oder brandenburgischen<br />

Herrschaft stets<br />

in einer Randlage. Sie<br />

waren Nebenländer ohne<br />

Sitz des Landesherrn und<br />

daher zentralistischen<br />

Tendenzen bis ins 19.<br />

Jahrhundert hinein kaum<br />

ausgesetzt.<br />

Die Sorben, die alles in allem<br />

nie mehr als eine Viertelmillion<br />

Menschen zählten<br />

(dies um 1800), haben zwei vollwertige<br />

Sprachen hervorgebracht: Obersorbisch<br />

und Niedersorbisch. Mit<br />

der Epoche der Aufklärung begann<br />

ihre „nationale Wiedergeburt“, in<br />

der eine reiche bäuerliche Volkskultur<br />

zu einer bürgerlichen Hochkultur<br />

ausgebaut wurde. Die wirtschaftliche<br />

Modernisierung, der soziale Wandel<br />

setzten in Sachsen und Brandenburg<br />

nach Aufhebung der Erbuntertänigkeit<br />

ein, im ersten Drittel des 19.<br />

Jahrhunderts. Jetzt benötigten die<br />

sorbischen Bauern das <strong>Deutsche</strong>, um<br />

ihre Erzeugnisse zu vermarkten. Ein<br />

Teil der Bevölkerung wanderte in die<br />

Städte ab. Beruflicher Aufstieg führte<br />

zur Anpassung an das Staatsvolk,<br />

zur Assimilation. Industrialisierung,<br />

Braunkohlegewinnung und Verkehrswegebau<br />

hinterließen tiefe Spuren in<br />

dem strukturschwachen Territorium.<br />

Nach der Reichseinigung von 1871<br />

sank das offizielle Prestige des Sorbischen<br />

oder Wendischen. Um 1900<br />

gab es noch 166.000 Sprachträger,<br />

eine knappe Mehrheit davon in der<br />

preußischen Niederlausitz.<br />

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In der Weimarer Republik entfaltete<br />

sich ein reges nationales und kulturelles<br />

Leben in den Vereinen, erstmals<br />

wurden vom sächsischen Staat<br />

Schullesebücher gedruckt. 1937<br />

jedoch verbot das NS-Regime jede<br />

prosorbische Aktivität, weil sich die<br />

Dachorganisation Domowina („Heimat“)<br />

geweigert hatte, ihre Mitglieder<br />

in einer neuen Satzung als<br />

„wendisch-sprechende <strong>Deutsche</strong>“ zu<br />

deklarieren. Lehrer und Pfarrer beider<br />

Bekenntnisse wurden zwangsversetzt.<br />

Das slawische Bewußtsein<br />

hatte sich, auch durch Kontakte zu<br />

Tschechen, Slowaken, Polen, Russen<br />

oder Ukrainern, gerade unter der Intelligenz<br />

weithin durchgesetzt.<br />

Die DDR betrachtete die Sorben,<br />

mit Rücksicht auf ihre slawischen<br />

Verbündeten, als Brudervolk. 1948<br />

erließ Sachsen das historisch erste<br />

Gesetz zu Schutz und Förderung der<br />

Minderheit. Die rechtliche Stellung<br />

der Sorben war im europäischen<br />

Vergleich vorbildhaft, gesichert war<br />

Karikatur von Bernd Zeller<br />

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25.04.2008<br />

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nicht nur die zweisprachige<br />

Beschriftung von Ortstafeln,<br />

Straßen und Dokumenten.<br />

Ein differenziertes<br />

Schulsystem wurde eingerichtet,<br />

das bis heute seinen<br />

Auftrag erfüllt. Kulturelle<br />

und wissenschaftliche Einrichtungen<br />

– Folkloreensemble,<br />

Theater, Museen,<br />

Verlag, Forschungsinstitut<br />

– ermöglichten jedermann<br />

die Pflege einer sorbischen<br />

oder sorbisch-deutschen,<br />

also mehrfachen Identität.<br />

Freilich diente die „marxistisch-leninistischeNationalitätenpolitik“<br />

auch einem<br />

politisch-ideologischen<br />

Zweck: der Einbindung der<br />

Minderheit in die realsozialistische<br />

Ordnung.<br />

Ende 1989 konstituierte sich<br />

an der Basis eine Sorbische<br />

Volksversammlung, die eine Reihe<br />

von Forderungen aufstellte. Sie<br />

betrafen den Schutz des sorbischen<br />

Siedlungsgebiets vor der weiteren<br />

Zerstörung durch den Braunkohlebergbau,<br />

die Zweisprachigkeit bei<br />

staatlichen Behörden, die Entwicklung<br />

von Kultur, Schule und Kirche<br />

sowie die Wiederzulassung der Vereinstätigkeit.<br />

Der deutsch-deutsche<br />

Einigungsvertrag von 1990 garantierte<br />

den Sorben in einer Protokollnotiz<br />

die Wahrung ihrer nationalen<br />

Identität. Grundlegende Rechte gewähren<br />

unterdessen Brandenburg<br />

und Sachsen in ihren Verfassungen<br />

und in besonderen „Sorbengesetzen“<br />

den „Ureinwohnern“ der Lausitzen.<br />

Im Zeitalter der Globalisierung leidet<br />

jede alteingesessene, autochthone<br />

Minderheit unter der Assimilation an<br />

größere Kulturen. Man spricht heute<br />

von 50 000 bis 60 000 Menschen<br />

sorbischer Herkunft in Deutschland,<br />

davon zwei Drittel in der Ober- und<br />

ein Drittel in der Niederlausitz. Legt<br />

man jedoch die Sprachbeherrschung<br />

zugrunde, dann bleibt nur die Hälfte:<br />

etwa 25 000 Sprecher des Obersorbischen<br />

(darunter 15 000 Katholiken)<br />

und bis zu 5 000 des Niedersorbischen.<br />

Daher läuft seit 1998 mit dem<br />

Witaj-Modellprojekt ein groß angelegter<br />

Versuch zur Wiederbelebung der<br />

Sprache, namentlich in Kindergärten<br />

und Schulen. Denn Schönreden hilft<br />

nicht: Falls diese Aktion scheitert, ist<br />

die sorbische nationale Substanz langfristig<br />

in ihrem Kern gefährdet.<br />

Prof. Dr. Dietrich Scholze ist Direktor<br />

des Sorbischen Instituts, Sächsischer<br />

Kultursenator und Chefredakteur des<br />

„Lě topis. Zeitschrift für sorbische<br />

Sprache, Geschichte und Kultur“.<br />

www.serbski-institut.de<br />

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Seite 10 Werkstatt<br />

Von Thomas Paulwitz<br />

B<br />

aden-Württembergs neue<br />

Sprachpolitik erscheint auf<br />

den ersten Blick widersprüchlich.<br />

An einigen Stellen schmälert die<br />

Landesregierung die Bedeutung der<br />

deutschen Sprache, an anderen stärkt<br />

sie das <strong>Deutsche</strong>. Auf den zweiten<br />

Blick klärt sich dieser Widerspruch<br />

auf, denn die Zielgruppe der neuen<br />

Sprachpolitik ist nicht die Allgemeinheit.<br />

Statt dessen ist sie einseitig auf<br />

Einwanderer ausgerichtet. Die<br />

schlechten Deutschkenntnisse<br />

der zugewanderten Bevölkerung<br />

sorgen somit<br />

für auffällige politische<br />

Entscheidungen der<br />

neuen baden-württembergischen<br />

Regierung.<br />

Ohne die Deutschmängel<br />

der Einwandererkinder<br />

wäre es nie gelungen, das<br />

von Günter Oettinger eingeführte<br />

überflüssige Grundschulenglisch<br />

zurückzudrängen. Dieser hatte vor<br />

über fünf Jahren getönt: „Deutsch<br />

bleibt die Sprache der Familie, der<br />

Freizeit, die Sprache, in der man Privates<br />

liest, aber – Englisch wird die<br />

U<br />

Anzeigen<br />

Mal für, mal gegen<br />

die deutsche Sprache<br />

Sprachpolitik in Baden-Württemberg in grün-roten Zeiten<br />

Arbeitssprache. ... Deswegen haben<br />

wir in Baden-Württemberg, ab der<br />

Grundschule, 1. Klasse, Englisch<br />

eingeführt.“<br />

Deutsch in der Grundschule<br />

gestärkt<br />

Kultusministerin Gabriele Warminski-Leitheußer<br />

(SPD) will nun statt<br />

dessen in der 1. und 2. Klasse wieder<br />

mehr Deutsch und Mathematik<br />

unterrichten lassen. Anfang August<br />

kündigte sie in der Frankfurter Allgemeinen<br />

an: „Wir werden die Klas-<br />

und rufen unsere Leser zum Protest auf<br />

Volkswagen mit Schluckauf<br />

Mit dem VW „up!“ fährt das Unternehmen die Sprache an die Wand<br />

p! Verzeihung, aber dieser Name<br />

ist zum Aufstoßen. Up! Sprachlich<br />

schlecht gefedert holpert der neue Volkswagen<br />

(VW) über die Zunge. Up! Wer<br />

möchte eigentlich ein Auto haben, das so<br />

heißt? Up! Davon bekommt man beim Lesen<br />

Schluckauf. Up! Oder Sodbrennen?<br />

Up! Wie wird sich ein Auto mit einem solchen<br />

Namen erst fahren? – „Willkommen bei up!“<br />

begrüßt der Netzauftritt des Wolfsburger Autobauers<br />

seine Besucher. Up! Darauf klicken wir.<br />

„Download the up! racing game!“ werden wir aufgefordert.<br />

Up! Das tun wir nicht. Statt dessen sehen<br />

wir uns die Ausstattungsbezeichnungen des Ups an:<br />

„take up!“, „move up!“ und „high up!“. Anscheinend<br />

muß dieser „Up!“ englisch ausgesprochen werden,<br />

also „ab!“. Die Ausstattungen gibt es allerdings nicht<br />

in deutscher Übersetzung. Wir reimen sie uns also<br />

selbst zusammen, etwa: „Rad ab!“, „Spiegel ab!“ und<br />

„Auspuff ab!“. Das klingt nicht gerade verlockend.<br />

Auch die Sonderausstattung ist offenbar nur für eng-<br />

sen 1 und 2 wahrscheinlich ausklammern,<br />

denn viele weiterführende<br />

Schulen sagen, daß der Fremdsprachenunterricht<br />

in der Grundschule<br />

nur wenige positive Auswirkungen<br />

auf das Sprachverständnis hat, oder<br />

sogar negative.“<br />

Hintergrund ist der Bericht eines<br />

„Expertenrats“. Dieser bemängelt,<br />

daß vor allem Einwandererkinder<br />

Schwierigkeiten mit der deutschen<br />

Sprache haben. Statt sie<br />

mit einer weiteren Fremdsprache<br />

zu überfordern,<br />

sollten sie sich erst einmal<br />

mit der deutschen<br />

Sprache vertraut machen.<br />

Polizisten mit gebrochenem<br />

Deutsch?<br />

Kopfschütteln löst hingegen das Vorhaben<br />

des baden-württembergischen<br />

Innenministeriums aus, die Anforderungen<br />

an die Deutschkenntnisse für<br />

angehende Polizisten herabzusetzen,<br />

um mehr Einwanderer dienen zu<br />

lassen. Innenminister Reinhold Gall<br />

lischsprachige Kunden gedacht, etwa „city<br />

box“, „cool & sound“ und das „Infotainmentsystem“<br />

„maps + more“. Das Lenkrad<br />

befindet sich jedoch auf der linken Seite.<br />

Mit diesem neuen Auto rast Volkswagen der<br />

deutschen Sprache davon, überfährt gleich<br />

mehrere rote Sprachampeln und fährt den Ruf<br />

der Marke an die Wand. Wenn die Verantwortlichen<br />

bei Volkswagen einmal die Luft anhielten und über ihren<br />

sprachlichen Mißgriff nachdächten, wer weiß, ob<br />

dann der Schluckauf verschwände? Up? (dsw)<br />

Sprachsünder Ecke An dieser Stelle stellen wir Sprachsünder vor, die besonders unangenehm aufgefallen sind,<br />

Hat VW ein Rad ab? Warum ist den Autobauern<br />

kein griffiger deutscher Name eingefallen? Fragen<br />

Sie Volkswagen und lassen Sie uns bitte ein Doppel<br />

zukommen:<br />

Sprachsünder Prof. Dr. rer. nat. Martin Winterkorn,<br />

Vorstandsvorsitzender der Volkswagen AG, Berliner<br />

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(SPD) möchte auch Bewerber zulassen,<br />

die den Deutsch-Test nicht bestehen,<br />

berichtet der neueste Focus.<br />

Serbisch- oder Türkischkenntnisse<br />

könnten statt dessen mangelnde<br />

Deutschkenntnisse ausgleichen.<br />

Ein Scherzbold schlug daraufhin vor,<br />

die Polizei solle auch ihre Übungszielscheiben<br />

vergrößern, da nicht alle<br />

Bewerber so gut träfen. Tatsache ist:<br />

Die Qualität der Polizei soll aus politischen<br />

Gründen gesenkt werden,<br />

nur um den Anteil der Polizisten mit<br />

nichtdeutschen Vorfahren zu erhöhen.<br />

Wenn Sie also künftig einen Polizisten<br />

nach dem Stuttgarter Bahnhof<br />

fragen, dann wundern Sie sich nicht,<br />

wenn er antwortet: „Wallah, gehstu<br />

Arnulf-Klett-Platz, Lan, isch schwör.<br />

Gibs so voll krassen Service Point<br />

und so. Jetz machstu grüne Ampel,<br />

Alder!“ Daß Schwäbischkenntnisse<br />

ebenfalls Mängel im Hochdeutschen<br />

ausgleichen können, ist allerdings<br />

nicht zu erwarten.<br />

Ulm will amerikanisch werden<br />

In Ulm überlegen unterdessen Vertreter<br />

der Stadt, der Wirtschaft und der<br />

Wissenschaft, wie sie die Stadt noch<br />

„internationaler“ machen können,<br />

das heißt amerikanischer. Das geht<br />

aus einem Bericht der Augsburger<br />

Allgemeinen von Ende Juli hervor.<br />

Professor Karl Joachim Ebeling, Präsident<br />

der Universität Ulm, wünscht<br />

sich zum Beispiel ein „Welcome-<br />

Paket“ für ausländische Studenten,<br />

die Umbenennung von Plätzen und<br />

historischen Orten auf englisch, sowie<br />

englischsprachige Artikel in der<br />

örtlichen Presse.<br />

Ohnehin biete die Universität bereits<br />

sieben Masterstudiengänge in englischer<br />

Sprache an. Dabei kommen nur<br />

zwölf Prozent der Ulmer Studenten<br />

aus dem Ausland, in den seltensten<br />

Fällen ist Englisch deren Muttersprache.<br />

Dennoch fordert Professor<br />

Klaus-Peter Kratzer, Prorektor der<br />

Hochschule Ulm, von der Stadt ein<br />

Kulturangebot in englischer Sprache<br />

für ausländische Studenten. Der Puertoricaner<br />

Carlos Sanchez, Standortleiter<br />

im Ulmer Forschungs- und<br />

Entwicklungszentrum von Nokia,<br />

wünscht sich für seine Mitarbeiter<br />

englischsprachige „Communities“<br />

<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>45</strong>_Herbst 2011<br />

<strong>Deutsche</strong><br />

Wortwelt<br />

Das entbehrliche Fremdwort<br />

Queerversity<br />

„Queerversity ist das Einführen<br />

der Differenz des Differenten<br />

in die Diversität“, schreibt<br />

das vom deutschen Bundesfamilienministerium<br />

begründete<br />

„GenderKompetenzZentrum“,<br />

das genauso entbehrlich ist<br />

wie dieses von ihm erfundene<br />

Fremdwort.<br />

Das richtig geschriebene Wort<br />

Entgelt<br />

Das Entgelt besteht zwar<br />

manchmal aus Geld, dennoch<br />

endet das Wort „Entgelt“ mit<br />

„t“. Es leitet sich nämlich von<br />

dem Tätigkeitswort „entgelten“<br />

ab.<br />

Das treffende Wort<br />

launig / launisch<br />

„Haushaltsdebatten sorgen<br />

für die launischsten Reden im<br />

Parlament“, ist sich „Spiegel<br />

online“ sicher. Das Magazin<br />

meinte damit jedoch gewiß<br />

nicht launische, also unberechenbare<br />

oder wankelmütige,<br />

sondern launige, also humorvolle<br />

oder geistreiche Reden.<br />

Ob die Reden tatsächlich so<br />

geistreich sind, steht auf einem<br />

anderen Blatt.<br />

Das richtig gebeugte Wort<br />

gedowngeloadet?<br />

Frage: Heißt es richtig „downgeloadet“<br />

oder „gedownloadet“<br />

oder gar „gedowngeloadet“?<br />

Die richtige Antwort loadet,<br />

Verzeihung, lautet: „heruntergeladen“.<br />

Welche weiteren Wörter sollten<br />

in dieser Wortwelt stehen?<br />

Schreiben Sie uns!<br />

Weltweite Verständigung<br />

durch die internationale Sprache<br />

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Kulturelle und sprachliche Vielfalt ist ein Reichtum der Menschheit<br />

– doch der Prozess des Sterbens von Sprachen dauert an, auch in Europa.<br />

Helfen Sie beim Erhalt der Sprachen und Kulturen:<br />

Mit der neutralen Zweitsprache, geschaffen von einer internationalen<br />

Wissenschaftlergruppe, schützen wir auch unsere Muttersprache.<br />

Informieren Sie sich über eine der leichtesten Sprachen der Welt.<br />

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als Treffpunkte und englischsprachige<br />

Informationen der Ulmer Schulen.<br />

Daß sich die baden-württembergische<br />

Sprachpolitik einseitig an den<br />

Deutsch-Schwächen der Einwanderer<br />

ausrichtet, zeigt, wie angreifbar<br />

die Stellung der deutschen Sprache<br />

nach wie vor ist. Erst wenn selbstverständlich<br />

ist, daß die deutsche Sprache<br />

für die Allgemeinheit zu schützen<br />

ist, daß sie Kultur und Identität<br />

gibt, wird die Sprachpolitik auf einer<br />

gesunden Grundlage stehen. Deutsch<br />

muß die unangefochtene Leitsprache<br />

in Deutschland sein.<br />

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<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>45</strong>_Herbst 2011 Anstöße<br />

Seite 11<br />

„Executive Summary“<br />

als Bumerang<br />

Zu einem Problem wissenschaftlicher<br />

Veröffentlichungspraxis<br />

Um diese Problematik an einem Beispiel<br />

aus dem Forschungsfeld der<br />

deutschen Orient-, Nahost- und Ideologiepolitik<br />

zu verdeutlichen, sei ein<br />

von der Konrad-Adenauer-Stiftung<br />

publizierter Beitrag eines international<br />

angesehenen Nahost-Forschers zitiert.<br />

In seinem Text faßt der deutschsprachige<br />

Autor Dr. Wolfgang G. Schwanitz<br />

seine langjährigen selbständigen<br />

Forschungen zusammen. Er hatte über<br />

den Versuch des deutschen Außenamts<br />

von 1914 geforscht, als Beitrag<br />

zur (Welt-)Kriegspolitik einen kleinen<br />

Heiligen Krieg (Djihad) gegen die<br />

Mächte der Triple Entente anzuzetteln.<br />

(„Die Berliner Djihadisierung<br />

Mitgründer und Mitherausgeber (2000 bis 2002)<br />

der DEUTSCHEN SPRACHWELT<br />

Obmann des Vereins „Muttersprache“ Wien (1987 bis 2000)<br />

Ich Wandersmann auf dieser Erde<br />

jagt’ nach des Lebens Melodie,<br />

erhaschte hie und da wohl einen Ton –<br />

das Thema aber hört’ ich nie.<br />

Von Lienhard Hinz<br />

chaut auf diese Stadt!“ – Dieses<br />

S geflügelte Wort stammt aus der<br />

Rede des sozialdemokratischen Regierenden<br />

Bürgermeisters von Berlin,<br />

Ernst Reuter, am 9. September 1948.<br />

Nur mit wenigen Stichwörtern trat er<br />

im Freien vor dem Reichstag<br />

vor mehr als 300.000<br />

Berlinern an das Mikrophon.<br />

Im Bewußtsein der<br />

Funk- und Filmaufnahmen<br />

richtete er seinen beschwörenden<br />

Anruf an die<br />

Völker der Welt. Langsam,<br />

laut und deutlich betonte<br />

er jede Silbe. Während die<br />

Besatzungsmächte über das<br />

Schicksal Berlins verhandelten, sprach<br />

Ernst Reuter mit bewegter Stimme von<br />

„unserem alten Reichstag mit seiner<br />

stolzen Inschrift ‚Dem <strong>Deutsche</strong>n Volke‘“.<br />

Er spürte die drohende Spaltung<br />

Berlins und verbreitete die Gewißheit<br />

ihrer Überwindung.<br />

Späte Reife<br />

von Stefan Micko<br />

Inzwischen bin ich alt und grau geworden,<br />

laß ab von Hatz und Halali<br />

und lehne still den Kopf an einen Stamm –<br />

nun hör ich sie, die Melodie,<br />

ganz leise.<br />

Wir werden Stefan Micko nicht vergessen.<br />

DEUTSCHE SPRACHWELT<br />

Bericht aus Berlin<br />

des „Pionier- und signaltechnischen<br />

Ausbaus“ kann kein verklärender<br />

Rückblick und schon gar keine verharmlosende<br />

Erinnerung aufkommen.<br />

Zwischen „Vorderem Sperrelement“<br />

und „Hinterlandmauer“ verbergen sich<br />

Kraftfahrzeugsperre mit<br />

Graben, Kontrollstreifen,<br />

Kolonnenweg, Lichttrasse,<br />

Beobachtungstürme und<br />

Führungsstellen, Flächen-<br />

und Höckersperren sowie<br />

der Grenzsignalzaun.<br />

stätte Kleists war bis 1941: „Er lebte,<br />

sang und litt/ in trüber schwerer Zeit/<br />

er suchte hier den Tod/ und fand Unsterblichkeit<br />

– Matth. 6 V. 12“.<br />

Von Richard Albrecht<br />

m Aufruf „Sieben Thesen zur deut-<br />

I schen Sprache in der Wissenschaft“<br />

forderten deutsche Hochschullehrer<br />

2005 zur selbstbewußten Benützung<br />

von Deutsch als Wissenschaftssprache<br />

auf (vgl. DSW 30, Seite 7); nicht<br />

zuletzt, um dem empirisch beobachtbaren<br />

Rückzug des <strong>Deutsche</strong>n aus der<br />

Wissenschaft selbst bei inländischen<br />

akademischen Veranstaltungen zu<br />

begegnen. Zu den „vielfältigen Anstrengungen“,<br />

die nötig sind, um zu<br />

„Gebrauch und Weiterentwicklung<br />

der deutschen Sprache in der Wissenschaft<br />

beizutragen“, sollte hierzulande<br />

auf universitären und wissenschaftlichen<br />

Veranstaltungen mit „ausschließlich<br />

deutschen Teilnehmern auch auf<br />

deutsch“ verhandelt werden. Und auch,<br />

daß es weiter deutschsprachige Lehrbücher<br />

geben sollte und daß „deutsche<br />

Fachzeitschriften auch Artikel in deutscher<br />

Sprache mit englischer Zusammenfassung<br />

annehmen müssen.“<br />

Der Anglist Harald Weinrich betonte<br />

für das breite geisteswissenschaftliche<br />

Feld: So sehr Englisch zu schreiben<br />

Voraussetzung für die aktive<br />

Teilhabe am (geistigen) „Weltmarkt“<br />

ist – so wenig ist dieser ein „sinnvolles<br />

literarisches Projekt“. Damit ist<br />

eine Seite des Dilemmas benannt.<br />

Die Wissenschaftler schlugen 2005<br />

vor, in deutschen wissenschaftlichen<br />

Zeitschriften „Artikel in deutscher<br />

Sprache mit englischer Zusammenfassung“<br />

zu veröffentlichen.<br />

So grundlegend richtig dieser Vorschlag<br />

ist – er hat gleichwohl einen<br />

Webfehler oder Pferdefuß, nämlich<br />

die englische „Executive Summary“.<br />

Diese ist darauf angelegt, Lesern<br />

das Lesen des deutsch geschriebenen<br />

Textes zu ersparen, wie es ein<br />

Schlüsselsatz aus einem Harvardkurs<br />

auf englisch ausdrückt: „Executive<br />

summaries are written for someone<br />

who most likely does not have time<br />

to read the original.“<br />

des Islam. Wie Max von Oppenheim<br />

die islamische Revolution schürte“;<br />

in: KAS-Auslandsinformationen, 20<br />

(2004) 10, Seite 17 bis 37.)<br />

Die „Executive Summary“ des Beitrags<br />

drückt in sorgfältig formuliertem<br />

und jedem Geisteswissenschaftler<br />

verständlichem Englisch den Inhalt<br />

Schaut auf diese Stadt,<br />

des deutschsprachigen Textes aus und<br />

hieß es beim „Willkom-<br />

könnte, so gesehen, den angesonnenen<br />

men, Papst Benedikt!“ am<br />

Zweck dieser besonderen und ausführ-<br />

22. und 23. September in Berlin. Mit<br />

lichen Form einer englischen Zusam-<br />

den wenigen christlichen Feiertagen<br />

menfassung erfüllen: den von einem<br />

steht der Hauptstadt das Sinnzeichen<br />

deutschen Fachwissenschaftler deutsch<br />

des Kreuzes gut. Der Reichstag und<br />

veröffentlichten höchst bedeutsamen<br />

das Olympiastadion wurden erfüllt<br />

Forschungsbeitrag gerade nicht zu le-<br />

vom christlichen Geist „Wo Gott ist,<br />

sen. Er dürfte damit das Gegenteil des<br />

da ist Zukunft“. Und die Verantwor-<br />

Beabsichtigten erreichen, wenn von<br />

tung „vor Gott und den Menschen“,<br />

wissenschaftlichen Abhandlungen „in Dreizehn Jahre später schaute die im Grundgesetz verewigt, ließ der<br />

deutscher Sprache mit englischer Zu- Welt auf diese Stadt, als eine soziali- Heilige Vater unter der Kuppel des<br />

sammenfassung“ die Rede ist. stische Einheitspartei die Hauptstadt Reichstages mitschwingen. Die Heili-<br />

auseinanderriß. Ihr „antifaschistischer ge Messe unter freiem Himmel wird<br />

Die „Executive Summary“ von Schwa- Schutzwall“ zerschnitt in Folge auch nicht ohne heilende Wirkung auf das<br />

nitz hat etwa 3.960 Anschläge und das ganze Deutschland. 1065 Todes- Miteinander bleiben.<br />

macht damit knapp zwölf Prozent des opfer dieser deutschen Tragödie sind<br />

deutschen Gesamttextes aus. Das Bei- bisher bekannt. Die „Arbeitsgemein- Dem preußischen Dichter Heinrich<br />

spiel verdeutlicht damit zugleich, das schaft 13. August“ und der Verein von Kleist ist zu seinem 200. Todestag<br />

und was hier konkret zu viel des Guten „Mauermuseum“ widmeten ihnen im am 21. November ein ganzes „Kleistist.<br />

Oder anders: Jede „Executive Sum- Jahr 2004 das Mahnmal „Sie wollten Jahr“ gewidmet. Am Maxim-Gorkimary“<br />

sollte keinesfalls mehr als fünf nur die Freiheit“ vor dem ehemaligen Theater werden die Kleistschen Dra-<br />

Prozent des deutschsprachigen Ge- amerikanischen Militärkontrollpunkt men und im Ephraim-Palais Kleists<br />

samttextes ausmachen, um nicht den in der Friedrichstraße. Auf beiden Leben verfremdet. Ein Glanzpunkt<br />

Bumerang effektiv grüßen zu lassen. Straßenseiten wurde für jedes Todes- der Ausstellung des Stadtmuseums<br />

opfer ein zwei Meter hohes dunkles ist jedoch das Angebot für Schüler,<br />

Holzkreuz mit Namen und Photo auf- in einer Schreibwerkstatt die eige-<br />

Ermüdender gestellt. Diese 1065 Kreuze mußten ne Handschrift auszubilden und die<br />

nach langen Auseinandersetzungen Briefkultur der Kleistzeit kennen-<br />

Paukenschlag mit dem Eigentümer des Grundstücks zulernen. Die Grabstätte des Dich-<br />

vor sechs Jahren entfernt werden. Mit ters mit der beigestellten Steintafel<br />

Sprachkritik aus dem Segen von Salvatorianerpater für seine Begleiterin in den Freitod,<br />

Vincens hoffen Arbeitsgemeinschaft Henriette Vogel, wird bis Ende Oknaturwissenschaft-<br />

und Verein auf einen würdigen Ort tober mit Fördermitteln der Cornellicher<br />

Sicht (8) für das Freiheitsmahnmal.<br />

sen-Kulturstiftung restauriert: Der<br />

Von Günter Körner<br />

Grabstein mit Namen, Geburts- und<br />

Schaut auf diese Stadt! – Das tun Sterbedatum in der Bismarckstra-<br />

n ermüdender Regelmäßigkeit fünfzig Jahre nach der Errichtung der ße am Hang zum Kleinen Wannsee<br />

I wird der abschließende Pauken- „Berliner Mauer“ Millionen Landsleu- soll neu beschriftet werden. Bis jetzt<br />

schlag nach mehreren Eingrenzunte und Gäste aus allen Erdteilen. Die steht auf dem Stein das Dramenzigen<br />

gesetzt, wie eine entweichende Bezeichnung der gewaltigen Sperrantat „Nun, O Unsterblichkeit, Bist<br />

Blähung: Diese Behauptung über lagen als „Mauer“ ist beschönigend. Du Ganz Mein“. Das ist der Ausruf<br />

das Haupt als Hauptwort unter den Die ursprüngliche Bedeutung „aus des Prinzen von Homburg vor sei-<br />

Vom Kleistgrab ist es in südlicher<br />

Richtung nicht weit bis Kohlhasenbrück.<br />

Mit seiner Novelle „Michael<br />

Kohlhaas“ setzte Kleist dem Zehlendorfer<br />

Ortsteil ein Denkmal. Nach<br />

einer alten Sage versenkte dort an der<br />

Brücke über die Bäke (heute Teltowkanal)<br />

der Berliner Kaufmann Hans<br />

Kohlhase einen zuvor erbeuteten Silberschatz.<br />

Kleist gestaltet die Figur<br />

des Roßhändlers Michael Kohlhaas<br />

in der gleichnamigen Erzählung als<br />

außerordentlichen Mann und „Muster<br />

eines guten Staatsbürgers“, bis<br />

ihm durch einen Gutsherrn Unrecht<br />

widerfahren war und er gerichtlich<br />

nicht recht bekam. Der gewaltsame<br />

Rächer und Selbstrichter endet mit<br />

dem Tod auf dem Rad. Heute gibt es<br />

keine Spur der Ereignisse von 1540,<br />

aber eine der jüngsten deutschen Geschichte.<br />

Ein kleines Holzkreuz erinnert<br />

an der Straße nach Steinstücken<br />

neben der Bushaltestelle „Königsweg“<br />

an den dramatischen Fluchtversuch<br />

des Soldaten Willi Marzahn<br />

am 19. März 1966.<br />

Durch „Michael Kohlhaas“ im<br />

Deutschunterricht ist der Schauspieler<br />

Otto Sander mit Heinrich<br />

von Kleist in Berührung gekommen.<br />

Das Üben der „Bandwurmsätze“ bei<br />

Kleist macht ihm Spaß wie Klavierspielen.<br />

Das zeigte der Künstler im<br />

Lustspiel „Amphitryon“ unter der<br />

Regie von Klaus Michael Grüber<br />

am Berliner Hebbel-Theater 1991.<br />

Sander schätzt auch Kleists Aufsatz<br />

„Über die allmähliche Verfertigung<br />

der Gedanken beim Reden“.<br />

Schaut auf diese Stadt – von der<br />

„Humboldt-Box“ auf dem Schloßplatz!<br />

Dabei fällt der Blick auch auf<br />

die ausgegrabenen Fundamente des<br />

Berliner Schlosses. Nach den Steinen<br />

des 1950 gesprengten Wahrzeichens<br />

wurde bereits an vielen Orten<br />

in der Stadt gegraben. – „… auch<br />

Steine können sprechen“ – Darüber<br />

können Schüler einen literarischen<br />

Text schreiben und zum Schreib-<br />

Würden also englische Zusammenfas-<br />

hauptsächlich als Oberhäupter reden- Steinen und Mörtel errichtete Wand“<br />

sungen nicht bloß als mehr oder weniden<br />

Behauptern ist eine der behaup- geht auf das lateinische „murus“ zuger<br />

formales, meist wenig aussagentetsten<br />

Hauptsachen über enthaupterück und rührt aus der Zeit her, als<br />

des Zehn-Zeilen-„Abstract“, sondern<br />

te Häuptlinge überhaupt. [überhaps die germanischen Stämme die römi-<br />

als sorgfältig formulierte „Executive<br />

(österreichisch) = ungefähr, vorsche Steinbautechnik kennenlernten.<br />

Summary“ angelegt und in deutschen<br />

schnell, überstürzt]<br />

Bei der Betrachtung einer Abbildung<br />

DSW_<strong>45</strong>_S11_Micko_Todesanzeige<br />

Fachzeitschriften publiziert, könnte<br />

dies mit Blick auf die zu Recht geforner<br />

angekündigten Hinrichtung. Das wettbewerb „Schöne deutsche Spra-<br />

Todesurteil wegen eigenmächtiger che“ an die Neue Fruchtbringende<br />

Schlachtenführung nimmt der Kur- Gesellschaft in Köthen (Anhalt)<br />

fürst aber zurück und ehrt den Sieger bis zum 31. März 2012 einsenden:<br />

in der Schlacht bei Fehrbellin von schreibwettbewerb@fruchtbringen-<br />

1675. Die erste Inschrift der Grabde-gesellschaft.de. DSW_<strong>45</strong>_S11_Loriot_Todesanzeige<br />

derte „Weiterentwicklung der deutschen<br />

Sprache in der Wissenschaft“<br />

Wir trauern um<br />

Wir trauern um<br />

Bumerangeffekte zeitigen und das<br />

Gegenteil des Beabsichtigten bewirken:<br />

Flüchtige – besonders vorrangig<br />

Stefan Micko<br />

Loriot<br />

anglophone – Leser wähnten sich gut<br />

informiert und würden sodann keinen<br />

Blick mehr in den deutschsprachigen<br />

wissenschaftlichen Text werfen.<br />

* 14. Dezember 1932 † 12. August 2011<br />

* 12. November 1923<br />

† 22. August 2011<br />

„Wir sind auf dem Wege, unser wichtigstes<br />

Kommunikationsmittel so zu vereinfachen,<br />

daß es in einigen Generationen genügen wird,<br />

sich grunzend zu verständigen.“<br />

„Die Anglisierung unserer Sprache steigert<br />

sich allmählich in eine monströse<br />

Lächerlichkeit.“<br />

„Die Rechtschreibreform ist ja völlig in<br />

Ordnung, – wenn man weder lesen noch<br />

schreiben kann.“<br />

Danke, Loriot!<br />

DEUTSCHE SPRACHWELT


Seite 12 Bunte Seite<br />

Zum Teufel mit dem Teufel<br />

Wie unbedachte Verwünschungen den Gottseibeiuns bereichern<br />

Von Karin Pfeiffer-Stolz<br />

D<br />

em Teufel geht es gut. Er<br />

lebt im Überfluß. Was er hat,<br />

bekommt er umsonst. Und täglich<br />

wird es mehr. Funktioniert morgens<br />

um drei nach sechs die elektrische<br />

Zahnbürste des Herrn Mikus nicht,<br />

so flucht dieser: „Zum<br />

Teufel mit diesem tükkischen<br />

Apparat!“ Und<br />

schon hat der Teufel<br />

eine elektrische Zahnbürste.<br />

Ein heftiger Platzregen<br />

geht nieder. Verzweifelt<br />

fummelt Regina<br />

Reisig am elektronischen<br />

Mechanismus<br />

des neuen Handtaschenregenschirms<br />

herum. Inzwischen<br />

gießt es hemmungslos<br />

in ihre frischen Dauerwellen.<br />

„Zum Teufel mit diesem Schirm!“<br />

Und schon hat der Bockbeinige einen<br />

hellblauen Regenschirm Marke<br />

„Flop“ für 27 Euro und 50 Cent.<br />

Das Auto von Anton Birkenbaum<br />

will nach einer kalten Nacht nicht anspringen.<br />

Er dreht den Schlüssel herum,<br />

immer und immer wieder, aber<br />

der Anlasser macht nur müde weuweuweu,<br />

weuweuweu. Das reicht<br />

nicht aus, um ins Büro zu kommen.<br />

Morgendliche Weuweuweu-Spiele<br />

sind nicht Antons Sache. „Der Teufel<br />

soll den Karren holen!“ schimpft er,<br />

und wir ahnen es schon. Wie sich der<br />

Satan über das metallic-rote Golf-<br />

Kabrio freut, das kann man sich<br />

leicht ausmalen.<br />

Oft genug bekommt der Teufel auch<br />

ganz große Sachen: Irene Zippel erwartet<br />

im ersten Stock des Hotels<br />

Edelweiß ungeduldig den Aufzug.<br />

Immer wieder drückt sie auf den<br />

Knopf. Nach einer halben Minute und<br />

dreißig Sekunden flucht Frau Zippel<br />

lauthals – es ist gerade niemand in<br />

der Nähe: „Zum Teufel mit diesem<br />

depperten Aufzug!“ Und schon hat<br />

der Teufel einen robusten KONE-<br />

Personenaufzug mit einer Maximalbelastung<br />

von 500 Kilogramm. Nur<br />

Sekunden später kommt das ganze<br />

Hotel hinterher, denn Irene Zippel<br />

wünscht auch dieses zum Teufel, als<br />

die widerspenstige Feuerschutztür<br />

zum Treppenhaus ihre Handtasche<br />

einklemmt.<br />

Ja, dem Teufel geht es wirklich<br />

gut! Ohne sich im geringsten anzustrengen,<br />

bekommt er die engen<br />

Rindslederstiefel aus einem Supersonderangebot,<br />

dazu eine taillierte<br />

Leinenjacke, flotte Jeans-Hosen<br />

und Dutzende, nein Hunderte von<br />

Sommerkleidern in Größe 36, er<br />

bekommt Straßenlaternen und Reißverschlüsse,<br />

er bekommt Zigaretten<br />

und Schnaps, er bekommt Skatkarten<br />

mitsamt Stammtischen, an denen<br />

noch die Skatbrüder kleben, er bekommt<br />

Haustüren mit ganzen Wohnhäusern<br />

dran. Drehtüren<br />

und Schuhbänder werden<br />

seins, rot leuchtende Ampeln,<br />

Autobahnen und Klimaanlagen,<br />

Züge der <strong>Deutsche</strong>n<br />

Bundesbahn samt<br />

Schaffnern, Kontrolleure<br />

aus öffentlichen Nahverkehrsmitteln,Windkraftanlagen,<br />

Nebelbänke und<br />

nörgelige Chefs.<br />

Seit einigen Jahren hagelt<br />

es gelbe Bücher mit dem<br />

Aufdruck „Duden“, was<br />

dem Teufel spanisch vorkommt.<br />

Für die vielen Rechneranlagen<br />

hat der Höllenbube inzwischen<br />

eine extra große unterirdische Halle<br />

bauen lassen, die Jungteufel sind<br />

ganz scharf auf das Internet und mischen<br />

artenspezifisch mit, was man<br />

hier oben auch zu spüren kriegt. Die<br />

gesamte Telekom sitzt ohnehin schon<br />

lang in der Hölle.<br />

Geld hat der Teufel inzwischen ebensoviel<br />

wie Mist. Er besitzt mehr Euro-<br />

Münzen und Scheine als überhaupt<br />

geprägt und gedruckt worden sind.<br />

Daran können wir wieder einmal ler-<br />

Von Dagmar Schmauks<br />

DSW-Silbenrätsel<br />

1. Jemand, der die Qualität von Krimis testet – 2. Zensur für den untersten<br />

Teil des Beines – 3. schmaler Weg für schwerfällige Menschen – 4. Spottname<br />

für einen Schönheitschirurgen – 5. lebhaftes Treiben von Weichtieren –<br />

6. Nahrungsmittel für ein weibliches Kleidungsstück – 7. Teil eines Baumes<br />

mit gutem Gedächtnis – 8. Aufforderung, Schiffsbefestigungen einzufetten<br />

– 9. kostenlose Übergabe von Saatkörnern – 10. einen deutschen Dichter<br />

herbeirufen – 11. kostbare Ansammlung von sprachlichen Einheiten – 12.<br />

Zimmer für Insektenlarven – 13. verregnete Volkserzählung – 14. abgezogene<br />

Tierhaut zum Umtauschen – 15. würziges Schweinchen – 16. jemand,<br />

der getrocknete Trauben abwirft – 17. Fahrzeug für kleine Nagetiere – 18.<br />

I<br />

Was ist deutsch am<br />

„Neudeutsch“?<br />

mmer häufiger stolpere ich über<br />

einen Trick, der angewendet<br />

wird, um englische Wörter in unseren<br />

Wortschatz einzuschmuggeln:<br />

Jemand benutzt ein englisches Wort,<br />

behauptet, es sei „Neudeutsch“,<br />

und schon – Hokuspokus – ist es<br />

Deutsch!<br />

Aber, aber, meine Damen und Herren<br />

Manipulateure, so einfach geht es nun<br />

wirklich nicht! Die entsprechenden<br />

Wörter sind weder neu, noch sind sie<br />

deutsch, sondern englisch! Da könnte<br />

man ja gleich das ganze Oxford<br />

English Dictionary als „Neudeutsches<br />

Wörterbuch“ herausbringen. Wäre es<br />

nicht ein Geniestreich, die deutsche<br />

Sprache auf diese Art mit einigen Zigtausend<br />

neuen Schlagwörtern zu bereichern?<br />

Zumal es das oben erwähnte<br />

und mit viel Aufwand betriebene<br />

Herumtricksen endlich überflüssig<br />

machen würde, um jedes Jahr Hunderte<br />

englische Wörter in die deutsche<br />

Sprache einfließen zu lassen.<br />

nen, wie lebendig Wünsche und Verwünschungen<br />

werden können.<br />

Auch Politiker aller Farbschattierungen<br />

und Körpergrößen gehören zur<br />

Sammlung, mit denen aber hat selbst<br />

der Teufel keine rechte Freude. Er<br />

stellt sie allesamt im Untergeschoß<br />

ab. Was er mit den vielen Lehrerinnen<br />

und Lehrern machen soll, weiß<br />

er auch nicht. Die werden mitsamt<br />

Klassenzimmereinrichtungen, Füllern,<br />

Heften, Spitzern, Wandtafeln,<br />

Rechtschreibbüchern, Allgemeinen<br />

Schulordnungen, Konferenzbeschlüssen,<br />

Zeugnissen, Zeigestökken,<br />

Landkarten und so weiter zum<br />

Teufel geschickt. Manchmal ist auch<br />

ein Hausmeister dabei. Schüler und<br />

Eltern sollen ebenfalls schon beim<br />

Teufel gelandet sein. Aber das ist<br />

wahrscheinlich nur ein teuflisches<br />

Gerücht.<br />

Wenn es die Menschen an bestimmten<br />

Tagen – besonders an Vollmond – zu<br />

toll treiben mit ihren Verwünschungen,<br />

dann steigt der Teufel in das<br />

metallic-rote Golf-Kabrio von Anton<br />

Birkenbaum und braust auf und davon.<br />

Am liebsten würde er dann ebenfalls<br />

den ganzen Krempel woandershin<br />

wünschen. Aber als allerunterste<br />

Instanz hat er eben nicht nur Rechte,<br />

sondern auch Pflichten. Die kann er<br />

nicht weiterreichen. Und das eigentlich<br />

ist das wahrhaft Satanische.<br />

Dieser Trick erinnert<br />

sehr an die alte Methode,<br />

die Wahrheit<br />

durch Hinzufügen<br />

eines kleinen Extrawortes<br />

zu verdrehen und zu vernebeln.<br />

„Null“-Wachstum gehört zum<br />

Beispiel dazu, oder – noch dreister<br />

– das „Minus“-Wachstum. Letzteres<br />

bedeutet übrigens nichts anderes als<br />

einen Rückgang oder Rückschritt,<br />

und das bedeutet diese Herumtrickserei<br />

auch für die deutsche Sprache,<br />

meint<br />

Ihr Anglizismenmuffel<br />

Wolfgang Hildebrandt<br />

Wolfgang Hildebrandt, Mal ganz<br />

ehrlich – denglischst du noch<br />

oder sprechen Sie schon?, Band<br />

2, ISBN 978-3-929744-52-1, 6,00<br />

Euro. Bestellungen: Wolfgang Hildebrandt,<br />

Am Steingrab 20a, D-27628<br />

Lehnstedt, Telefon +49-(0)4746-<br />

1069, Telefax +49-(0)4746-931432,<br />

hillesimm@t-online.de<br />

Straßenbahnfahrerin eines östlichen Nachbarlandes – 19. doppelt unverfälscht<br />

– 20. risikoscheue Hautwucherung – 21. angefüllt mit Schriftsprache<br />

– 22. Glanz, der gebracht wird – 23. wenn man zuverlässig zu seiner<br />

Ecke hält – 24. jemand, der Haare aufrollt – 25. lüsterne Fabrik – 26. Metall,<br />

dem sehr übel ist – 27. schlecht ernährtes gebogenes Gerät – 28. durchgesägte<br />

Befestigung für Segel – 29. ganz viele Menschen im Gefängnis – 30.<br />

nordeuropäischer Volksstamm beim Reinemachen<br />

ab – balg – be – be – ber – blatt – bom – brech – chen – de – der – ei – er<br />

– feig – fer – fer – fett – fuß – fut – ge – ger – ha – haft – halb – ham – hun<br />

– kel – ken – ken – ken – ken – ker – lap – le – ler – ler – lie – lin – lok – lok<br />

– mär – mas – mast – men – merk – nen – no – nungs – öl – pel – pen – pen<br />

– pfad – po – prü – pup – pur – pur – putz – rad – ro – rock – sa – salz –<br />

säu – schatz – schau – schei – schein – schil – schnek – sel – sen – sen – si<br />

– span – spen – ster – stu – tan – te – te – ter – text – tram – tram – treu<br />

– trie – trieb – voll – war – wech – werk – wick – win – wort – ze<br />

<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>45</strong>_Herbst 2011<br />

„Wer auffallen will,<br />

schreibt deutsch“<br />

Z<br />

Ein großes Rostocker Modehaus<br />

greift die Anti-SALE-Aktion der DSW auf<br />

u einem Dauerbrenner hat sich<br />

die Anti-SALE-Aktion entwickelt,<br />

welche die DEUTSCHE<br />

SPRACHWELT im Frühjahr 2009 ins<br />

Leben gerufen hat (siehe DSW 35).<br />

Das unsägliche, massenhafte SALE ist<br />

leider immer noch nicht aus unseren<br />

Städten verschwunden. Nun können<br />

wir uns jedoch über einen schönen<br />

Erfolg in Rostock freuen, der über die<br />

Stadtgrenzen hinaus Beachtung fand.<br />

Das „Modehaus Nikolaus“, das in Rostock<br />

mehrere Filialen unterhält und<br />

mit ihnen das Stadtbild prägt, griff<br />

zum Sommerschlußverkauf im Juli<br />

dieses Jahres die Anti-SALE-Aktion<br />

auf. Dazu hängte es in seine Schaufenster<br />

rote Plakate (siehe Bild).<br />

Auf diesen ist ein großes, durchgestrichenes<br />

„SALE“ zu erkennen.<br />

Darunter steht „SCHLUSS mit dem<br />

Ausverkauf der deutschen Sprache –<br />

VERKAUF“. Einem DSW-Leser, der<br />

durch die Stadt bummelte, fiel das<br />

selbstverständlich sofort auf, er ging<br />

in eine Filiale und beglückwünschte<br />

die Verkäuferin. Diese entgegnete:<br />

„Es kommen öfter Leute in den Laden<br />

und finden das Schild ganz toll.“<br />

Den Einfall, die SALE-Welle zu<br />

durchbrechen, hatte Kathrin Schreiber,<br />

eine Dekorateurin im „Modehaus<br />

Nikolaus“. Sie erzählt, daß es seit Jahren<br />

ablehnende Rückmeldungen von<br />

Kunden gebe, die sich an dem Wort<br />

„SALE“ stören und nichts damit anfangen<br />

können. Daraufhin durchsuchte die<br />

Schaufenstergestalterin das Netz – und<br />

entdeckte unter www.deutsche-sprachwelt.de<br />

den Aufkleber der DEUT-<br />

SCHEN SPRACHWELT. Dieser regte<br />

sie zu den Schaufensterplakaten an.<br />

Kein Wunder, daß auch bald das Fernsehen<br />

des Norddeutschen Rundfunks<br />

(NDR) aufmerksam wurde und in seinem<br />

„Nordmagazin“ berichtete. Der<br />

Moderator kommentierte: „Wer wirklich<br />

auffallen will, der schreibt wieder<br />

deutsch.“ Das meinen wir auch und<br />

hoffen, daß diese beispielhafte Aktion<br />

zahlreiche Nachahmer findet!<br />

Unseren Original-Aufkleber können<br />

Sie mit Hilfe des Bestellscheins auf<br />

Seite 5 oder über eine Nachricht an<br />

bestellung@deutsche-sprachwelt.de<br />

anfordern. Aufgrund der weiterhin<br />

großen Nachfrage haben wir vor kurzem<br />

wieder 5.000 Stück nachdrukken<br />

lassen. Wir geben sie kostenlos<br />

ab, freuen uns jedoch über Spenden<br />

zur Deckung der Druck- und Versandkosten.<br />

Und falls Sie einmal in<br />

Rostock weilen sollten, danken Sie<br />

bitte der sprachbewußten Geschäftsführung,<br />

wenn Sie beim „Modehaus<br />

Nikolaus“ einkaufen, und richten Sie<br />

bitte herzliche Grüße von der DEUT-<br />

SCHEN SPRACHWELT aus. (dsw)<br />

% SALE %<br />

Wenn ich in unser Kaufhaus geh,<br />

gibt’s ein Wort, das ich nicht versteh:<br />

Ich lese Dutzend Male<br />

das groß geschriebne SALE.<br />

In leuchtend roter Farbe glänzt<br />

– geheimnisvoll prozentbekränzt –<br />

zum Gruße das fatale<br />

und nebulöse SALE.<br />

Im Schuhgeschäft, im Modeshop<br />

ist alles, was ich seh, tipptopp.<br />

Und jedes der Regale<br />

ziern mindestens zehn SALE.<br />

Kein renommiertes Handelshaus<br />

läßt heute dieses Wörtchen aus.<br />

Sogar die Bankfiliale<br />

schmückt jetzt ein fettes SALE.<br />

Die Kirche stets im Dorfe blieb,<br />

denn Tradition ist allen lieb.<br />

Jedoch die Kathedrale,<br />

erzählt man, mache SALE.<br />

Und überall und immerfort<br />

verwirrt mich dieses blöde Wort<br />

beim Schreiben der Vokale<br />

von Halle an der SALE.<br />

Claus Ritterling, Leipzig<br />

Lösungen: 1. Spannungsprüfer – 2. Fußnote<br />

– 3. Trampelpfad – 4. Fettabscheider<br />

– 5. Schneckengetriebe – 6. Rockfutter – 7.<br />

Merkblatt – 8. Öltanker – 9. Samenspende<br />

– 10. Schillerlocken – 11. Wortschatz – 12.<br />

Puppenstube – 13. Schauermärchen – 14.<br />

Wechselbalg – 15. Salzsäule – 16. Rosinenbomber<br />

– 17. Hamsterrad – 18. Trampolin<br />

– 19. Purpur – 20. Feigwarze – 21.<br />

Volltext – 22. Lieferschein – 23. winkeltreu<br />

– 24. Lockenwickler – 25. Triebwerk – 26.<br />

Brecheisen – 27. Hungerhaken – 28. halbmast<br />

– 29. massenhaft – 30. Putzlappen<br />

Prof. Dr. Dagmar Schmauks ist in der Arbeitsstelle<br />

für Semiotik an der Technischen Universität<br />

Berlin tätig. Semiotik ist die Wissenschaft<br />

von den Zeichen.

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