PDF 45 - Deutsche Sprachwelt
PDF 45 - Deutsche Sprachwelt
PDF 45 - Deutsche Sprachwelt
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
AUSGABE <strong>45</strong><br />
Herbst 2011<br />
12. Jahrgang – 3<br />
ISSN1439-8834<br />
(Ausgabe für Deutschland)<br />
M<br />
Kostenloser Aufkleber<br />
Bestellen Sie auf Seite 5!<br />
Aufgedrückt<br />
Die Lernhilfe-Verlegerin Karin<br />
Pfeiffer-Stolz nennt Hintergründe<br />
zur geplanten Abschaffung<br />
der Schreibschrift.<br />
Seite 3<br />
Språkförsvaret<br />
Der Sprachwissenschaftler<br />
Frank-Michael Kirsch berichtet<br />
über den Kampf der schwedischen<br />
Sprachschützer gegen<br />
Svengelska und für die Muttersprache.<br />
Seite 4<br />
Sprachrede<br />
Der Schriftsteller Ota Filip hielt<br />
die diesjährige „Rede zur deutschen<br />
Sprache“ über Glanz<br />
und Elend des Exils.<br />
Seiten 6 und 7<br />
Sorben<br />
Kultursenator Dietrich Scholze<br />
berichtet, wie mitten in Deutschland<br />
das sorbische Volk seine<br />
Sprache bewahrt.<br />
Seite 9<br />
Schon gespendet?<br />
it Ihrer Spende sichern Sie nicht nur<br />
die Zusendung der DEUTSCHEN<br />
SPRACHWELT, sondern auch Aktionen<br />
für die deutsche Sprache wie den „Sprachwahrer<br />
des Jahres“ oder die Entwicklung<br />
einer „Straße der deutschen Sprache“.<br />
Unsere Aufgaben wachsen stetig.<br />
Können wir nach einer gewissen Zeit<br />
keine Spende verbuchen, senden wir die<br />
DSW nicht mehr zu, um Kosten zu sparen.<br />
Büchereien, Schulen oder Museen erhalten<br />
die Zeitung weiterhin. Falls Sie also<br />
schon lange nichts mehr gespendet haben<br />
sollten, holen Sie dies bitte möglichst<br />
bald nach, damit Sie nicht versehentlich<br />
aus dem Bezieherkreis ausscheiden.<br />
Falls sich Ihre Anschrift geändert hat<br />
oder Sie die Zeitung nicht mehr möchten,<br />
schreiben Sie am besten an:<br />
bestellung@deutsche-sprachwelt.de<br />
Vielen Dank!<br />
Ihr Verein für Sprachpflege<br />
Von Thomas Paulwitz<br />
J<br />
etzt soll also die Schreibschrift<br />
sterben. Kaum ein Schulfach hat<br />
in den vergangenen Jahrzehnten so<br />
unter „Reformen“ gelitten wie der<br />
Deutschunterricht. Das betrifft gerade<br />
die Grundschulen. Das ist um so verheerender,<br />
da Lesen und Schreiben die<br />
grundlegenden Kulturtechniken sind.<br />
Wie ein roter Faden zieht sich durch<br />
die Umgestaltungen das Versprechen,<br />
alles leichter machen zu wollen. Dabei<br />
sinkt die Qualität, während das<br />
Arbeitspensum eher noch steigt. Für<br />
die Schüler, die bei den Hausaufgaben<br />
schwitzen und die Fehlentscheidungen<br />
der Erwachsenen auszubaden<br />
haben, ist es nicht einfacher, sondern<br />
schwerer geworden. Von den gescheiterten<br />
Reformen lebt ein ganzer Berufszweig<br />
von Nachhilfelehrern und<br />
anderen Reparaturbetrieben der deutschen<br />
Bildungspolitik.<br />
So sollte die Rechtschreibreform das<br />
Schreiben einfacher machen – und hat<br />
dieses Ziel mit Pauken und Trompeten<br />
verfehlt. Doch das Durcheinander der<br />
Neuregelung mit ihren erzwungenen<br />
Nachbesserungen blieb nicht der einzige<br />
Mißgriff. Das „phonetische Schreiben“<br />
zum Beispiel, das in manchen<br />
Bundesländern üblich ist, soll die Lust<br />
am Schreiben fördern, indem Fehler<br />
nicht berichtigt werden – und verhindert<br />
gleichzeitig, daß sich die Grundschüler<br />
die richtige Rechtschreibung<br />
einprägen (vergleiche „Der Jäger wird<br />
zum ‚Jega‘“ in DSW 9, Seite 1).<br />
Heike Schmoll berichtet in der „Frankfurter<br />
Allgemeinen“ über Zuschriften<br />
von Grundschülern. Zur Frage, was<br />
sie an Zeitungen interessant finden,<br />
schrieb eine Viertkläßlerin aus Bremen:<br />
Und ich wörte gerne Reporterin<br />
werden. Es ist nämlich spannt in der<br />
Zeitung zu lesen. Wall das sind spannte<br />
Sachen drin sind.“ Ein anderer Schüler<br />
antwortet: „wall es schbas macht“.<br />
Schmoll fügt hinzu: „Diese Texte sind<br />
keine besonders mißratenen.“ Werden<br />
in zwanzig Jahren solche Texte in der<br />
Zeitung zu lesen sein?<br />
Etwa vier Prozent der Bevölkerung<br />
sind Legastheniker mit einer gene-<br />
Rettet die Schreibschrift!<br />
Eine neue „Reform“ droht, den Bildungsstand weiter zu senken<br />
Erfolge aus der Arbeit der DEUTSCHEN SPRACHWELT<br />
E-Petition:<br />
Arbeitsministerium<br />
überzeugt<br />
Viele folgten dem Aufruf der DEUT-<br />
SCHEN SPRACHWELT und unterstützten<br />
eine Petition an den <strong>Deutsche</strong>n<br />
Bundestag für deutschsprachige<br />
Regierungsberichte. Rund 2 000<br />
Bürger unterschrieben. Nun handelte<br />
das Bundesarbeitsministerium und<br />
antwortete: „Der Forschungsbericht<br />
wird aufgrund des hohen nationalen<br />
Interesses derzeit in die deutsche<br />
Sprache übersetzt und anschließend<br />
wieder ‚online‘ gestellt.“<br />
Siehe Seite 2.<br />
tisch bedingten dauerhaften Lese- und<br />
Rechtschreibschwäche. In Schleswig-<br />
Holstein stellen jedoch nicht Ärzte,<br />
sondern die Schulen selbst die<br />
Legasthenikerscheine aus. Dadurch<br />
sind 13 Prozent aller Schüler als Legastheniker<br />
anerkannt. Deren Rechtschreibleistungen<br />
dürfen nämlich bis<br />
zur zehnten Klasse nicht in die Benotung<br />
einfließen. Danach dürfen sie im<br />
Wörterbuch nachschlagen. Die Wörterbuchverlage<br />
freut’s.<br />
Schritt für Schritt senkten die Kultusminister<br />
zudem den Grundwortschatz,<br />
den ein Kind am Ende der<br />
4. Klasse beherrschen sollte. Heute<br />
beträgt er nur noch 700 Wörter. Das<br />
Ausfüllen von Lückentexten ersetzt<br />
das Schreiben ganzer Sätze. Schulkinder<br />
müssen kaum noch Gedichte<br />
auswendig lernen. Den literarischen<br />
Kahlschlag an deutschen Schulen<br />
bezeichnete der russische Germanist<br />
Lew Kopelew als „Kulturrevolution<br />
wie in China – nur ohne Mao“.<br />
Wie fragwürdig das Senken der Meßlatte<br />
ist, zeigt sich in den verheerenden<br />
Folgen. Die Sprachfähigkeiten<br />
schwinden. Wissenschaftler der Universität<br />
Siegen fanden im Jahr 2004<br />
heraus, daß sich zwischen 1972 und<br />
2002 die Fehlerquote in freien Texten<br />
von Viertkläßlern von durchschnittlich<br />
6,9 auf 12,9 Fehler je 100 Wörter<br />
verdoppelte. In dem standardisierten<br />
Testbogen für Lehrstellenbewerber<br />
bei BASF lag der durchschnittliche<br />
Tag der deutschen Sprache:<br />
Aktion für Schreibschrift<br />
ausgerufen<br />
Zusammen mit anderen Vereinen wie<br />
der Aktion <strong>Deutsche</strong> Sprache (ADS)<br />
rief die DEUTSCHE SPRACHWELT<br />
zum Tag der deutschen Sprache am<br />
10. September die Aktion „Rettet die<br />
Schreibschrift“ aus. Die DSW verteilt<br />
kostenlose Aufkleber und sammelt<br />
Unterschriften. Zahlreiche Medien<br />
berichteten bereits. Der Münchner<br />
Merkur stellte gar die bange Frage:<br />
„Ist das Abendland in Gefahr? Droht<br />
ein neuer Kulturkampf?“<br />
Siehe Seite 3.<br />
Diese Tafel erhalten<br />
Sie von<br />
uns im Format<br />
DIN A8 als<br />
kostenlosen<br />
Aufkleber. Bestellen<br />
Sie ihn<br />
bitte auf Seite<br />
5. Eine Spende<br />
für Druck<br />
und Versand<br />
hilft uns!<br />
Anteil richtiger Lösungen bei den<br />
Hauptschülern 1975 bei 51,0 Prozent,<br />
2008 nur noch 37,6 Prozent. Im selben<br />
Zeitraum ging dieser Anteil bei<br />
den Realschülern von 75,2 auf 58,2<br />
Prozent zurück.<br />
Der neueste Fehltritt ist nun der Versuch,<br />
die Schreibschrift abzuschaffen.<br />
In Umfragen sprechen sich 80<br />
bis 90 Prozent der Befragten gegen<br />
die Abschaffung der Schreibschrift<br />
aus. Dennoch hat es der Grundschulverband<br />
nach jahrelanger zäher Lobbyarbeit<br />
geschafft: Im schulpolitisch<br />
ohnehin angeschlagenen Hamburg ist<br />
es den Schulen ab diesem Schuljahr<br />
freigestellt, ob sie die Schreibschrift<br />
oder nur noch eine Druckschrift unterrichten,<br />
die sogenannte „Grundschrift“.<br />
Dabei gibt es keine einzige<br />
ernsthafte Untersuchung, welche diesen<br />
Schritt rechtfertigen könnte. 16<br />
Grundschulen in Baden-Württemberg<br />
haben in einem Schulversuch die<br />
Schreibschrift aus dem Unterricht<br />
verbannt. Im gesamten Bundesgebiet<br />
sind es rund einhundert Schulen.<br />
Die verantwortlichen Schulpolitiker<br />
sind ohne weiteres dazu bereit, ein<br />
Kulturgut zu opfern. Dies erinnert<br />
an einen – von den Siegermächten<br />
im nachhinein gebilligten – nationalsozialistischen<br />
Erlaß von 1941. Der<br />
Reichserziehungsminister verfügte<br />
damals, die deutsche Schreibschrift<br />
durch die lateinische, die sogenannte<br />
„Normalschrift“ zu ersetzen – ein<br />
Anti-SALE-Aktion:<br />
Modehaus zum<br />
Mitmachen angeregt<br />
Die SALE-Welle überflutet weiterhin<br />
das Land, doch es gibt immer<br />
wieder Ereignisse, die Mut machen.<br />
Sie halten die Hoffnung wach, daß<br />
die sprachliche Unvernunft irgendwann<br />
vorbei ist. So griff in Rostock<br />
das „Modehaus Nikolaus“ im Sommerschlußverkauf<br />
dieses Jahres die<br />
Aktion der DEUTSCHEN SPRACH-<br />
WELT auf und plakatierte in seinen<br />
zahlreichen Filialen: „Schluß mit dem<br />
Ausverkauf der deutschen Sprache“.<br />
Siehe Seite 12.<br />
tiefer Kulturbruch. Es geht aber um<br />
noch viel mehr, nämlich darum, daß<br />
Kinder in ihrer geistigen Entwicklung<br />
gezielt behindert werden sollen.<br />
Die bekannte Schreiblehrerin<br />
Ute Andresen weist auf die wichtige<br />
Bedeutung des Schreibenlernens<br />
hin: „Schreibschrift lernen ist mehr<br />
als das Verketten von Buchstaben<br />
zu Informationen; es enthält motorische<br />
und ästhetische Lernvorgänge<br />
und fokussiert das Denken.“ Untersuchungen<br />
zeigen, daß Schüler, die<br />
sich keine fließende Handschrift angeeignet<br />
haben, häufig zu einseitig<br />
und oberflächlich denken. Mit anderen<br />
Worten: Wer die Schreibschrift<br />
abschafft, riskiert den funktionalen<br />
Analphabetismus.<br />
Der Präsident des Lehrerverbandes,<br />
Josef Kraus, sagt voraus: „Die Lesbarkeit<br />
wird sich nicht verbessern,<br />
sondern deutlich verschlechtern, weil<br />
jeder Schüler die Buchstaben so verbindet,<br />
wie es ihm Spaß macht. Auch<br />
das Schreibtempo wird sich deutlich<br />
verlangsamen. Dazu strengt Druckschrift<br />
die Kinder viel mehr an, weil<br />
sie für jeden Buchstaben den Stift<br />
kurz anheben müssen. Pädagogisch<br />
ist das eine Bankrotterklärung, ein<br />
Irrweg. Ich hoffe sehr, daß sich die<br />
anderen Länder dem Hamburger Modell<br />
nicht anschließen werden.“<br />
Daß der Wahnsinn auf Hamburg<br />
beschränkt bleibt, dürfen wir bezweifeln.<br />
Auch andere Bundesländer<br />
experimentieren bereits mit<br />
der Grundschrift. Deren Verfechter<br />
geben sich siegesgewiß: „Wir sind<br />
sicher, daß die Grundschulreferentinnen<br />
und -referenten der anderen<br />
Bundesländer uns auch unterstützen<br />
werden.“ Bei der Durchsetzung soll<br />
ein Taschenspielertrick helfen. Die<br />
„Grundschrift“ wird dabei nicht als<br />
Druckschrift, sondern einfach als<br />
neue Schreibschrift verkauft, schließlich<br />
„werden ja die Buchstaben beim<br />
Schreiben in der Luft miteinander<br />
verbunden“, wie es allen Ernstes in<br />
einem Papier heißt.<br />
So scheint es nur eine Frage der Zeit<br />
zu sein, bis andere Kultusministerien<br />
einknicken. In dieser Lage wirkt der<br />
Vorschlag des sächsischen Kultusministers<br />
Robert Wöller befreiend. Der<br />
Minister forderte, zehn Jahre lang<br />
alle Schulreformen auszusetzen. Er<br />
wünscht sich an jedes Klassenzimmer<br />
das Schild: „Bitte nicht stören. Laßt<br />
die Lehrer einfach ihre Arbeit machen.“<br />
Mit anderen Worten: Nur keine<br />
Reform wäre eine echte Reform.<br />
Helfen Sie mit! Sammeln Sie Unterschriften,<br />
bekennen Sie Farbe!<br />
Versorgen Sie sich dazu mit unseren<br />
kostenlosen Aufklebern (Seite 5).<br />
Fordern Sie bei uns Unterschriftenlisten<br />
an. Mit Ihrer Unterschrift fordern<br />
Sie die Kultusminister dazu auf,<br />
dafür zu sorgen, daß an den Schulen<br />
weiterhin Schreibschrift unterrichtet<br />
wird. Verhindern wir gemeinsam die<br />
Abschaffung der Schreibschrift!<br />
Unsere Aktionsseite:<br />
www.facebook.de/Schreibschrift
Seite 2 Leserbriefe<br />
Endlich Klartext<br />
Zum Beitrag „Deutschland schafft seine Sprache ab“ (Teil 1) von Wolfgang<br />
Hildebrandt in DSW 44, Seite 3<br />
E<br />
ndlich redet jemand Klartext<br />
und fragt die Englischpropagandisten<br />
unserer Republik nach<br />
ihren eigentlichen Absichten. Damit<br />
haben Sie mir aus der Seele gesprochen.<br />
Zu den Sprachsündern gehören<br />
auch Klaus Wowereit mit „Be Berlin“<br />
und Ex-Ministerin Christa Thoben<br />
mit dem teuren englischen Werbespruch<br />
für NRW, den sie billiger<br />
und besser aus der DEUTSCHEN<br />
SPRACHWELT übernommen hätte<br />
(nämlich „Land mit Energie“). Eine<br />
D<br />
Leser-Umfrage würde gewiß noch<br />
mehr abstoßende Beispiele liefern.<br />
Hoffentlich stellen sich die kritisierten<br />
Wissenschaftler und Politiker<br />
endlich der öffentlichen Diskussion,<br />
anstatt auszuweichen, indem sie ihre<br />
Kritiker notorisch als deutschtümelnde<br />
Deppen von gestern abtun. Das<br />
progressive Mäntelchen sollte man<br />
den unpatriotischen Meinungsmachern<br />
ausziehen. Sie nutzen es als<br />
Tarnkappe.<br />
Josef Fliegner, Leverkusen<br />
Überspannt<br />
Zum inflationären Gebrauch des Wortes „spannend“<br />
ie deutsche Sprache ist so vielfältig!<br />
Um einen Zustand oder<br />
ein Objekt zu beschreiben, gibt es<br />
zahlreiche Wörter. In unserer Presselandschaft<br />
– besonders im Rundfunk<br />
– kennt man jedoch nur noch ein Wort,<br />
und das heißt „spannend“! Dieses<br />
Wort „spannend“ wird in Reiseberich-<br />
<strong>Deutsche</strong>r Werberat<br />
10873 Berlin<br />
Sehr geehrter Herr G.,<br />
ten, Reportagen, Erzählungen und so<br />
weiter immer wieder und wieder gebraucht.<br />
So wird die deutsche Sprache<br />
vergewaltigt und vereinfacht. Das liegt<br />
jedoch leider im Trend der professionellen<br />
Sprachbenutzer. Der Trend heißt<br />
„vereinfachen“. Das ist sehr schlecht!<br />
Lothar Kädtler, Wesseling<br />
Liebe Leser!<br />
Was hat Ihnen gefallen? Was hätten wir<br />
besser machen können? Worauf sollten<br />
wir stärker eingehen? Schreiben Sie uns,<br />
wir freuen uns auf Ihre Meinung! Auch<br />
wenn wir nicht jeden Brief beantworten<br />
und veröffentlichen können, so werten<br />
wir doch alle Zuschriften sorgfältig aus.<br />
Bei einer Veröffentlichung behält sich<br />
die Redaktion das Recht vor, sinnwah-<br />
rend zu kürzen. Auf diese Weise wollen<br />
wir möglichst viele Leser zu Wort kommen<br />
lassen. Schreiben Sie bitte an:<br />
DEUTSCHE SPRACHWELT<br />
Leserbriefe<br />
Postfach 1449, D-91004 Erlangen<br />
schriftleitung@deutsche-sprachwelt.de<br />
Gedenkt dem<br />
Genitiv!*<br />
O guter, edler Genitiv, wie fern bist<br />
du entschwunden!<br />
Mit Dativ und Verhältniswort hat man<br />
Ersatz gefunden,<br />
zum Beispiel: Wir gedenken „an“,<br />
statt wir gedenken „wessen“.<br />
Das predigte ich meinem Sohn. Auch<br />
der hat’s nicht gefressen<br />
Claus Ritterling, Leipzig<br />
*Richtig wäre: „Gedenkt des Genitivs!“.<br />
Ist Berlinern unfein?<br />
Zum Berlinischen erreichten uns<br />
weitere Zuschriften<br />
um Leserbrief „Jelernt, nich je-<br />
Z worden“ von Wolfgang A. Lauterbach<br />
in DSW 44, Seite 2: Darin<br />
hieß es: „Man ‚berlinert‘ nicht, man<br />
‚balinat‘“. Man berlinert doch! In Berlin<br />
wird „er“ gerne zu „a“, aber nicht<br />
im Wort Berlin! Außerdem weiß der<br />
echte Berliner, daß berlinern unfein<br />
ist. Det könnse mia jloben, wenn ick<br />
det saje. Vielleicht bin ich allerdings<br />
doch kein echter Berliner, meine vier<br />
Großeltern sind zugezogen, aus verschiedenen<br />
Gegenden Deutschlands.<br />
Jedoch bin ich mit dem Leserbrief<br />
nicht einverstanden.<br />
Klaus Krause, Berlin<br />
B<br />
alina Schulstunde (1941/42):<br />
Kinna, ick werd euch jetzt den<br />
Unnaschied zwischen rundem und<br />
scharfem „S“ erklären. Also: Det det,<br />
det man mit runden „S“ schreibt, det<br />
is det det, det in dem Satz vorkommt:<br />
„Det reechnjet“. Aber det det, det<br />
man mit scharfem „S“ schreibt, det<br />
is det det, det in dem Satz vorkommt:<br />
„Schade, det det reechnjet“.<br />
Prof. Dipl.-Ing. Karlheinrich Tinti,<br />
Leoben<br />
Briefe an uns und unsere Leser<br />
(Rechtschreibung im Original)<br />
<strong>Deutsche</strong>r Werberat: Vermeidung von Anglizismen wäre „künstlich“<br />
… Der von Ihnen gerügte Gebrauch<br />
der englischen Sprache in der Werbung<br />
ist eine Zeiterscheinung, die<br />
der Werberat, die selbstdisziplinäre<br />
Einrichtung der <strong>Deutsche</strong>n Werbewirtschaft,<br />
nicht unterbinden kann.<br />
Der <strong>Deutsche</strong> Werberat schreitet<br />
allerdings dann gegen eine werbliche<br />
Maßnahme ein, wenn sie gegen<br />
die herrschenden gesellschaftlichen<br />
Grundüberzeugungen verstößt. Maßgeblich<br />
hierfür ist die inhaltliche<br />
Aussage einer werblichen Maßnahme<br />
und nicht allein die Verwendung<br />
von Anglizismen.<br />
Es ist auch nicht die Aufgabe der Werbung,<br />
Sprachpflege zu betreiben. Im<br />
Übrigen ist die Werbesprache nur die<br />
Reflektion dessen, was in der Gesellschaft<br />
passiert. Wer ein Produkt bewirbt,<br />
der blickt auf die Gesellschaft,<br />
ermittelt, wie gesprochen wird, welche<br />
Trends dort vorherrschen. Darauf muss<br />
man sich spiegelbildlich einstellen. Die<br />
Werbung einer Firma spricht spezielle<br />
Gruppen an, bei denen sie ein Interesse<br />
an ihrem Angebot voraussetzt. Jüngere<br />
oder junge Leute etwa pendeln beruflich<br />
ständig zwischen Englisch und Deutsch<br />
hin und her, so dass nicht ausgeschlossen<br />
werden kann, dass schon mit entsprechenden<br />
Vokabeln – auch Anglizismen<br />
– Ausdruck von Modernität und<br />
Zukunftsorientierung durch die werbenden<br />
Unternehmen vermittelt wird.<br />
Der Werberat befürwortet, dass die<br />
deutsche Sprache lebendig und offen<br />
gehalten, dass ihre Integritätskraft [!]<br />
nicht unterschätzt wird. Dazu gehört,<br />
dass derjenige, der sich mit seinen<br />
Waren und Dienstleistungen bewirbt,<br />
das Recht und die betriebswirtschaftliche<br />
Pflicht hat, auf die jeweils aktuellen<br />
Sprachgewohnheiten Rücksicht<br />
zu nehmen, sonst wird er seine Zielgruppen<br />
nicht erreichen, weil dort<br />
eine künstliche Sprache außerhalb<br />
des Alltags nicht akzeptiert wird.<br />
Im Übrigen möchten wir darauf verweisen,<br />
dass die Verwendung der<br />
englischen Sprache – sollte sie einmal<br />
tatsächlich überflüssig sein – zuvorderst<br />
dem werbenden Unternehmen<br />
selbst Schaden zufügt. Eine werbli-<br />
che Botschaft, die von den Adressaten<br />
nicht verstanden bzw. akzeptiert<br />
wird, wirkt sich in diesem Sinne also<br />
unmittelbar negativ für das werbende<br />
Unternehmen aus. Es kann davon ausgegangen<br />
werden, dass solche Maßnahmen<br />
dann in Zukunft auch nicht<br />
mehr geschaltet werden. Dies ist jedoch<br />
eine Entscheidung, die allein die<br />
werbenden Firmen zu treffen bzw. zu<br />
vertreten haben. Der Werberat jedenfalls<br />
kann nicht allein an der formellen<br />
Tatsache, dass in englischer Sprache<br />
geworben wird, Anstoß nehmen.<br />
Gleichwohl danken wir für Ihren<br />
Hinweis und verbleiben mit freundlichen<br />
Grüßen<br />
Katja von Heinegg<br />
Bundesarbeitsministerium: Forschungsbericht wird jetzt ins <strong>Deutsche</strong> übersetzt<br />
Bundesministerium<br />
für Arbeit<br />
und Soziales<br />
53107 Bonn<br />
2. August 2011<br />
Sehr geehrter Herr H.,<br />
vielen Dank für Ihr Schreiben vom<br />
22. Juli 2011 an Frau Bundesmini-<br />
Anton Schlecker<br />
Im Schleckerland<br />
Talstraße 14<br />
89579 Ehingen (Donau)<br />
1. September 2011<br />
Sehr geehrter Herr Dr. W.,<br />
zunächst vielen Dank für Ihre engagierte,<br />
durch die kleine Unterschriftensammlung<br />
bekräftigte Zuschrift,<br />
die unser neues Unternehmensmotto<br />
„FOR YOU. VOR ORT.“ kritisiert.<br />
Persönlich kann ich das nachvollziehen,<br />
denn als Geisteswissenschaftler<br />
fühle auch ich mich im privaten<br />
sterin Dr. Ursula von der Leyen. Frau<br />
Ministerin hat mich gebeten, Ihr<br />
Schreiben zu beantworten. Ihre kritischen<br />
Anmerkungen im Schreiben<br />
zur englischsprachigen Veröffentlichung<br />
des Forschungsberichtes FB<br />
400 „Elektromagnetische Felder am<br />
Arbeitsplatz“ habe ich zur Kenntnis<br />
genommen.<br />
Der Originaltext des Forschungsberichts<br />
wurde durch ein ehrenamtliches<br />
Expertengremium des Bundesministeriums<br />
für Arbeit und Soziales<br />
in englischer Sprache erarbeitet.<br />
Der Bericht dient dem Ministerium<br />
Schlecker: Unsere Kunden haben niedriges Bildungsniveau<br />
Sprachgebrauch der Stiltugend der<br />
Latinitas verpflichtet und sehe die<br />
Bestrebungen des Vereins <strong>Deutsche</strong><br />
Sprache mit großem Wohlwollen.<br />
Um jedoch die Position des Unternehmens<br />
Schlecker zu verstehen, lade<br />
ich Sie ein, Ihre Perspektive zu wechseln<br />
und die Sache aus unternehmerischem<br />
Blickwinkel zu betrachten.<br />
Schlecker hat nach einem neuen Unternehmensmotto<br />
gesucht. Dieses<br />
Motto sollte die durchschnittlichen<br />
Schlecker-Kunden, die niederen<br />
bis mittleren Bildungsniveaus zuzuordnen<br />
sind, ansprechen. Wir haben<br />
renommierteste Marketing- und<br />
Marktforschungsagenturen beauftragt,<br />
unter diesen Gesichtspunkten<br />
eine optimale Parole für uns zu finden.<br />
Der so zustande gekommene<br />
als wissenschaftliche Grundlage für<br />
fachliche Diskussionen mit anderen<br />
EU-Mitgliedstaaten sowie mit europäischen<br />
und internationalen Experten<br />
im Rahmen der Überarbeitung<br />
der EU-Arbeitsschutz-Richtlinie<br />
2004/40/EG „Elektromagnetische<br />
Felder“. Der FB 400 wurde auf mehreren<br />
europäischen und internationalen<br />
Fachkonferenzen vorgestellt und<br />
ist in den betroffenen Fachkreisen<br />
auf große Resonanz gestoßen. Die<br />
Zugriffszahlen auf die entsprechende<br />
Internetseite des Ministeriums bestätigten<br />
ebenfalls das hohe Interesse<br />
der Fachwelt.<br />
Vorschlag „FOR YOU. VOR ORT.“<br />
machte am Ende vor allem deshalb<br />
das Rennen, weil er beim für unsere<br />
Haupt-Zielgruppen repräsentativen<br />
Testpublikum am besten abschnitt.<br />
Dies lag nicht zuletzt daran, dass er<br />
durch sein provokant kalauerndes<br />
Denglisch im Gedächtnis hängen<br />
bleibt und gleichzeitig kontroversen<br />
Gesprächsstoff liefert. Mit einer rein<br />
deutschen, sprachrichtigen Formulierung<br />
würden diese Effekte verloren<br />
gehen. Wir geben Ihnen daher<br />
zweierlei zu bedenken: Zweck eines<br />
Werbespruchs ist nicht, einen Beitrag<br />
zur Bereicherung oder Reinhaltung<br />
der deutschen Sprache zu liefern; die<br />
Zielgruppe unseres Werbespruchs<br />
sind auch nicht die vielleicht 5% der<br />
Bevölkerung, zu denen Sie und Ihre<br />
Mitunterzeichner gehören (nämlich<br />
Ich habe aber jetzt Anfragen zum<br />
Anlass genommen, den Bericht vorerst<br />
von der Webseite zu nehmen.<br />
Der Forschungsbericht wird aufgrund<br />
des hohen nationalen Interesses<br />
derzeit in die deutsche Sprache<br />
übersetzt und anschließend wieder<br />
„online“ gestellt.<br />
Mit freundlichem Gruß<br />
Wolfgang Doll<br />
promovierte Akademiker, Philologen<br />
und andere reflektierte Sprachverwender)<br />
– sondern die übrigen 95%.<br />
Die Funktion eines Werbespruchs ist<br />
es, in dieser breiten Masse der Bevölkerung<br />
nachhaltig positive Aufmerksamkeit<br />
zu erregen.<br />
Wir nehmen Ihren Protest also mit<br />
Sympathie zur Kenntnis, müssen Ihnen<br />
aber gleichzeitig mitteilen, dass<br />
wir aus den dargelegten Gründen<br />
„FOR YOU. VOR ORT.“ nicht infrage<br />
stellen und bitten dafür um Ihr<br />
geschätztes Verständnis.<br />
Mit freundlichen Grüßen<br />
Florian Baum M. A.<br />
(Leiter Unternehmenskommunikation)<br />
<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>45</strong>_Herbst 2011<br />
Sprachkultur im Kanzleramt<br />
„Wenn ich so eine Scheiße höre wie<br />
Gewissensentscheidung.“<br />
(Kanzleramtsminister Ronald Pofalla<br />
laut „Frankfurter Allgemeiner Sonntagszeitung“<br />
vom 2. Oktober 2011)<br />
BRD<br />
<br />
Mein Gott, wie ändern sich die Zeiten –<br />
Was ist nur los mit der Natur?<br />
Nun wächst sogar in unsren Breiten<br />
Die gelbe Frucht in „Rhein-Kultur“<br />
Man schaut verdutzt auf die Plantagen,<br />
So weit das Auge reicht,<br />
Und kämpft mit härteren Bandagen<br />
Bis der AnStand völlig weicht.<br />
Das rüde Klima macht den Wandel<br />
Möglich, und die UnMoral<br />
Dominiert nicht nur den Handel;<br />
Moral gilt längst als abnormal!<br />
Wir leben im Bananen-Land<br />
Und sind unendlich tüchtig,<br />
Die Korruption nimmt überhand …<br />
Bananen machen süchtig!<br />
AnMerkelung:<br />
Staunend blicken unsre Ahnen,<br />
Statt auf Kartoffeln – auf Bananen.<br />
Günter B. Merkel, Wilhelmsfeld<br />
Einstieg in die dichterische Merkelwelt:<br />
Günter B. Merkel: Große Sprüche vom<br />
gnadenlosen Dichter, SWP-Buch-Verlag,<br />
Wilhelmsfeld 2007, 128 Seiten, fester Einband,<br />
9,50 Euro. Bestellung unter Telefon<br />
06220/6310. www.merkel-gedichte.de<br />
Gegründet im Jahr 2000<br />
Erscheint viermal im Jahr<br />
Auflage: 25.000<br />
Die jährliche Bezugsgebühr beträgt 10 Euro.<br />
Für Nicht- und Geringverdiener ist der Bezug<br />
kostenfrei. Zusätzliche Spenden sind sehr<br />
willkommen.<br />
Bundesrepublik Deutschland<br />
Verein für Sprachpflege e. V.<br />
Stadt- und Kreissparkasse Erlangen<br />
Bankleitzahl 763 500 00<br />
Kontonummer 400 1957<br />
BIC: BYLADEM1ERH<br />
IBAN: DE63763500000004001957<br />
Republik Österreich<br />
Verein für Sprachpflege e. V.<br />
Volksbank Salzburg<br />
Bankleitzahl <strong>45</strong>010<br />
Kontonummer 000 150 623<br />
Bitte bei der Überweisung vollständige<br />
Anschrift mit Postleitzahl angeben!<br />
ISSN 1439-8834<br />
(Ausgabe für Deutschland)<br />
ISSN 1606-0008<br />
(Ausgabe für Österreich)<br />
Herausgeber<br />
Verein für Sprachpflege e. V.<br />
Sammelanschrift<br />
<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong><br />
Postfach 1449, D-91004 Erlangen<br />
Fernruf 0049-(0)91 31-48 06 61<br />
Ferndruck (Fax) 0049-(0)91 31-48 06 62<br />
Bestellung@deutsche-sprachwelt.de<br />
Schriftleitung@deutsche-sprachwelt.de<br />
Schriftleitung<br />
Thomas Paulwitz<br />
Thomas.Paulwitz@deutsche-sprachwelt.de<br />
Gestaltung und Satz<br />
moritz.marten.komm.<br />
Claudia Moritz-Marten<br />
momakomm@netcologne.de<br />
Anzeigen<br />
moritz.marten.komm.<br />
Hans-Paul Marten<br />
Fernruf 0049-(0)22 71-6 66 64<br />
Ferndruck (Fax) 0049-(0)22 71-6 66 63<br />
Werbeanfragen@deutsche-sprachwelt.de<br />
<strong>Sprachwelt</strong>-Mitarbeiter<br />
Ursula Bomba, Lienhard Hinz (Berlin), Rominte<br />
van Thiel, Dagmar Schmauks, Wolfgang<br />
Hildebrandt, Diethold Tietz, Jürgen<br />
Langhans, Ulrich Werner, Klemens Weilandt,<br />
Andreas Raffeiner (Bozen/Innsbruck)<br />
Druck<br />
Ferdinand Berger & Söhne GmbH<br />
Wiener Straße 80, A-3580 Horn<br />
Namentlich gekennzeichnete Artikel geben<br />
nicht unbedingt die Meinung der<br />
Redaktion wieder. Das gilt besonders für<br />
Leserbriefe.<br />
Die 46. Ausgabe erscheint zu Weihnachten<br />
2011. Redaktions- und Anzeigenschluß<br />
sind am 11. November 2011.
<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>45</strong>_Herbst 2011 Hintergrund<br />
Seite 3<br />
Von Karin Pfeiffer-Stolz<br />
M<br />
al ehrlich: Würden Sie in<br />
Holzpantoffeln zu einem<br />
Wettlauf antreten? Sie halten das für<br />
eine dumme Frage? Etwas vergleichbar<br />
Dummes wird jedoch zur Zeit für<br />
das schulische Lernen vorgeschlagen<br />
und ist kurz davor, auf politischem<br />
Wege verwirklicht zu werden. So<br />
manchem dürfte noch nicht hinreichend<br />
klar sein, was mit der „Grundschrift“<br />
auf die Schule zukommt.<br />
Den Fuß hat sie bereits in der Hamburger<br />
Tür. Aktuelle Umfragen haben<br />
gezeigt, daß knapp 90 Prozent der<br />
Befragten gegen diese neue Druckschrift<br />
sind und für die Beibehaltung<br />
der Schreibschrift. Wie jedoch die<br />
Erfahrung zeigt, werden politische<br />
Entscheidungen zunehmend gegen<br />
den erklärten Willen der Betroffenen<br />
durchgeboxt. Bereits lange bevor<br />
überhaupt öffentliche Diskussionen<br />
geführt werden, sind hinter den Kulissen,<br />
still und gänzlich demokratiefern,<br />
Geschäfte angebahnt und<br />
Verträge geschlossen worden. Wenn<br />
es ums Geld geht, dann ist der Volkswille<br />
bloß lästiger Störfaktor.<br />
Ehe Sie sich von harmonisch tönender<br />
Propaganda wohlig davontragen<br />
lassen, stellen Sie sich bitte einige<br />
der folgenden Fragen: Worum geht<br />
es? Wer hat Interesse an der Durchsetzung?<br />
Welche Argumente werden<br />
gebraucht? Ist das Interesse wirtschaftlicher<br />
Art? Welche Nachteile<br />
gibt es? Was wird verschwiegen?<br />
Gibt es neutrale Untersuchungen und<br />
Praxiserfahrungen? Wird wirklich<br />
etwas Neues gebraucht? Wieviel Zeit<br />
wird es kosten? Wer bezahlt es?<br />
Die zähe Lobbyarbeit eines in Frankfurt<br />
ansässigen Interessenverbandes<br />
beginnt Früchte zu tragen: Der Grundschulverband<br />
e.V., dessen ideelle Wurzeln<br />
in die 1968er-Zeit zurückreichen,<br />
hat erreicht, daß in Hamburg ab dem<br />
kommenden Schuljahr wieder einmal<br />
eine neue Retortenschrift für den<br />
Schreibunterricht zugelassen wird:<br />
die „Grundschrift“, wie sie von den<br />
Reformern genannt wird. Um der zu<br />
erwartenden Kritik den Wind aus den<br />
Segeln zu nehmen, kleben die Frankfurter<br />
der Verkaufspackung ein vom<br />
Inhalt ablenkendes Mogeletikett auf.<br />
Die „Grundschrift“ sei keine Druckschrift,<br />
sondern eine Schreibschrift.<br />
Hamburgs Schüler befinden sich also<br />
in derselben Lage wie Sportler, denen<br />
die Trainer moderne Pantinen<br />
verordnen, mit denen man angeblich<br />
schneller und besser läuft als in<br />
den altmodischen Turnschuhen. Die<br />
Druckschrift ist für die Hand ungefähr<br />
dasselbe, was der Holzpantoffel<br />
für den Fuß ist. Nun ja, es wird wohl<br />
nichts klappern beim Schreiben. Das<br />
aber auch nur, weil sich Schreibstottern<br />
akustisch nicht bemerkbar<br />
macht. Beim Schreiben längerer<br />
Texte in Druckschrift dürften sich<br />
die Finger lautlos verkrampfen und<br />
bloß auf Papier sichtbare Spuren in<br />
Form von Buchstabenverknotungen<br />
hinterlassen. Aussagekräftiges<br />
Bildmaterial von bis zur Blutleere<br />
verkrampften Schreibhänden liefert<br />
der Grundschulverband selbst in<br />
seinem vereinseigenen Netzauftritt.<br />
Dennoch wirbt der Vorsitzende des<br />
Grundschulverbandes, Horst Bartnitzky,<br />
für die neue Schrift: „Damit<br />
Kinder besser schreiben lernen!“<br />
Ob wir es mögen oder nicht, so gut<br />
wie alle Dinge, von denen wir um-<br />
Schreiben wie in Holzpantoffeln<br />
Grundsätzliche Gedanken zur geplanten Abschaffung der Schreibschrift<br />
geben sind, dienen einem speziellen<br />
Zweck. Nicht illusionäres Wünschen<br />
und Wollen, sondern die zweckgebundene<br />
Verwendung dieser Dinge<br />
macht deren eigentlichen Wert aus.<br />
Auch ein noch so lobbymächtiger<br />
Grundschulverband wird an dieser<br />
Tatsache nichts ändern. Der Holzpantoffel<br />
bleibt ein Holzpantoffel,<br />
auch wenn hundert Dummköpfe<br />
damit Marathon laufen. Bedauerlicherweise<br />
gilt das auch für die<br />
Druckschrift. Die Druckschrift ist<br />
die ideale Schrift zum Zwecke des<br />
mechanischen Druckens. Für die<br />
Hand gibt es die Schreibschrift. Deren<br />
Buchstabengestalt hat sich im<br />
Verlaufe der Schriftgeschichte allmählich<br />
ökonomisch geformt. Miteinander<br />
verbundene Buchstaben<br />
erwiesen sich als bestgeeignetes Medium<br />
für handgeschriebene Texte.<br />
Schreibschrift ermöglicht fließendes,<br />
schnelles Schreiben. Schreibschrift<br />
ist keine Druckschrift, sie besitzt andere<br />
Buchstabenformen.<br />
Wenn nun ein Interessenverband<br />
der gutmütigen Kundschaft mittels<br />
semantischer Verdunkelung die<br />
Einzellettern der Druckschrift als<br />
Handschrift verkaufen will, dann<br />
ist dies schon mehr als eine bloße<br />
Dummheit, es ist Chuzpe aus rein<br />
wirtschaftlichem Interesse. Was ist<br />
von den Argumenten zu halten, mit<br />
welchen der Grundschulverband,<br />
allen voran dessen Vorsitzender, der<br />
betroffenen Öffentlichkeit die neue<br />
Druckschrift schmackhaft machen<br />
will? „Die Grundschrift als handgeschriebene<br />
Druckschrift ist die erste<br />
Schreibschrift der Kinder“ (Horst<br />
Bartnitzky). Übertragen in die Holzpantoffelmetapher<br />
heißt das: „Der<br />
Grundpantoffel als lauftüchtiger<br />
Holzpantoffel ist der erste Laufschuh<br />
der Sportler.“ Mittels rhetorischer<br />
Gymnastik wird die Quadratur des<br />
Kreises bemüht.<br />
Die Schrift ist ein Medium, das<br />
Schreiben hingegen ein Prozeß. Die<br />
Schrift selbst besteht aus Buchstaben,<br />
die eine spezifische Form aufweisen,<br />
nach der die jeweilige Schrift<br />
benannt ist: Druckschrift, wenn der<br />
Zweck das (mechanische) Drucken<br />
ist. Schreibschrift, wenn der Zweck<br />
die handschriftliche Verwendung<br />
ist. So einfach ist das. Das versteht<br />
jeder. Man kann eine Schreibschrift<br />
mechanisch drucken, und trotzdem<br />
bleibt das visuelle Ergebnis eine<br />
Schreibschrift. Umgekehrt kann eine<br />
Druckschrift jederzeit mit der Hand<br />
nachgeschrieben werden; auch chinesische<br />
Bildzeichen können wir<br />
manuell schreiben. Die Schreibhandlung<br />
aber macht weder aus den<br />
chinesischen Zeichen noch aus der<br />
Druckschrift eine Schreibschrift.<br />
Diese Banalität kann gar nicht oft<br />
genug wiederholt werden, da die<br />
rührigen Vertreter des Grundschulverbandes<br />
nicht müde werden, wider<br />
jede Logik zu behaupten, aus der<br />
Druckschrift werde – Abrakadabra –<br />
durch zweckfremden Gebrauch eine<br />
Schreibschrift. Listig werden zwei<br />
unterschiedliche Tatsachen semantisch<br />
vermengt: der Begriff „Schrift“<br />
wird wahlweise für die Buchstabenform<br />
oder für den Vorgang der „Niederschrift“,<br />
also den Schreibprozeß,<br />
verwendet. Daraus entstehen sinnwidrige<br />
Behauptungen, die Tatsachen<br />
stehen auf dem Kopf. In der politischen<br />
Diskussion ist dies eine belieb-<br />
te Methode zur geistigen Verwirrung<br />
der Wählerschaft. Intellektuell ist sie<br />
unredlich. Offensichtlich hat man im<br />
Grundschulverband von Anfang an<br />
befürchtet, daß die mit schulbehördlichem<br />
Segen vorangetriebene Abschaffung<br />
der Schreibschrift bei der<br />
Mehrheit der Verantwortlichen, also<br />
bei Eltern und Lehrern, auf heftige<br />
Ablehnung stoßen würde. Den Beleg<br />
dafür liefert ein erstaunlich offenherziges<br />
Eingeständnis des Vorsitzenden<br />
Barntnitzky: „Da der Begriff ,Druckschrift‘<br />
gemeinhin mit dem Vorgang<br />
des Druckens verbunden wird, suchten<br />
wir einen anderen Begriff für<br />
die handgeschriebenen Druckbuchstaben.<br />
… Wir wählten den Begriff<br />
Grundschrift.“<br />
Die perfekten, mechanisch geformten<br />
Druckschriftlettern, die bislang ohne<br />
irgendwelche Nachteile an Schulen<br />
verwendet wurden, sind dem Grundschulverband<br />
ein Dorn im Auge.<br />
Geht es nach dem Willen der Reformer,<br />
so werden den Schülern im<br />
Unterricht demnächst vervielfältigte<br />
handgeschriebene Druckbuchstaben<br />
vorgesetzt. Eine „handgeschriebene“<br />
Druckschriftvorlage muß her, aber<br />
nicht irgendeine! Fortschrittlicher<br />
Unterricht muß offenbar bürokratisch<br />
überwacht werden, damit ein hohes<br />
wissenschaftliches Niveau erreicht<br />
wird. Der Grundschulverband hat<br />
vorgesorgt: Er bietet Materialpakete<br />
mit den handgeschriebenen Druckvorlagen<br />
zum Preis von 39 Euro feil.<br />
Ein solcher Werbekniff muß einem<br />
erst einmal einfallen!<br />
Alles wird auf den Kopf gestellt.<br />
Während für die Schulkinder alle<br />
möglichen Freiheiten gelten, sollen<br />
sich deren Lehrer nach einer stren-<br />
gen Norm richten. Die Lehrperson<br />
bekommt die Anweisung, im Schreibunterricht<br />
keinesfalls die exakten<br />
Buchstabenformen sowie eine ökonomische<br />
Schreibbewegung zu unterrichten.<br />
Das ist Nichtunterricht<br />
der allerfeinsten Sorte! Jede Einmischung<br />
in den Lernprozeß der Kinder<br />
beeinträchtige nämlich den Lernerfolg.<br />
Grobe pädagogische Fehler<br />
seien zum Beispiel das Vorgeben der<br />
Schreibrichtung oder das Verwenden<br />
von Linien als Hilfe zum Einüben<br />
der unterschiedlichen Größenverhältnisse<br />
bei Buchstabenformen. Auf<br />
liniertes Papier müsse unbedingt verzichtet<br />
werden, denn ganz frei, ganz<br />
ungebunden entwickle sich die ideale<br />
Handschrift! Völlig unverzeihlich<br />
sei außerdem der Lehrerhinweis auf<br />
Verletzungen der orthographischen<br />
Norm. Aber das ist heute keinen<br />
Aufreger mehr wert. Seit 1996 weiß<br />
ohnehin kaum noch jemand, was in<br />
der Rechtschreibung verletzt werden<br />
könnte. Die „Grundschrift“ zeigt<br />
sich hier als ideale Ergänzung der sogenannten<br />
Rechtschreibreform.<br />
Einige Regeln zum Schreiben gibt<br />
Bartnitzky uns dann doch mit auf<br />
den Weg: „Beim kleinen a oder d<br />
könnte zuerst rechts der Abstrich geschrieben,<br />
dann nach links der Bauch<br />
ergänzt werden.“ Wo immer es geht,<br />
aber ja doch. Geneigter Leser, jetzt<br />
sind Sie dran. Holen Sie sich ein Blatt<br />
Papier, schreiben Sie die Druckbuchstaben<br />
„a“ und „d“ in der eben geschilderten<br />
Weise mehrmals hintereinander<br />
auf. Schreiben Sie dann, so<br />
flüssig und flott wie möglich, weiter.<br />
Nicht vergessen: zuerst den Abstrich,<br />
entweder von oben nach unten, oder<br />
umgekehrt, und danach den neckischen<br />
„Bauch“: bald, da, Rad, Bana-<br />
Die DSW in der Presse<br />
Die Nachrichtenagentur dpa meldete am 9. September 2011:<br />
Sprachschützer für Erhaltung<br />
der Schreibschrift<br />
rlangen (dpa) – Sprachschützer haben sich zum „Tag der <strong>Deutsche</strong>n<br />
Sprache“ an diesem Samstag (10. September) für eine Bewahrung der<br />
Schreibschrift ausgesprochen. Diese müsse auch künftig in den Grundschulen<br />
gelehrt werden, forderte der Herausgeber der Zeitung „<strong>Deutsche</strong><br />
<strong>Sprachwelt</strong>“, Thomas Paulwitz, am Freitag in Erlangen. Sie sei ein Abbild<br />
der deutschen Sprache und von hoher kultureller Bedeutung. Die „<strong>Deutsche</strong><br />
<strong>Sprachwelt</strong>“ habe daher unter dem Motto „Rettet die Schreibschrift“<br />
gemeinsam mit anderen Vereinen eine Unterschriftenaktion gestartet. Außerdem<br />
sollen kostenlos Aufkleber mit der Aufschrift „Schreibschrift ist<br />
schön!“ verteilt werden. Hintergrund der Aktion sei eine Neuregelung in<br />
Hamburg. Dort stehe es den Grundschulen seit dem Schuljahr 2011/12<br />
frei, ob sie die bisherige Schreibschrift oder die sogenannte Grundschrift<br />
unterrichteten. Auch in Baden-Württemberg und Bayern erprobten einzelne<br />
Schulen die Grundschrift. Gegen diese Entwicklung wendeten sich die<br />
Sprachschützer. Mit Blick auf die Erfahrungen aus der Rechtschreibreform<br />
warnen sie die Kultusminister vor einem „weiteren schulpolitischen Mißgriff“.<br />
Die Grundschrift orientiert sich stark an der Druckschrift.<br />
Dirk Walter schrieb am 12. September 2011 im Münchner Merkur:<br />
Sorge um Abschaffung<br />
der Schreibschrift<br />
st das Abendland in Gefahr? Droht ein neuer Kulturkampf? Der Appell<br />
der Zeitschrift „<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>“ (Erlangen) klingt jedenfalls<br />
dramatisch: „Rettet die Schreibschrift“ heißt die Kampagne, die Thomas<br />
Paulwitz vom Verein für Sprachpflege zusammen mit einigen anderen Organisationen<br />
gestartet hat. Anlaß war der Tag der deutschen Sprache am<br />
vergangenen Samstag. An 100 Schulen bundesweit werde schon eine neue<br />
Grundschrift erprobt, warnen die Sprachschützer. „Wer die Schreibschrift<br />
abschafft, gibt nicht nur ein wertvolles Kulturgut auf, sondern behindert<br />
auch die geistige Entwicklung der Kinder.“<br />
ne, darauf. Nun? Klappt es? Man darf<br />
davon ausgehen, daß sich die von der<br />
Kinderhand auf Papier hinterlassenen<br />
Buchstaben zu lustigen Haufen<br />
zusammenballen, die an alle möglichen<br />
Phantasiegebilde erinnern, bloß<br />
nicht an Schrift.<br />
Merke: Beliebigkeitspädagogik ist<br />
schlechte Pädagogik. Ob es intelligenten<br />
Kindern Spaß macht, wenn<br />
sie schreiben sollen, wie sie möchten,<br />
ist mehr als fraglich. Kinder haben<br />
den Wunsch zu lernen, wie man<br />
es richtig macht. Sie wollen nicht<br />
selbst entdecken, was sie mangels<br />
Erfahrung gar nicht wissen können.<br />
Die Zurückhaltung der Erwachsenen<br />
werden sie als Gleichgültigkeit interpretieren<br />
und damit den Eindruck<br />
gewinnen, daß die Schreib- und<br />
Lesekunst nicht wichtig und daher<br />
wertlos sei. Schriftkultur muß gepflegt<br />
werden, sonst verfällt sie.<br />
Allen schmerzhaften Erfahrungen<br />
zum Trotz gibt es immer wieder Personen,<br />
die das Rad abschaffen und<br />
neu erfinden wollen. Pädagogische<br />
Reformen sind meist steuergeldfinanziert,<br />
und daher einflußreicher<br />
und durchsetzungskräftiger als Ideen,<br />
die aus der Praxis selbst erwachsen,<br />
aber keine Lobby haben. Für eventuelle<br />
negative Folgen ihres Tuns sind<br />
die staatlich unterstützten Reformer<br />
nicht verantwortlich, im öffentlichen<br />
Bereich ist Haftungspflicht so gut<br />
wie unbekannt.<br />
Der Grundschulverband stellt die<br />
forsche Behauptung auf, die Schreibschrift<br />
sei „historisch überholt“<br />
(Bartnitzky). Bei genauem Hinsehen<br />
wird deutlich, daß die traditionelle<br />
Schreibschrift der flächendeckenden<br />
und lukrativen Vermarktung des<br />
eigenen Schriftproduktes im Wege<br />
steht. Sollte die „Grundschrift“ tatsächlich<br />
die bessere Alternative sein,<br />
dann wird sie sich im freien Wettbewerb<br />
auf dem pädagogischen Markt<br />
behaupten, ohne dafür die Politik<br />
als Erfüllungsgehilfe einspannen<br />
zu müssen. Pädagogische Probleme<br />
können nur mit pädagogischen Mitteln<br />
gelöst werden, nicht aber mit politischen!<br />
Die fortlaufenden Verstöße<br />
gegen diesen Grundsatz sind Hauptursache<br />
für die dauernden Unruhen<br />
an den Schulen und den daraus resultierenden<br />
Leistungsverfall im Lesen,<br />
Schreiben und Rechnen.<br />
„Schluß mit dem Schriftenwirrwar!“<br />
tönt es aus Frankfurt. Und als Maßnahme,<br />
die selbst den Schildbürgern<br />
zur Ehre gereichen würde, wird just<br />
das getan, was man beklagt: Man<br />
vergrößert die Verwirrung und fügt<br />
zu den bereits bestehenden Schriften<br />
eine weitere hinzu. Ja, Schluß<br />
damit! Schluß mit der Reformitis<br />
an unseren Schulen! Schluß mit<br />
der penetranten Einmischung von<br />
außen! Laßt unsere Kinder endlich<br />
unbehelligt lernen! Laßt unsere Lehrer<br />
endlich in Ruhe unterrichten!<br />
Sie wissen am besten, wie das geht.<br />
Sie brauchen keine Holzpantoffel-<br />
und Druckschriftvertreter, die sich<br />
ständig in ihre Arbeit einmischen.<br />
Sie brauchen alle Zeit der Welt für<br />
sich selbst und ihre gar nicht einfache<br />
Aufgabe, den Schülern wider<br />
den strammen Gegenwind des Zeitgeistes<br />
von Oberflächlichkeit und<br />
Hedonismus ein wenig Bildung zu<br />
vermitteln. Eine neue Druckschrift?<br />
Nein danke. Es reicht!
Seite 4 Ausland<br />
Von Frank-Michael Kirsch<br />
S<br />
pråkförsvaret – Verteidigung<br />
der Sprache – heißt der schwedische<br />
Schwesterverband der deutschen<br />
Sprachvereine. Aktiv sind wir<br />
als Mitglieder auf drei Feldern: Wir<br />
versuchen das Schwedische vor der<br />
Expansion des Englischen zu schützen.<br />
Wir treten ein für das Erlernen<br />
von Fremdsprachen über das Englische<br />
hinaus. Und wir stützen die<br />
nordischen Nachbarsprachen und<br />
den Gebrauch von Schwedisch in<br />
Finnland.<br />
Wenn ich meinen schwedischen Mitstreitern<br />
vom Werbespruch „Come<br />
in and find out“ und der wunderbar<br />
pragmatischen Übersetzung durch<br />
deutsche Kunden, „Komm rein und<br />
finde wieder heraus“, erzähle, lächeln<br />
sie verstehend. Wenn aus „Powered<br />
by emotions“ „Kraft durch Freude“<br />
wird, ist auch dem Letzten klar:<br />
Englisch als Werbeträger hat eigene,<br />
ungeahnte, meist gegenteilige Wirkungen.<br />
Das ist in Schweden nicht<br />
anders. Als der Flugplatz Kramfors/<br />
Sollefteå in „High Coast Airport“<br />
umbenannt werden sollte, protestierten<br />
die Einwohner: Statt an die<br />
Weltkulturerbe-Landschaft „Hohe<br />
Küste“ erinnere die Bezeichnung an<br />
„high cost“, und was teuer klinge, sei<br />
kontraproduktiv. Warum dann nicht<br />
gleich auch noch den nahegelegenen<br />
Fluß „Ångermanälven“ in „Regret<br />
Man River“ umbenennen?<br />
Svengelska<br />
Was in Deutschland Denglisch heißt,<br />
ist für Schweden svengelska: eine<br />
Mischung aus Schwedisch, svenska,<br />
und Englisch, engelska. Es gibt sie<br />
auch hier zuhauf: jene Informatik-<br />
Spezialisten, Geschäftsführer, Politiker<br />
und leider auch Hochschullehrer,<br />
die ihren muttersprachlichen<br />
Minderwertigkeitskomplex hinter<br />
phrasendurchtränkten Anglizismen<br />
verstecken. Nicht immer ist es so einfach,<br />
die Attitüde als Aufschneiderei<br />
und Abgehobenheit abzutun wie bei<br />
jenem einstigen deutschen Ministerpräsidenten,<br />
der gerade erst das Englische<br />
als künftige Verkehrssprache<br />
der <strong>Deutsche</strong>n ausgerufen hatte und<br />
dann bei YouTube in seiner neuen<br />
Anzeige<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Vitamin-D-Mangel ist die Ursache<br />
vieler Erkrankungen und kann zu<br />
Muskelschmerzen führen, zu<br />
Krämpfen, Zuckungen, zu Schlafstörungen,<br />
Unruhe, Erschöpfung,<br />
Depressionen, Rücken- und Kopfschmerzen,<br />
Kältegefühl in Händen<br />
und Füßen sowie Kreislauf- und<br />
Durchblutungsstörungen.<br />
Gesund in sieben Tagen<br />
Taschenbuch, 118 Seiten 14,80 Euro<br />
Portofreier Versand in Deutschland<br />
Hygeia-Verlag www.hygeia.de<br />
Fax: 0351- 476 46 05 Tel.: - 421 66 18<br />
Das Schwedische verteidigen<br />
„Språkförsvaret“ kämpft gegen Sprachflucht und „Svengelska“<br />
EU-Funktion zur englisch radebrechenden<br />
Lachnummer aufstieg.<br />
Schweden sprechen gemeinhin ein<br />
passables Englisch. 1946 löste es<br />
Deutsch als erste Fremdsprache in<br />
der Schule ab. Und wenn es nach<br />
Marian Radetzki geht, einem Professor<br />
für Wirtschaftswissenschaften,<br />
der Jahr für Jahr Raum<br />
in den Medien erhält,<br />
sollte Schweden nun<br />
Englisch als neue Muttersprache<br />
einführen.<br />
Das dauere nur zwei<br />
Generationen lang und<br />
brächte Vorteile ungeahnten<br />
Ausmaßes. Der Mann meint<br />
das ernst! Ich versprach ihm in einem<br />
Beitrag für „Dagens Nyheter“, die<br />
größte schwedische Tageszeitung,<br />
die Idee an einige deutsche Kabarettisten<br />
weiterzuleiten. Sie gehöre<br />
nach Absurdistan, wenngleich selbst<br />
dessen Bürger nicht so beschränkt<br />
wären, ihr Absurdistanisch aufzugeben.<br />
Eine schwedische Kollegin von<br />
Språkförsvaret schrieb, der Professor<br />
polnischer Herkunft möge doch die<br />
Idee, um seiner selbst willen ganz<br />
vorsichtig nur, einmal in Polen äußern.<br />
Gefiele sie dort, dürfe er gern<br />
weiterwandern und Deutschland und<br />
Frankreich damit beglücken.<br />
Von Deutsch zu Englisch<br />
Anders als in Deutschland ist das<br />
Englische in Schweden im Alltag<br />
ständig gegenwärtig. Sieht man<br />
abends fern, kann es passieren, daß<br />
die zwei staatlichen Kanäle, die bezeichnenderweise<br />
„Public Service“<br />
heißen, und die drei größten Privatanstalten<br />
allesamt angloamerikanische<br />
Programme im Original, mit<br />
schwedischen Untertiteln, zeigen.<br />
Per Landin, seinerzeit Kulturredakteur<br />
bei „Dagens Nyheter“, prägte<br />
den immer wahrer werdenden Satz,<br />
Schweden sei das amerikanisierteste<br />
Land der Welt, mit den USA als guten<br />
Zweiten.<br />
Schwedens Rolle während des Zweiten<br />
Weltkrieges bereitete dafür den<br />
Boden. Mit Schuldgefühlen im Nakken,<br />
„verstießen wir in Schweden<br />
nach dem Krieg in kürzester Zeit das<br />
deutsche Erbe“ – so der Ständige Sekretär<br />
der Schwedischen Akademie,<br />
Peter Englund, unlängst in seiner Begrüßungsansprache<br />
vor über einhundert<br />
Gästen der <strong>Deutsche</strong>n Akademie<br />
für Sprache und Dichtung in Stockholm.<br />
„Der Prozeß verlief unnötig<br />
schroff“, so Englund weiter. „Während<br />
man sich in Deutschland auf die<br />
Zeit vor dem Nationalsozialismus<br />
besann, den Wert klassischer Bildung<br />
und der Geschichte betonte, nahmen<br />
wir in Schweden Abstand von AL-<br />
LEM, was an das deutsche Kulturerbe<br />
erinnerte … Die großen Lücken,<br />
die der Verlust des <strong>Deutsche</strong>n riß,<br />
sind einer der Gründe für das rasante<br />
Tempo des Anglifizierungsprozesses<br />
gerade in Schweden.“<br />
Fehlende Deutschkenntnisse behindern<br />
die Ausfuhr<br />
Dieser Prozeß reißt Bewährtes mit<br />
sich und stellt Dinge auf den Kopf.<br />
Die zuweilen mit näselnder Oberlehrerhaftigkeit<br />
vorgetragene Empfehlung,<br />
die <strong>Deutsche</strong>n mögen sich<br />
doch nun auch des Englischen befleißigen,<br />
wirkt etwas deplaziert,<br />
sieht man sich die Handelsbilanz<br />
Etwa 8,5 Millionen Menschen sprechen Schwedisch als Muttersprache. Davon<br />
leben 8 Millionen in Schweden. Seit dem 1. Juli 2009 verpflichtet ein schwedisches<br />
Gesetz alle staatlichen Stellen dazu, die schwedische Sprache zu verwenden<br />
und zu entwickeln. In Finnland ist Schwedisch auf nationaler Ebene<br />
mit Finnisch gleichberechtigte Amtssprache. Aufgrund der Sprachverwandtschaft<br />
können sich Schweden mit Norwegern und Dänen in der Regel gut verständigen.<br />
Der „Språkrådet“ (Sprachenrat) ist Schwedens amtliche Stelle für<br />
Sprachpflege. Daneben gibt es „Språkförsvaret“ (Verteidigung der Sprache)<br />
als private Einrichtung.<br />
mit Schwedens größtem Handelspartner<br />
Deutschland einmal genauer<br />
an. Der Regel, wolle man verkaufen,<br />
sollte man die Sprache des Kunden<br />
sprechen, kann man nicht mehr Folge<br />
leisten, denn weniger als 1.000<br />
Studenten lernen noch Deutsch.<br />
Der Umfang des schwedischen Exports<br />
nach Deutschland ist nur halb<br />
so groß wie umgekehrt. Fehlende<br />
Sprachkenntnisse behindern Exportmöglichkeiten.<br />
Man versteht Angebote<br />
nicht mehr, umgeht Telefonate<br />
und traut sich nicht, Rückfragen zu<br />
beantworten.<br />
Deutsch wird hier amtlich „Kleinsprache“<br />
genannt, wie übrigens auch<br />
die weltweit zweitgrößte Sprache<br />
Spanisch, wie Französisch, Russisch<br />
und Polnisch. Man verwechselt Größe<br />
und Einfluß von Weltsprachen mit<br />
der Zahl derer, die sie in Schweden<br />
noch beherrschen. Die Auffassung,<br />
schließlich reiche Englisch doch aus,<br />
wird von zahlreichen schwedischen<br />
Entscheidungsträgern mal offen<br />
und mal hinter vorgehaltener Hand<br />
vertreten. Das Gegenteil beweisen<br />
Forschungen wie die von der EU<br />
in Auftrag gegebene ELAN-Studie<br />
(„Auswirkungen mangelnder Fremdsprachenkenntnisse<br />
in den Unternehmen<br />
auf die europäische Wirtschaft“,<br />
2006) oder die Dissertation des<br />
schwedischen Wirtschaftsforschers<br />
Kjell Ljungbo „Language as a Leading<br />
Light to Business Cultural Insight“,<br />
Stockholm 2010.<br />
Ohne Språkförsvaret gäbe es kein<br />
Sprachgesetz<br />
Bei dieser Ausgangslage wird verständlich,<br />
daß die Mitglieder unserer<br />
kleinen, aber feinen und äußerst<br />
schlagkräftigen Organisation „Språkförsvaret“<br />
mehr als genug zu tun haben.<br />
Ohne uns gäbe es noch heute<br />
kein Gesetz, das Schwedisch als Nationalsprache<br />
festschreibt. Allerdings<br />
ist die Durchsetzung dieses Gesetzes<br />
ein nicht endenwollender Hürden-,<br />
um nicht zu sagen Spießrutenlauf.<br />
Nimmt der gemeinhin selbstherrlich<br />
entscheidende Justizombudsmann<br />
eine Klage einmal an und gibt tatsächlich<br />
dem Kläger recht, ist noch<br />
lange nicht gesagt, daß sich etwas<br />
ändert. Beispiel dafür sind die nach<br />
wie vor nur in englischer Sprache<br />
vorhandenen E-Post-Anschriften der<br />
gesamten schwedischen Regierung<br />
und ihrer Instanzen.<br />
Manch ein Mitglied von Språkförsvaret<br />
ist inzwischen der kräftezehrende<br />
und schier endlos scheinende Kampf<br />
mit der Bürokratie leid. Ein Gesetz,<br />
das zahm ist wie eine Schoßkatze,<br />
ist als Bollwerk gegen das mit brachialer<br />
Gewalt in alle Lebenssphären<br />
eindringende und das Schwedische<br />
häufig verdrängende Englisch nun<br />
einmal wenig geeignet.<br />
Es gibt andere Mittel und Wege, die<br />
schwedische Sprache zu verteidigen.<br />
Schwedischkundigen Lesern sei der<br />
vom Vorsitzenden Per-Åke Lindblom<br />
hingebungsvoll gepflegte Netzauftritt<br />
www.sprakforsvaret.se empfohlen.<br />
Er ist ein Spiegel der schwedischen<br />
Gesellschaft und einer Sprache, die<br />
heute um ihr Existenzrecht kämpfen<br />
muß. Diese Rolle ist ihr, die in ihrer<br />
jüngeren Geschichte Unterdrückung<br />
und darauffolgenden Widerstand nie<br />
erfahren hat, fremd.<br />
Beherzter Widerstand<br />
Um so ungezügelter, spontan, beherzt<br />
und voller Unbefangenheit ist<br />
dieser Widerstand. Da gibt es die<br />
Krankenschwester, die sieht, daß die<br />
von der Krankenhausleitung vorgeschriebenen<br />
englischsprachigen Formulare<br />
weder von den Ärzten noch<br />
von den Patienten verstanden werden<br />
und Zeitverluste wie Fehlbehandlungen<br />
zur Folge haben, was sie nun öffentlich<br />
macht. Da gibt es die Schwedischlehrerin,<br />
die beklagt, daß ihre<br />
Schüler modeprägende Phänomene<br />
aus dem Englischen ins Schwedische<br />
übertragen, wo sie sinnhemmend<br />
oder gar sinnlos wirken.<br />
<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>45</strong>_Herbst 2011<br />
Da ist der englische Ingenieur Jonathan<br />
Smith, der seinen schwedischen<br />
Kollegen erklärt, warum er sich weigert,<br />
das Schwedische, das weltberühmte<br />
Forscher wie Carl von Linné,<br />
Svante Arrhenius, Anders Celsius und<br />
Alfred Nobel sprachen und schrieben,<br />
zu opfern: „Die großen, weltbekannten<br />
Unternehmen, die noch<br />
vor nur einigen Jahren ganzheitlich<br />
schwedische Organsationen waren,<br />
werden nun in rasendem Tempo in<br />
wurzellose globale ‚brands‘ umfunktioniert,<br />
wozu ihnen hastig ein<br />
englisches Sprachkleid übergestreift<br />
wird. Dies zu tun, meine ich, kommt<br />
schwerwiegendem Verrat gleich, einem<br />
nationalen Selbstmord, initiiert<br />
von den höchsten ‚Stützen‘ der Gesellschaft.“<br />
Urkunden für Sprachbewahrer<br />
und Sprachsünder<br />
Språkförsvaret verleiht im Monatsrhythmus<br />
Urkunden an Unternehmen<br />
und Personen, die die schwedische<br />
Sprache pflegen und weiterentwikkeln.<br />
Kampagnen wie jene der „Library<br />
Lovers“ – ausgehend von den<br />
schwedischen Volksbibliotheken,<br />
die die schriftlichen Zeugnisse der<br />
nationalen Kultur verwalten sollen –<br />
erhalten dagegen „Tummen ner“-Diplome:<br />
ein Daumen, der nach unten<br />
zeigt, verbunden mit einer Begründung<br />
für die öffentlich zur Schau gestellte<br />
Wahl.<br />
Als Mitglieder von Språkförsvaret<br />
engagieren wir uns überdurchschnittlich<br />
häufig in den Medien zu<br />
Fragen der Mutter- und Fremdsprachen<br />
im Alltag, im Wirtschaftsleben<br />
und im Ausbildungssektor. Nicht zuletzt<br />
erarbeiteten wir einen Vorschlag<br />
für eine angemessene Sprachpolitik<br />
an schwedischen Universitäten und<br />
Hochschulen und reichten diesen bei<br />
den entsprechenden parlamentarischen<br />
und Regierungsinstanzen ein.<br />
Bald erscheint das erste Buch unseres<br />
Verbandes mit ausgewählten Beiträgen<br />
seiner Mitglieder aus sechs<br />
Jahren Verbandsarbeit.<br />
Eine der gelungensten Veranstaltungen<br />
von Språkförsvaret war unlängst<br />
ein öffentliches Seminar mit EU-<br />
Dolmetschern. Schweden – und zuweilen<br />
Dänemark –, so hieß es, gebe<br />
in der EU das wenigste Geld für Dolmetschleistungen<br />
in die Muttersprache<br />
aus. Das hat Folgen. Politiker<br />
halten Reden auf englisch, denen der<br />
Nuancenreichtum der Muttersprache<br />
fehlt. Jene Reden werden dann<br />
in andere Sprachen gedolmetscht,<br />
zuweilen mit Anfragen der Kollegen<br />
an die schwedische Kabine,<br />
was der oder die Abgeordnete denn<br />
meine. Schließlich wird der Text von<br />
Übersetzern auch ins Schwedische<br />
übertragen. So landet er dann bei<br />
schwedischen Behörden, die einst<br />
dem Politiker zuarbeiteten. Die Angestellten<br />
wundern sich zuhauf, daß<br />
Brüssel schwedische Verhältnisse<br />
einfach nicht versteht.<br />
Prof. Dr. Frank-Michael Kirsch ist<br />
Professor für Deutsch und lehrt Skandinavistik.<br />
Außerdem ist Kirsch Mitglied<br />
bei Språkförsvaret. Seit 1991<br />
lebt und arbeitet er in Schweden.<br />
www.sprakforsvaret.se<br />
sprakforsvaret@sprakforsvaret.se
<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>45</strong>_Herbst 2011 Hintergrund<br />
Seite 5<br />
Von Wolfgang Hildebrandt<br />
mfragen erinnern uns immer<br />
U wieder daran, daß die Mehrheit<br />
des deutschen Volkes die inflationäre<br />
Übernahme von Anglizismen<br />
ablehnt. Besonders deutlich zeigte<br />
dies eine Umfrage der Meinungsforscher<br />
von „infratest“ aus dem Jahr<br />
2006. Das Nachrichtenmagazin „Der<br />
Spiegel“ hatte sie in Auftrag gegeben.<br />
66 Prozent der Befragten waren demnach<br />
der Ansicht, daß englische Ausdrücke<br />
im <strong>Deutsche</strong>n „im großen und<br />
ganzen überflüssig“ seien. Lediglich<br />
27 Prozent empfanden sie als Bereicherung.<br />
Sogar 74 Prozent antworteten<br />
mit „Ja“ auf die folgende Frage:<br />
„Sollten die <strong>Deutsche</strong>n deutsch-englische<br />
Mischwörter wie ‚brainstormen‘<br />
oder ‚Automaten-Guide‘ im<br />
Sprachgebrauch vermeiden?“<br />
Einer Allensbach-Umfrage vom<br />
April 2008 zufolge sind 65 Prozent<br />
der <strong>Deutsche</strong>n der Ansicht, daß die<br />
deutsche Sprache immer mehr zu<br />
verkommen droht. Ein Jahr später<br />
veröffentlichte das Institut für deutsche<br />
Sprache eine repräsentative<br />
Untersuchung zu Spracheinstellungen<br />
in Deutschland. Demnach meinen<br />
78 Prozent der <strong>Deutsche</strong>n, daß<br />
mehr für die deutsche Sprache getan<br />
werden sollte.<br />
Betrachten wir diese Zahlen, dann<br />
taucht folgerichtig die Frage auf,<br />
wie unter diesen Umständen ein solches<br />
Mißverhältnis entstehen kann:<br />
Einerseits pfropfen uns die Medien<br />
in zunehmenden Maße Angloamerikanismen<br />
auf, andererseits hat sich<br />
jedoch noch immer keine Massenbewegung<br />
formiert, um sich dagegen<br />
aufzulehnen. Immerhin handelt<br />
Unterstützen Sie bitte die <strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>!<br />
Spenden Sie bitte Bestellen Sie bitte Empfehlen Sie bitte<br />
Sichern Sie die Zusendung der Zeitschrift und<br />
Aktionen für die deutsche Sprache!<br />
Überweisung<br />
Bitte nutzen Sie den beigelegten Zahlschein<br />
(Bankverbindungen umseitig).<br />
Bank<br />
Einzugsermächtigung<br />
Zur Erhaltung der DEUTSCHEN SPRACHWELT<br />
möchte ich den Verein für Sprachpflege e. V.<br />
regelmäßig unterstützen. Darum ermächtige ich<br />
diesen Verein,<br />
einmalig - vierteljährlich - halbjährlich - jährlich<br />
Nichtzutreffendes bitte durchstreichen<br />
einen Betrag von Euro<br />
von meinem Konto abzubuchen.<br />
Diese Einzugsermächtigung kann ich jederzeit<br />
widerrufen.<br />
Bankleitzahl<br />
Kontonummer<br />
Datum und Unterschrift<br />
Schicken Sie Ihre Bestellung an: DEUTSCHE SPRACHWELT<br />
Meine Anschrift Postfach 1449, D-91004 Erlangen, bestellung@deutsche-sprachwelt.de<br />
Name, Vorname<br />
Straße<br />
Dauerauftrag<br />
Bitte deutlich schreiben!<br />
Deutschland schafft seine Sprache ab<br />
Teil 2: Psychologische Hintergründe der fehlenden Sprachtreue<br />
es sich bei den genannten Bevölkerungsanteilen<br />
um über 50 Millionen<br />
Menschen! Eine Antwort auf diese<br />
Frage ist nur möglich, wenn wir den<br />
Mut haben, psychologische Hintergründe<br />
aufzuspüren.<br />
Nicht nur die vielen „echten“ englisch-amerikanischen<br />
Wörter und<br />
deren Falschanwendungen (Handy,<br />
Beamer, Oldtimer), sondern auch die<br />
vielen bizarren pseudo-englischen<br />
Mißbildungen (Mobbing, Slow<br />
Food, Talkmaster) zeugen von einer<br />
gewissen Sehnsucht, sich an die Sieger<br />
zweier Weltkriege anzulehnen.<br />
In einigen Bundesländern müssen<br />
sich Polizeibeamte mittlerweile wie<br />
amerikanische „Cops“ kleiden. Eine<br />
Fernsehserie im ZDF heißt sogar<br />
„Die Rosenheim-Cops“.<br />
Hinzu kommt die ständige Berieselung<br />
durch amerikanische Filme<br />
und Musik sowohl im Fernsehen als<br />
auch im Hörfunk. Dies alles führt zu<br />
einem völlig verzerrten Amerikabild.<br />
Das Volk nimmt an „American<br />
Weekends“ teil und besucht Feste<br />
mit Cowboy-Hüten, Cheerleaders,<br />
Line-dance, Squaredance und American<br />
Football. Musikgruppen spielen<br />
Stücke, die aus Stilrichtungen<br />
wie Soul, Heavy Metal, Country,<br />
Blues und Southern Rock zusammengesetzt<br />
sind. In Kultur, Wissenschaft,<br />
Sprache und Lebensweise<br />
gehen wir also eine immer engere<br />
Verbindung mit den USA ein; je<br />
geringer der Bildungsstand und das<br />
Bewußtsein, desto stärker.<br />
Jens Jessen, der das Feuilleton der<br />
Wochenzeitung „Die Zeit“ leitet,<br />
Bezug – kostenlos!<br />
Einfacher Bezug: Bitte senden Sie mir regelmäßig<br />
kostenlos und unverbindlich die DEUTSCHE<br />
SPRACHWELT. Ich verpflichte mich zu nichts. Bei Gefallen<br />
werde ich spenden. Ich kann sie jederzeit abbestellen.<br />
Mehrfachbezug: Ich habe die Gelegenheit, die<br />
DEUTSCHE SPRACHWELT auszulegen, um für<br />
die deutsche Sprache zu werben (z. B. Arztpraxis, Friseursalon,<br />
Museum). Bitte schicken Sie mir daher von jeder<br />
neuen Ausgabe _____ Stück.<br />
Frühere Ausgaben – kostenlos!<br />
______ x DSW-Nummer ______<br />
______ x DSW-Nummer ______<br />
______ x DSW-Nummer ______<br />
Geburtsdatum<br />
Postleitzahl und Ort<br />
meinte zu diesem Phänomen: „In<br />
den Anglizismen zeigt sich keine<br />
Unterlegenheit des <strong>Deutsche</strong>n,<br />
wohl aber ein Unterlegenheitsgefühl<br />
der <strong>Deutsche</strong>n. … Wenn man die<br />
<strong>Deutsche</strong>n von Amerikanismen abbringen<br />
wollte, müßte man sie auch<br />
von der Bewunderung für Amerika<br />
abbringen“ („Die Zeit“ 11/2001).<br />
In einem späteren Beitrag („Die<br />
Zeit“ 31/2007) schreibt Jessen: „Es<br />
lohnt sich, bei der Psychologie des<br />
Sprachimporteurs zu verweilen. Es<br />
ist nicht deutscher Selbsthaß, der ihn<br />
antreibt, wie manche Sprachschützer<br />
meinen. Der Sprachimporteur ist<br />
vor allem ein Marketingexperte in<br />
eigener Sache. Er will angeben mit<br />
der frisch erworbenen Kenntnis, er<br />
kehrt ins verschnarchte Dorf seines<br />
Ursprungs zurück und brilliert dort<br />
im Glanze seiner Glasperlen, die er<br />
den zurückgebliebenen Landsleuten<br />
andrehen will.“<br />
Ein interessanter Aspekt, doch handelt<br />
es sich bei der Anglizismenhuberei<br />
wirklich nur um die Auswüchse<br />
einzelner Verkäufer und Vermarkter,<br />
die uns etwas andrehen wollen?<br />
Auch wenn viele jetzt protestieren,<br />
an dieser Stelle muß Jessen widersprochen<br />
werden: Hilfreich bei der<br />
Hinwendung nach Amerika waren<br />
und sind der vorauseilende Gehorsam<br />
und die Unterwürfigkeit sowie<br />
der mangelnde Bürgermut vieler<br />
<strong>Deutsche</strong>r. Diese Gegebenheiten<br />
hindern sie, sich dem Zeitgeist und<br />
somit dem weiteren Sprachverfall<br />
entgegenzustellen. Wie oft hörte ich<br />
schon den Satz: „Ja, die Franzosen<br />
– die lassen sich nichts gefallen, die<br />
tun etwas!“ Doch auf meine Nach-<br />
Werbematerial – kostenlos!<br />
______ x Faltblatt „Rettet die deutsche Sprache“<br />
______ x Aufkleber „Schluß mit dem Ausverkauf“<br />
gegen SALE (9,5 x 14,5 cm)<br />
______ x Aufkleber „Freie Fahrt“ gegen Denglisch<br />
(5,2 x 7,4 cm)<br />
______ x Aufkleber „Schreibschrift ist schön!“<br />
(5,2 x 7,4 cm)<br />
Die Aufkleber sind witterungsbeständig (Abbildungen umseitig)<br />
frage, was sie selbst denn unternähmen,<br />
ernte ich bloß Schulterzucken<br />
und löchrige Ausreden.<br />
Der amerikanische Journalist David<br />
Binder äußerte sich im Nachrichtenmagazin<br />
der Spiegel“ (2/1998)<br />
verwundert: „Dabei überrascht<br />
mich nach wie vor die Loyalität der<br />
<strong>Deutsche</strong>n gegenüber Amerika, die<br />
an Unterwürfigkeit grenzt … Die<br />
Ironie liegt darin, daß uns Amerikanern<br />
… die deutsche Ehrerbietung<br />
völlig schnuppe ist. Allein das<br />
Gegenteil würde uns beunruhigen.“<br />
Der britische Kriegspremier Winston<br />
Churchill meinte bekanntlich,<br />
die <strong>Deutsche</strong>n habe man „entweder<br />
an der Gurgel oder zu Füßen“. Und<br />
die „London Times“ schrieb schon<br />
im Jahr 1960, bei der Haltung der<br />
(West-)<strong>Deutsche</strong>n handele es sich<br />
um eine sprachliche Unterwürfigkeit<br />
(„linguistic submissiveness“). Sie<br />
glaubten nicht mehr, so die „Times“<br />
weiter, „daß Deutsch eine der großen<br />
Sprachen der Welt ist. Auch<br />
ihre Sprache scheint 19<strong>45</strong> eine Niederlage<br />
erlitten zu haben.“ Dieser<br />
Zustand hat sich seit dem Befund<br />
der „Times“ vor fünfzig Jahren offenkundig<br />
nicht verbessert, sondern<br />
eher verschlimmert.<br />
Durch die Bereitschaft vieler Bürger,<br />
die Welt durch die angloamerikanische<br />
Brille zu sehen, wächst<br />
schleichend die Verachtung für<br />
die Muttersprache und damit das<br />
Bedürfnis, sich allmählich aus ihr<br />
wegzustehlen. Für diese Menschen<br />
ist die Bezeichnung von neuen wie<br />
auch von alten Dingen mit englischen<br />
Bezeichnungen ein Zwang.<br />
Bitte senden Sie die DEUTSCHE SPRACHWELT auch an:<br />
Bitte deutlich schreiben!<br />
1<br />
Name, Vorname<br />
Straße, Postleitzahl und Ort<br />
2<br />
Name, Vorname<br />
Straße, Postleitzahl und Ort<br />
3<br />
Name, Vorname<br />
Straße, Postleitzahl und Ort<br />
4<br />
Name, Vorname<br />
Straße, Postleitzahl und Ort<br />
5<br />
Name, Vorname<br />
Straße, Postleitzahl und Ort<br />
6<br />
Name, Vorname<br />
Straße, Postleitzahl und Ort<br />
Sie empfinden das <strong>Deutsche</strong> offenbar<br />
als Nazi-Dialekt und glauben,<br />
sich mit Denglisch selbst entnazifizieren<br />
zu können; frei nach dem<br />
Motto „Lieber ein halber Ami als<br />
ein ganzer Nazi“, wie es einst Walter<br />
Krämer ausdrückte, Gründer und<br />
Vorsitzender des Vereins <strong>Deutsche</strong><br />
Sprache.<br />
Dies ist die moderne (Zeitgeist-)<br />
Form des Selbsthasses und der Verleugnung<br />
der eigenen Identität. Dabei<br />
sollten wir nicht vergessen, daß<br />
Selbsthaß der Zwillingsbruder des<br />
Fremdenhasses ist! Diese Menschen<br />
sind Opfer und Täter zugleich, denn<br />
sie manipulieren, ohne zu begreifen,<br />
wem sie gehorchen. Sie fühlen sich<br />
als Gut- und Fortschrittsmenschen<br />
und merken nicht, daß sie Marionetten<br />
in einem korrupten System sind.<br />
Denn die Angloamerikanismen fallen<br />
nicht vom Himmel, sie werden<br />
gezielt in unsere Sprache gelenkt.<br />
Dahinter verbergen sich wirtschaftliche<br />
Interessen und somit das Kapital,<br />
das die Politik bestimmt. Und<br />
diesem Kapital ist die deutsche<br />
Sprache nicht teuer, sondern – viel<br />
zu teuer. Es braucht den genormten<br />
und verblödeten Verbraucher, den es<br />
sich durch eine Teletubby-Sprache<br />
schafft.<br />
Können die Bildungseinrichtungen<br />
dieser sprachzerstörerischen Entwicklung<br />
entgegensteuern oder ist<br />
für sie der Zug schon längst abgefahren?<br />
Fortsetzung folgt.
Seite 6<br />
Von Ota Filip<br />
V<br />
ertreibungen, Verbannungen<br />
und auch das Morden von unbequemen<br />
Dichtern sind seit eh und<br />
je Bestandteil einer jeden Geschichte<br />
eines totalitären oder despotischen<br />
Regimes. Der freie Geist und das frei<br />
geschriebene Wort hatten es immer<br />
schwer, sie wurden – und werden<br />
heute noch – in vielen Teilen unserer<br />
Erde viel konsequenter und brutaler<br />
verfolgt als gewöhnliche Kriminelle,<br />
die ja „nur“ betrügen, klauen, überfallen<br />
und morden, also im Prinzip<br />
keinen geistigen Keimboden für berechtigte<br />
Revolutionen, für notwendige,<br />
ein unterjochtes Volk von der<br />
Last eines Diktators befreiende Umstürze,<br />
darstellen. …<br />
„Das Exil ist eine Krankheit, sie erfaßt<br />
den Geist, das Gemüt, häufig<br />
auch den Körper. Zu sehr ist der Emigrant,<br />
der Jahre oder Jahrzehnte in<br />
der weiten, fremden Welt verbracht<br />
hat, seinem Ursprung entfremdet“,<br />
schrieb Hilde Spiel. Wahrscheinlich<br />
sind wir alle, die in der Fremde leben,<br />
hier schreiben, verlegen oder<br />
versuchen, verlegt zu werden, von einer<br />
uralten Exilkrankheit angesteckt,<br />
deren Symptome von Ausbrüchen<br />
einer weinerlichen Nostalgie über<br />
Selbstmitleid bis zu einem selbstzerstörerischen<br />
Zynismus reichen.<br />
Auch nach langen Jahren werde ich<br />
in der Bundesrepublik Deutschland<br />
immer wieder mit der Frage belästigt,<br />
ob ich mich in der Fremde nicht<br />
entwurzelt fühle und ob ich meine<br />
Verwurzelung in der heimatlichen<br />
tschechisch-mährischen Erde nicht<br />
vermisse. Man erwartet von mir eine<br />
sentimental-melancholische, weinerliche<br />
Antwort etwa in dem Sinne,<br />
daß ich mich in der deutschen Fremde<br />
entwurzelt und ausgetrocknet<br />
fühle, daß ich hier nicht verstanden,<br />
ja ständig auf eine kränkende Art<br />
und Weise übersehen oder immer<br />
noch als Ausländer beleidigt werde.<br />
Manchmal habe ich sogar den Verdacht,<br />
daß meine bundesdeutschen<br />
Kollegen, Freunde oder Bekannten<br />
mich, einen in der bundesdeutschen<br />
Fremde schreibenden Menschen, so<br />
haben wollen, wie sie sich – in ihren<br />
nicht seltenen Anfällen von intellek-<br />
← Bestellschein umseitig!<br />
Aufkleber<br />
Kleben Sie den<br />
Sprachverderbern eine!<br />
Anti-Sale-Aufkleber<br />
Auflage: 35 500<br />
Freie-Fahrt-Aufkleber<br />
Auflage: 20 000<br />
Schreibschrift-Aufkleber<br />
Auflage: 10 000<br />
Unsere Arbeit ist<br />
abhängig von<br />
Ihrer Spende!<br />
Verein für Sprachpflege e.V.<br />
Bundesrepublik Deutschland<br />
Stadt- und Kreissparkasse<br />
Erlangen<br />
Bankleitzahl 763 500 00<br />
Kontonummer 400 1957<br />
BIC: BYLADEM1ERH<br />
IBAN:<br />
DE63763500000004001957<br />
Republik Österreich<br />
Volksbank Salzburg<br />
Bankleitzahl <strong>45</strong>010<br />
Kontonummer 000 150 623<br />
Faltblatt<br />
Hintergrund<br />
Glanz, Gloria und Elend des Exils<br />
Köthener Rede zur deutschen Sprache 2011<br />
tuellem Masochismus oder in ihre<br />
Mitleidsgefühle verfallen – einen<br />
Dichter im Exil ausgedacht oder gedichtet<br />
haben: nämlich als ein schreibendes<br />
Wesen, das in Deutschland,<br />
ständig vom Ausländerhaß verfolgt<br />
und bedroht, nach Liebe und nach<br />
Sicherheit, zwischendurch nach zahlungskräftigen<br />
Verlegern und nach<br />
Ruhm schreit.<br />
Nomade zwischen zwei Sprachen<br />
Meine deutschen Freunde und Bekannten<br />
sind bereit, Mitgefühl zu<br />
zeigen, mich, den<br />
in ihren Augen Entwurzelten,<br />
zu trösten<br />
und sich selbst für<br />
ihre Gleichgültigkeit<br />
gegenüber einem<br />
heimat- und vaterlandlosen<br />
Ausländer<br />
im hochgestochenen,<br />
spätromantischen<br />
Wortschall zu strafen.<br />
Ich verwirre sie, indem<br />
ich auf ihre Frage<br />
nach meinen Wurzeln<br />
antworte: Ich bin<br />
weder ein Baum noch<br />
eine zarte, auf frem-<br />
de Pflege oder auf Berieselung mit<br />
wärmendem Mitleid angewiesene<br />
Zierpflanze, ich habe keine Wurzel<br />
und keine Verwurzelung in irgendwelcher<br />
Scholle nötig. Ich bin ein<br />
zeitgenössischer Nomade zwischen<br />
zwei europäischen Sprachen und<br />
zwei europäischen Kulturen.<br />
Ich gestehe: Als ich 1930 auf die Welt<br />
kam, hat mich keiner gefragt, ob ich<br />
ausgerechnet als Mähre in der Tschechoslowakei<br />
geboren werden will,<br />
und ob ich das Tschechische als meine<br />
Muttersprache akzeptiere. Hätte<br />
mich damals mein Schöpfer gefragt,<br />
wo ich geboren werden will, hätte ich<br />
klar und deutlich geantwortet: Bitte,<br />
Allmächtiger, bringe mich nicht in<br />
Mähren, sondern in der italienischen<br />
Toskana, noch lieber in Kalifornien,<br />
im schlimmsten Falle in dieser<br />
schrecklich langweiligen Schweiz<br />
oder, wenn es nicht anders geht,<br />
dann, meinetwegen, auch in diesem<br />
fürchterlichen Wien auf die Welt!<br />
Auflage: 22 500<br />
Ota Filip Bild: Hildebrandt<br />
Mein Verhältnis zur Heimat und<br />
zum Vaterland ist gestört. … Mein<br />
Zuhause in der deutsch-bayerischen<br />
Fremde bedeutet für mich heute viel<br />
mehr als Heimat und Vaterland, denn<br />
mein Zuhause in der Bundesrepublik<br />
Deutschland habe ich vor siebenunddreißig<br />
Jahren zum ersten Mal frei<br />
wählen können.<br />
Lieferbare Ausgaben<br />
<strong>45</strong><br />
44<br />
Aufgesetzte Vaterlandsliebe<br />
Vor mehr als fünfundzwanzig Jahren<br />
schrieb mir aus Prag nach München<br />
ein bedeutender tschechischer, in seiner<br />
Heimat immer<br />
wieder verfolgter und<br />
gedemütigter Dichter,<br />
diese für mich unerträglich<br />
pathetischen<br />
Worte: „Ich könnte<br />
nicht in der Fremde<br />
leben. Ich muß ab<br />
und zu den Duft des<br />
blühenden Lindenbaumes<br />
links vor der<br />
Vorschwelle meines<br />
Vaterhauses einatmen,<br />
ich muß mindestens<br />
einmal in der Woche<br />
Herbst 2011<br />
Sommer 2011<br />
Unter anderem: Thomas Paulwitz: Werber,<br />
Werber, Sprachverderber / Briefe an<br />
uns und unsere Leser / Wolfgang Hildebrandt:<br />
Deutschland schafft seine Sprache<br />
ab (1) – Wissenschaftler und Politiker als<br />
Sprachverräter / Straße der deutschen Sprache:<br />
Die Bauarbeiten haben begonnen / Gespräch<br />
mit Michael Olbrich: Aktiengesellschaften<br />
verklagen? / Dirk Herrmann: Zur<br />
Sprachkritik von Christian Weise / Franz<br />
Neugebauer, Harald Süß: 60 Jahre Bund<br />
für deutsche Schrift und Sprache / Wieland<br />
Kurzka: Vermeintliche Sprachkultur<br />
der ERGO-Versicherung / Rolf Stolz:<br />
Franz Kafka, ein tschechischer Klassiker?<br />
/ Margund Hinz: Die Abschaffung der<br />
Schreibschrift droht / Sprachsünder-Ecke:<br />
Schlecker / Lienhard Hinz: Bericht aus<br />
Berlin / Rolf Zick: Preise für gute deutsche<br />
Marken- und Produktnamen / Günter<br />
Körner: „Wegbrechen“ bis zum Erbrechen<br />
– Sprachkritik aus naturwissenschaftlicher<br />
Sicht (7) / Ehrung für Peter Ramsauer /<br />
Dagmar Schmauks: Der Mütos lebt / Jürgen<br />
K. Klimpke: Schleizer Bücherwurm /<br />
Wolfgang Hildebrandt: Sprachliche Kernschmelze<br />
(Anglizismenmuffel)<br />
Frühling 2011<br />
auf der Karlsbrücke in<br />
Prag spazierengehen<br />
und den großartigen Hradschin, die<br />
Burg der böhmischen Könige, bewundern.“<br />
Diese für mich aufgeblasenen<br />
Worte mögen in manchen Ohren erhaben<br />
klingen, sie scheinen für so viele<br />
einen überzeugenden Beweis für eine<br />
fast unlösbare, tiefe Verwurzelung in<br />
der Heimat zu liefern.<br />
Ich jedoch werde immer, wenn ich<br />
ein solches Gerede zu hören oder zu<br />
lesen bekomme, sehr skeptisch und<br />
frage mich: Ist eine so demonstrativ<br />
und sentimental formulierte Liebeserklärung<br />
an die Heimat nicht eher<br />
ein verdrängter Ausdruck der Angst<br />
vor der freien weiten Welt außerhalb<br />
des engen Raumes, der meinem dichtenden<br />
Freund – und nicht nur ihm –<br />
in seinem damals kommunistischen<br />
Vaterland übrig blieb?<br />
Das Exil als Entschuldigung<br />
Das Exil kann auf eine seltsam großzügige<br />
Art und Weise zu uns, vor al-<br />
43<br />
Unter anderem: Thomas Paulwitz: Bundesverkehrsminister<br />
und <strong>Deutsche</strong> Bahn<br />
wollen wieder mehr Deutsch / Briefe an<br />
uns und unsere Leser / Lienhard Hinz:<br />
Anliegen und Arbeit eines Sprecherziehers<br />
/ Straße der deutschen Sprache: Merseburg<br />
/ Leserbefragung: 97 Prozent sind für die<br />
lem zu unseren menschlichen Fehlern<br />
und zu unseren literarischen Mißgeschicken,<br />
auch barmherzig sein. Das<br />
Dasein in der Fremde bietet nämlich<br />
auch einem minder begabten Dichter<br />
oder einem Dichter, den in der Fremde<br />
das Glück verließ und der keinen<br />
Verleger fand, eine erträgliche und<br />
leichte Art des Scheiterns: Ein Dichter,<br />
der im Exil nicht verlegt wird –<br />
die Gründe, weshalb ein Dichter im<br />
Exil keinen Verlag findet, reichen von<br />
der Tatsache, daß seine Texte literarisch<br />
nicht gut genug sind bis zum<br />
ganz gewöhnlichen Pech – kann die<br />
Verantwortung für die Mängel seiner<br />
literarischen Arbeit oder die Schuld<br />
für sein Mißgeschick mit einer groß<br />
angelegten, pathetischen, in der<br />
Fremde immer glaubwürdig wirkenden<br />
Geste, seinen fremdsprachigen<br />
Nächsten und den deutschen Verlegern,<br />
diesen Ignoranten, die einem<br />
Dichter im Exil den Weg zum Ruhm<br />
versperren, in die Schuhe schieben.<br />
Sein Scheitern im Exil kann ein Dichter<br />
leicht begründen, darüber hinaus<br />
kann er sich mit einer pathetischvorwurfsvollen<br />
Geste als ein in der<br />
Fremde von fremden Verlegern nicht<br />
begriffener Genius, als ein nicht gekreuzigter,<br />
eher vom ungerechten<br />
Schicksal in der Fremde aufs Kreuz<br />
gelegter literarischer Messias, kurzum<br />
als eine tragische Figur inszenieren,<br />
auch die <strong>Deutsche</strong>n zum Tränen<br />
bringen, um Mitleid flehen und vom<br />
Mitleid berieselt und belebt weiter<br />
dahinvegetieren.<br />
Unverzeihlicher Erfolg im Exil<br />
Bitter und ungerecht ist eine weitere<br />
Tatsache: Meine tschechischen und<br />
mährischen Landsleute – die Landsleute<br />
meiner Kollegen im Exil werden<br />
in dieser Hinsicht nicht besser<br />
sein – können einen Dichter, der im<br />
Exil durch seine Literatur berühmt<br />
oder sogar weltbekannt wurde und<br />
der sich – wie unverschämt – im<br />
Westen mit Literatur ernährt, vieles<br />
verzeihen, nur eines nicht: nämlich<br />
Talent und literarischen Erfolg.<br />
Für ihren Erfolg im Exil werden<br />
Dichter in ihrer Heimat bestraft: Die<br />
Straße / Horst Meyer: Berlinisch / Lienhard<br />
Hinz: Berliner Kongreß zu Regional-<br />
und Minderheitensprachen / Johannes<br />
Heinrichs: Sprachpolitische Thesen (Teil<br />
2) / Elmar Tannert: Fehlerhafte Wörter<br />
ziehen fehlerhafte Dinge nach sich / Thomas<br />
Paulwitz: Einzelheiten zur winzigen<br />
Rechtschreibreform 2011 / Sprachsünder-<br />
Ecke: Niedersächsisches Kultusministerium<br />
/ Sprachwahrer des Jahres 2010 / Hartmut<br />
Heuermann: Steckt hinter Denglisch eine<br />
Ideologie? / Günter Körner: Den Fokus<br />
an den Hörnern gepackt! – Sprachkritik aus<br />
naturwissenschaftlicher Sicht (6) / Reingard<br />
Böhmer und Diethold Tietz: „Sprache<br />
ist Heimat“ – Kongreß der Unionsfraktion<br />
im Bundestag / Thomas Paulwitz: Ali<br />
schlägt Mohammed / Rominte van Thiel:<br />
Wir <strong>Deutsche</strong> oder wir <strong>Deutsche</strong>n? / Lienhard<br />
Hinz: Bericht aus Berlin / Wolfgang<br />
Hildebrandt: Die Weichen stellen? (Anglizismenmuffel)<br />
42 Winter 2010/11<br />
Unter anderem: Thomas Paulwitz: Englisch<br />
darf in Deutschland nicht zur Gerichtssprache<br />
werden / Leserdiskussion (2):<br />
E-Mail oder E-Post? / Helmut Delbanco:<br />
Paul Gerhardt – der größte deutsche<br />
Sprachmeister nach Martin Luther / Straße<br />
der deutschen Sprache: Gräfenhainichen /<br />
Andreas Raffeiner: Südtirol spricht immer<br />
noch Deutsch (2) / Johannes Heinrichs:<br />
Das wichtigste nationale Kulturprojekt: die<br />
Sprache (Sprachpolitische Thesen, Teil1)<br />
/ Ursula Bomba: Hildebrandts zweiter<br />
Glossen-Band „Mal ganz ehrlich“ / Robert<br />
Mokry: Der Löwenzahn und sein Traum<br />
(Ausgewählter Beitrag aus dem Schülerwettbewerb<br />
„Schöne deutsche Sprache“<br />
2010) / Sprachsünder-Ecke: ZDF / Lienhard<br />
Hinz: Schlagabtausch zwischen GfdS<br />
und VDS in Berlin / Gespräch mit Werner<br />
<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>45</strong>_Herbst 2011<br />
Steuer, die sie für ihren Erfolg im<br />
Ausland zu Hause zahlen müssen,<br />
wird mit Neid ihrer einstigen Landsleute<br />
beglichen. Diesen Zinseszins<br />
kassieren erfolgreiche literarische<br />
Exilanten in der frostigen Entfremdung,<br />
die ihnen in der Heimat ihr Vaterland<br />
ins Gesicht bläst.<br />
Eine traurige Geschichte, die die Rückkehr<br />
aus dem Exil in die Heimat schwer<br />
macht … Die Geschichte hat uns Exilanten<br />
überrollt. Die Helden des geistigen<br />
Widerstandes gegen das kommunistisch-totalitäre<br />
Regime, Märtyrer,<br />
Dissidenten und Exilanten der Jahre<br />
zwischen 1968 und 1989, diese rechtschaffenen<br />
Propheten, hat das Volk in<br />
der ersten freien Wahl nach der „Sanften<br />
Revolution“ nicht gewählt. Die<br />
Creme der Prager Dichter und Intellektuellen<br />
und auch meine Freunde, ich<br />
nenne sie X und Y, die zwanzig Jahre<br />
ihres Lebens ihrem Kampf für Freiheit<br />
geopfert haben, fühlten sich – ich glaube<br />
zu Recht – wieder einmal gekränkt.<br />
An ihre Stelle traten schon im Sommer<br />
1992 Technokraten und Macher, die<br />
bis heute in Prag die politische Szene<br />
beherrschen und – müssen wir verärgert<br />
feststellen – meisterhaft zu manipulieren<br />
verstehen.<br />
Václav Havel schrieb und hielt – intellektuell<br />
bewertet – als Präsident<br />
der Tschechoslowakischen und später<br />
der Tschechischen Republik großartige<br />
Reden, die zwar in die Geschichte<br />
der tschechischen Literatur und Politik<br />
eingehen, jedoch vom Volk nicht<br />
verstanden werden oder nicht verstanden<br />
werden wollten, denn Havel<br />
sprach – und predigt heute noch – von<br />
moralischen Prinzipien, von Ehrlichkeit<br />
und von Wahrhaftigkeit, also von<br />
Themen, die ein großer Teil des dem<br />
„westlichen“ Konsumwahn verfallenen<br />
Volkes – geben wir es endlich zu<br />
– eigentlich lästig findet.<br />
Mein Freund X, der Intellektuelle<br />
und Dichter, in beiden Bereichen eine<br />
Autorität, 1970 Mitbegründer und<br />
Initiator der tschechischen geistigen<br />
Opposition, einst Kommunist, rechtzeitig<br />
zu den Konservativen übergelaufen,<br />
steht jetzt wieder einmal auf<br />
der „richtigen Seite der Barrikade“<br />
Kieser: „Die Sprache eines Unternehmens<br />
ist ein Qualitätsmerkmal“ / Lienhard Hinz:<br />
Bericht aus Berlin / Günter Körner: Flüssig<br />
oder fließend? – Sprachkritik aus naturwissenschaftlicher<br />
Sicht (5) / Wolfgang<br />
Hildebrandt: Staatssprache Deutsch: Wohin<br />
geht die Reise? (Anglizismenmuffel)<br />
41 Herbst 2010<br />
Unter anderem: Thomas Paulwitz: Operation<br />
Rechtschreibung: streng geheim! Im<br />
Jahr 2011 wird die Reform wieder einmal<br />
reformiert / Leserdiskussion: E-Mail oder<br />
E-Post? / Peter Müller, Ministerpräsident<br />
des Saarlandes: Deshalb sollte Deutsch ins<br />
Grundgesetz / Straße der deutschen Sprache:<br />
Bad Lauchstädt / Andreas Raffeiner:<br />
Südtirol spricht immer noch Deutsch (1) /<br />
Hans Joachim Meyer: Kleid oder Haut?<br />
Was ist uns unsere deutsche Sprache?<br />
(Rede zur deutschen Sprache) / Walter<br />
Krämer: „Die englische Verdrengung“<br />
/ Ernst Jordan: Time to make Tennis /<br />
Thomas Paulwitz: Wie schreibt man eine<br />
Anti-Sprachschutz-Glosse? / Goethes später<br />
Gegenspieler / Jürgen Langhans: Ein<br />
Hilfsprogramm wandelt Neuschrieb in herkömmliche<br />
Rechtschreibung um / Sprachsünder-Ecke:<br />
REWE-Baumarkt „toom“<br />
/ Lienhard Hinz: Köthener Sprachtag<br />
über zweisprachige Erziehung / Andreas<br />
Raffeiner: Bericht aus Bozen / Lienhard<br />
Hinz: Bericht aus Berlin / Sprachschützer<br />
trifft Kulturredakteur / Günter Körner:<br />
Was bedeutet Wertigkeit? – Sprachkritik aus<br />
naturwissenschaftlicher Sicht (4) / Dagmar<br />
Schmauks: Noch mehr Quantensprünge /<br />
Klemens Weilandt: Binde-Strichitis / Wolfgang<br />
Hildebrandt: Deutschland schafft<br />
seine Sprache ab (Anglizismenmuffel)<br />
Lieferbar sind auch noch alle früheren Ausgaben. Die Inhaltsverzeichnisse<br />
sämtlicher Ausgaben finden Sie unter<br />
www.deutsche-sprachwelt.de/archiv/papier/index.shtml
<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>45</strong>_Herbst 2011 Hintergrund<br />
Seite 7<br />
Köthener Rede<br />
Fortsetzung<br />
und holt auf, was er in den Jahren<br />
nach dem Scheitern des Prager Frühlings<br />
im Jahr 1968 wohl am meisten<br />
vermißte, nämlich Anerkennung und<br />
literarischen Ruhm.<br />
Mein zweiter Freund Y, nach 1989 ein<br />
wohlhabender Rentner, Vater von drei<br />
ehelichen und zwei unehelichen Kindern,<br />
hat sich im hohen Alter ein um<br />
vierzig Jahre jüngeres Mädchen als<br />
Geliebte organisiert und schrieb, endlich<br />
von der Pflicht befreit, die Rolle<br />
eines von erhabener Wahrheit und<br />
endgültiger Moral vollgestopften Intellektuellen<br />
spielen zu müssen, einen<br />
köstlichen Pornoroman. Und wenn<br />
wir, die Achtundsechziger, zusammenkommen,<br />
dann sehe ich alt gewordene,<br />
sanfte Zyniker oder Dichter, die immer<br />
noch Messiasse, Weltverbesserer oder<br />
Richter spielen wollen, kurzum Verlierer,<br />
Veteranen der zeitgenössischen<br />
tschechischen Geschichte.<br />
Ein Häuflein von alten Knackern<br />
Und wenn ich meine Bekannten oder<br />
Freunde so sehe, wie sie heute sind,<br />
dann bin ich froh, daß die Geschichte,<br />
die meine Generation fallen ließ,<br />
am Ende zu uns auf ihre seltsam-ironische<br />
Art und Weise doch gnädig ist:<br />
Unser Abgang von der tschechischen<br />
intellektuell-politisch-literarischen<br />
Bühne fällt zeitlich mit unserem fortgeschrittenen<br />
Alter zusammen. Was<br />
für ein Glück!<br />
Wenn ich heute die gelichteten Reihen<br />
der „Achtundsechziger“ überblicke,<br />
dann sehe ich ein Häuflein<br />
von alten Knackern, die nicht das<br />
Recht haben, der Generation nach<br />
uns Ratschläge zu erteilen. Jede Generation<br />
hat das Recht, ihre eigenen<br />
Irrtümer zu begehen und muß für sie<br />
und für ihre bitteren Folgen sehr oft<br />
teuer bezahlen.<br />
Ich bin dennoch zufrieden: Die Geschichte<br />
hätte uns alle, den letzten<br />
noch lebenden Rest von literarischen<br />
Propheten des Jahres 1968, reumütige<br />
oder gebesserte Marxisten, rechthaberische<br />
Antimarxisten, fromme<br />
und nicht ganz fromme Christen,<br />
echt böhmische Agnostiker oder kluge<br />
böhmisch-mährische Häretiker,<br />
noch schlimmer erwischen können.<br />
In meiner einstigen Heimat, in der<br />
Tschechischen Republik, gibt es<br />
zwar an die zwanzigtausend Leser,<br />
die mich kaufen und wahrscheinlich<br />
auch lesen; der Rest meines Volkes,<br />
an die acht Millionen Bürger, die<br />
keine Analphabeten sind, kaufen<br />
meine Bücher nicht, sie lesen mich<br />
nicht. Soll ich sie deswegen für geistig<br />
unterentwickelte Menschen, für<br />
Literaturbanausen halten, die meine<br />
„Genialität“ nicht begreifen und<br />
nicht genießen wollen?<br />
Nicht ins Ghetto zurückziehen<br />
Von den hundert Millionen Bürgern,<br />
die auf der Welt deutsch lesen, kaufen<br />
meine Bücher zehn- oder fünfzehntausend.<br />
Das ist natürlich zum Verzweifeln<br />
und ungerecht! Unser Dasein als<br />
Literaten in der bundesdeutsch-republikanischen<br />
Fremde sehe ich jedoch<br />
nüchtern und ohne Pathos:<br />
Erstens: Keinen von uns hat die Bundesrepublik<br />
Deutschland gezwungen,<br />
dieses Land als Asyl- oder Zufluchtsland<br />
zu wählen, die deutsche<br />
Sprache als unsere zweite literarische<br />
Sprache zu akzeptieren. Zweitens:<br />
Uns Intellektuellen, und wir<br />
alle halten uns doch für kritisch und<br />
sachlich denkende und handelnde<br />
Menschen, kann man schon zumuten,<br />
daß wir im Augenblick, als wir<br />
uns entschlossen haben, in der Bundesrepublik<br />
Deutschland zu leben,<br />
genau wußten, daß wir es von nun an<br />
mit einer anders gewachsenen Kultur<br />
und Literatur, mit einer anderen<br />
Tradition und mit einer uns fremden<br />
Sprache zu tun bekommen.<br />
Und wollen wir uns, die aus der<br />
vaterländischen Heimat, in der wir<br />
nicht mehr leben konnten, zwangsweise<br />
ausgewanderte oder geflohene<br />
Exilanten in Deutschland oder in einer<br />
anderen Fremde tatsächlich in ein<br />
kleinrussisches, kleinukrainisches,<br />
ein kleinpolnisches, kleintürkisches<br />
oder kleintschechisches Ghetto zurückziehen<br />
und freiwillig einsperren?<br />
Wollen wir uns hier, in der Freiheit,<br />
auf einem engen Raum voll von gefälschter,<br />
patriotischer Sentimentalität<br />
erdrücken lassen? Wollen wir in<br />
der Umarmung eines nachträglich,<br />
meistens erst in der Fremde erwachten,<br />
egal ob rechts oder links ausgerichteten,<br />
politischen, patriotischen<br />
oder religiösen Fundamentalismus<br />
geistig ersticken?<br />
Es wird nicht mir und keinem von<br />
uns gelingen, den <strong>Deutsche</strong>n unsere<br />
aus der Heimat mitgebrachten Traditionen,<br />
unsere Kultur und Literatur,<br />
unsere Angewohnheiten oder unsere<br />
Sprache aufzuzwingen. Ich habe es<br />
bereits aufgegeben, den bayerischen<br />
Pfaffenwinkel, das bayerischste<br />
Stück von Bayern, wo ich wohne, in<br />
ein kleines Mähren zu verwandeln<br />
oder den mehr als zehn Millionen<br />
Bayern die tschechische Sprache<br />
beizubringen, damit sie begreifen,<br />
was für ein literarisches Kleinod der<br />
Freistaat Bayern in mir besitzt.<br />
Erlauben Sie mir einige ironische<br />
Bemerkungen an meine ausländischen,<br />
auch deutsch schreibenden<br />
Kollegen: Ich hoffe, daß es meinen<br />
auch deutsch dichtenden türkischen<br />
Freunden nicht gelingt, Berlin in ein<br />
Istanbul, Dortmund in ein Ankara<br />
umzuorganisieren. Ich hoffe auch,<br />
daß mich meine russischen Kollegen<br />
im Exil nicht mit ihrem linken oder<br />
rechten großrussischen Messiastum<br />
oder mit ihrem orthodox-volkstümlichen<br />
Antisemitismus anstecken.<br />
Sind die <strong>Deutsche</strong>n<br />
Kulturbanausen?<br />
Bei einer P.E.N.-Klub-Tagung moderierte<br />
ich eine Diskussion mit unseren<br />
deutsch dichtenden Kollegen aus<br />
vorwiegend arabischen Ländern im<br />
mittleren Orient. Mein Freund, ein<br />
Dichter im deutschen Exil, nennen<br />
wir ihn Abdulah, erhob die Stimme<br />
und sagte: „Die <strong>Deutsche</strong>n, angeblich<br />
ein Volk von Dichtern und Denkern,<br />
sind eigentlich Kulturbanausen, die<br />
meine deutsche Dichtung nicht lesen.<br />
Von meinem Sammelband wurden<br />
nur 300 Exemplare verkauft, und<br />
das bitte in einem Land mit achtzig<br />
Millionen Einwohnern!“<br />
Ich wurde aufgefordert, Abdulah,<br />
meinem Freund, zu antworten. „Es<br />
ist wirklich traurig“, sagte ich, nachdem<br />
ich mir meine Antwort überlegt<br />
hatte, „daß dein deutscher Verleger<br />
nur dreihundert Exemplare deines in<br />
deutscher Sprache gedichteten Sammelbandes<br />
verkaufen konnte und<br />
daß dich nur dreihundert <strong>Deutsche</strong><br />
gelesen haben. Was soll ich, lieber<br />
Abdulah, dazu sagen? Stell dir vor“,<br />
fuhr ich nach einer Atempause fort,<br />
„daß mich, den ‚großen‘ tschechischen<br />
Erzähler“, ich verlieh meiner<br />
Stimme einen bitteren Unterton, „in<br />
den arabischen Ländern kein Verleger<br />
kennt, geschweige denn auch nur<br />
in einer kleiner Auflage publizieren<br />
möchte. Soll ich deswegen alle Leser<br />
in den arabischen Ländern für<br />
Kulturbanausen halten?“ Abdulah<br />
setzte sich, rot im Gesicht, hin und<br />
schwieg. Seit jenem Tag ist unsere<br />
Freundschaft zerbrochen.<br />
Das Exil ist kein Naturschutzgebiet<br />
Eines habe ich im Exil sehr bald begriffen:<br />
Die fremde Welt akzeptiert<br />
und beschützt nur jene, und das gilt<br />
vor allem für Dichter im Exil, die ihr<br />
entgegenkommen, die sie bereichern<br />
und ohne deren geistige Aktivitäten<br />
die deutsche Welt, die deutsche Kultur<br />
und Literatur ärmer wären. Und<br />
wenn wir die deutsche Kultur und<br />
Literatur, die deutsche Gesellschaft<br />
nicht bereichern, dann haben wir<br />
auch keinen Anspruch darauf, von ihr<br />
Geschenke anzunehmen oder materielle<br />
und geistige Gaben zu fordern.<br />
Das Exil ist kein Naturschutzgebiet, in<br />
dem einige exotische Arten von schreibenden<br />
Menschen vor den Gefahren<br />
der fremden Welt geschützt überleben<br />
und gut gefüttert werden. Eine Integration<br />
der dichtenden Ausländer –<br />
und der Ausländer überhaupt – in die<br />
neue Heimat kann nicht erzwungen,<br />
nicht durch Gesetze begünstigt oder<br />
durch demonstrative Liebeserklärungen<br />
vorangetrieben werden.<br />
Einige Beispiele: Wenn ein türkischer<br />
oder ein russischer Intellektueller<br />
im deutschen Exil nach Jahren<br />
in Deutschland kein Deutsch spricht,<br />
wenn er lange Jahre sein türkisches<br />
oder russisches Exil-Ghetto nicht<br />
verlassen hat, wenn er am deutschen<br />
kulturellen und literarischen Leben<br />
nicht teilnimmt, dann hat er sich in der<br />
deutschen Gesellschaft selbst ins Abseits<br />
gestellt, dann ist ihm nicht zu helfen.<br />
Und auf der anderen Seite: Wenn<br />
sich ein Tscheche nach einigen Jahren<br />
in Deutschland germanischer als ein<br />
echter Germane gibt, dann ist er selbst<br />
schuld; die Tschechen können froh<br />
sein, daß sie ihn los sind, und was die<br />
<strong>Deutsche</strong>n mit einem solchen Deppen<br />
anfangen, das ist dann ihr Problem.<br />
Peinliche deutsche Ausländerfreundlichkeit<br />
Der Verlust unserer Heimat, der vielen<br />
von uns unbeschreibliche und<br />
immer wieder in der Exilliteratur<br />
beschriebene Qualen bereitet, unsere<br />
zu oft aufgeblasene, literarisch gesehen<br />
jedoch öfters als uns angenehm<br />
mißglückten Moralpredigten, unsere<br />
immer wieder rechthaberisch verkündeten<br />
politischen, religiösen oder<br />
ideologischen Standpunkte, unser<br />
patriotischer, religiöser oder nationaler<br />
Fundamentalismus, den wir vorwiegend<br />
erst in der Fremde entdekken<br />
oder wieder beleben, werden in<br />
den Augen der Generation nach uns<br />
unsere Fehltritte im Exil und in unserer<br />
Literatur nicht aufwiegen.<br />
Als Ausländer mit bundesdeutschem<br />
Reisepaß empfinde ich die zahlreichen<br />
Ausbrüche deutscher Ausländerfreundlichkeit<br />
zumindest peinlich.<br />
Es geht bei mir so weit, daß ich<br />
ein Taxi mit der Aufschrift – „Der<br />
Ausländer ist mein Freund“ – nicht<br />
besteige. Von der Gesellschaft, in der<br />
ich lebe, erwarte ich nicht mit Kerzenlichtketten<br />
illuminierte Freundschaftsbekenntnisse<br />
oder Liebeserklärungen.<br />
Ich will als Ausländer so<br />
leben wie mein deutscher Nachbar.<br />
Und ich fühle mich überhaupt nicht<br />
dazu verpflichtet, meine deutschen<br />
Nachbarn zu lieben, und ich will von<br />
ihnen auch nicht geliebt, sondern<br />
ganz einfach so, wie ich sie akzeptiere,<br />
auch von meinem deutschsprachigen<br />
Nächsten akzeptiert werden.<br />
Ich als Ausländer empfinde gegenüber<br />
den <strong>Deutsche</strong>n keinen Ausländerhaß.<br />
Erschrecken Sie nicht, wenn<br />
ich behaupte, daß es in der Bundesrepublik<br />
Deutschland außer dem<br />
hausgemachten deutschen Ausländerhaß<br />
noch eine zweite Abart vom<br />
Ausländerhaß gibt, nämlich den Haß<br />
von vielen hier lebenden Ausländern<br />
gegen <strong>Deutsche</strong>. Beispiele für diese<br />
Abart des Ausländerhasses will ich<br />
heute lieber nicht anführen.<br />
Mit jeder neuen Sprache öffnet<br />
sich ein neues Leben<br />
Wenn man die Heimat und das Vaterland,<br />
egal ob freiwillig oder gezwungen,<br />
verläßt, verliert man zwar nicht<br />
alles, dennoch viel. Aber man gewinnt<br />
in der Fremde jedoch einen neuen<br />
Reichtum! … Mit einer jeden neuen<br />
Sprache, die wir erlernen und als einen<br />
willkommenen Gast in uns und<br />
auch in unsere Literatur aufnehmen,<br />
öffnet sich für uns in der neuen, wunderlichen<br />
Welt eine neue Geschichte,<br />
eine neue Kultur, kurzum ein neues<br />
Leben! Aber auch das neue Leben bereitete<br />
mir Schwierigkeiten …<br />
Nach der wunderbaren Wende und<br />
nach dem Zerfall der so genannten<br />
Sozialistischen Tschechoslowakischen<br />
Republik im Spätherbst 1989<br />
durfte ich wieder in der Heimat publizieren,<br />
was ich bis heute als ein<br />
Wunder empfinde. Zugleich stand ich<br />
jedoch vor zwanzig Jahren vor der<br />
schwierigen Frage: In welcher Sprache<br />
wirst du jetzt schreiben, wenn du<br />
deine Bücher nicht mehr nur in deutscher<br />
Sprache oder in einigen Übersetzungen,<br />
sondern auch in deiner<br />
Muttersprache herausgeben kannst?<br />
Eine Antwort auf diese Frage habe<br />
ich erst nach einem Jahr gefunden:<br />
Die Wahl der Sprache, in der ich nach<br />
1989 die ersten Fassungen meiner<br />
Romane schrieb und schreibe, hängt<br />
vom Thema ab. Romane, deren Geschichten<br />
in der deutschen <strong>Sprachwelt</strong><br />
verwurzelt sind, schreibe ich zuerst<br />
in deutscher Sprache und erst dann<br />
erzähle ich sie neu tschechisch. Ich<br />
übersetze mich nicht, sondern versuche,<br />
das ursprünglich deutsche Thema<br />
in tschechische „sprachliche“ Atmosphären<br />
zu verpflanzen. So entsteht<br />
eine tschechische Variante – keine<br />
Übersetzung! – eines erst deutsch geschriebenen<br />
Buches oder umgekehrt.<br />
Doppeltes Schreiben<br />
Diese Art zu schreiben, also alles<br />
zweimal, einmal deutsch und dann<br />
tschechisch – oder umgekehrt –, die<br />
ich jetzt schon zwanzig Jahre lang<br />
betreibe, ist für mich eine Belastung<br />
und nicht ohne Folgen geblieben:<br />
Wenn ich deutsch schreibe, überfällt<br />
mich öfters eine besonders beklemmende<br />
Art von metaphysischer Angst,<br />
daß ich mein Tschechisch verliere,<br />
leichtsinnig aufgebe, daß ich auf eine<br />
seltsam schmerzliche Art und Weise<br />
sprachlich zerspringe. Und wenn ich<br />
tschechisch schreibe, spreche oder<br />
lese, fühle ich, wie aus mir mein angelerntes<br />
Deutsch entweicht, wie die<br />
Luft aus einem löchrigen Ball.<br />
Unlängst stand ich in der einst<br />
böhmisch-königlichen Stadt Saaz –<br />
tschechisch Žatec – vor dem altehrwürdigen<br />
Rathaus, in dem – so verkündet<br />
eine in Bronze gegossene,<br />
links vom Haupteingang angebrachte<br />
Tafel – Anfang des 15. Jahrhunderts<br />
der „Ackermann von Böhmen“, ein<br />
Kleinod der deutschen spätmittelalterlichen<br />
Literatur, gedichtet wurde.<br />
Ich versuchte vergeblich, mich an die<br />
ersten deutschen Verse aus dem „Akkermann<br />
von Böhmen“ zu erinnern,<br />
hörte die Leute vor dem Rathaus<br />
tschechisch sprechen, und plötzlich,<br />
weil ich vergessen hatte, daß ich in<br />
Saaz – Žatec bin, schoß es mir durch<br />
den Kopf: Mein Gott, gibt es hier<br />
aber viele Tschechen! Wo kommen<br />
die alle nur her? Auch nach siebenunddreißig<br />
Jahren in Bayern passiert<br />
es mir in München oder in einer anderen<br />
deutschen Stadt, daß ich mich<br />
auf der Straße, von der deutschen<br />
Sprache umringt, wie in einem Netz<br />
gefangen fühle und keine Antwort auf<br />
die Frage finde: Wieso bist du hier,<br />
wo doch alle nur deutsch reden?<br />
Oder: Ich sitze an einem warmen<br />
Sommerabend in Murnau auf der<br />
Terrasse unseres Hauses mit dem<br />
Ausblick auf die Alpen und trinke<br />
mit meiner Frau Wein. Spätestens<br />
nach dem dritten Glas Rotwein<br />
überfällt mich eine eigenartige Art<br />
von ratloser Verzweiflung, und ich<br />
schaffe es nie, folgende, aufdringliche<br />
Fragen zu verscheuchen: Was hat<br />
die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts<br />
mit dir angestellt? Wieso<br />
bist du jetzt in Murnau? Mit achtzig<br />
Jahren hättest du, und das wäre gerecht,<br />
achthundert Kilometer östlich<br />
von Bayern auf der Terrasse deines<br />
Vaterhauses in Hošt’álková bei einem<br />
Glas Sliwowitz sitzen und den<br />
Untergang der Sonne in die Tiefe der<br />
mährisch-wallachischen Wälder beobachten<br />
sollen!<br />
Gefangen in der eigenen Sprache<br />
Nach diesen Fragen und Überlegungen<br />
muß ich meine Begeisterung für<br />
fremde Sprachen, vor allem für die<br />
deutsche Sprache, die mir, einem kosmopolitischen<br />
Wanderer aus Mitteleuropa,<br />
neue Erdteile entdeckte, bremsen<br />
und mich mit Demut an die Worte des<br />
in Paris lebenden rumänischen Dichters<br />
Emil M. Cioran erinnern: „Der<br />
Dichter im Exil ist für immer Gefangener<br />
seiner eigenen Sprache.“<br />
Cioran bietet zwar seine kleine,<br />
künstlich im Exil erschaffene rumänische<br />
Welt mitten in Paris Schutz<br />
und menschliche Wärme. Die fremde<br />
Welt, in der Cioran in Freiheit lebt,<br />
ist jedoch für ihn von der Fremdsprache<br />
seiner fremdsprachigen Nächsten<br />
eingekreist, auf ein kleines, von<br />
rumänischen Exilanten freiwillig errichtete<br />
Ghetto, zusammengedrängt.<br />
Diese Tatsache treibt Cioran in seine<br />
alltägliche Verzweiflung, sie provoziert<br />
seinen Widerstand gegen das<br />
Französische und weckt zugleich<br />
seinen pseudoromantischen Patriotismus,<br />
den er glaubte in Rumänien<br />
zurückgelassen zu haben.<br />
Meiner Ansicht nach sitzt Cioran in<br />
der Falle: Zu Hause, in Bukarest, in<br />
einer „klassenlosen“ Gesellschaft,<br />
wurde er zum Bürger dritter Klasse<br />
und zum schweigenden Dichter<br />
deklassiert. In Paris, im freien Exil,<br />
schweigt er, von der Fremdsprache<br />
erdrückt. „Die Schreie nach Freiheit“,<br />
schreibt Cioran, „auf die der<br />
Dichter in seiner Heimat so stolz<br />
war, verwandeln sich in der Fremde<br />
in Bitterkeit.“<br />
Mein Freund, der russische Dichter<br />
Andrej Donatowitsch Sinjawski,<br />
der vor einigen Jahren in Paris starb,<br />
schrieb in seinem Essay „Lob des<br />
Exils“: „Im Exil wird der Dichter zu<br />
einem Ausländer, zum Ausländer in<br />
doppelter Beziehung: Sowohl für das<br />
Land, in dem er nun lebt, als auch im<br />
Verhältnis zu seiner Heimat, die er verlassen<br />
hat und wahrscheinlich niemals<br />
wieder sehen wird.“ Mein Freund Sinjawski<br />
sah zwar sein geliebtes Moskau<br />
wieder, aber Mütterchen Rußland<br />
wollte ihn, den verlorenen Sohn, den<br />
es zuerst nach Sibirien und dann nach<br />
Paris verbannt hatte, nicht mehr zurückhaben.<br />
Das brach meinem russischen<br />
Freund das Herz. Ich habe<br />
mir für alle Fälle vor zwei Jahren in<br />
Garmisch-Partenkirchen einen Herzschrittmacher<br />
einsetzen lassen …<br />
Der Schriftsteller Ota Filip hielt am<br />
10. September dieses Jahres die fünfte<br />
Köthener „Rede zur deutschen<br />
Sprache“. Wir drucken hier eine stark<br />
gekürzte Fassung der Rede ab. Der<br />
vollständige Text wird in der Schriftenreihe<br />
„Unsere Sprache“ erscheinen,<br />
herausgegeben von der Neuen<br />
Fruchtbringenden Gesellschaft.<br />
Jedes Jahr am Tag der deutschen<br />
Sprache trägt ein bedeutender<br />
Sprachfreund vor der Neuen Fruchtbringenden<br />
Gesellschaft zu Köthen/<br />
Anhalt eine Grundsatzrede vor. 2007<br />
sprach der Dichter Reiner Kunze,<br />
2008 der Präsident des <strong>Deutsche</strong>n<br />
Lehrerverbandes, Josef Kraus, 2009<br />
Kurt Reinschke, Vorstandsmitglied<br />
des Bundes Freiheit der Wissenschaft,<br />
und 2010 Hans Joachim Meyer, ehemaliger<br />
Sächsischer Staatsminister<br />
für Wissenschaft und Kunst. Die Reden<br />
sind in den DSW-Ausgaben 29<br />
(3/2007), 33 (3/2008), 37 (3/2009)<br />
und 41 (3/2010) abgedruckt. Wie<br />
alle Ausgaben der DEUTSCHEN<br />
SPRACHWELT sind auch diese<br />
Nummern noch lieferbar. Den Bestellschein<br />
finden Sie auf Seite 5.
Seite 8 Besprechungen<br />
Kafka vertritt die deutsche Position<br />
Die verschlüsselte Erzählung „Der Heizer“ gibt eindeutige Hinweise<br />
Von Rolf Kamradek<br />
Zum Beitrag „Franz Kafka, ein tschechischer<br />
Klassiker?“ von Rolf Stolz in<br />
DSW 44, Seite 9<br />
W<br />
ar Franz Kafka ein tschechischer<br />
Klassiker? Rolf Stolz<br />
widerspricht in der DEUTSCHEN<br />
SPRACHWELT zu Recht der Behauptung.<br />
Diese wurde im Netz von der<br />
Zitatensammlung www.zitante.de aufgestellt.<br />
Sie beruft sich auf Wikipedia,<br />
wo behauptet wird, der Dichter habe<br />
sich nie zu seiner Nationalität geäußert.<br />
Da Kafka deutsch schrieb, ist er natürlich<br />
ein deutscher Dichter. Aber er hat<br />
sich auch dazu geäußert. In seiner 1913<br />
verfaßten Erzählung „Der Heizer“ (später<br />
das erste Kapitel seines Romanfragmentes<br />
„Amerika“) hat er verschlüsselt<br />
erkennbar die Position der <strong>Deutsche</strong>n<br />
in Böhmen vertreten. Es ist erstaunlich,<br />
daß diese Deutung, die allerdings die<br />
Kenntnis der Geschichte Böhmens im<br />
19. Jahrhundert und vor dem 1. Weltkrieg<br />
voraussetzt, meines Wissens bisher<br />
nicht erfolgte.<br />
Im 19. Jahrhundert erfaßte das Nationalbewußtsein<br />
auch den tschechischen<br />
Teil Böhmens und Mährens. Die vom<br />
Aussterben bedrohte tschechische<br />
Sprache belebte sich wieder, häufig mit<br />
deutscher Hilfe. Das Selbstbewußtsein<br />
der Tschechen blühte auf. Leider wurde<br />
auch hier das Nationalbewußtsein<br />
ab Mitte des Jahrhunderts vom Nationalismus<br />
verdrängt und entwertet.<br />
František Palacký stellte die Geschichte<br />
Böhmens als ständigen Kampf zwischen<br />
<strong>Deutsche</strong>n und Tschechen dar.<br />
Václav Hanka entwarf mit der Grünberger<br />
und der Königshofener Handschrift<br />
Fälschungen, die später durch<br />
Tomáš Masaryk entlarvt wurden, und<br />
förderte extreme tschechische Tendenzen.<br />
Die berechtigten Forderungen<br />
nach sprachlicher Gleichberechtigung<br />
der Tschechen wandelten sich, nachdem<br />
sie durchgesetzt waren, in den<br />
Anspruch auf alleinige tschechische<br />
Führung. Die seit achthundert Jahren<br />
in geschlossenen Siedlungsgebieten<br />
lebenden Deutschböhmen wurden als<br />
Fremde verunglimpft.<br />
Die überraschten <strong>Deutsche</strong>n reagierten<br />
ungeschickt und mit Gegenreaktionen,<br />
polemisierten etwa gegen die Gründung<br />
einer tschechischen Universität<br />
im damals noch deutschen Brünn, was<br />
die Tschechen wiederum geschickt der<br />
Auslandspresse zuspielten. In der gereizten<br />
Atmosphäre wurden Prestigefragen<br />
hochgespielt, Demonstrationen<br />
in gemischtsprachigen Städten endeten<br />
in Straßenschlachten. Falschmeldungen<br />
der tschechischen Presse führten<br />
zur Plünderung des Universitätsgebäudes<br />
in Prag, zu Angriffen auf das deutsche<br />
Theater, Rollkommandos verübten<br />
Übergriffe auf deutsche Studenten<br />
und deutsche Juden, die im deutschen<br />
Liberalismus und Kulturleben eine<br />
wichtige Rolle spielten. 1893 bis 1895<br />
mußte in Prag der Ausnahmezustand<br />
verhängt werden, erneut 1897 und<br />
nochmals 1908.<br />
Vorschläge, etwa die sprachliche Aufteilung<br />
des Landes, ein Nationalitätengesetz<br />
oder die Sprachverordnung der<br />
Wiener Regierung wurden von der jeweils<br />
anderen Seite grundsätzlich abgelehnt.<br />
Es gab Prügeleien im Reichstag<br />
und Landtag, Abgeordnete duellierten<br />
sich. Als die Grundsteinlegung für ein<br />
Gebäude der deutschen Universität gewaltsam<br />
verhindert wurde und Rektor<br />
Anzeigen<br />
ANZ:GE<br />
Gedankengang: Anzeige. Zeige<br />
an! oder Na, Ziege? Geis oder<br />
Sieg|Geiz oder Zeig? Einfach:<br />
Sieg angezeigt!<br />
ANDERS<br />
Dieses BUCH<br />
sucht seine LESERinnen<br />
www.anders.ingeborgseinn.de<br />
wie Senat aus Protest zurücktraten, rief<br />
der Rektor der tschechischen Universität<br />
die Worte Jan Hus’ von 1409 aus: „Gelobt<br />
sei der allmächtige Gott, daß wir<br />
die <strong>Deutsche</strong>n ausgeschlossen erreicht<br />
haben und daß wir Sieger wurden.“<br />
Presseorgane forderten die kriegerische<br />
Zerstückelung Deutschlands und Österreichs,<br />
sowie die Unterbringung der<br />
<strong>Deutsche</strong>n in Reservaten. Die Wiener<br />
Regierung konnte es keinem recht machen.<br />
Ängstlich vermied sie, was nach<br />
einer Bevorzugung der <strong>Deutsche</strong>n hätte<br />
aussehen können. Obgleich mit tschechischen<br />
Ministern durchsetzt, galt sie<br />
den nationalen Tschechen als deutsch<br />
und damit hassenswert, die <strong>Deutsche</strong>n<br />
wiederum vermißten ihren Schutz und<br />
bezichtigten sie des Verrates.<br />
In dieser Atmosphäre schrieb Kafka<br />
1913, noch vor dem 1. Weltkrieg, sein<br />
Romanfragment „Amerika“. Karl Roßmann,<br />
der Held des Romans, ist, so wie<br />
K. im „Schloß“ und im „Prozeß“, das<br />
literarische „Ich“ Kafkas, wie schon<br />
Max Brod erkannte, der das Fragment<br />
nach des Dichters Tod vor der Vernichtung<br />
rettete. Karl bejaht die Frage „Sie<br />
sind ein <strong>Deutsche</strong>r?“ mit „Ja“ und ergänzt<br />
„aus Prag in Böhmen“ (Kapitel<br />
„Hotel Occidental“). Im ersten Kapitel,<br />
„Der Heizer“, erlebt Karl, wie „auf<br />
einem deutschen Schiff“ der Hamburg-Amerika-Linie<br />
(Österreich), der<br />
Obermaschinist Schubal, ein Rumäne<br />
(Tscheche), „uns <strong>Deutsche</strong> auf einem<br />
deutschen Schiff schinden“ darf, und<br />
der fleißige deutsche Heizer muß befürchten,<br />
„hinausgeworfen zu werden“<br />
(Austreibungsdrohungen).<br />
„Waren Sie denn schon beim Kapitän?“<br />
fragt Karl. Doch bei seiner Beschwerde<br />
vor dem betreßten, degentragenden<br />
deutschen Kapitän (Kaiser Franz<br />
Joseph) vor internationalem Publikum<br />
wird der Heizer bereits als Querulant<br />
angekündigt. Sein Auftritt ist ungeschickt,<br />
die Fülle seiner Beschwerden<br />
wirkt unverständlich, die vielen Einzelheiten<br />
setzen Kenntnisse voraus, die<br />
der Kapitän nicht haben kann. „Kennt<br />
er denn alle Maschinisten und Laufburschen<br />
… beim Taufnamen …, daß<br />
er gleich wissen kann, um wen es sich<br />
handelt?“ (Einzelheiten des Nationalitätenproblems<br />
und der Vorfälle). Des<br />
Heizers Beschwerde wird ein unerträgliches<br />
Geschwätz (ungeschicktes Reagieren<br />
der <strong>Deutsche</strong>n).<br />
Der Kapitän findet zwar, „der Schubal<br />
wird mir … viel zu selbstständig“<br />
(tschechischer Separatismus), doch<br />
„der Kapitän mochte ja ein guter Mann<br />
sein … und Gründe haben, sich als<br />
gerechter Vorgesetzter zu zeigen, aber<br />
schließlich war er kein Instrument, das<br />
man in Grund und Boden spielen konnte<br />
– und gerade so behandelte ihn der<br />
Heizer … allerdings aus seinem grenzenlos<br />
empörten Inneren heraus“. Er<br />
geriet „außer Rand und Band“ (Verrätervorwurf<br />
an Wien) und begann sogar,<br />
mit seinem Landsmann Karl zu streiten<br />
(Uneinigkeit der <strong>Deutsche</strong>n), bis alle<br />
im Raum „abgestumpft gegen den Heizer,<br />
ja von ihm angewidert“ waren.<br />
„Ich glaube, wir haben vom Heizer genug“,<br />
sagt Karls amerikanischer Onkel<br />
(Auslandsmeinung). „Darauf kommt<br />
es doch gar nicht an“, wendet Karl ein.<br />
„Aber gleichzeitig handelt es sich um<br />
eine Sache der Disziplin“, entgegnet<br />
der Onkel, „und diese unterliegt der<br />
Beurteilung des Kapitäns.“ „Ja“, stellt<br />
Karl fest, „bei der Disziplin hört seine<br />
Höflichkeit auf.“ (Respektforderung<br />
des Wiener Hofes).<br />
In dieser Situation tritt Schubal wohlvorbereitet<br />
(Presse) mit falschen und<br />
sich unpassend benehmenden Zeugen<br />
(Geschichtsfälschung und Falschmeldungen)<br />
auf und gewinnt trotz erkennbarer<br />
Unredlichkeit (Entlarvung der<br />
Fälschungen) die Herren für sich. „Dir<br />
ist ja Unrecht geschehen wie keinem<br />
auf dem Schiff“, sagt Karl zum Heizer<br />
und „du mußt dich zur Wehr setzen.<br />
Aber der Heizer scheint „nichts mehr<br />
für sich zu hoffen“. Der Kapitän würde<br />
„lauter Rumänen (tschechische Minister<br />
und Beamte) einstellen können, es<br />
würde überall rumänisch gesprochen<br />
werden, und vielleicht würde dann<br />
wirklich alles besser gehen.“<br />
Als Karl mit seinem Onkel das Schiff<br />
verläßt, sind dessen Fenster mit Zeugen<br />
Schubals besetzt, die freundschaftlich<br />
winken. Es war wirklich, als gäbe<br />
es keinen Heizer mehr. Der amerikanische<br />
Onkel weicht Karls Blick aus. Die<br />
später angefügten Kapitel des Romanfragmentes<br />
schildern, wie sich Karl,<br />
der reine und naive junge <strong>Deutsche</strong> in<br />
Amerika, gegenüber den Gemeinheiten<br />
von Einheimischen und Auswanderern<br />
aus Irland und Frankreich, „als anständiger<br />
Mensch bewähren wird“ (Max<br />
Brod). Dabei wird seine deutsche Herkunft<br />
immer wieder betont, also die<br />
des literarischen „Ichs“ Kafkas.<br />
Franz Kafka: Der Heizer, Schriftenreihe<br />
„Der jüngste Tag“, Kurt-Wolff-<br />
Verlag, Leipzig 1913.<br />
<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>45</strong>_Herbst 2011<br />
Mitteldeutsches Jahrbuch 2010<br />
eit 1994 erscheint das Mitteldeut-<br />
S sche Jahrbuch für Kultur und Ge-<br />
schichte. Die gemeinnützige Stiftung<br />
Mitteldeutscher Kulturrat gibt es heraus.<br />
In diesem Rat hatten sich nach dem<br />
Krieg Persönlichkeiten aus den Ländern<br />
der späteren DDR zusammengefunden,<br />
um die „unlösbare Bindung“ aller <strong>Deutsche</strong>n<br />
aufrecht zu erhalten, Trennendes<br />
überwinden zu helfen und „Vorarbeit<br />
für das Deutschland der überwundenen<br />
Spaltung“ zu leisten. Laut Satzung ist<br />
der Zweck der Stiftung die „länderübergreifende<br />
Pflege der mitteldeutschen<br />
Beiträge zur deutschen Kultur“. Bis zur<br />
Wiedervereinigung hat die Stiftung daher<br />
in der Bundesrepublik Deutschland<br />
immer wieder öffentlich durch Veranstaltungen<br />
und Publikationen auf die gemeinsame<br />
Geschichte und Kultur aller<br />
<strong>Deutsche</strong>n hingewiesen.<br />
Seit der Wiedervereinigung unterstützt<br />
sie vor allem die kulturellen Aktivitäten<br />
in Sachsen-Anhalt, Sachsen,<br />
Thüringen, Berlin, Brandenburg und<br />
Mecklenburg-Vorpommern. Das geschieht<br />
durch eigene Tagungen und<br />
Vorträge in den Bundesländern sowie<br />
durch Veröffentlichungen. Zur Erforschung<br />
der DDR-Kultur schreibt die<br />
Stiftung Wissenschaftspreise aus.<br />
Das Mitteldeutsche Jahrbuch für Kultur<br />
und Geschichte bietet in Aufsätzen,<br />
Gedenkartikeln, Berichten und Rezensionen<br />
ein breites Spektrum mitteldeutscher<br />
Kultur dar. Den Einband<br />
des Jahrbuches für 2010 schmückt ein<br />
Bild der Königin Luise von Preußen,<br />
an deren Todestag vor 200 Jahren zahlreiche<br />
Veranstaltungen erinnern. Ihr<br />
sind zwei Beiträge gewidmet. Im Aufsatzteil<br />
werden Themen der mitteldeutschen<br />
Kultur- und Geistesgeschichte<br />
von den Anfängen bis zur Gegenwart<br />
in ausführlicher Form behandelt. Als<br />
Bauwerke werden vorgestellt die Burg<br />
Falkenstein und die St.-Maria-Magdalena-Kapelle<br />
in der Moritzburg zu<br />
Halle/Saale, als Kunstwerke der „Jüterboger<br />
Altar“ in Fürstenwalde und<br />
die Ansichten des Englischen Gartens<br />
in Meiningen. Die Literatur ist mit<br />
Beiträgen über Georg Rollenhagen<br />
und der Vorstellung der neuen großen<br />
Wieland-Ausgabe präsent. Verlagsgeschichte<br />
wird in den Beiträgen über<br />
den Reimer- und den Kiepenheuer-<br />
Verlag behandelt. Einen Schwerpunkt<br />
dieses Bandes stellen die Aufsätze zu<br />
bekannten Frauen dar; stellvertretend<br />
seien Kaiserin Auguste Victoria und<br />
Anna von Helmholtz genannt.<br />
Erinnert wird des weiteren an Persönlichkeiten<br />
und Ereignisse: den Mystiker<br />
Meister Eckhart, den Philosophen Paul<br />
Menzer, die Maler Philipp Otto Runge<br />
und Hans von Volkmann, die Schriftstellerin<br />
und Reisende Marie von Bunsen; die<br />
Gründung der Cansteinschen Bibelanstalt<br />
zu Halle, den Beginn der Porzellanindustrie<br />
in Thüringen und das Wörterbuch der<br />
deutschen Sprache von Daniel Sanders.<br />
Nachrufe gedenken des Schriftstellers<br />
Heinz Czechowski, des Schauspielers Erwin<br />
Geschonneck und des Germanisten<br />
Gerhard Kettmann. Berichte informieren<br />
über zahlreiche kulturelle Aktivitäten in<br />
Mitteldeutschland, Literaturhinweise<br />
über eine Auswahl an Büchern aus den<br />
verschiedenen Bereichen der Kultur- und<br />
Geistesgeschichte. (dsw)<br />
Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur<br />
und Geschichte, herausgegeben von<br />
der Stiftung Mitteldeutscher Kulturrat,<br />
Band 17, Monumente Publikationen,<br />
Bonn 2010.<br />
Geschäftsstelle des Kulturrats: Telefon<br />
+49-(0)228-655138, Telefax +49-<br />
(0)228697710, info@Stiftung-MKR.de<br />
Sprache, Stil und starke Sprüche<br />
Kritik an Bastian Sick und seinen Kritikern<br />
Von Thomas Paulwitz<br />
E<br />
s wurde zum geflügelten Wort:<br />
„Der Dativ ist dem Genitiv sein<br />
Tod“. – Mit seinen Büchern, die unter<br />
diesem Titel erschienen, ist Bastian<br />
Sick der erfolgreichste Sprachkritiker,<br />
zumindest hinsichtlich des Verkaufs.<br />
Gewiß gibt es Neider, die ihm diesen<br />
wirtschaftlichen Erfolg und die große<br />
Bekanntheit mißgönnen. Es gibt aber<br />
auch ernstzunehmende Kritik, sowohl<br />
von sprachschützerischer als auch von<br />
sprachwissenschaftlicher Seite.<br />
Auf der einen Seite beanstanden<br />
Sprachwissenschaftler bei Sick, daß<br />
seine Bücher wissenschaftlichen Ansprüchen<br />
nicht genügten und sachliche<br />
Fehler enthielten. Auf der anderen Seite<br />
fehlt den Sprachschützern „der zweite<br />
Schritt“. Sick sieht sich nämlich in erster<br />
Linie als Unterhalter. Daher unterscheidet<br />
er nicht zwischen harmlosen<br />
Sprachausrutschern, die menschlich<br />
sind, und gezielter Sprachverderberei.<br />
Auch auf eine sprachpolitische Aufforderung<br />
an die Sprachpräger in Wirtschaft,<br />
Medien und Politik und an den<br />
Schulen, ihrer Verantwortung gerecht<br />
zu werden, wartet man vergeblich.<br />
Diese Kritik an Sick hat die DEUTSCHE<br />
SPRACHWELT in ihrer Ausgabe 33 auf<br />
einer ganzen Seite dokumentiert. Eines<br />
der damals vorgestellten Werke war ein<br />
Buch des Sprachwissenschaftlers André<br />
Meinunger, das den Titel trägt: „Sick of<br />
Sick? Ein Streifzug durch die Sprache<br />
als Antwort auf den ‚Zwiebelfisch‘“.<br />
Nun hat Karsten Rinas eine Streitschrift<br />
über „Bastian Sick und seine Kritiker“<br />
vorgelegt, in der er nicht nur Sick, sondern<br />
auch seine sprachwissenschaftlichen<br />
Kritiker rügt. Rinas ist selbst<br />
Sprachwissenschaftler. Er lehrt am<br />
germanistischen Institut der Universität<br />
Olmütz. Das Buch von Rinas ist flüssig<br />
zu lesen. Es gefällt durch Urteilsfreude<br />
und Mut zur Meinung. Das ist kein<br />
Wunder, denn Rinas selbst gibt an, daß<br />
er die Schrift verfaßt habe, um seinem<br />
Ärger Luft zu machen: „Ich ärgere mich<br />
über die schon mehrere Jahre währende<br />
Kontroverse um Bastian Sicks ‚Zwiebelfisch‘,<br />
genauer gesagt: über deren oft<br />
erschreckend niedriges Niveau.“<br />
Dabei richtet sich sein Ärger gar nicht so<br />
sehr gegen Sick, obwohl Rinas es „befremdlich“<br />
findet, daß diesem die Rolle<br />
eines „Sprachpapstes“ zugeschrieben<br />
wird, da es dafür weitaus belesenere<br />
Sprachkritiker wie Wolf Schneider oder<br />
Max Goldt gibt. „Viel schlimmer finde<br />
ich, was in letzter Zeit von einigen<br />
Vertretern meiner Zunft, der Sprachwissenschaft,<br />
über Sicks Werke und die<br />
Sprachkritik insgesamt geäußert wurde.“<br />
Rinas wirft ihnen eine „Schlichtheit“<br />
vor, die an „Dummheit“ grenze.<br />
„Besonders krasse Beispiele für diese<br />
Unbedarftheit“ seien vor allem in einem<br />
Werk zu finden: in dem Buch „Sick of<br />
Sick?“ von André Meinunger.<br />
In dem bereits Jahrzehnte andauernden<br />
Streit zwischen normativer Sprachkri-<br />
tik und deskriptiver Linguistik markiere<br />
die Debatte um Sick und Meinunger<br />
„einen Tiefpunkt“. Wohl nie zuvor<br />
seien „die Leistungen der Vorgänger<br />
so vollständig ignoriert worden wie<br />
in dieser Debatte“. Das Ausblenden<br />
der in der Vergangenheit bereits entwickelten<br />
Argumentationen führe zur<br />
Verflachung. Beide Autoren zeigten<br />
außerdem „ein erhebliches Maß an Arroganz<br />
und Ignoranz“. Sick gründe seine<br />
Urteile auf sein Sprachgefühl. Wer<br />
ihm nicht zu folgen vermag, habe eben<br />
sein Sprachgefühl verloren. Und Meinunger<br />
„bekämpft fanatisch alles, was<br />
ihm irgendwie normativ erscheint“.<br />
Er versuche erst gar nicht, das Anliegen<br />
der Sprachpfleger zu verstehen.<br />
Dabei verkenne Meinunger wie viele<br />
andere Sprachwissenschaftler, daß der<br />
traditionelle Streit zwischen normativen<br />
Sprachkritikern und deskriptiven<br />
Linguisten „aus genuin linguistischer<br />
Sicht fruchtbar war, indem er die<br />
Sprachwissenschaft um interessante<br />
Probleme bereichert hat“.<br />
Das Verdienst von Reinas besteht darin,<br />
daß er beide Seiten versteht und für<br />
die wissenschaftliche Begleitung der<br />
Sprachkritik eintritt. Damit trägt er<br />
trotz seiner Angriffslust zur Versachlichung<br />
der Debatte bei.<br />
Karsten Rinas: Sprache, Stil und starke<br />
Sprüche – Bastian Sick und seine Kritiker,<br />
Lambert-Schneider-Verlag, Darmstadt<br />
2011, 208 Seiten, 19,90 Euro.<br />
Bücher von Johannes Dornseiff<br />
Rechte Notizen<br />
Der Verfasser der Bücher Tractatus absolutus (2000), Recht und Rache (2003),<br />
Sprache, wohin? (2006) und Kant (2009) legt als eine Art Nachlaß zu Lebzeiten<br />
seine politischen Notizen aus der Zeit seit 1993 vor, als Anhang zu seinem Neuen<br />
Deutschlandlied („Deutschland, Deutschland, bist verblichen ...“). – Mehr als<br />
Notizen sind es tatsächlich nicht. Aber vielleicht doch so treffend, daß die Vertreter<br />
des Gutmenschentums und der „political correctness“ daran Anstoß nehmen<br />
werden. Von den (von sich selbst) so genannten Antifaschisten ganz zu schweigen.<br />
136 Seiten • 10,00 € • ISBN 978-3-940190-66-6 • Vertrieb: xlibri.de Buchproduktion,<br />
Tel.: 08243 / 99 38 46, E-Mail: autor@xlibri.de<br />
Inhaltsangaben und Auszüge der Bücher des Verfassers unter<br />
www.johannesdornseiff.de
<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>45</strong>_Herbst 2011 Sprachraum<br />
Seite 9<br />
Von Dietrich Scholze<br />
I<br />
m Jahr 631 traten die Vorfahren<br />
des kleinen Volkes ins Licht der<br />
Überlieferung: Sie wurden – auf Latein<br />
als Surbi – in einer fränkischen<br />
Chronik erstmals erwähnt. Zu der<br />
westslawischen Gruppe gehörten<br />
damals etwa 20 Stämme. Darunter<br />
waren die Milzener, die späteren<br />
Obersorben, und die Lusizer, die<br />
späteren Niedersorben, die der Region<br />
ihren Namen gaben: Łužica –<br />
Lausitz. Weitere deutsch-slawische<br />
Berührungsräume existierten an Elbe<br />
und Saale, an Main und Regnitz oder<br />
im Hannoverschen Wendland. Doch<br />
nur die Lausitzer Sorben – bis 19<strong>45</strong><br />
meist Wenden genannt – konnten<br />
Neues zur Straße<br />
der deutschen Sprache<br />
Treffen der Arbeitsgemeinschaft „Straße der deutschen Sprache“ am 7. Juli in<br />
Reppichau Bild: Hildebrandt<br />
A<br />
uf ihrem zweiten Arbeitstreffen,<br />
das am 7. Juli in Reppichau<br />
stattfand (siehe Bild), legte<br />
die Arbeitsgemeinschaft „Straße der<br />
deutschen Sprache“ (AG SddS) die<br />
Zielgruppen der geplanten Ferienstraße<br />
fest. Sie unterscheidet dabei nationale<br />
und internationale Zielgruppen,<br />
und diese schlüsselt sie wiederum<br />
nach Reisemotiven und Bevölkerungsmerkmalen<br />
auf. Außerdem legte<br />
die AG die folgenden Leitsprüche<br />
fest: „Sprache verbindet“; „Sprache<br />
erfahren“; „Wo Sprache lebendig<br />
wird“; „Auf der Spur der deutschen<br />
Sprache“. Diese Leitsprüche sollen<br />
auch die Grundlage für ein Erkennungszeichen<br />
bilden. Dazu wird die<br />
AG voraussichtlich im Frühjahr 2012<br />
einen Wettbewerb ausschreiben.<br />
Weiterhin entwickelte die AG Richtlinien<br />
für die Teilnahme an der Straße.<br />
Dies geschah im Zusammenhang<br />
mit der Erstellung eines Erfassungsbogens,<br />
in dem die Sehenswürdigkeiten<br />
der einzelnen Orte verzeich-<br />
Kleinanzeige<br />
900 Jahre Zisterzienser –<br />
900 Jahre literarisches Schaffen<br />
Für Sie als Autor die besondere Gelegenheit,<br />
uns Ihr Manuskript anzuvertrauen,<br />
denn unser bewährtes Verlags-<br />
Management wird Ihr Werk bekannt und<br />
absatzfähig machen! Bernardus-Verlag<br />
in der Verlagsgruppe Mainz, jetzt beheimatet<br />
in der Abtei Mariawald: 52396<br />
Heimbach, Tel.02446.950615; Zentrale:<br />
Süsterfeldstr. 83, 52072 Aachen, Tel.<br />
0241.873434; www.bernardus-verlag.de<br />
Einem Teil unserer Ausgabe liegen Prospekte<br />
des Bundes für deutsche Schrift<br />
und Sprache e.V. und des Verlags für<br />
die deutsche Wirtschaft bei. Wir bitten<br />
um freundliche Beachtung. Vielen Dank.<br />
Gering an Zahl, doch sprachbewußt<br />
Wie das kleine Volk der Lausitzer Sorben seine Sprache bewahrt<br />
ihre Sprache, Kultur und Tradition<br />
bis in die Gegenwart bewahren. Diesem<br />
Phänomen liegen zumindest drei<br />
Ursachen zugrunde:<br />
1. der geographische Aspekt: Ober-<br />
und Niederlausitz bilden eine<br />
relativ isolierte, im Norden von<br />
Wäldern und Sümpfen (etwa dem<br />
Spreewald), im Süden von Gebirgen<br />
begrenzte Region.<br />
2. der demographische Aspekt: Die<br />
zahlenmäßige Stärke des Lusizer-,<br />
insbesondere aber des Milzenerstammes<br />
ermöglichte die Ausdehnung<br />
in das zwischen beiden<br />
net werden. All diese Maßnahmen<br />
dienen dazu, die Außendarstellung<br />
vorzubereiten, wie sie zum Beispiel<br />
in Form eines Netzauftritts und eines<br />
Faltblattes geplant ist. Dies ist<br />
in Zusammenarbeit mit den Tourismusvermarktungsgesellschaften<br />
der<br />
Länder geplant.<br />
Unterdessen hat die Magdeburger<br />
Stadtratsfraktion von Bündnis 90/<br />
Den Grünen beantragt, daß die Stadt<br />
sich entgegen einer früheren Entscheidung<br />
der Stadtverwaltung doch<br />
an der „Straße der deutschen Sprache“<br />
beteiligen möge. Im November<br />
soll der Stadtrat darüber entscheiden.<br />
Zwischenzeitlich befaßt sich der Kulturausschuß<br />
damit. „Zeit genug für<br />
die Grünen, um Überzeugungsarbeit<br />
zu leisten“, meinte die „Magdeburger<br />
Volksstimme“ am 21. September.<br />
Das nächste Arbeitstreffen der AG<br />
SddS findet am 17. November in Bad<br />
Lauchstädt statt. (dsw)<br />
www.straße-der-deutschen-sprache.de<br />
Das einzige<br />
Lehrbuch<br />
Stämmen gelegene Heidegebiet.<br />
Der mittelalterliche<br />
Landesausbau aber<br />
betraf diesen Zweig der<br />
Elbslawen nur an der Peripherie.<br />
3. der politische Aspekt:<br />
Die beiden Lausitzer<br />
Markgraftümer befanden<br />
sich zur böhmischen (bis<br />
1635), meißnisch-sächsischen<br />
oder brandenburgischen<br />
Herrschaft stets<br />
in einer Randlage. Sie<br />
waren Nebenländer ohne<br />
Sitz des Landesherrn und<br />
daher zentralistischen<br />
Tendenzen bis ins 19.<br />
Jahrhundert hinein kaum<br />
ausgesetzt.<br />
Die Sorben, die alles in allem<br />
nie mehr als eine Viertelmillion<br />
Menschen zählten<br />
(dies um 1800), haben zwei vollwertige<br />
Sprachen hervorgebracht: Obersorbisch<br />
und Niedersorbisch. Mit<br />
der Epoche der Aufklärung begann<br />
ihre „nationale Wiedergeburt“, in<br />
der eine reiche bäuerliche Volkskultur<br />
zu einer bürgerlichen Hochkultur<br />
ausgebaut wurde. Die wirtschaftliche<br />
Modernisierung, der soziale Wandel<br />
setzten in Sachsen und Brandenburg<br />
nach Aufhebung der Erbuntertänigkeit<br />
ein, im ersten Drittel des 19.<br />
Jahrhunderts. Jetzt benötigten die<br />
sorbischen Bauern das <strong>Deutsche</strong>, um<br />
ihre Erzeugnisse zu vermarkten. Ein<br />
Teil der Bevölkerung wanderte in die<br />
Städte ab. Beruflicher Aufstieg führte<br />
zur Anpassung an das Staatsvolk,<br />
zur Assimilation. Industrialisierung,<br />
Braunkohlegewinnung und Verkehrswegebau<br />
hinterließen tiefe Spuren in<br />
dem strukturschwachen Territorium.<br />
Nach der Reichseinigung von 1871<br />
sank das offizielle Prestige des Sorbischen<br />
oder Wendischen. Um 1900<br />
gab es noch 166.000 Sprachträger,<br />
eine knappe Mehrheit davon in der<br />
preußischen Niederlausitz.<br />
Appetit<br />
auf xöne Scri#en?<br />
Professionelle Frakturxri#en<br />
für PC und MAC gibt e+ bei<br />
Delbanço√Frakturscriften<br />
26189 Ahlhorn • Poyfac 11Ó10<br />
Fernruf 0 44 35–13 13 Fernbild 0 44 35–36 23<br />
E-Poy: delbanço.frakturscriften@t-online.de<br />
WeltneΩ: www.fraktur.çom<br />
Delbanço√Frakturxri#en<br />
In der Weimarer Republik entfaltete<br />
sich ein reges nationales und kulturelles<br />
Leben in den Vereinen, erstmals<br />
wurden vom sächsischen Staat<br />
Schullesebücher gedruckt. 1937<br />
jedoch verbot das NS-Regime jede<br />
prosorbische Aktivität, weil sich die<br />
Dachorganisation Domowina („Heimat“)<br />
geweigert hatte, ihre Mitglieder<br />
in einer neuen Satzung als<br />
„wendisch-sprechende <strong>Deutsche</strong>“ zu<br />
deklarieren. Lehrer und Pfarrer beider<br />
Bekenntnisse wurden zwangsversetzt.<br />
Das slawische Bewußtsein<br />
hatte sich, auch durch Kontakte zu<br />
Tschechen, Slowaken, Polen, Russen<br />
oder Ukrainern, gerade unter der Intelligenz<br />
weithin durchgesetzt.<br />
Die DDR betrachtete die Sorben,<br />
mit Rücksicht auf ihre slawischen<br />
Verbündeten, als Brudervolk. 1948<br />
erließ Sachsen das historisch erste<br />
Gesetz zu Schutz und Förderung der<br />
Minderheit. Die rechtliche Stellung<br />
der Sorben war im europäischen<br />
Vergleich vorbildhaft, gesichert war<br />
Karikatur von Bernd Zeller<br />
Fraktur kommt an!<br />
Alle Scri#en auf CD<br />
-Scri#en<br />
für <br />
Delbanço√Frakturxri#en<br />
Delbanço√Frakturxri#en<br />
26189 Ahlhorn √ Poyfac 11 10<br />
www.fraktur.çom<br />
25.04.2008<br />
Inhalt:<br />
Scri#en<br />
Hilfen, Hilf+programme<br />
Fordern Sie<br />
mein Scri#muyerhe#<br />
koyenfrei an!<br />
nicht nur die zweisprachige<br />
Beschriftung von Ortstafeln,<br />
Straßen und Dokumenten.<br />
Ein differenziertes<br />
Schulsystem wurde eingerichtet,<br />
das bis heute seinen<br />
Auftrag erfüllt. Kulturelle<br />
und wissenschaftliche Einrichtungen<br />
– Folkloreensemble,<br />
Theater, Museen,<br />
Verlag, Forschungsinstitut<br />
– ermöglichten jedermann<br />
die Pflege einer sorbischen<br />
oder sorbisch-deutschen,<br />
also mehrfachen Identität.<br />
Freilich diente die „marxistisch-leninistischeNationalitätenpolitik“<br />
auch einem<br />
politisch-ideologischen<br />
Zweck: der Einbindung der<br />
Minderheit in die realsozialistische<br />
Ordnung.<br />
Ende 1989 konstituierte sich<br />
an der Basis eine Sorbische<br />
Volksversammlung, die eine Reihe<br />
von Forderungen aufstellte. Sie<br />
betrafen den Schutz des sorbischen<br />
Siedlungsgebiets vor der weiteren<br />
Zerstörung durch den Braunkohlebergbau,<br />
die Zweisprachigkeit bei<br />
staatlichen Behörden, die Entwicklung<br />
von Kultur, Schule und Kirche<br />
sowie die Wiederzulassung der Vereinstätigkeit.<br />
Der deutsch-deutsche<br />
Einigungsvertrag von 1990 garantierte<br />
den Sorben in einer Protokollnotiz<br />
die Wahrung ihrer nationalen<br />
Identität. Grundlegende Rechte gewähren<br />
unterdessen Brandenburg<br />
und Sachsen in ihren Verfassungen<br />
und in besonderen „Sorbengesetzen“<br />
den „Ureinwohnern“ der Lausitzen.<br />
Im Zeitalter der Globalisierung leidet<br />
jede alteingesessene, autochthone<br />
Minderheit unter der Assimilation an<br />
größere Kulturen. Man spricht heute<br />
von 50 000 bis 60 000 Menschen<br />
sorbischer Herkunft in Deutschland,<br />
davon zwei Drittel in der Ober- und<br />
ein Drittel in der Niederlausitz. Legt<br />
man jedoch die Sprachbeherrschung<br />
zugrunde, dann bleibt nur die Hälfte:<br />
etwa 25 000 Sprecher des Obersorbischen<br />
(darunter 15 000 Katholiken)<br />
und bis zu 5 000 des Niedersorbischen.<br />
Daher läuft seit 1998 mit dem<br />
Witaj-Modellprojekt ein groß angelegter<br />
Versuch zur Wiederbelebung der<br />
Sprache, namentlich in Kindergärten<br />
und Schulen. Denn Schönreden hilft<br />
nicht: Falls diese Aktion scheitert, ist<br />
die sorbische nationale Substanz langfristig<br />
in ihrem Kern gefährdet.<br />
Prof. Dr. Dietrich Scholze ist Direktor<br />
des Sorbischen Instituts, Sächsischer<br />
Kultursenator und Chefredakteur des<br />
„Lě topis. Zeitschrift für sorbische<br />
Sprache, Geschichte und Kultur“.<br />
www.serbski-institut.de<br />
Anzeigen<br />
Jörg Hellmann<br />
Kleine Geschichten<br />
über Golf<br />
112 S. zum Lesen, Vorlesen<br />
oder Verschenken, 12 €,<br />
www.golfsatire.de<br />
Fax 05064/962261
Seite 10 Werkstatt<br />
Von Thomas Paulwitz<br />
B<br />
aden-Württembergs neue<br />
Sprachpolitik erscheint auf<br />
den ersten Blick widersprüchlich.<br />
An einigen Stellen schmälert die<br />
Landesregierung die Bedeutung der<br />
deutschen Sprache, an anderen stärkt<br />
sie das <strong>Deutsche</strong>. Auf den zweiten<br />
Blick klärt sich dieser Widerspruch<br />
auf, denn die Zielgruppe der neuen<br />
Sprachpolitik ist nicht die Allgemeinheit.<br />
Statt dessen ist sie einseitig auf<br />
Einwanderer ausgerichtet. Die<br />
schlechten Deutschkenntnisse<br />
der zugewanderten Bevölkerung<br />
sorgen somit<br />
für auffällige politische<br />
Entscheidungen der<br />
neuen baden-württembergischen<br />
Regierung.<br />
Ohne die Deutschmängel<br />
der Einwandererkinder<br />
wäre es nie gelungen, das<br />
von Günter Oettinger eingeführte<br />
überflüssige Grundschulenglisch<br />
zurückzudrängen. Dieser hatte vor<br />
über fünf Jahren getönt: „Deutsch<br />
bleibt die Sprache der Familie, der<br />
Freizeit, die Sprache, in der man Privates<br />
liest, aber – Englisch wird die<br />
U<br />
Anzeigen<br />
Mal für, mal gegen<br />
die deutsche Sprache<br />
Sprachpolitik in Baden-Württemberg in grün-roten Zeiten<br />
Arbeitssprache. ... Deswegen haben<br />
wir in Baden-Württemberg, ab der<br />
Grundschule, 1. Klasse, Englisch<br />
eingeführt.“<br />
Deutsch in der Grundschule<br />
gestärkt<br />
Kultusministerin Gabriele Warminski-Leitheußer<br />
(SPD) will nun statt<br />
dessen in der 1. und 2. Klasse wieder<br />
mehr Deutsch und Mathematik<br />
unterrichten lassen. Anfang August<br />
kündigte sie in der Frankfurter Allgemeinen<br />
an: „Wir werden die Klas-<br />
und rufen unsere Leser zum Protest auf<br />
Volkswagen mit Schluckauf<br />
Mit dem VW „up!“ fährt das Unternehmen die Sprache an die Wand<br />
p! Verzeihung, aber dieser Name<br />
ist zum Aufstoßen. Up! Sprachlich<br />
schlecht gefedert holpert der neue Volkswagen<br />
(VW) über die Zunge. Up! Wer<br />
möchte eigentlich ein Auto haben, das so<br />
heißt? Up! Davon bekommt man beim Lesen<br />
Schluckauf. Up! Oder Sodbrennen?<br />
Up! Wie wird sich ein Auto mit einem solchen<br />
Namen erst fahren? – „Willkommen bei up!“<br />
begrüßt der Netzauftritt des Wolfsburger Autobauers<br />
seine Besucher. Up! Darauf klicken wir.<br />
„Download the up! racing game!“ werden wir aufgefordert.<br />
Up! Das tun wir nicht. Statt dessen sehen<br />
wir uns die Ausstattungsbezeichnungen des Ups an:<br />
„take up!“, „move up!“ und „high up!“. Anscheinend<br />
muß dieser „Up!“ englisch ausgesprochen werden,<br />
also „ab!“. Die Ausstattungen gibt es allerdings nicht<br />
in deutscher Übersetzung. Wir reimen sie uns also<br />
selbst zusammen, etwa: „Rad ab!“, „Spiegel ab!“ und<br />
„Auspuff ab!“. Das klingt nicht gerade verlockend.<br />
Auch die Sonderausstattung ist offenbar nur für eng-<br />
sen 1 und 2 wahrscheinlich ausklammern,<br />
denn viele weiterführende<br />
Schulen sagen, daß der Fremdsprachenunterricht<br />
in der Grundschule<br />
nur wenige positive Auswirkungen<br />
auf das Sprachverständnis hat, oder<br />
sogar negative.“<br />
Hintergrund ist der Bericht eines<br />
„Expertenrats“. Dieser bemängelt,<br />
daß vor allem Einwandererkinder<br />
Schwierigkeiten mit der deutschen<br />
Sprache haben. Statt sie<br />
mit einer weiteren Fremdsprache<br />
zu überfordern,<br />
sollten sie sich erst einmal<br />
mit der deutschen<br />
Sprache vertraut machen.<br />
Polizisten mit gebrochenem<br />
Deutsch?<br />
Kopfschütteln löst hingegen das Vorhaben<br />
des baden-württembergischen<br />
Innenministeriums aus, die Anforderungen<br />
an die Deutschkenntnisse für<br />
angehende Polizisten herabzusetzen,<br />
um mehr Einwanderer dienen zu<br />
lassen. Innenminister Reinhold Gall<br />
lischsprachige Kunden gedacht, etwa „city<br />
box“, „cool & sound“ und das „Infotainmentsystem“<br />
„maps + more“. Das Lenkrad<br />
befindet sich jedoch auf der linken Seite.<br />
Mit diesem neuen Auto rast Volkswagen der<br />
deutschen Sprache davon, überfährt gleich<br />
mehrere rote Sprachampeln und fährt den Ruf<br />
der Marke an die Wand. Wenn die Verantwortlichen<br />
bei Volkswagen einmal die Luft anhielten und über ihren<br />
sprachlichen Mißgriff nachdächten, wer weiß, ob<br />
dann der Schluckauf verschwände? Up? (dsw)<br />
Sprachsünder Ecke An dieser Stelle stellen wir Sprachsünder vor, die besonders unangenehm aufgefallen sind,<br />
Hat VW ein Rad ab? Warum ist den Autobauern<br />
kein griffiger deutscher Name eingefallen? Fragen<br />
Sie Volkswagen und lassen Sie uns bitte ein Doppel<br />
zukommen:<br />
Sprachsünder Prof. Dr. rer. nat. Martin Winterkorn,<br />
Vorstandsvorsitzender der Volkswagen AG, Berliner<br />
Ring 2, D-38440 Wolfsburg, Telefon +49-(0)5361-9-0,<br />
Telefax +49-(0)5361-9-28282, vw@volkswagen.de<br />
Weihnact+karten<br />
mit deutxer Druqxri# (Fraktur)<br />
oder deutxer Screibxri#<br />
und noyalgixen Abbildungen geyaltet.<br />
Klappkarten mit gefü†erten Umxlägen.<br />
5 verxiedene: 5,– ¤, 10 verx.: 10,– ¤.<br />
Zuzügl. Versandkoyen (im Inland 2,– ¤).<br />
FotosaΩ Hildebrandt<br />
Friedricyraße 22 ¿ 65232 Taunu+yein<br />
Fernruf 0 61 28 /12 65 ¿ Fa≈ 85 76 60<br />
www.hildebrandt-karten.de<br />
7000 antiquarische<br />
Bücher<br />
Liste für 1,<strong>45</strong> € in Briefmarken<br />
A. Neussner<br />
D-37284 Waldkappel<br />
(SPD) möchte auch Bewerber zulassen,<br />
die den Deutsch-Test nicht bestehen,<br />
berichtet der neueste Focus.<br />
Serbisch- oder Türkischkenntnisse<br />
könnten statt dessen mangelnde<br />
Deutschkenntnisse ausgleichen.<br />
Ein Scherzbold schlug daraufhin vor,<br />
die Polizei solle auch ihre Übungszielscheiben<br />
vergrößern, da nicht alle<br />
Bewerber so gut träfen. Tatsache ist:<br />
Die Qualität der Polizei soll aus politischen<br />
Gründen gesenkt werden,<br />
nur um den Anteil der Polizisten mit<br />
nichtdeutschen Vorfahren zu erhöhen.<br />
Wenn Sie also künftig einen Polizisten<br />
nach dem Stuttgarter Bahnhof<br />
fragen, dann wundern Sie sich nicht,<br />
wenn er antwortet: „Wallah, gehstu<br />
Arnulf-Klett-Platz, Lan, isch schwör.<br />
Gibs so voll krassen Service Point<br />
und so. Jetz machstu grüne Ampel,<br />
Alder!“ Daß Schwäbischkenntnisse<br />
ebenfalls Mängel im Hochdeutschen<br />
ausgleichen können, ist allerdings<br />
nicht zu erwarten.<br />
Ulm will amerikanisch werden<br />
In Ulm überlegen unterdessen Vertreter<br />
der Stadt, der Wirtschaft und der<br />
Wissenschaft, wie sie die Stadt noch<br />
„internationaler“ machen können,<br />
das heißt amerikanischer. Das geht<br />
aus einem Bericht der Augsburger<br />
Allgemeinen von Ende Juli hervor.<br />
Professor Karl Joachim Ebeling, Präsident<br />
der Universität Ulm, wünscht<br />
sich zum Beispiel ein „Welcome-<br />
Paket“ für ausländische Studenten,<br />
die Umbenennung von Plätzen und<br />
historischen Orten auf englisch, sowie<br />
englischsprachige Artikel in der<br />
örtlichen Presse.<br />
Ohnehin biete die Universität bereits<br />
sieben Masterstudiengänge in englischer<br />
Sprache an. Dabei kommen nur<br />
zwölf Prozent der Ulmer Studenten<br />
aus dem Ausland, in den seltensten<br />
Fällen ist Englisch deren Muttersprache.<br />
Dennoch fordert Professor<br />
Klaus-Peter Kratzer, Prorektor der<br />
Hochschule Ulm, von der Stadt ein<br />
Kulturangebot in englischer Sprache<br />
für ausländische Studenten. Der Puertoricaner<br />
Carlos Sanchez, Standortleiter<br />
im Ulmer Forschungs- und<br />
Entwicklungszentrum von Nokia,<br />
wünscht sich für seine Mitarbeiter<br />
englischsprachige „Communities“<br />
<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>45</strong>_Herbst 2011<br />
<strong>Deutsche</strong><br />
Wortwelt<br />
Das entbehrliche Fremdwort<br />
Queerversity<br />
„Queerversity ist das Einführen<br />
der Differenz des Differenten<br />
in die Diversität“, schreibt<br />
das vom deutschen Bundesfamilienministerium<br />
begründete<br />
„GenderKompetenzZentrum“,<br />
das genauso entbehrlich ist<br />
wie dieses von ihm erfundene<br />
Fremdwort.<br />
Das richtig geschriebene Wort<br />
Entgelt<br />
Das Entgelt besteht zwar<br />
manchmal aus Geld, dennoch<br />
endet das Wort „Entgelt“ mit<br />
„t“. Es leitet sich nämlich von<br />
dem Tätigkeitswort „entgelten“<br />
ab.<br />
Das treffende Wort<br />
launig / launisch<br />
„Haushaltsdebatten sorgen<br />
für die launischsten Reden im<br />
Parlament“, ist sich „Spiegel<br />
online“ sicher. Das Magazin<br />
meinte damit jedoch gewiß<br />
nicht launische, also unberechenbare<br />
oder wankelmütige,<br />
sondern launige, also humorvolle<br />
oder geistreiche Reden.<br />
Ob die Reden tatsächlich so<br />
geistreich sind, steht auf einem<br />
anderen Blatt.<br />
Das richtig gebeugte Wort<br />
gedowngeloadet?<br />
Frage: Heißt es richtig „downgeloadet“<br />
oder „gedownloadet“<br />
oder gar „gedowngeloadet“?<br />
Die richtige Antwort loadet,<br />
Verzeihung, lautet: „heruntergeladen“.<br />
Welche weiteren Wörter sollten<br />
in dieser Wortwelt stehen?<br />
Schreiben Sie uns!<br />
Weltweite Verständigung<br />
durch die internationale Sprache<br />
Ido<br />
Kulturelle und sprachliche Vielfalt ist ein Reichtum der Menschheit<br />
– doch der Prozess des Sterbens von Sprachen dauert an, auch in Europa.<br />
Helfen Sie beim Erhalt der Sprachen und Kulturen:<br />
Mit der neutralen Zweitsprache, geschaffen von einer internationalen<br />
Wissenschaftlergruppe, schützen wir auch unsere Muttersprache.<br />
Informieren Sie sich über eine der leichtesten Sprachen der Welt.<br />
Lernen Sie Ido in kostenlosen (Fern-)Kursen<br />
Ido-Freunde-Berlin,<br />
FB 8, Köpenicker Straße 30, 10179 Berlin<br />
idoamiki.berlin@gmx.de, Telefon 030-4256744<br />
Info + Literatur: <strong>Deutsche</strong> Ido-Gesellschaft, Archiv<br />
37284 Waldkappel-Bu./ alfred.neussner@ido.li<br />
Weitere Informationen gegen 55 Cent<br />
in Briefmarken, Kurzkursus 2,50 Euro.<br />
als Treffpunkte und englischsprachige<br />
Informationen der Ulmer Schulen.<br />
Daß sich die baden-württembergische<br />
Sprachpolitik einseitig an den<br />
Deutsch-Schwächen der Einwanderer<br />
ausrichtet, zeigt, wie angreifbar<br />
die Stellung der deutschen Sprache<br />
nach wie vor ist. Erst wenn selbstverständlich<br />
ist, daß die deutsche Sprache<br />
für die Allgemeinheit zu schützen<br />
ist, daß sie Kultur und Identität<br />
gibt, wird die Sprachpolitik auf einer<br />
gesunden Grundlage stehen. Deutsch<br />
muß die unangefochtene Leitsprache<br />
in Deutschland sein.<br />
Kostenlose öffentliche<br />
IDO-Kurse<br />
finden regelmäßig<br />
in Berlin statt!
<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>45</strong>_Herbst 2011 Anstöße<br />
Seite 11<br />
„Executive Summary“<br />
als Bumerang<br />
Zu einem Problem wissenschaftlicher<br />
Veröffentlichungspraxis<br />
Um diese Problematik an einem Beispiel<br />
aus dem Forschungsfeld der<br />
deutschen Orient-, Nahost- und Ideologiepolitik<br />
zu verdeutlichen, sei ein<br />
von der Konrad-Adenauer-Stiftung<br />
publizierter Beitrag eines international<br />
angesehenen Nahost-Forschers zitiert.<br />
In seinem Text faßt der deutschsprachige<br />
Autor Dr. Wolfgang G. Schwanitz<br />
seine langjährigen selbständigen<br />
Forschungen zusammen. Er hatte über<br />
den Versuch des deutschen Außenamts<br />
von 1914 geforscht, als Beitrag<br />
zur (Welt-)Kriegspolitik einen kleinen<br />
Heiligen Krieg (Djihad) gegen die<br />
Mächte der Triple Entente anzuzetteln.<br />
(„Die Berliner Djihadisierung<br />
Mitgründer und Mitherausgeber (2000 bis 2002)<br />
der DEUTSCHEN SPRACHWELT<br />
Obmann des Vereins „Muttersprache“ Wien (1987 bis 2000)<br />
Ich Wandersmann auf dieser Erde<br />
jagt’ nach des Lebens Melodie,<br />
erhaschte hie und da wohl einen Ton –<br />
das Thema aber hört’ ich nie.<br />
Von Lienhard Hinz<br />
chaut auf diese Stadt!“ – Dieses<br />
S geflügelte Wort stammt aus der<br />
Rede des sozialdemokratischen Regierenden<br />
Bürgermeisters von Berlin,<br />
Ernst Reuter, am 9. September 1948.<br />
Nur mit wenigen Stichwörtern trat er<br />
im Freien vor dem Reichstag<br />
vor mehr als 300.000<br />
Berlinern an das Mikrophon.<br />
Im Bewußtsein der<br />
Funk- und Filmaufnahmen<br />
richtete er seinen beschwörenden<br />
Anruf an die<br />
Völker der Welt. Langsam,<br />
laut und deutlich betonte<br />
er jede Silbe. Während die<br />
Besatzungsmächte über das<br />
Schicksal Berlins verhandelten, sprach<br />
Ernst Reuter mit bewegter Stimme von<br />
„unserem alten Reichstag mit seiner<br />
stolzen Inschrift ‚Dem <strong>Deutsche</strong>n Volke‘“.<br />
Er spürte die drohende Spaltung<br />
Berlins und verbreitete die Gewißheit<br />
ihrer Überwindung.<br />
Späte Reife<br />
von Stefan Micko<br />
Inzwischen bin ich alt und grau geworden,<br />
laß ab von Hatz und Halali<br />
und lehne still den Kopf an einen Stamm –<br />
nun hör ich sie, die Melodie,<br />
ganz leise.<br />
Wir werden Stefan Micko nicht vergessen.<br />
DEUTSCHE SPRACHWELT<br />
Bericht aus Berlin<br />
des „Pionier- und signaltechnischen<br />
Ausbaus“ kann kein verklärender<br />
Rückblick und schon gar keine verharmlosende<br />
Erinnerung aufkommen.<br />
Zwischen „Vorderem Sperrelement“<br />
und „Hinterlandmauer“ verbergen sich<br />
Kraftfahrzeugsperre mit<br />
Graben, Kontrollstreifen,<br />
Kolonnenweg, Lichttrasse,<br />
Beobachtungstürme und<br />
Führungsstellen, Flächen-<br />
und Höckersperren sowie<br />
der Grenzsignalzaun.<br />
stätte Kleists war bis 1941: „Er lebte,<br />
sang und litt/ in trüber schwerer Zeit/<br />
er suchte hier den Tod/ und fand Unsterblichkeit<br />
– Matth. 6 V. 12“.<br />
Von Richard Albrecht<br />
m Aufruf „Sieben Thesen zur deut-<br />
I schen Sprache in der Wissenschaft“<br />
forderten deutsche Hochschullehrer<br />
2005 zur selbstbewußten Benützung<br />
von Deutsch als Wissenschaftssprache<br />
auf (vgl. DSW 30, Seite 7); nicht<br />
zuletzt, um dem empirisch beobachtbaren<br />
Rückzug des <strong>Deutsche</strong>n aus der<br />
Wissenschaft selbst bei inländischen<br />
akademischen Veranstaltungen zu<br />
begegnen. Zu den „vielfältigen Anstrengungen“,<br />
die nötig sind, um zu<br />
„Gebrauch und Weiterentwicklung<br />
der deutschen Sprache in der Wissenschaft<br />
beizutragen“, sollte hierzulande<br />
auf universitären und wissenschaftlichen<br />
Veranstaltungen mit „ausschließlich<br />
deutschen Teilnehmern auch auf<br />
deutsch“ verhandelt werden. Und auch,<br />
daß es weiter deutschsprachige Lehrbücher<br />
geben sollte und daß „deutsche<br />
Fachzeitschriften auch Artikel in deutscher<br />
Sprache mit englischer Zusammenfassung<br />
annehmen müssen.“<br />
Der Anglist Harald Weinrich betonte<br />
für das breite geisteswissenschaftliche<br />
Feld: So sehr Englisch zu schreiben<br />
Voraussetzung für die aktive<br />
Teilhabe am (geistigen) „Weltmarkt“<br />
ist – so wenig ist dieser ein „sinnvolles<br />
literarisches Projekt“. Damit ist<br />
eine Seite des Dilemmas benannt.<br />
Die Wissenschaftler schlugen 2005<br />
vor, in deutschen wissenschaftlichen<br />
Zeitschriften „Artikel in deutscher<br />
Sprache mit englischer Zusammenfassung“<br />
zu veröffentlichen.<br />
So grundlegend richtig dieser Vorschlag<br />
ist – er hat gleichwohl einen<br />
Webfehler oder Pferdefuß, nämlich<br />
die englische „Executive Summary“.<br />
Diese ist darauf angelegt, Lesern<br />
das Lesen des deutsch geschriebenen<br />
Textes zu ersparen, wie es ein<br />
Schlüsselsatz aus einem Harvardkurs<br />
auf englisch ausdrückt: „Executive<br />
summaries are written for someone<br />
who most likely does not have time<br />
to read the original.“<br />
des Islam. Wie Max von Oppenheim<br />
die islamische Revolution schürte“;<br />
in: KAS-Auslandsinformationen, 20<br />
(2004) 10, Seite 17 bis 37.)<br />
Die „Executive Summary“ des Beitrags<br />
drückt in sorgfältig formuliertem<br />
und jedem Geisteswissenschaftler<br />
verständlichem Englisch den Inhalt<br />
Schaut auf diese Stadt,<br />
des deutschsprachigen Textes aus und<br />
hieß es beim „Willkom-<br />
könnte, so gesehen, den angesonnenen<br />
men, Papst Benedikt!“ am<br />
Zweck dieser besonderen und ausführ-<br />
22. und 23. September in Berlin. Mit<br />
lichen Form einer englischen Zusam-<br />
den wenigen christlichen Feiertagen<br />
menfassung erfüllen: den von einem<br />
steht der Hauptstadt das Sinnzeichen<br />
deutschen Fachwissenschaftler deutsch<br />
des Kreuzes gut. Der Reichstag und<br />
veröffentlichten höchst bedeutsamen<br />
das Olympiastadion wurden erfüllt<br />
Forschungsbeitrag gerade nicht zu le-<br />
vom christlichen Geist „Wo Gott ist,<br />
sen. Er dürfte damit das Gegenteil des<br />
da ist Zukunft“. Und die Verantwor-<br />
Beabsichtigten erreichen, wenn von<br />
tung „vor Gott und den Menschen“,<br />
wissenschaftlichen Abhandlungen „in Dreizehn Jahre später schaute die im Grundgesetz verewigt, ließ der<br />
deutscher Sprache mit englischer Zu- Welt auf diese Stadt, als eine soziali- Heilige Vater unter der Kuppel des<br />
sammenfassung“ die Rede ist. stische Einheitspartei die Hauptstadt Reichstages mitschwingen. Die Heili-<br />
auseinanderriß. Ihr „antifaschistischer ge Messe unter freiem Himmel wird<br />
Die „Executive Summary“ von Schwa- Schutzwall“ zerschnitt in Folge auch nicht ohne heilende Wirkung auf das<br />
nitz hat etwa 3.960 Anschläge und das ganze Deutschland. 1065 Todes- Miteinander bleiben.<br />
macht damit knapp zwölf Prozent des opfer dieser deutschen Tragödie sind<br />
deutschen Gesamttextes aus. Das Bei- bisher bekannt. Die „Arbeitsgemein- Dem preußischen Dichter Heinrich<br />
spiel verdeutlicht damit zugleich, das schaft 13. August“ und der Verein von Kleist ist zu seinem 200. Todestag<br />
und was hier konkret zu viel des Guten „Mauermuseum“ widmeten ihnen im am 21. November ein ganzes „Kleistist.<br />
Oder anders: Jede „Executive Sum- Jahr 2004 das Mahnmal „Sie wollten Jahr“ gewidmet. Am Maxim-Gorkimary“<br />
sollte keinesfalls mehr als fünf nur die Freiheit“ vor dem ehemaligen Theater werden die Kleistschen Dra-<br />
Prozent des deutschsprachigen Ge- amerikanischen Militärkontrollpunkt men und im Ephraim-Palais Kleists<br />
samttextes ausmachen, um nicht den in der Friedrichstraße. Auf beiden Leben verfremdet. Ein Glanzpunkt<br />
Bumerang effektiv grüßen zu lassen. Straßenseiten wurde für jedes Todes- der Ausstellung des Stadtmuseums<br />
opfer ein zwei Meter hohes dunkles ist jedoch das Angebot für Schüler,<br />
Holzkreuz mit Namen und Photo auf- in einer Schreibwerkstatt die eige-<br />
Ermüdender gestellt. Diese 1065 Kreuze mußten ne Handschrift auszubilden und die<br />
nach langen Auseinandersetzungen Briefkultur der Kleistzeit kennen-<br />
Paukenschlag mit dem Eigentümer des Grundstücks zulernen. Die Grabstätte des Dich-<br />
vor sechs Jahren entfernt werden. Mit ters mit der beigestellten Steintafel<br />
Sprachkritik aus dem Segen von Salvatorianerpater für seine Begleiterin in den Freitod,<br />
Vincens hoffen Arbeitsgemeinschaft Henriette Vogel, wird bis Ende Oknaturwissenschaft-<br />
und Verein auf einen würdigen Ort tober mit Fördermitteln der Cornellicher<br />
Sicht (8) für das Freiheitsmahnmal.<br />
sen-Kulturstiftung restauriert: Der<br />
Von Günter Körner<br />
Grabstein mit Namen, Geburts- und<br />
Schaut auf diese Stadt! – Das tun Sterbedatum in der Bismarckstra-<br />
n ermüdender Regelmäßigkeit fünfzig Jahre nach der Errichtung der ße am Hang zum Kleinen Wannsee<br />
I wird der abschließende Pauken- „Berliner Mauer“ Millionen Landsleu- soll neu beschriftet werden. Bis jetzt<br />
schlag nach mehreren Eingrenzunte und Gäste aus allen Erdteilen. Die steht auf dem Stein das Dramenzigen<br />
gesetzt, wie eine entweichende Bezeichnung der gewaltigen Sperrantat „Nun, O Unsterblichkeit, Bist<br />
Blähung: Diese Behauptung über lagen als „Mauer“ ist beschönigend. Du Ganz Mein“. Das ist der Ausruf<br />
das Haupt als Hauptwort unter den Die ursprüngliche Bedeutung „aus des Prinzen von Homburg vor sei-<br />
Vom Kleistgrab ist es in südlicher<br />
Richtung nicht weit bis Kohlhasenbrück.<br />
Mit seiner Novelle „Michael<br />
Kohlhaas“ setzte Kleist dem Zehlendorfer<br />
Ortsteil ein Denkmal. Nach<br />
einer alten Sage versenkte dort an der<br />
Brücke über die Bäke (heute Teltowkanal)<br />
der Berliner Kaufmann Hans<br />
Kohlhase einen zuvor erbeuteten Silberschatz.<br />
Kleist gestaltet die Figur<br />
des Roßhändlers Michael Kohlhaas<br />
in der gleichnamigen Erzählung als<br />
außerordentlichen Mann und „Muster<br />
eines guten Staatsbürgers“, bis<br />
ihm durch einen Gutsherrn Unrecht<br />
widerfahren war und er gerichtlich<br />
nicht recht bekam. Der gewaltsame<br />
Rächer und Selbstrichter endet mit<br />
dem Tod auf dem Rad. Heute gibt es<br />
keine Spur der Ereignisse von 1540,<br />
aber eine der jüngsten deutschen Geschichte.<br />
Ein kleines Holzkreuz erinnert<br />
an der Straße nach Steinstücken<br />
neben der Bushaltestelle „Königsweg“<br />
an den dramatischen Fluchtversuch<br />
des Soldaten Willi Marzahn<br />
am 19. März 1966.<br />
Durch „Michael Kohlhaas“ im<br />
Deutschunterricht ist der Schauspieler<br />
Otto Sander mit Heinrich<br />
von Kleist in Berührung gekommen.<br />
Das Üben der „Bandwurmsätze“ bei<br />
Kleist macht ihm Spaß wie Klavierspielen.<br />
Das zeigte der Künstler im<br />
Lustspiel „Amphitryon“ unter der<br />
Regie von Klaus Michael Grüber<br />
am Berliner Hebbel-Theater 1991.<br />
Sander schätzt auch Kleists Aufsatz<br />
„Über die allmähliche Verfertigung<br />
der Gedanken beim Reden“.<br />
Schaut auf diese Stadt – von der<br />
„Humboldt-Box“ auf dem Schloßplatz!<br />
Dabei fällt der Blick auch auf<br />
die ausgegrabenen Fundamente des<br />
Berliner Schlosses. Nach den Steinen<br />
des 1950 gesprengten Wahrzeichens<br />
wurde bereits an vielen Orten<br />
in der Stadt gegraben. – „… auch<br />
Steine können sprechen“ – Darüber<br />
können Schüler einen literarischen<br />
Text schreiben und zum Schreib-<br />
Würden also englische Zusammenfas-<br />
hauptsächlich als Oberhäupter reden- Steinen und Mörtel errichtete Wand“<br />
sungen nicht bloß als mehr oder weniden<br />
Behauptern ist eine der behaup- geht auf das lateinische „murus“ zuger<br />
formales, meist wenig aussagentetsten<br />
Hauptsachen über enthaupterück und rührt aus der Zeit her, als<br />
des Zehn-Zeilen-„Abstract“, sondern<br />
te Häuptlinge überhaupt. [überhaps die germanischen Stämme die römi-<br />
als sorgfältig formulierte „Executive<br />
(österreichisch) = ungefähr, vorsche Steinbautechnik kennenlernten.<br />
Summary“ angelegt und in deutschen<br />
schnell, überstürzt]<br />
Bei der Betrachtung einer Abbildung<br />
DSW_<strong>45</strong>_S11_Micko_Todesanzeige<br />
Fachzeitschriften publiziert, könnte<br />
dies mit Blick auf die zu Recht geforner<br />
angekündigten Hinrichtung. Das wettbewerb „Schöne deutsche Spra-<br />
Todesurteil wegen eigenmächtiger che“ an die Neue Fruchtbringende<br />
Schlachtenführung nimmt der Kur- Gesellschaft in Köthen (Anhalt)<br />
fürst aber zurück und ehrt den Sieger bis zum 31. März 2012 einsenden:<br />
in der Schlacht bei Fehrbellin von schreibwettbewerb@fruchtbringen-<br />
1675. Die erste Inschrift der Grabde-gesellschaft.de. DSW_<strong>45</strong>_S11_Loriot_Todesanzeige<br />
derte „Weiterentwicklung der deutschen<br />
Sprache in der Wissenschaft“<br />
Wir trauern um<br />
Wir trauern um<br />
Bumerangeffekte zeitigen und das<br />
Gegenteil des Beabsichtigten bewirken:<br />
Flüchtige – besonders vorrangig<br />
Stefan Micko<br />
Loriot<br />
anglophone – Leser wähnten sich gut<br />
informiert und würden sodann keinen<br />
Blick mehr in den deutschsprachigen<br />
wissenschaftlichen Text werfen.<br />
* 14. Dezember 1932 † 12. August 2011<br />
* 12. November 1923<br />
† 22. August 2011<br />
„Wir sind auf dem Wege, unser wichtigstes<br />
Kommunikationsmittel so zu vereinfachen,<br />
daß es in einigen Generationen genügen wird,<br />
sich grunzend zu verständigen.“<br />
„Die Anglisierung unserer Sprache steigert<br />
sich allmählich in eine monströse<br />
Lächerlichkeit.“<br />
„Die Rechtschreibreform ist ja völlig in<br />
Ordnung, – wenn man weder lesen noch<br />
schreiben kann.“<br />
Danke, Loriot!<br />
DEUTSCHE SPRACHWELT
Seite 12 Bunte Seite<br />
Zum Teufel mit dem Teufel<br />
Wie unbedachte Verwünschungen den Gottseibeiuns bereichern<br />
Von Karin Pfeiffer-Stolz<br />
D<br />
em Teufel geht es gut. Er<br />
lebt im Überfluß. Was er hat,<br />
bekommt er umsonst. Und täglich<br />
wird es mehr. Funktioniert morgens<br />
um drei nach sechs die elektrische<br />
Zahnbürste des Herrn Mikus nicht,<br />
so flucht dieser: „Zum<br />
Teufel mit diesem tükkischen<br />
Apparat!“ Und<br />
schon hat der Teufel<br />
eine elektrische Zahnbürste.<br />
Ein heftiger Platzregen<br />
geht nieder. Verzweifelt<br />
fummelt Regina<br />
Reisig am elektronischen<br />
Mechanismus<br />
des neuen Handtaschenregenschirms<br />
herum. Inzwischen<br />
gießt es hemmungslos<br />
in ihre frischen Dauerwellen.<br />
„Zum Teufel mit diesem Schirm!“<br />
Und schon hat der Bockbeinige einen<br />
hellblauen Regenschirm Marke<br />
„Flop“ für 27 Euro und 50 Cent.<br />
Das Auto von Anton Birkenbaum<br />
will nach einer kalten Nacht nicht anspringen.<br />
Er dreht den Schlüssel herum,<br />
immer und immer wieder, aber<br />
der Anlasser macht nur müde weuweuweu,<br />
weuweuweu. Das reicht<br />
nicht aus, um ins Büro zu kommen.<br />
Morgendliche Weuweuweu-Spiele<br />
sind nicht Antons Sache. „Der Teufel<br />
soll den Karren holen!“ schimpft er,<br />
und wir ahnen es schon. Wie sich der<br />
Satan über das metallic-rote Golf-<br />
Kabrio freut, das kann man sich<br />
leicht ausmalen.<br />
Oft genug bekommt der Teufel auch<br />
ganz große Sachen: Irene Zippel erwartet<br />
im ersten Stock des Hotels<br />
Edelweiß ungeduldig den Aufzug.<br />
Immer wieder drückt sie auf den<br />
Knopf. Nach einer halben Minute und<br />
dreißig Sekunden flucht Frau Zippel<br />
lauthals – es ist gerade niemand in<br />
der Nähe: „Zum Teufel mit diesem<br />
depperten Aufzug!“ Und schon hat<br />
der Teufel einen robusten KONE-<br />
Personenaufzug mit einer Maximalbelastung<br />
von 500 Kilogramm. Nur<br />
Sekunden später kommt das ganze<br />
Hotel hinterher, denn Irene Zippel<br />
wünscht auch dieses zum Teufel, als<br />
die widerspenstige Feuerschutztür<br />
zum Treppenhaus ihre Handtasche<br />
einklemmt.<br />
Ja, dem Teufel geht es wirklich<br />
gut! Ohne sich im geringsten anzustrengen,<br />
bekommt er die engen<br />
Rindslederstiefel aus einem Supersonderangebot,<br />
dazu eine taillierte<br />
Leinenjacke, flotte Jeans-Hosen<br />
und Dutzende, nein Hunderte von<br />
Sommerkleidern in Größe 36, er<br />
bekommt Straßenlaternen und Reißverschlüsse,<br />
er bekommt Zigaretten<br />
und Schnaps, er bekommt Skatkarten<br />
mitsamt Stammtischen, an denen<br />
noch die Skatbrüder kleben, er bekommt<br />
Haustüren mit ganzen Wohnhäusern<br />
dran. Drehtüren<br />
und Schuhbänder werden<br />
seins, rot leuchtende Ampeln,<br />
Autobahnen und Klimaanlagen,<br />
Züge der <strong>Deutsche</strong>n<br />
Bundesbahn samt<br />
Schaffnern, Kontrolleure<br />
aus öffentlichen Nahverkehrsmitteln,Windkraftanlagen,<br />
Nebelbänke und<br />
nörgelige Chefs.<br />
Seit einigen Jahren hagelt<br />
es gelbe Bücher mit dem<br />
Aufdruck „Duden“, was<br />
dem Teufel spanisch vorkommt.<br />
Für die vielen Rechneranlagen<br />
hat der Höllenbube inzwischen<br />
eine extra große unterirdische Halle<br />
bauen lassen, die Jungteufel sind<br />
ganz scharf auf das Internet und mischen<br />
artenspezifisch mit, was man<br />
hier oben auch zu spüren kriegt. Die<br />
gesamte Telekom sitzt ohnehin schon<br />
lang in der Hölle.<br />
Geld hat der Teufel inzwischen ebensoviel<br />
wie Mist. Er besitzt mehr Euro-<br />
Münzen und Scheine als überhaupt<br />
geprägt und gedruckt worden sind.<br />
Daran können wir wieder einmal ler-<br />
Von Dagmar Schmauks<br />
DSW-Silbenrätsel<br />
1. Jemand, der die Qualität von Krimis testet – 2. Zensur für den untersten<br />
Teil des Beines – 3. schmaler Weg für schwerfällige Menschen – 4. Spottname<br />
für einen Schönheitschirurgen – 5. lebhaftes Treiben von Weichtieren –<br />
6. Nahrungsmittel für ein weibliches Kleidungsstück – 7. Teil eines Baumes<br />
mit gutem Gedächtnis – 8. Aufforderung, Schiffsbefestigungen einzufetten<br />
– 9. kostenlose Übergabe von Saatkörnern – 10. einen deutschen Dichter<br />
herbeirufen – 11. kostbare Ansammlung von sprachlichen Einheiten – 12.<br />
Zimmer für Insektenlarven – 13. verregnete Volkserzählung – 14. abgezogene<br />
Tierhaut zum Umtauschen – 15. würziges Schweinchen – 16. jemand,<br />
der getrocknete Trauben abwirft – 17. Fahrzeug für kleine Nagetiere – 18.<br />
I<br />
Was ist deutsch am<br />
„Neudeutsch“?<br />
mmer häufiger stolpere ich über<br />
einen Trick, der angewendet<br />
wird, um englische Wörter in unseren<br />
Wortschatz einzuschmuggeln:<br />
Jemand benutzt ein englisches Wort,<br />
behauptet, es sei „Neudeutsch“,<br />
und schon – Hokuspokus – ist es<br />
Deutsch!<br />
Aber, aber, meine Damen und Herren<br />
Manipulateure, so einfach geht es nun<br />
wirklich nicht! Die entsprechenden<br />
Wörter sind weder neu, noch sind sie<br />
deutsch, sondern englisch! Da könnte<br />
man ja gleich das ganze Oxford<br />
English Dictionary als „Neudeutsches<br />
Wörterbuch“ herausbringen. Wäre es<br />
nicht ein Geniestreich, die deutsche<br />
Sprache auf diese Art mit einigen Zigtausend<br />
neuen Schlagwörtern zu bereichern?<br />
Zumal es das oben erwähnte<br />
und mit viel Aufwand betriebene<br />
Herumtricksen endlich überflüssig<br />
machen würde, um jedes Jahr Hunderte<br />
englische Wörter in die deutsche<br />
Sprache einfließen zu lassen.<br />
nen, wie lebendig Wünsche und Verwünschungen<br />
werden können.<br />
Auch Politiker aller Farbschattierungen<br />
und Körpergrößen gehören zur<br />
Sammlung, mit denen aber hat selbst<br />
der Teufel keine rechte Freude. Er<br />
stellt sie allesamt im Untergeschoß<br />
ab. Was er mit den vielen Lehrerinnen<br />
und Lehrern machen soll, weiß<br />
er auch nicht. Die werden mitsamt<br />
Klassenzimmereinrichtungen, Füllern,<br />
Heften, Spitzern, Wandtafeln,<br />
Rechtschreibbüchern, Allgemeinen<br />
Schulordnungen, Konferenzbeschlüssen,<br />
Zeugnissen, Zeigestökken,<br />
Landkarten und so weiter zum<br />
Teufel geschickt. Manchmal ist auch<br />
ein Hausmeister dabei. Schüler und<br />
Eltern sollen ebenfalls schon beim<br />
Teufel gelandet sein. Aber das ist<br />
wahrscheinlich nur ein teuflisches<br />
Gerücht.<br />
Wenn es die Menschen an bestimmten<br />
Tagen – besonders an Vollmond – zu<br />
toll treiben mit ihren Verwünschungen,<br />
dann steigt der Teufel in das<br />
metallic-rote Golf-Kabrio von Anton<br />
Birkenbaum und braust auf und davon.<br />
Am liebsten würde er dann ebenfalls<br />
den ganzen Krempel woandershin<br />
wünschen. Aber als allerunterste<br />
Instanz hat er eben nicht nur Rechte,<br />
sondern auch Pflichten. Die kann er<br />
nicht weiterreichen. Und das eigentlich<br />
ist das wahrhaft Satanische.<br />
Dieser Trick erinnert<br />
sehr an die alte Methode,<br />
die Wahrheit<br />
durch Hinzufügen<br />
eines kleinen Extrawortes<br />
zu verdrehen und zu vernebeln.<br />
„Null“-Wachstum gehört zum<br />
Beispiel dazu, oder – noch dreister<br />
– das „Minus“-Wachstum. Letzteres<br />
bedeutet übrigens nichts anderes als<br />
einen Rückgang oder Rückschritt,<br />
und das bedeutet diese Herumtrickserei<br />
auch für die deutsche Sprache,<br />
meint<br />
Ihr Anglizismenmuffel<br />
Wolfgang Hildebrandt<br />
Wolfgang Hildebrandt, Mal ganz<br />
ehrlich – denglischst du noch<br />
oder sprechen Sie schon?, Band<br />
2, ISBN 978-3-929744-52-1, 6,00<br />
Euro. Bestellungen: Wolfgang Hildebrandt,<br />
Am Steingrab 20a, D-27628<br />
Lehnstedt, Telefon +49-(0)4746-<br />
1069, Telefax +49-(0)4746-931432,<br />
hillesimm@t-online.de<br />
Straßenbahnfahrerin eines östlichen Nachbarlandes – 19. doppelt unverfälscht<br />
– 20. risikoscheue Hautwucherung – 21. angefüllt mit Schriftsprache<br />
– 22. Glanz, der gebracht wird – 23. wenn man zuverlässig zu seiner<br />
Ecke hält – 24. jemand, der Haare aufrollt – 25. lüsterne Fabrik – 26. Metall,<br />
dem sehr übel ist – 27. schlecht ernährtes gebogenes Gerät – 28. durchgesägte<br />
Befestigung für Segel – 29. ganz viele Menschen im Gefängnis – 30.<br />
nordeuropäischer Volksstamm beim Reinemachen<br />
ab – balg – be – be – ber – blatt – bom – brech – chen – de – der – ei – er<br />
– feig – fer – fer – fett – fuß – fut – ge – ger – ha – haft – halb – ham – hun<br />
– kel – ken – ken – ken – ken – ker – lap – le – ler – ler – lie – lin – lok – lok<br />
– mär – mas – mast – men – merk – nen – no – nungs – öl – pel – pen – pen<br />
– pfad – po – prü – pup – pur – pur – putz – rad – ro – rock – sa – salz –<br />
säu – schatz – schau – schei – schein – schil – schnek – sel – sen – sen – si<br />
– span – spen – ster – stu – tan – te – te – ter – text – tram – tram – treu<br />
– trie – trieb – voll – war – wech – werk – wick – win – wort – ze<br />
<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>45</strong>_Herbst 2011<br />
„Wer auffallen will,<br />
schreibt deutsch“<br />
Z<br />
Ein großes Rostocker Modehaus<br />
greift die Anti-SALE-Aktion der DSW auf<br />
u einem Dauerbrenner hat sich<br />
die Anti-SALE-Aktion entwickelt,<br />
welche die DEUTSCHE<br />
SPRACHWELT im Frühjahr 2009 ins<br />
Leben gerufen hat (siehe DSW 35).<br />
Das unsägliche, massenhafte SALE ist<br />
leider immer noch nicht aus unseren<br />
Städten verschwunden. Nun können<br />
wir uns jedoch über einen schönen<br />
Erfolg in Rostock freuen, der über die<br />
Stadtgrenzen hinaus Beachtung fand.<br />
Das „Modehaus Nikolaus“, das in Rostock<br />
mehrere Filialen unterhält und<br />
mit ihnen das Stadtbild prägt, griff<br />
zum Sommerschlußverkauf im Juli<br />
dieses Jahres die Anti-SALE-Aktion<br />
auf. Dazu hängte es in seine Schaufenster<br />
rote Plakate (siehe Bild).<br />
Auf diesen ist ein großes, durchgestrichenes<br />
„SALE“ zu erkennen.<br />
Darunter steht „SCHLUSS mit dem<br />
Ausverkauf der deutschen Sprache –<br />
VERKAUF“. Einem DSW-Leser, der<br />
durch die Stadt bummelte, fiel das<br />
selbstverständlich sofort auf, er ging<br />
in eine Filiale und beglückwünschte<br />
die Verkäuferin. Diese entgegnete:<br />
„Es kommen öfter Leute in den Laden<br />
und finden das Schild ganz toll.“<br />
Den Einfall, die SALE-Welle zu<br />
durchbrechen, hatte Kathrin Schreiber,<br />
eine Dekorateurin im „Modehaus<br />
Nikolaus“. Sie erzählt, daß es seit Jahren<br />
ablehnende Rückmeldungen von<br />
Kunden gebe, die sich an dem Wort<br />
„SALE“ stören und nichts damit anfangen<br />
können. Daraufhin durchsuchte die<br />
Schaufenstergestalterin das Netz – und<br />
entdeckte unter www.deutsche-sprachwelt.de<br />
den Aufkleber der DEUT-<br />
SCHEN SPRACHWELT. Dieser regte<br />
sie zu den Schaufensterplakaten an.<br />
Kein Wunder, daß auch bald das Fernsehen<br />
des Norddeutschen Rundfunks<br />
(NDR) aufmerksam wurde und in seinem<br />
„Nordmagazin“ berichtete. Der<br />
Moderator kommentierte: „Wer wirklich<br />
auffallen will, der schreibt wieder<br />
deutsch.“ Das meinen wir auch und<br />
hoffen, daß diese beispielhafte Aktion<br />
zahlreiche Nachahmer findet!<br />
Unseren Original-Aufkleber können<br />
Sie mit Hilfe des Bestellscheins auf<br />
Seite 5 oder über eine Nachricht an<br />
bestellung@deutsche-sprachwelt.de<br />
anfordern. Aufgrund der weiterhin<br />
großen Nachfrage haben wir vor kurzem<br />
wieder 5.000 Stück nachdrukken<br />
lassen. Wir geben sie kostenlos<br />
ab, freuen uns jedoch über Spenden<br />
zur Deckung der Druck- und Versandkosten.<br />
Und falls Sie einmal in<br />
Rostock weilen sollten, danken Sie<br />
bitte der sprachbewußten Geschäftsführung,<br />
wenn Sie beim „Modehaus<br />
Nikolaus“ einkaufen, und richten Sie<br />
bitte herzliche Grüße von der DEUT-<br />
SCHEN SPRACHWELT aus. (dsw)<br />
% SALE %<br />
Wenn ich in unser Kaufhaus geh,<br />
gibt’s ein Wort, das ich nicht versteh:<br />
Ich lese Dutzend Male<br />
das groß geschriebne SALE.<br />
In leuchtend roter Farbe glänzt<br />
– geheimnisvoll prozentbekränzt –<br />
zum Gruße das fatale<br />
und nebulöse SALE.<br />
Im Schuhgeschäft, im Modeshop<br />
ist alles, was ich seh, tipptopp.<br />
Und jedes der Regale<br />
ziern mindestens zehn SALE.<br />
Kein renommiertes Handelshaus<br />
läßt heute dieses Wörtchen aus.<br />
Sogar die Bankfiliale<br />
schmückt jetzt ein fettes SALE.<br />
Die Kirche stets im Dorfe blieb,<br />
denn Tradition ist allen lieb.<br />
Jedoch die Kathedrale,<br />
erzählt man, mache SALE.<br />
Und überall und immerfort<br />
verwirrt mich dieses blöde Wort<br />
beim Schreiben der Vokale<br />
von Halle an der SALE.<br />
Claus Ritterling, Leipzig<br />
Lösungen: 1. Spannungsprüfer – 2. Fußnote<br />
– 3. Trampelpfad – 4. Fettabscheider<br />
– 5. Schneckengetriebe – 6. Rockfutter – 7.<br />
Merkblatt – 8. Öltanker – 9. Samenspende<br />
– 10. Schillerlocken – 11. Wortschatz – 12.<br />
Puppenstube – 13. Schauermärchen – 14.<br />
Wechselbalg – 15. Salzsäule – 16. Rosinenbomber<br />
– 17. Hamsterrad – 18. Trampolin<br />
– 19. Purpur – 20. Feigwarze – 21.<br />
Volltext – 22. Lieferschein – 23. winkeltreu<br />
– 24. Lockenwickler – 25. Triebwerk – 26.<br />
Brecheisen – 27. Hungerhaken – 28. halbmast<br />
– 29. massenhaft – 30. Putzlappen<br />
Prof. Dr. Dagmar Schmauks ist in der Arbeitsstelle<br />
für Semiotik an der Technischen Universität<br />
Berlin tätig. Semiotik ist die Wissenschaft<br />
von den Zeichen.