PDF 43 - Deutsche Sprachwelt
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AUSGABE <strong>43</strong><br />
Frühjahr 2011<br />
12. Jahrgang – 1<br />
ISSN1<strong>43</strong>9-8834<br />
(Ausgabe für Deutschland)<br />
Besuchen Sie uns auf der<br />
17.–20. März 2011<br />
Stand A 103 in Halle 5<br />
Wir freuen uns auf Sie!<br />
Sinnliche Erfahrung<br />
Der Sprecherzieher Lienhard<br />
Hinz stellt uns seine Arbeit vor.<br />
Seite 3<br />
Berlinisch<br />
Der Verleger und „jewordne<br />
Berliner“ Horst Meyer bringt<br />
uns das Berlinische näher.<br />
Seite 5<br />
Spadschetti<br />
Elmar Tannert erklärt uns, wie<br />
Spaghetti klebrig werden.<br />
Seite 9<br />
Ideologie?<br />
Hartmut Heuermann verrät<br />
uns, ob hinter Denglisch eine<br />
Ideologie steckt.<br />
Seite 11<br />
Wir <strong>Deutsche</strong>(n)<br />
Rominte van Thiel erläutert<br />
uns, ob wir <strong>Deutsche</strong>n wir<br />
<strong>Deutsche</strong> sind.<br />
Seite 12<br />
Sie spenden für:<br />
• Zusendung der DEUTSCHEN<br />
SPRACHWELT<br />
• Aktionen für die deutsche Sprache<br />
Kostenloser Aufkleber<br />
Bestellen Sie auf Seite 5!<br />
Besuchen Sie<br />
www.Sprachpflege.info<br />
Hier geht’s zur deutschen Sprache<br />
Bundesverkehrsminister und <strong>Deutsche</strong> Bahn wollen wieder mehr Deutsch<br />
Von Thomas Paulwitz<br />
erständnisstaus auf deutschen<br />
V Verkehrswegen: Damit soll jetzt<br />
Schluß sein. Das ist der erklärte Wille<br />
von Bundesverkehrsministerium,<br />
<strong>Deutsche</strong>r Bahn und Sprachschützern.<br />
Freilich ist es mühsam, die<br />
Sprachhürden auf die Seite zu räumen<br />
und die Schlaglöcher auf dem<br />
Weg zur Verständlichkeit zu füllen.<br />
Von heute auf morgen ist das nicht<br />
so leicht zu machen, und es gibt<br />
auch Rückschläge zu verzeichnen.<br />
So hängt die Autobahnpolizei Nordrhein-Westfalens<br />
seit kurzem an Autobahnbrücken<br />
Plakate mit der Aufschrift<br />
„Check your distance“ auf.<br />
Dieses schlechte Englisch bezeichnet<br />
sie auch noch als „klare und eindeutige<br />
Botschaft“. Nach Beschwerden<br />
ruderte die Polizei zurück. Ein<br />
Behördensprecher teilte mit, daß<br />
man „die nächste Kampagne möglichst<br />
mit Hilfe von Piktogrammen<br />
gestalten“ wolle. Die deutsche Landessprache<br />
scheint weiterhin tabu<br />
zu sein, aber immerhin verficht die<br />
Polizei nicht mehr Englisch als Leitsprache<br />
Deutschlands.<br />
Englischartige Sprüche an den Autobahnen<br />
sind nichts Neues. Im<br />
Jahr der Fußballweltmeisterschaft<br />
2006 verantwortete unter anderem<br />
das Bundesverkehrsministerium ein<br />
Plakat, das zu „fairplay on the autobahn“<br />
aufrief. Inzwischen weht<br />
unter dem Minister Peter Ramsauer<br />
erfreulicherweise ein anderer<br />
Wind. Die Leser der DEUTSCHEN<br />
SPRACHWELT haben den Bundesverkehrsminister<br />
deshalb zum<br />
Sprachwahrer des Jahres 2010 gewählt<br />
(siehe Seite 10).<br />
Ramsauer zeigt, was möglich<br />
ist, wenn ein Regierungsmitglied<br />
Erfolge aus der Arbeit der DEUTSCHEN SPRACHWELT<br />
Sprachstraße:<br />
Städte<br />
eingeladen<br />
Die Stadt Köthen und die Neue<br />
Fruchtbringende Gesellschaft haben<br />
für den 30. März hochrangige Städtevertreter<br />
ins Köthener Rathaus eingeladen,<br />
um sie für die „Straße der<br />
deutschen Sprache“ zu begeistern.<br />
(Ein Bericht folgt in der nächsten<br />
Ausgabe.) Unterdessen haben sich<br />
51 Prozent der Leser, die an unserer<br />
Befragung teilgenommen haben,<br />
bereits vorgenommen, Orte auf der<br />
Strecke zu besichtigen.<br />
Siehe Seite 4.<br />
Dieses Schild erhalten Sie von uns im Format DIN A8 als kostenlosen Aufkleber.<br />
Bestellen Sie ihn auf Seite 5! (Eine Spende für Druck und Versand hilft uns!)<br />
Sprachbewußtsein zeigt. Den Automobilclub<br />
von Deutschland (AvD)<br />
und den Reifenhersteller Goodyear<br />
brachte er dazu, eine Auszeichnung<br />
für selbstloses Verhalten im Straßenverkehr<br />
umzubenennen. Ramsauer<br />
berichtete beglückt: „Es ist mir<br />
eine besondere Freude, daß aus dem<br />
‚Highway-Hero‘ nun der ‚Held der<br />
Straße‘ geworden ist. So haben wir<br />
einen Anglizismus weniger im deutschen<br />
Straßenverkehr!“<br />
Mit seiner Verdeutschungsliste, die innerhalb<br />
seines Ministeriums gilt, setzt<br />
Ramsauer eine gute alte sprachpolitische<br />
Tradition fort. 1874 ermutigte<br />
Reichskanzler Otto von Bismarck<br />
den Generalpostmeister Heinrich von<br />
Stephan, Fremdwörter aus dem Gebrauch<br />
der Reichspost zu entfernen.<br />
Zwei Verordnungen von 1874 und<br />
1875 wiesen die Postbeamten zur Verwendung<br />
von 765 Ersatzwörtern an.<br />
Seitdem heißt es „Nachnahme“ statt<br />
„Remboursement“, „eingeschrieben“<br />
Tag der Muttersprache:<br />
Umdenken<br />
gefordert<br />
Zum Welttag der Muttersprache am<br />
21. Februar forderten wir die Öffentlichkeit<br />
mit einem zugespitzten Aufruf<br />
heraus. Um die Sprachenvielfalt<br />
zu erhalten, solle der Englischunterricht<br />
zugunsten anderer Sprachen<br />
eingeschränkt werden. Englisch solle<br />
erst als zweite Fremdsprache erlernt<br />
und Latein gestärkt werden. Englisch<br />
ab der Grundschule sei hingegen entbehrlich.<br />
Zahlreiche Zeitungen berichteten.<br />
Siehe Seite 6.<br />
statt „recommandirt“ und „Rückschein“<br />
statt „Retour-Recepisse“.<br />
Ein früher Vorläufer Peter Ramsauers<br />
war Albert von Maybach, der 1879<br />
zum preußischen „Minister der öffentlichen<br />
Arbeiten“ ernannt wurde.<br />
Sein Amtsbereich umfaßte teilweise<br />
den des heutigen Bundesministers für<br />
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.<br />
Maybach organisierte die Verwaltung<br />
eines großen Eisenbahnnetzes.<br />
Er berief den Ingenieur Otto Sarrazin<br />
als Geheimen Oberbaurat in die<br />
Eisenbahnabteilung seines Ministeriums.<br />
Dieser Mann – übrigens ein Urgroßonkel<br />
Thilo Sarrazins – gründete<br />
einen Ausschuß zum Eindeutschen<br />
fremdsprachlicher Ausdrücke. 1 300<br />
Eindeutschungen für Satzungen, Verordnungen<br />
und Veröffentlichungen<br />
brachte der Ausschuß zustande. Die<br />
„Barriere“ wurde so zur „Schranke“,<br />
das „Veloziped“ zum „Fahrrad“, der<br />
„Perron“ zum „Bahnsteig“, das „Billet“<br />
zum „Fahrschein“.<br />
Sprachwahrer des Jahres:<br />
Vorbilder<br />
vorgestellt<br />
Wer hat sich im vergangenen Jahr<br />
besonders um die deutsche Sprache<br />
verdient gemacht? Die Leser der<br />
DEUTSCHEN SPRACHWELT haben<br />
entschieden. Diesmal hatten sie<br />
erstmals die Möglichkeit, über ein<br />
Formular im Netz abzustimmen. Davon<br />
machten sie reichlich Gebrauch.<br />
Wie in jedem Jahr schenkten uns viele<br />
Medien Aufmerksamkeit, nachdem<br />
wir die Liste mit unseren Vorschlägen<br />
veröffentlicht hatten.<br />
Siehe Seite 10.<br />
Ramsauers Liste – einen kleinen<br />
Auszug daraus finden Sie auf Seite<br />
10 – umfaßt derzeit schon über einhundert<br />
Ausdrücke. Und sie wächst<br />
immer weiter. Warum sollte es nicht<br />
auch heute möglich sein, deutsche<br />
Entsprechungen durchzusetzen?<br />
Gerade bei der <strong>Deutsche</strong>n Bahn gibt<br />
es viel zu tun. Die Auskunft heißt<br />
noch „Service-Point“, der Schalter<br />
„Counter“, der Fahrschein „Tikket“.<br />
Daneben gibt es Angebote wie<br />
„Call-a-Bike“ oder „Kiss and Ride“,<br />
unter denen sich kaum einer etwas<br />
vorstellen kann.<br />
Doch auch dort ist Besserung in<br />
Sicht. Der Vorstandsvorsitzende<br />
der <strong>Deutsche</strong>n Bahn, Rüdiger Grube,<br />
erläuterte in einem Brief an die<br />
DEUTSCHE SPRACHWELT die<br />
neue „Nomenklatur“ der Bahn: „In<br />
unseren Grundsätzen zur externen<br />
Kommunikation haben wir festgelegt:<br />
‚Ziel der Unternehmenskommunikation<br />
ist die Nähe zum<br />
Kunden. Der Weg dorthin ist eine<br />
Sprache, die verstanden und akzeptiert<br />
wird. In unseren externen Publikationen<br />
ist für die Wortwahl die<br />
klare Verständlichkeit das Maß aller<br />
Dinge.‘ … Zu den ergänzend formulierten<br />
Prinzipien gehört die ‚möglichst<br />
durchgängige Verwendung<br />
der deutschen Sprache‘. Zugleich<br />
haben wir eine Reihe von Kriterien<br />
festgelegt, um die Verwendung von<br />
englischen Begriffen einzugrenzen.<br />
… Und ergänzend haben wir selbstverständlich<br />
für unsere interne Kommunikation<br />
festgelegt: ‚Auch für die<br />
interne Kommunikation wird in unserem<br />
Unternehmen grundsätzlich<br />
die deutsche Sprache verwendet.‘“<br />
Die Bahn stellt also zum Beispiel<br />
keine neuen „Kiss and Ride“-Schilder<br />
mehr auf, sondern ersetzt diese<br />
nach und nach durch deutschsprachige<br />
Anzeigen. Darüber hinaus<br />
sind schon jetzt englischsprachige<br />
Lautsprecherdurchsagen, die weniger<br />
informierten als Internationalität<br />
vorgaukeln sollten, auf das<br />
notwendige Mindestmaß verringert<br />
worden.<br />
Die DEUTSCHE SPRACHWELT<br />
fördert nach Kräften die Rückbesinnung<br />
auf die deutsche Sprache.<br />
Dazu verteilen wir zum Beispiel<br />
einen neuen kostenlosen Aufkleber<br />
(siehe Abbildung), mit dem jeder<br />
bekennen kann, welcher Weg der<br />
richtige ist. Aber auch unser Plan einer<br />
„Straße der deutschen Sprache“<br />
(siehe Seite 4) soll das Bewußtsein<br />
für den Wert unserer Sprache schärfen.<br />
Machen Sie sich mit uns auf<br />
den Weg!
Seite 2 Leserbriefe<br />
D<br />
ies ist ein klitzekleiner Erlebnisbericht,<br />
der verdeutlicht,<br />
wie deutsche Wörter klammheimlich<br />
abgeschafft werden. Das anhaltend<br />
trübe Wetter ließ in mir den Wunsch<br />
entstehen, neben dem Kopf auch mal<br />
wieder die Hände in Bewegung zu<br />
bringen. Und so entschloß ich mich,<br />
meinem seit mehr als vierzig Jahren<br />
brachliegenden „bestrickenden“ Talent<br />
neues Leben einzuhauchen. Eine<br />
Strickjacke sollte es werden. Ich ging<br />
auf virtuelle Suche und wurde – nicht<br />
– fündig. Warum? Aus der Strickjakke<br />
ist das Cardigan geworden. Schön<br />
zu wissen, daß Strickjacke auf englisch<br />
Cardigan heißt. Und bei Wikipedia<br />
bekommt man gleich noch die<br />
Erklärung des Namens nachgereicht.<br />
D<br />
Strickjacke gesucht<br />
Erfahrungsbericht zum Sprachverlust<br />
„Der englische Name Cardigan für<br />
Strickjacke kommt von James Thomas<br />
Brudenell, 7. Earl of Cardigan.<br />
Dieser war ein britischer General<br />
im Krimkrieg. Die Kälteprobleme<br />
seiner Truppen haben offenbar zu<br />
gewaltigen Innovationen in der britischen<br />
Strickwarenindustrie geführt.“<br />
Wieder etwas gelernt. Nur, was geht<br />
mich der britische General nebst seiner<br />
Krim-Erfahrung an? Meines Wissens<br />
gab es in Deutschland schon vor<br />
ihm die Strickjacke. Und ich möchte<br />
gern, daß es diese auch nach ihm<br />
noch gibt. Es ist mir wichtig, daß althergebrachte<br />
Bezeichnungen erhalten<br />
bleiben; daß in unserem Deutschland<br />
deutsch gesprochen wird.<br />
Dr. Mareile Henke, Schkopau<br />
Sprachenvielfalt schadet<br />
Vorschlag zur Einführung von Englisch als Amtssprache<br />
ie weltweite Sprachenvielfalt<br />
hat einen schwächenden Einfluß<br />
auf die Entwicklung der Volkswirtschaften.<br />
Man stelle sich nur einmal<br />
vor, alle Menschen können sich irgendwann<br />
einmal in einer Sprache fließend<br />
verständigen! Was würde das für einen<br />
positiven Einfluß auf die wirtschaftliche<br />
Entwicklung, aber auch für das<br />
friedliche Zusammenleben bedeuten!<br />
Warum ist in deutschen Kindergärten<br />
Englisch-Unterricht eigentlich nicht<br />
obligatorisch? Dabei lernen Kinder<br />
um so besser, je jünger sie sind. Das<br />
frühe Erlernen der englischen Sprache<br />
bedeutete eine gigantische Kostenersparnis.<br />
Meines Erachtens sollten alle<br />
ZDF – Zweites<br />
<strong>Deutsche</strong>s Fernsehen<br />
– Anstalt<br />
des öffentlichen Rechts<br />
Zuschauerredaktion,<br />
55100 Mainz<br />
28. Januar 2011<br />
Sehr geehrter Herr B.,<br />
… Unser Mitarbeiter schrieb Ihnen<br />
damals, dass das ZDF eine generelle<br />
Ablehnung von Anglizismen im Zeitalter<br />
der Europäisierung und Globalisierung<br />
nicht für sinnvoll hält. Damit<br />
erklärt das ZDF keinesfalls, wie<br />
Sie mutmaßen, die Verenglischung<br />
zu einem Zeichen der Europäisierung<br />
und Globalisierung. Vielmehr<br />
möchte diese Formulierung auf den<br />
Umstand hinweisen, dass bestimm-<br />
4. Februar 2011<br />
Bundespräsidialamt<br />
11010 Berlin<br />
Sehr geehrter Herr Paulwitz,<br />
vielen Dank für Ihr Schreiben vom<br />
13. Januar 2011.* Der Herr Bundespräsident<br />
hatte sich gleich in den<br />
ersten Tagen seiner Amtszeit dazu<br />
entschlossen, den Institutionen der<br />
Europäischen Union in Straßburg und<br />
in Brüssel einen Antrittsbesuch abzustatten.<br />
Damit wollte er eine doppelte<br />
Botschaft senden: Zum einen, dass<br />
Europa für Deutschland von herausragender<br />
Bedeutung ist, und zum anderen,<br />
dass Deutschland sich seiner<br />
besonderen Verantwortung für den<br />
Fortgang des europäischen Integrationsprozesses<br />
bewusst ist. In diesem<br />
Sinne hat der Herr Bundespräsident<br />
seine Gespräche mit dem Präsidenten<br />
des Europäischen Parlaments, dem<br />
Länder – und die EU könnte da den<br />
Anfang machen – Englisch als zweite<br />
Amtssprache einführen. Schritt für<br />
Schritt sollten Straßenschilder, Produktkennzeichnungen,<br />
Formulare und<br />
so weiter auch die englische Übersetzung<br />
erhalten. Ebenso sollte Unterricht<br />
zusätzlich in Englisch abgehalten werden.<br />
Im Laufe der Jahre würde das zur<br />
Gewohnheit und mit den Generationen<br />
entwickelte sich Englisch als „zweite<br />
Muttersprache“. Ich bin der Meinung,<br />
daß diese Zukunftsvision einmal Realität<br />
werden wird. Wir werden es allerdings<br />
nicht mehr erleben!<br />
Frank Rösner, Garmisch-Partenkirchen<br />
Liebe Leser!<br />
Was hat Ihnen gefallen? Was hätten wir<br />
besser machen können? Worauf sollten<br />
wir stärker eingehen? Schreiben Sie uns,<br />
wir freuen uns auf Ihre Meinung! Auch<br />
wenn wir nicht jeden Brief beantworten<br />
und veröffentlichen können, so werten<br />
wir doch alle Zuschriften sorgfältig aus.<br />
Bei einer Veröffentlichung behält sich<br />
die Redaktion das Recht vor, sinnwah-<br />
rend zu kürzen. Auf diese Weise wollen<br />
wir möglichst viele Leser zu Wort kommen<br />
lassen. Schreiben Sie bitte an:<br />
DEUTSCHE SPRACHWELT<br />
Leserbriefe<br />
Postfach 1449, D-91004 Erlangen<br />
schriftleitung@deutsche-sprachwelt.de<br />
Komplex-Mode<br />
Ein Wort scheint heute ausgestorben,<br />
hat den Status „out“ erworben.<br />
„Kompliziert“ heißt dieses Wort,<br />
Eitelkeit warf’s über Bord!<br />
„Kompliziert“ trifft indirekt<br />
den, der hinterm Vorgang steckt,<br />
„kompliziert“ räumt Schwächen ein,<br />
wo doch gilt: Schwach darf nicht sein!<br />
Deshalb kriegt ein kaum bekanntes<br />
Wörtchen – als was Sinnverwandtes –<br />
dessen starke Position:<br />
Das „komplex“ erbt die Funktion!<br />
Dieses Wort zielt sehr direkt<br />
auf die Tücken im Objekt.<br />
So erfährt der Mensch der Handlung<br />
eine zeitgemäße Wandlung.<br />
Claus Ritterling, Leipzig<br />
Briefe an uns und unsere Leser<br />
(Rechtschreibung im Original)<br />
ZDF: Die deutsche Sprache spielt kaum noch eine Rolle<br />
te englische Begriffe international<br />
sowohl in Europa als auch weltweit<br />
gebräuchlich sind und von allen<br />
Menschen verstanden werden. Beispiele<br />
sind „Sweatshirt“, „Handy“‚<br />
„Homepage“, „Smartphone“‚ „Airbag“,<br />
„Airline“, „Flyer“, „Counter“,<br />
„Highlights“, „E-Mail“, „Park-andride“<br />
usw. Es wäre wenig sinnvoll<br />
oder gar Erfolg versprechend, wenn<br />
ein einziges Medium sich der allgemeinen<br />
Entwicklung entgegenstemmen<br />
und selbstständig deutsche Entsprechungen<br />
kreieren würde, die in<br />
der Kommunikation, vor allem auch<br />
mit Fachleuten, niemand verstünde.<br />
Die immer mehr um sich greifende<br />
Verwendung der englischen Sprache<br />
ist ein allgemeines Phänomen der<br />
Gesellschaft, nicht aber eines speziell<br />
des Fernsehens. Nehmen Sie<br />
zum Beispiel die <strong>Deutsche</strong> Bahn mit<br />
Bundespräsident: Sprachpflege ist ein wichtiges Anliegen<br />
Kommissionspräsidenten sowie dem<br />
Präsidenten des Europäischen Rates<br />
geführt. Der von Ihnen thematisierte<br />
Eintrag in das Gästebuch des Europäischen<br />
Parlaments fand im unmittelbaren<br />
Anschluss an das in Englisch<br />
geführte Gespräch mit dem (polnischen)<br />
Parlamentspräsidenten Buzek<br />
statt. Dabei hatte der Herr Bundespräsident<br />
Deutsch gesprochen und<br />
wurde ins Englische gedolmetscht.<br />
Beim informellen Treffen der vier<br />
deutschsprachigen Staatsoberhäupter<br />
Deutschlands, Österreichs, der<br />
Schweiz und Liechtensteins vom 1.<br />
November 2010 in Lübeck war das<br />
Thema „Zukunft der deutschen Sprache<br />
im mehrsprachigen Europa“ Gegenstand<br />
einer der beiden Arbeitssitzungen.<br />
Auf der sich anschließenden<br />
Pressekonferenz wurde im Übrigen<br />
öffentlich auf dieses wichtige Thema<br />
hingewiesen. Sie können versichert<br />
sein, dass dem Herrn Bundespräsidenten<br />
die Pflege der deutschen<br />
ihren Auskunfts-„Hotlines“ ihrer<br />
„Bahncard“ und ihrem „Intercity“.<br />
Es ist ein ganz normaler Vorgang,<br />
dass Sprachen im Laufe ihrer Entwicklung<br />
Einflüsse von anderen (oft<br />
benachbarten) Sprachen aufnehmen<br />
und natürlich auch selbst wiederum<br />
Einflüsse auf andere Sprachen haben.<br />
… Mittlerweile haben es viele<br />
englischsprachige Begriffe sogar in<br />
den deutschen Duden geschafft, wie<br />
beispielsweise „Event“ oder „Kid“.<br />
… Nach Ansicht von Sprachforschern<br />
besteht in Deutschland ohnehin<br />
keine Gefahr sprachlicher<br />
Überfremdung, denn der Anteil der<br />
Anglizismen im <strong>Deutsche</strong>n liegt bei<br />
unter 5 % und viele verschwinden<br />
ganz unmerklich wieder. Deutsch ist<br />
aber keine Weltsprache und die Globalisierung<br />
auf allen Gebieten wird<br />
sicherlich dazu führen, dass sich mit-<br />
Sprache im In- und Ausland auch<br />
künftig ein wichtiges Anliegen ist.<br />
Der Gebrauch von Deutsch als EU-<br />
Amtssprache gehört dazu.<br />
Mit freundlichen Grüßen<br />
Im Auftrag<br />
Michael Dorn<br />
Referat 21<br />
*Am 13. Januar 2011 hatten wir geschrieben:<br />
Sehr geehrter Herr Bundespräsident,<br />
vor sechs Jahren äußerten Sie sich in<br />
einem Gastbeitrag für unsere Zeitschrift<br />
„<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>“ kämpferisch<br />
gegen die Rechtschreibreform.<br />
Auch zu anderen Gelegenheiten betonten<br />
Sie, wie wichtig Ihnen die<br />
deutsche Sprache sei. Wir hatten daher<br />
große Hoffnungen auf Sie gesetzt.<br />
Um so überraschter waren wir, als wir<br />
erfuhren, daß Sie am 7. Juli 2010 bei<br />
E<br />
<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>43</strong>_Frühjahr 2011<br />
„Alphabetkonvention“<br />
Vorschlag zur einheitlichen Aussprache von Buchstaben<br />
in grundlegendes Problem,<br />
welches das schnelle Erlernen<br />
einer neuen Sprache behindert, ist,<br />
daß die meisten EU-Länder in ihren<br />
Sprachen zwar das lateinische<br />
Alphabet mit seinen etwa 26 Buchstaben<br />
verwenden, leider aber diese<br />
Buchstaben sehr verschieden ausgesprochen<br />
werden. Ein besonders<br />
krasses Beispiel bietet die englische<br />
Aussprache, die nahezu chaotisch ist.<br />
Nehmen wir zum Beispiel den englischen<br />
Buchstaben A. Heute kann<br />
man ihn auf fünf Arten aussprechen.<br />
Als A wie in car, als Ä wie in have,<br />
als E wie in lamella, als I wie in language<br />
oder als O wie in ball. Mit den<br />
übrigen englischen Buchstaben ist es<br />
nicht viel besser. Oder denken Sie an<br />
das italienische CIAO. Wer kommt<br />
schon drauf, daß dieses Wort als<br />
„tschau“ ausgesprochen wird? Bei<br />
den übrigen Sprachen ist das nicht<br />
viel besser. Mein Vorschlag: Die EU-<br />
Länder sollten eine Alphabetkonvention<br />
beschließen mit der Maßgabe,<br />
daß innerhalb von zwei bis drei Jahren<br />
alle Buchstaben einheitlich ausgesprochen<br />
werden. 1.) Wir könnten<br />
ohne das zeitaufwendige Erlernen der<br />
Ausspracheregeln fremder Sprachen<br />
uns darauf beschränken, die Wörter<br />
so zu lernen, wie sie geschrieben<br />
stehen, ohne den Umweg über die<br />
heute umfangreiche internationale<br />
Lautschrift von Langenscheidt. 2.)<br />
„Zeit ist Geld“, sagt man. Und dieses<br />
Geld, das heute für die jeweils<br />
richtige Aussprache verschwendet<br />
wird, könnte gespart werden. 3.) In<br />
tel- und langfristig die Zahl der Anglizismen<br />
in unserer Sprache weiter<br />
erhöhen wird. Die deutsche Sprache<br />
spielt mittlerweile in der internationalen<br />
Wissenschaft kaum noch eine<br />
Rolle. 90 Prozent der Fachbeiträge<br />
werden auf Englisch veröffentlicht,<br />
Publikationen in anderen Sprachen<br />
kaum noch zur Kenntnis genommen.<br />
Versuche, gegen diesen Trend<br />
vorzugehen, sind nach Einschätzung<br />
von Fachleuten nicht aussichtsreich.<br />
Ein Sprachschutzgesetz gegen die<br />
wachsende Zahl von aus anderen<br />
Sprachen übernommenen Wörtern<br />
in den Alltagsgebrauch halten Experten<br />
und die Bundesregierung<br />
ebenfalls für ungeeignet. …<br />
Mit freundlichen Grüßen<br />
Dirk Beilstein<br />
Ihrem Antrittsbesuch in das Gästebuch<br />
des Europäischen Parlaments schrieben:<br />
„Best wishes for the European<br />
Parliament for the future in the 21th<br />
century!“. Außerdem hörten wir, daß<br />
Sie sich mit dem Präsidenten des Europäischen<br />
Parlaments, Jerzy Buzek, zuvor<br />
auf englisch unterhielten, obwohl<br />
er – nach Angaben des Parlaments<br />
– auch Deutsch spricht. Im Rahmen<br />
seiner Bewerbung als EU-Parlamentspräsident<br />
sagte Buzek auf einer Pressekonferenz<br />
im Juli 2009, daß Englisch,<br />
Französisch und Polnisch „the most<br />
important languages“ (die wichtigsten<br />
Sprachen) der EU seien. Schließt sich<br />
der Bundespräsident dieser Auffassung<br />
an und ist damit die Flucht aus der<br />
deutschen Sprache zu erklären?<br />
Hochachtungsvoll<br />
Thomas Paulwitz<br />
DEUTSCHE SPRACHWELT<br />
Chefredakteur<br />
der EU werden über 15 verschiedene<br />
Sprachen gesprochen. Die Mehrheit<br />
dieser Sprachen wird heute vom<br />
Englischen in ihrer Existenz bedroht.<br />
Unsere Vorfahren haben es vor über<br />
einhundert Jahren fertiggebracht,<br />
Maße wie Elle, Fuß, Meile, Unze gegen<br />
die metrischen Maße wie Meter,<br />
Kilogramm und Liter auszutauschen,<br />
zu standardisieren. Damit haben sie<br />
einheitliche Verhältnisse in weiten<br />
Teilen der Welt hergestellt. Warum<br />
soll das mit der einheitlichen Aussprache<br />
von Buchstaben nicht auch<br />
möglich sein?<br />
Joachim Marcks, Ettlingen<br />
Dazwischen<br />
Es gibt Menschen, die verweilen –<br />
Aus gutem Grunde – zwischen<br />
den Zeilen.<br />
Und jeder, der dies ausprobiert,<br />
Ist plötzlich besser informiert!<br />
Günter B. Merkel, Wilhelmsfeld<br />
Einstieg in die dichterische Merkelwelt:<br />
Günter B. Merkel: Große Sprüche<br />
vom gnadenlosen Dichter, SWP-<br />
Buch-Verlag, Wilhelmsfeld 2007, 128<br />
Seiten, fester Einband, 9,50 Euro.<br />
Bestellung unter Telefon 06220/6310.<br />
www.merkel-gedichte.de<br />
Gegründet im Jahr 2000<br />
Erscheint viermal im Jahr<br />
Auflage: 25.000<br />
Die jährliche Bezugsgebühr beträgt 10 Euro.<br />
Für Nicht- und Geringverdiener ist der Bezug<br />
kostenfrei. Zusätzliche Spenden sind sehr<br />
willkommen.<br />
Bundesrepublik Deutschland<br />
Verein für Sprachpflege e. V.<br />
Stadt- und Kreissparkasse Erlangen<br />
Bankleitzahl 763 500 00<br />
Kontonummer 400 1957<br />
BIC: BYLADEM1ERH<br />
IBAN: DE63763500000004001957<br />
Republik Österreich<br />
Verein für Sprachpflege e. V.<br />
Volksbank Salzburg<br />
Bankleitzahl 45010<br />
Kontonummer 000 150 623<br />
Bitte bei der Überweisung vollständige<br />
Anschrift mit Postleitzahl angeben!<br />
ISSN 1<strong>43</strong>9-8834<br />
(Ausgabe für Deutschland)<br />
ISSN 1606-0008<br />
(Ausgabe für Österreich)<br />
Herausgeber<br />
Verein für Sprachpflege e. V.<br />
Sammelanschrift<br />
<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong><br />
Postfach 1449, D-91004 Erlangen<br />
Fernruf 0049-(0)91 31-48 06 61<br />
Ferndruck (Fax) 0049-(0)91 31-48 06 62<br />
Bestellung@deutsche-sprachwelt.de<br />
Schriftleitung@deutsche-sprachwelt.de<br />
Schriftleitung<br />
Thomas Paulwitz<br />
Thomas.Paulwitz@deutsche-sprachwelt.de<br />
Gestaltung und Satz<br />
moritz.marten.komm.<br />
Claudia Moritz-Marten<br />
momakomm@netcologne.de<br />
Anzeigen<br />
moritz.marten.komm.<br />
Hans-Paul Marten<br />
Fernruf 0049-(0)22 71-6 66 64<br />
Ferndruck (Fax) 0049-(0)22 71-6 66 63<br />
Werbeanfragen@deutsche-sprachwelt.de<br />
<strong>Sprachwelt</strong>-Mitarbeiter<br />
Ursula Bomba, Lienhard Hinz (Berlin), Rominte<br />
van Thiel, Dagmar Schmauks, Wolfgang<br />
Hildebrandt, Diethold Tietz, Jürgen<br />
Langhans, Ulrich Werner, Klemens Weilandt,<br />
Andreas Raffeiner (Bozen/Innsbruck)<br />
Druck<br />
Ferdinand Berger & Söhne GmbH<br />
Wiener Straße 80, A-3580 Horn<br />
Namentlich gekennzeichnete Artikel geben<br />
nicht unbedingt die Meinung der<br />
Redaktion wieder. Das gilt besonders für<br />
Leserbriefe.<br />
Die 44. Ausgabe erscheint im Sommer<br />
2011. Redaktions- und Anzeigenschluß<br />
sind am 23. Mai 2011.
<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>43</strong>_Frühjahr 2011 Hintergrund<br />
Seite 3<br />
Von Lienhard Hinz<br />
S<br />
eien Sie zu eigenen sinnlichen<br />
Erfahrungen beim Sprechen<br />
eingeladen. Wir beginnen mit dem<br />
Dichtungssprechen. Haben Sie es<br />
selbst schon einmal erlebt, daß Ihnen<br />
literarische Sprache so gefällt, daß<br />
Sie beim Lesen laut sprechen? Reime,<br />
Verse und Zeilen sind manchmal<br />
so ansprechend, daß wir sie vortragen<br />
wollen. Friedrich Schiller hat diese<br />
ansprechende Literatur 1795 in seinem<br />
Gedicht „Der Spaziergang“ beschrieben:<br />
„Körper und Stimme leiht<br />
die Schrift dem stummen Gedanken,<br />
/ Durch der Jahrhunderte Strom trägt<br />
ihn das redende Blatt.“<br />
Das Dichtungssprechen ist in den<br />
letzten beiden Jahren ein Arbeitsgebiet<br />
von mir geworden. Die Neue<br />
Fruchtbringende Gesellschaft zu<br />
Köthen (Anhalt) veranstaltet seit<br />
2007 jedes Jahr einen Schülerschreibwettbewerb<br />
unter dem Titel<br />
„Schöne deutsche Sprache“. Schüler<br />
aus dem ganzen Land reichen ihre<br />
Gedichte und Geschichten ein. Die<br />
jungen Preisträger dieses Wettbewerbs<br />
sprechen ihre Dichtungen im<br />
Festsaal des Köthener Schlosses am<br />
Tag der deutschen Sprache im September,<br />
und ich bereite sie am Vormittag<br />
darauf vor.<br />
Die sprecherische Gestaltung ist so<br />
schöpferisch wie das Schreiben. Erich<br />
Drach, der Begründer der Sprecherziehung,<br />
schrieb in den 1920er Jahren,<br />
daß es dabei darauf ankommt,<br />
das in der Dichtung Empfundene zu<br />
empfinden und in eine „neue Redelage“<br />
zu stellen. In seinem Buch „Die<br />
redenden Künste“ von 1926 zitiert<br />
er den Philosophen Richard Müller-<br />
Freienfels und bezeichnet das Dichtungssprechen<br />
als „Resubjektivieren<br />
objektivierter Subjektzustände“. Mit<br />
anderen Worten: Wenn wir Dichtungen<br />
sprechen, gestalten wir Sprache<br />
auf unsere eigene Weise und sind nur<br />
dem Text und uns selbst verantwortlich.<br />
Es ist dabei unerheblich, ob wir<br />
ein eigenes Werk oder das eines anderen<br />
Verfassers sprechen.<br />
Die Sprecherziehung hat drei Ziele:<br />
erstens die soeben beschriebene sprecherische<br />
Gestaltung von Dichtung,<br />
zweitens die wirkungsvolle Rede im<br />
Vortrag oder im Gespräch und drittens<br />
die Schulung der Sprechstimme<br />
und Artikulation, auch Stimm- und<br />
Sprechbildung genannt. Diese drei<br />
Ziele wurden schon in der Rhetorik<br />
der Antike verfolgt. Bei einem der<br />
bedeutendsten Autoren, Quintilian<br />
(35 bis 96 n. Chr.), heißt es: „Nihil<br />
potest intrare in affectum, quod in<br />
aure, velut quodam vestibulo, statim<br />
offendit.“ – Also: Nichts kann den<br />
Weg ins Gemüt finden, das schon im<br />
Ohr, also gewissermaßen im Vorhof,<br />
Anstoß erregt.<br />
Die Bedeutung von Sprache und<br />
Stimme wurde schon früh erkannt.<br />
Die Stimm- und Sprechbildung ist die<br />
Grundlage der sprecherzieherischen<br />
Arbeit. Mit der Stimme beschäftigen<br />
wir uns, wie überhaupt mit unserem<br />
Körper, meist erst bei Schwierigkeiten<br />
oder Erkrankungen. Die Stimm-<br />
und Sprachheilkunde, die „Phoniatrie“,<br />
gründete sich im Jahr 1905.<br />
Damals erwarb Hermann Gutzmann<br />
sen. an der Medizinischen Fakultät<br />
der Berliner Universität die Lehrbe-<br />
Sprechen als sinnliche Erfahrung<br />
von Sprache<br />
Anliegen und Arbeit eines Sprecherziehers<br />
Nicht nur den Königen kann ein Sprecherzieher dienen. Der vor kurzem mit mehreren Oscars ausgezeichnete Film „The<br />
King’s Speech – die Rede des Königs“ lenkt die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Kunst des unfallfreien Sprechens.<br />
Lienhard Hinz (rechtes Bild) hat zwar noch keinen Oscar erhalten, dafür kennt er sich aber sicher besser mit Sprecherziehung<br />
aus als der Schauspieler Geoffrey Rush (linkes Bild, zweite Person von links). Jener spielt den Sprachtherapeuten<br />
Lionel Logue, der den englischen König Georg VI. (gespielt von Colin Firth, linkes Bild, erste Person von links)<br />
von seinem Stottern befreite. (dsw)<br />
fähigung und begann mit seinen Vorlesungen<br />
über Sprachstörungen. Das<br />
beeindruckende Grab der Medizinerfamilie<br />
Gutzmann habe ich unlängst<br />
bei einem Wochenendausflug in der<br />
Mark Brandenburg in Teupitz am<br />
gleichnamigen See entdeckt. Sein<br />
Sohn Hermann Gutzmann jun. gründete<br />
1962 in Berlin-Dahlem die erste<br />
Logopädenlehranstalt. Der Heilberuf<br />
des Logopäden entstand nach dem<br />
Krieg, den pädagogischen Beruf<br />
Sprecherzieher gab es schon davor.<br />
Die Stimm- und Sprachheilkunde<br />
entwickelte sich zu Beginn des vorigen<br />
Jahrhunderts von zwei Zentren<br />
aus: Berlin und Wien. In Wien wirkte<br />
der Phoniater Emil Fröschels.<br />
Von Fröschels stammt die Kaumethode<br />
zur Ausbildung der Sprechstimme.<br />
Sie beruht auf der Doppelfunktion<br />
von Organen: für die Nahrungsaufnahme<br />
und für das Sprechen. Gut<br />
schmeckendes Essen weitet den Rachen<br />
und beeinflußt den Stimmklang.<br />
Die Stimme klingt weicher und voller.<br />
Der harte, spröde und gedrückte<br />
Stimmklang der Angstgefühle ist auf<br />
eine Einengung des Rachens zurückzuführen.<br />
Wenn wir beim Essen etwas<br />
brummen – „Mhm, mhm …“ – wird<br />
ein Stimmton unterhalb der mittleren<br />
Sprechstimmlage erreicht. Zunächst<br />
wird mit Eßbarem im Mund geübt<br />
und dann mit der Vorstellung einer<br />
schmeckenden Speise. Danach folgen<br />
Kausilben und Wörter, beispielsweise<br />
„Mjam, mjam, mjam – Name,<br />
mjem, mjem, mjem – nehmen, mjim,<br />
mjim, mjim – Miene, mnjom, mjom,<br />
mjom – Note“.<br />
Wenn wir uns jetzt gedanklich auf<br />
die Ebene unserer ein bis zwei Zentimeter<br />
langen Stimmlippen im Kehlkopf<br />
begeben, haben wir in dieser<br />
tiefen Stimmlage eine sogenannte<br />
Vollschwingung. Die Stimmlippen<br />
schwingen mit großer Schwingungsweite.<br />
Wir befinden uns von der<br />
Resonanz her betrachtet im Brustregister.<br />
Wenn wir die Stimme heben,<br />
weil wir uns über etwas aufregen,<br />
gegen Umgebungslärm ansprechen<br />
oder vielleicht besonders freundlich<br />
wirken wollen, werden die Stimmlippen<br />
angespannt und dadurch etwas<br />
verlängert. Es schwingt nur der<br />
äußere Rand der Stimmlippen. Die<br />
Muskulatur wird stärker beansprucht<br />
und kann schneller ermüden.<br />
Jede Schwingung, auch die Stimmlippenschwingung,<br />
braucht für die<br />
Resonanz den Körper. Wenn wir eine<br />
Stimmgabel anschlagen, hören wir<br />
kaum etwas. Erst wenn wir sie auf<br />
den Tisch stellen oder an die Stirn<br />
halten, ist der Ton wahrnehmbar. Wir<br />
können den menschlichen Körper mit<br />
einem Saiteninstrument vergleichen.<br />
Schlägt man eine Gitarrensaite an,<br />
schwingt sowohl die Luft im Korpus<br />
als auch der Korpus selbst. Gitarren<br />
brauchen gut schwingendes Holz,<br />
und wir brauchen eine gut schwingende<br />
Muskulatur von den Füßen bis<br />
zur Schädeldecke.<br />
Berufssprecher im Fernsehen nutzen<br />
die Körperresonanz aus, indem sie<br />
im Stehen sprechen. Jan Hofer, seit<br />
2004 Hauptsprecher der Tagesschau,<br />
hat am 20. Juni 2005 das Stehen<br />
während der Sendung eingeführt.<br />
Zur Begründung sagte er der Berliner<br />
Zeitung: „Beim Stehen hat man<br />
eine bessere Körperhaltung. Man<br />
kann besser atmen und ist dynamischer.“<br />
In vielen Sprechberufen in<br />
Wirtschaft und Verwaltung bemüht<br />
man sich auch, Stehplätze einzuführen.<br />
Doch läßt sich die sitzende<br />
Tätigkeit in manchen Büros nicht<br />
vermeiden. Hier kommt es darauf<br />
an, beim Sprechen im Sitzen eine<br />
aufrecht-elastische Haltung einzunehmen,<br />
die Atmen und Sprechen<br />
fördert. Auch im Sitzen können wir<br />
Körpergewicht über die Füße an die<br />
Erde abgeben. Die Sicherheit, die<br />
uns der Boden gibt, überträgt sich<br />
auf die Stimme und damit auf den<br />
Hörer. Wenn wir beide Füße ungefähr<br />
schulterbreit auseinander aufstellen,<br />
können wir uns vier rechte<br />
Winkel denken: den ersten zwischen<br />
Fuß und Unterschenkel, den zweiten<br />
zwischen Unter- und Oberschenkel,<br />
den dritten zwischen Oberschenkel<br />
und Rumpf und den vierten zwischen<br />
Hals und Unterkiefer.<br />
Wie sich diese aufrechte Körperhaltung<br />
auf die Atmung auswirkt, können<br />
wir spüren, wenn wir eine Hand<br />
auf den Bauch legen und mit locker<br />
aufeinanderliegenden Lippen langsam<br />
mit Lippenbremse ausatmen.<br />
Dann versuchen wir, die Reserveluft,<br />
die noch im Körper ist, durch die<br />
Lippen hinauszubewegen. Wir warten,<br />
bis Lufthunger entsteht, und lassen<br />
die frische Luft durch die Nase<br />
in den Körper strömen. Erfolgreich<br />
ist die Übung, wenn wir merken, daß<br />
sich die Hand auf der Bauchdecke<br />
nach vorn, außen bewegt. Wir aktivieren<br />
mit dieser Übung unseren<br />
Hauptatemmuskel, das Zwerchfell.<br />
Das bewegt sich beim Einatmen nach<br />
unten und verdrängt dabei innere Organe,<br />
wodurch sich die Bauchdecke<br />
nach vorn ausdehnt.<br />
Sprechen ist tönend gemachtes Ausatmen.<br />
Während des Sprechens atmen<br />
wir kaum durch die Nase. Wir<br />
brauchen mehr Luft und bekommen<br />
sie schneller durch den Mund. Wenn<br />
wir stehen oder aufrecht sitzen, hat<br />
das Zwerchfell genügend Bewegungsraum<br />
und kann die Atemluft<br />
leicht und geräuschlos ergänzen.<br />
Dieses Sprechen „aus dem Bauch<br />
heraus“, vom Zwerchfell her, können<br />
wir mit einem energischen<br />
„Ja!“ üben. Achten Sie auf eine gute<br />
Mundöffnung. Mit einer Hand bemerken<br />
wir dabei die Anspannung<br />
der Bauchmuskulatur beim Sprechen<br />
und die Lösung dieser Spannung am<br />
Ende des Ausspruchs. Mit der anderen<br />
Hand können wir die leichte<br />
Kehlkopfbewegung am Hals spüren.<br />
Bei der Stimmgebung wird im Kehlkopf<br />
Spannung aufgebaut und in der<br />
Sprechpause gelöst. Das geschieht<br />
auch, wenn wir „p“, „t“ und „k“ am<br />
Wortende deutlich sprechen, beispielsweise<br />
„Licht“, „Luft“.<br />
Die Aussprache ist ein Reiz, auf den<br />
der Körper antwortet. Die deutliche<br />
Artikulation spart Stimmkraft. Oft<br />
verbirgt sich hinter der Aufforderung.<br />
„Reden Sie mal lauter!“ die Botschaft<br />
„Ich habe Sie nicht verstanden, weil<br />
Sie undeutlich sprechen.“ Wichtig<br />
für eine gute Aussprache ist, daß wir<br />
den Mund möglichst leicht öffnen<br />
können. Im Kieferbereich kommt es<br />
schnell zu Verspannungen. Mit einer<br />
Massage der Kaumuskulatur mit den<br />
Fingerkuppen und der Schläfenmuskulatur<br />
mit den Handballen bei leicht<br />
geöffnetem Mund können wir diese<br />
Verspannungen lösen und danach mit<br />
auf den Gesichtshälften aufgelegten<br />
Händen den Mund weit öffnen.<br />
Die vier unterschiedlichen Kieferwinkel<br />
und Hebungsstufen der<br />
Zunge lassen sich gut mit den Vorderzungenvokalen<br />
„a“, „ä“, „e“ und<br />
„i“ üben. Vor dem Spiegel sollte auch<br />
beim engen „i“ die Zunge zwischen<br />
den Zähnen zu sehen sein. Beim<br />
Üben übertreiben wir bei der Artikulation,<br />
um in der Umgangssprache<br />
deutlicher zu werden. Stimmhafte<br />
Konsonanten bringen die Stimme<br />
nach vorn. Das spüren wir mit den<br />
Wörtern „Muntermacher“, „Neffen<br />
und Nichten“, „Wind und Wellen“,<br />
„Land und Leute“, „Sang und<br />
Klang“, „Sonnenseite“.<br />
Wir haben uns zuerst mit der Stimmgebung<br />
im Kehlkopf beschäftigt und<br />
danach gespürt, wie sich Körperhaltung,<br />
Atmung und Artikulation auf<br />
die Stimme auswirken. Ich empfehle,<br />
immer wieder die eigene Stimme<br />
aufzunehmen. Wir lassen uns photographieren<br />
und staunen, wie wir<br />
aussehen. Noch erstaunlicher und<br />
gewöhnungsbedürftiger ist die aufgenommene<br />
Stimme, weil wir uns<br />
selbst verzerrt hören. Ich bitte meine<br />
Kursteilnehmer, einen kurzen Redebeitrag<br />
aufzusprechen, beispielsweise:<br />
„Welcher Stimme hören Sie gern<br />
zu und warum?“ Bei der Auswertung<br />
der Aufnahmen erläutere ich<br />
Stimmeigenschaften. Ziele meiner<br />
Tagesseminare und Schulungen zur<br />
Stimm- und Sprechbildung sind die<br />
aufrecht-elastische Körperhaltung,<br />
natürliche Zwerchfellatmung, mittlere<br />
Sprechstimmlage, deutliche Lautbildung<br />
und der authentische Sprechausdruck.<br />
Den gekonnten Einsatz der<br />
Sprechausdrucksmittel hören wir in<br />
Aufnahmen mit Gedichten.<br />
Ich wünsche, daß Sie Ihre Stimme<br />
liebgewinnen und am Sprechen und<br />
Vortragen Freude haben. In Goethes<br />
Faust heißt es: „Allein der Vortrag<br />
macht des Redners Glück.“<br />
Lienhard Hinz ist Sprecherzieher.<br />
Der Text ist die gekürzte Fassung eines<br />
etwa einstündigen Vortrages, den<br />
Hinz im Januar 2011 vor dem VDS<br />
Berlin/Potsdam hielt.<br />
Wer den Verfasser ebenfalls zu einem<br />
Vortrag über diesen Gegenstand gewinnen<br />
möchte, wende sich bitte an<br />
die Schriftleitung. Wir reichen die<br />
Anfrage weiter.
Seite 4 Fremdenverkehr<br />
Von Thomas Paulwitz<br />
J<br />
acob Grimm saß in Berlin in seiner<br />
Arbeitsstube und trommelte<br />
angespannt mit den Fingern auf die<br />
Schreibtischplatte. Der Gründervater<br />
der Germanistik wartete Ende November<br />
1841 voller Ungeduld auf den<br />
Besuch eines jungen Historikers. Der<br />
56jährige Grimm war bereits ein anerkannter<br />
Wissenschaftler mit einem<br />
herausragenden Ruf. Zusammen mit<br />
seinem Bruder Wilhelm hatte er 1812<br />
die Kinder- und Hausmärchen herausgebracht<br />
und arbeitete seit 1838 am<br />
<strong>Deutsche</strong>n Wörterbuch. Erst vor wenigen<br />
Monaten hatte der preußische<br />
König Friedrich Wilhelm IV. die Brüder<br />
nach Berlin gerufen, damit sie am<br />
Wörterbuch weiterarbeiten konnten.<br />
Beide hatten das Königreich Hannover<br />
1837 verlassen müssen, weil sie sich<br />
als Mitglieder der „Göttinger Sieben“<br />
gegen die Aufhebung der Verfassung<br />
gewehrt hatten. Jetzt hatten sie in Preußen<br />
Aufnahme gefunden.<br />
Wer war der junge Historiker, auf den<br />
Jacob Grimm so ungeduldig wartete?<br />
Es handelte sich um den damals 28jährigen<br />
Christoph Waitz. Mit seinem<br />
Namen verband sich in späteren Jahren<br />
die „Quellenkunde der deutschen<br />
Geschichte“ von Friedrich Christoph<br />
24. und 25. Juni 2011<br />
Sprachtag in Köthen<br />
zum Thema „Straße<br />
der deutschen Sprache“.<br />
Bitte vormerken!<br />
Dahlmann. Diese führte er fort, erweiterte<br />
sie zur Bibliographie und sollte<br />
noch heute als „Dahlmann-Waitz“<br />
jedem Geschichtsstudenten vertraut<br />
sein. Doch schon damals war Waitz<br />
begeistert auf der Jagd nach Quellen.<br />
Er verehrte aus persönlichem Erleben<br />
Leopold von Ranke, einen der Gründerväter<br />
der modernen Geschichtswissenschaft.<br />
Dessen Anspruch, der<br />
Historiker solle aufzeigen, „wie es eigentlich<br />
gewesen“ ist, hatte Waitz ver-<br />
S<br />
eit gut einem Jahr treiben wir das<br />
Vorhaben voran, in Deutschland<br />
eine „Straße der deutschen Sprache“ zu<br />
errichten. Am 30. März dieses Jahres<br />
(nach Redaktionsschluß) kommen im<br />
Köthener Rathaus erstmals Vertreter<br />
einzelner Städte zusammen. Auf dem<br />
Köthener Sprachtag am 24. und 25.<br />
Juni (Anmeldung auf Seite 12) stellen<br />
sich Orte, die auf der geplanten Strecke<br />
liegen, der Öffentlichkeit vor. Auch in<br />
der Presse findet die „Straße der deutschen<br />
Sprache“ großen Zuspruch. Seit<br />
einem Jahr erscheinen laufend Meldungen<br />
und Berichte.<br />
Doch wie denken Sie, liebe Leser, über<br />
die Straße? Ihr Urteil ist uns besonders<br />
wichtig, da wir auf Ihren Rückhalt und<br />
Ihre Unterstützung angewiesen sind.<br />
Ohne Sie könnten wir nichts tun. Außerdem<br />
gilt uns Ihre Meinung sehr viel,<br />
Die Stadt der Zaubersprüche ruft<br />
Wir reisen auf der Straße der deutschen Sprache: Merseburg<br />
innerlicht. Und so führte ihn der Weg<br />
im November 1841 auf seiner Handschriftenreise<br />
auch in die Merseburger<br />
Domstiftsbibliothek. Dort machte er<br />
eine für die deutsche Sprache sensationelle<br />
Entdeckung, von der er sogleich<br />
Jacob Grimm berichtete. Der erkannte<br />
sofort die Bedeutung.<br />
Wenige Tage später stand Waitz mit<br />
seinem Fund vor Grimm. Waitz erzählte<br />
später von dieser bedeutsamen<br />
Begegnung: „Er las sie wieder und<br />
wieder, erkannte natürlich gleich und<br />
viel besser als ich die Wichtigkeit des<br />
Fundes, und sprach<br />
seine Freude in der liebenswürdigsten<br />
Weise<br />
aus. Seine Gelehrsamkeit<br />
und sein Scharfsinn<br />
boten auch die<br />
Mittel zur Erklärung<br />
und Verwerthung des<br />
Inhalts dieser gerade<br />
für die Mythologie so<br />
merkwürdigen Denkmäler,<br />
wenn auch spätere<br />
Forschung einiges<br />
ergänzt oder anders<br />
bestimmt hat.“<br />
Jacob Grimm ist überwältigt. Wenig<br />
später schwärmte er in seiner Antrittsvorlesung<br />
vor der Königlichen Akademie<br />
der Wissenschaften Anfang Februar<br />
1842 in Berlin: „Gelegen zwischen<br />
Leipzig, Halle, Jena ist die reichhaltige<br />
Bibliothek des Domcapitels zu Merseburg<br />
von Gelehrten oft besucht und<br />
genutzt worden. Alle sind an einem<br />
Codex vorübergegangen, der ihnen,<br />
falls sie ihn näher zur Hand nahmen,<br />
nur bekannte kirchliche Stücke zu gewähren<br />
schien, jetzt aber, nach seinem<br />
ganzen Inhalt gewürdigt, ein Kleinod<br />
bilden wird, welchem die berühmtesten<br />
Bibliotheken nichts an die Seite<br />
zu setzen haben.“<br />
Das besagte Kleinod war nichts anderes<br />
als die berühmten „Merseburger<br />
Zaubersprüche“ – die einzigen erhaltenen<br />
Zeugen germanisch-heidnischer<br />
Religiosität in althochdeutscher Spra-<br />
che. Waitz fand sie in einer theologischen<br />
Sammelhandschrift aus dem<br />
9./10. Jahrhundert. Es ist eine Reihe<br />
von Zauber- und Segenssprüchen in<br />
althochdeutscher Sprache erhalten. Die<br />
Merseburger Sprüche sind jedoch die<br />
einzigen, in denen germanische Gottheiten<br />
erwähnt sind. Dies macht sie so<br />
wertvoll.<br />
Der Erste Merseburger Zauberspruch<br />
berichtet von den Idisen, geheimnisvollen<br />
Frauengestalten. Sie werden<br />
offenbar angerufen, um Gefangene zu<br />
Straße der<br />
deutschen Sprache<br />
<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>43</strong>_Frühjahr 2011<br />
befreien. Die Macht<br />
des Wortes soll die<br />
Fesseln lösen:<br />
Eiris sazun idisi, sazun<br />
heraduoder. / suma<br />
hapt heptidun, suma<br />
heri lezidun, / suma<br />
clubodun umbi cuonio<br />
uuidi. / Insprinc haptbandun,<br />
inuar uigandun!<br />
Einst saßen Idisen,<br />
setzten sich hierher und dorthin. / Einige<br />
hefteten Fesseln, einige lähmten<br />
die Heere, / einige zertrennten scharfe<br />
Fesseln. / Entspringe den Haftbanden,<br />
entfahre den Feinden!<br />
Der Zweite Merseburger Zauberspruch<br />
berichtet von den Göttern Wodan und<br />
Phol, die in den Wald gehen, um dem<br />
Fohlen des Gottes Balder den Huf einzurenken.<br />
Wodan gelingt die Heilung mit<br />
Hilfe einer Zauberformel, wohingegen<br />
zuvor vier Göttinnen gescheitert waren:<br />
Phol ende Uodan uuorun zi holza. / Du<br />
uuart demo Balderes uolon sin uuoz<br />
birenkict. / Thu biguol en Sinhtgunt,<br />
Sunna era suister, / thu biguol en Friia,<br />
Uolla era suister, / thu biguol en<br />
Uodan, so he uuola conda: / Sose benrenki,<br />
sose bluotrenki, / sose lidirenki:<br />
/ Ben zi bena, bluot zi bluoda, / lid zi<br />
geliden, sose gelimida sin!<br />
Phol und Wodan fuhren in den Wald.<br />
/ Da wurde dem Fohlen des Balder<br />
sein Fuß verrenkt. / Da besprach ihn<br />
Sinthgunt, und Sunna, ihre Schwester,<br />
/ da besprach ihn Frija, und Volla, ihre<br />
Schwester. / Da besprach ihn Wodan,<br />
da er es gut konnte: / Wie Knochen-<br />
97 Prozent sind für die Straße<br />
weil Sie ein enges Verhältnis zur deutschen<br />
Sprache haben. Daher freuen wir<br />
uns, wenn Sie uns Ihre Meinung sagen.<br />
An der Kleinen Leserbefragung zur<br />
„Straße der deutschen Sprache“ haben<br />
sich schon zahlreiche Leser beteiligt.<br />
Sie können weiterhin daran teilnehmen.<br />
Der Fragebogen ist in DSW 42 auf Seite<br />
10 abgedruckt. Jede Meinung, jede Anregung<br />
nehmen wir ernst.<br />
Das wichtigste Ergebnis dieser Befragung<br />
ist für uns Ihre eindrucksvolle<br />
Zustimmung zu unserem Vorhaben.<br />
97 Prozent der Antwortenden finden<br />
es gut und ermuntern uns, es weiter zu<br />
verfolgen (siehe Abbildung 1).<br />
Was halten Sie grundsätzlich von dem Vorhaben,<br />
eine „Straße der deutschen Sprache“ einzurichten?<br />
Darüber habe ich<br />
mir noch keine<br />
Meinung gebildet.<br />
2 %<br />
1 %<br />
Das finde ich<br />
schlecht.<br />
Hören Sie bitte<br />
damit auf!<br />
Das finde ich gut.<br />
Verfolgen Sie das<br />
bitte weiter!<br />
97 %<br />
Das Ständehaus Bild: Wolfgang Kubak<br />
Der Dom Bild: Wolfgang Kubak<br />
Ergebnisse unserer kleinen Leserbefragung<br />
Umstritten ist unter unseren Lesern jedoch,<br />
daß wir uns zunächst auf einen<br />
Kern in den mitteldeutschen Bundesländern<br />
Thüringen, Sachsen-Anhalt<br />
und Sachsen beschränken wollen. 22<br />
Prozent sprechen sich dagegen aus,<br />
21 Prozent sind unsicher und immerhin<br />
57 Prozent finden es gut (siehe<br />
Abbildung 2). Von diesen 57 Prozent<br />
erklärten jedoch auch viele, daß es<br />
wünschenswert sei, die Straße auf<br />
ganz Deutschland auszudehnen. Warum<br />
können wir das im Augenblick<br />
nicht tun? Zum einen wollen wir<br />
Schritt für Schritt vorgehen und unsere<br />
Kräfte nicht überdehnen. Zum<br />
anderen gibt es sprachgeschichtlich<br />
Was halten Sie von dem Plan, die „Straße der<br />
deutschen Sprache“ zunächst auf einen Kern<br />
in Mitteldeutschland zu beschränken?<br />
Darüber habe ich mir noch<br />
keine Meinung gebildet.<br />
21 %<br />
Das finde<br />
ich schlecht.<br />
22 %<br />
gute Gründe, gerade dort den Anfang<br />
zu machen.<br />
Tatsächlich liegen in Mitteldeutschland<br />
die Wurzeln des Hochdeutschen.<br />
Erstens hat die ostmitteldeutsche<br />
Mundart die Sächsische Kanzleisprache<br />
maßgeblich beeinflußt. Zweitens<br />
bildete das Meißner Kanzleideutsch<br />
die Voraussetzung für ein allgemeines<br />
Standarddeutsch, das den Dialekten<br />
übergeordnet ist. Drittens griff Martin<br />
Luther in seiner Bibelübersetzung von<br />
1522 darauf zurück und trug damit erheblich<br />
zur Normierung des Hochdeutschen<br />
bei. Viertens gibt es nirgendwo<br />
in Deutschland eine solche Dichte an<br />
Das finde ich gut.<br />
57 %<br />
Abbildung 1 Abbildung 2<br />
Abbildung 3<br />
renkung, so Blutrenkung, / so Gliedrenkung:<br />
/ Knochen zu Knochen, Blut<br />
zu Blut, / Glied zu Glied, auf daß sie<br />
geleimt seien!<br />
Ein Faksimile der kostbaren Handschrift<br />
ist heute im „Zauberspruchgewölbe“<br />
in der Südklausur des Merseburger<br />
Domes zu sehen. Doch dies ist<br />
nicht die einzige Sehenswürdigkeit.<br />
Auch heute noch gibt es viel in der<br />
Stadt an der Saale zu entdecken. Dom,<br />
Schloß und Schloßgarten und die wunderschöne<br />
historische Altstadt bieten<br />
reizvolle Besichtigungsorte. Das<br />
bewohnte Rabenhaus des Schlosses<br />
belegt, daß die Raben hier in hohem<br />
Ansehen stehen. Grund dafür ist die<br />
Rabensage. Der Legende nach ließ der<br />
im 15. Jahrhundert in Merseburg regierende<br />
Bischof Thilo von Trotha seinen<br />
treuen Diener hinrichten, weil er<br />
diesen verdächtigte, einen wertvollen<br />
Ring gestohlen zu haben. Später fand<br />
sich der Ring in einem Rabennest wieder.<br />
Zur Mahnung, daß man nicht im<br />
Jähzorn richten soll, habe Thilo einen<br />
Raben in Gefangenschaft genommen.<br />
Der Verein <strong>Deutsche</strong> Sprache (VDS)<br />
hält Merseburg für sprachgeschichtlich<br />
so bedeutend, daß er vom 3. bis 5. Juni<br />
dieses Jahres seine Delegiertenversammlung<br />
in der Stadt abhält. Ort der<br />
Zusammenkunft soll das Ständehaus<br />
sein. Das Ende des 19. Jahrhunderts<br />
gebaute Haus befindet sich gegenüber<br />
dem Schloßgarten. Von 1895 bis 1933<br />
tagte hier der Landtag der Preußischen<br />
Provinz Sachsen. Seit 2003 dient es<br />
als gut besuchte Kongreß- und Kulturstätte.<br />
Die Merseburger Zaubersprüche<br />
jedoch prägen die Stadt bis heute.<br />
So wirbt sie mit dem schönen Spruch<br />
„Merseburg bezaubert“. Lassen auch<br />
Sie sich bezaubern?<br />
www.merseburg.de<br />
www.merseburg-tourist-ev.de<br />
www.merseburg-staendehaus.de<br />
Bisher vorgestellte Städte: Schleiz<br />
(DSW 40) – Bad Lauchstädt (DSW 41)<br />
– Gräfenhainichen (DSW 42).<br />
Orten, die für die deutsche Sprache bedeutsam<br />
sind. (Abbildung 2)<br />
Allerdings nehmen wir den Wunsch<br />
nach Erweiterung ernst. Die derzeit<br />
angestrebte Lösung ist, Partner zu finden,<br />
mit denen wir zusammenarbeiten<br />
können. So gibt es seit Januar bereits<br />
erste Gespräche mit den Betreibern der<br />
„Märchenstraße“, die von Hessen bis<br />
Bremen führt.<br />
Die Städte, die wir für die Straße gewinnen<br />
wollen, dürfte ein weiteres<br />
Ergebnis unserer Befragung besonders<br />
beeindrucken. 51 Prozent können sich<br />
vorstellen, Orte auf der Strecke anzusteuern,<br />
21 Prozent bekennen sogar,<br />
bereits Orte besucht zu haben (siehe<br />
Abbildung 3). Nur acht Prozent schließen<br />
eine Reise aus. Wann machen Sie<br />
sich auf? (pau)<br />
Können Sie sich vorstellen, Ausflüge zu Zielen auf der<br />
„Straße der deutschen Sprache“ zu unternehmen?<br />
Darüber habe ich mir noch<br />
keine Meinung gebildet.<br />
20 %<br />
Nein, ich werde<br />
keine Ausflüge<br />
dorthin<br />
unternehmen.<br />
8 %<br />
Ja, ich habe sogar schon Orte<br />
auf der Strecke besucht!<br />
21 %<br />
51 %<br />
Ja, ich habe mir<br />
vorgenommen,Orte auf<br />
der Strecke zu besuchen
<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>43</strong>_Frühjahr 2011 Sprachraum<br />
Seite 5<br />
Von Horst Meyer<br />
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Name, Vorname<br />
Straße<br />
Die Sprache der Jebornen und Jewordnen<br />
Icke, dette, kieke mal, Oogen, Fleesch<br />
und Beene.<br />
Die Berliner Straßenbahn fährt von<br />
janz allene.<br />
Um es gleich zu sagen: die Berliner<br />
Sprache heißt „Berlinisch“, und nicht,<br />
wie oftmals zu lesen ist, „Berlinerisch“.<br />
Darauf haben sich die Sprachforscher,<br />
die Etymologen, schon vor<br />
Jahrzehnten geeinigt. Es heißt ja auch<br />
nicht „Hamburgerisch“, sondern<br />
„Hamburgisch“, nicht „Bayrerisch“,<br />
sondern „Bairisch“, nicht „Kölnerisch“,<br />
sondern einfach „Kölsch“.<br />
Also Berlinisch: Wer spricht eigentlich<br />
noch Berlinisch? Wer berlinert<br />
denn noch? Und weshalb „noch“?<br />
Manche meinen nämlich, Berlinisch<br />
sei am Aussterben. Ist es aber nicht.<br />
Der richtige Berliner „berlinert“ nun<br />
einmal. Von ihnen gibt es drei Sorten:<br />
die „Jebornen“, die „Jewordnen“<br />
und die „Anjelernten“.<br />
Die Jebornen sind – gerechnet auf<br />
die Einwohnerzahl – in der Minderheit.<br />
Berlin war und ist ein ungeheurer<br />
Schmelztiegel. Die Anjelernten<br />
sind die „janz Frischen“, die erst seit<br />
einigen Jahren in Berlin leben. Die<br />
meisten sind jewordene Berliner, soll<br />
heißen, sie leben seit längerer Zeit in<br />
der Stadt. Sie fühlen sich inzwischen<br />
als Berliner. Auf die Frage „Woher<br />
kommen Sie?“ werden sie ohne zu<br />
zögern antworten: „Aus Berlin“.<br />
Det richtich scheene Berlinisch sprechen<br />
die Jebornen und meist auch die<br />
Jewordnen, wenn sie sich denn trauen.<br />
Denn noch immer wird – als Berliner<br />
muß ich sagen: leider – Kindern gesagt:<br />
„Berliner nicht so, sprich hochdeutsch!“<br />
Berlinisch wird nämlich<br />
häufig, vorwiegend in bürgerlichen<br />
Kreisen, als Jargon abgetan. Dabei ist<br />
es in Wahrheit ein Dialekt, und zwar<br />
ein ziemlich weit verbreiteter. Berlinisch<br />
wird keineswegs nur im Berliner<br />
Stadtgebiet gesprochen. Berlinisch ist<br />
als Dialekt verbreitet vom Oderbruch<br />
bis Brandenburg an der Havel, vom<br />
Fläming bis in die Uckermark, wobei<br />
die Grenzen fließend sind, das heißt<br />
nicht exakt abgegrenzt.<br />
Stärkere Aufmerksamkeit erfuhr<br />
das Berlinische durch Funk und<br />
Fernsehen, unter anderem durch<br />
die Popularität des ab 1948 vom<br />
RIAS ausgestrahlten Funkkabaretts<br />
„Die Insulaner“ („Der Mensch liebt<br />
keen Jetue nich“) oder auch Alfred<br />
Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“<br />
und dessen Verfilmungen<br />
(1931 und 1979/80).<br />
Nach meiner Beobachtung wird Berlinisch<br />
heute noch am meisten unter<br />
Handwerkern und Arbeitern, Müllwerkern<br />
und Busfahrern benutzt.<br />
Aber es kann einem auch passieren,<br />
daß er einem Professor begegnet,<br />
der richtig berlinert. Oder er trifft in<br />
Amtsstuben auf jemanden, der seine<br />
Herkunft deutlich auf der Zunge<br />
trägt. Dabei läßt sich beim Hören in<br />
der Regel nicht unterscheiden, ob<br />
derjenige nun jeborner oder jewordner<br />
Berliner ist.<br />
Sitzen zwei junge Farbige in der<br />
Bahn. Sie berlinern, daß es ein Ohrenschmaus<br />
ist. Auf die Frage, woher<br />
kommt ihr, antworten sie: Na,<br />
aus Berlin. – Aber eure Familie doch<br />
sicher nicht? – Doch, doch, unsere<br />
Familie auch. – Ja, wie? – Drei Generationen.<br />
– Ach so. Und wie geht das?<br />
– Oma hat eine Nähstube. Papa fährt<br />
Bus. Mama arbeitet im Hotel. Am<br />
Tresen. – An der Bar? – Nein, an der<br />
Rezeption. – Und ihr? – Wir machen<br />
gerade Fachabitur. – Woher könnt ihr<br />
so gut berlinern? – Haben wir eben<br />
so jelernt. Wir hören det doch jeden<br />
Tach. Aber für’t Abitur müssen wir<br />
natürlich richtich Deutsch schreiben.<br />
Das Berlinische hat also Nachwuchs<br />
auch unter Einwanderern. Wie konnte<br />
sich das Berlinische so lange behaupten,<br />
daß es in diesem Fall sogar<br />
unter Einwanderern in der dritten Generation<br />
gesprochen wird? Es ist eine<br />
schier unverwüstliche Mundart, und<br />
das hat viele Gründe. Vor der Wende<br />
wurde es im Osten Berlins und im<br />
Berliner Umland stärker angewendet<br />
als im Westteil der Stadt. In bürgerlichen<br />
Kreisen war es, wie gesagt, eher<br />
verpönt zu berlinern. Im Osten und<br />
im Umland war es eine meist unbewußte<br />
Abgrenzung gegen das in der<br />
regelmäßiger Bezug<br />
Bitte senden Sie mir regelmäßig kostenlos und unverbindlich<br />
die DEUTSCHE SPRACHWELT. Bei<br />
Gefallen werde ich sie mit einer Spende unterstützen.<br />
Ich verpflichte mich aber zu nichts.<br />
Mehrfachbezug<br />
Ich besitze eine Arztpraxis oder habe eine andere<br />
Gelegenheit, die DSW auszulegen. Bitte schicken<br />
Sie mir von jeder neuen Ausgabe ______ Stück.<br />
Nachbestellung<br />
Bitte liefern Sie mir kostenlos:<br />
______ DSW-Ausgabe(n) Nr.______<br />
______ DSW-Ausgabe(n) Nr.______<br />
Geburtsdatum<br />
Postleitzahl und Ort<br />
Berlinisch – in stetem Wandel<br />
Politik dominierende Sächsisch. Im<br />
täglichen Gebrauch ist das Berlinische<br />
gut für kurze Witze oder sinnige<br />
Sprüche wie etwa „Lieber’n bißken<br />
mehr, aber dafür wat Jutet!“ oder<br />
„Besser jut jelebt und det noch recht<br />
lange“. Oder ein anderes Beispiel:<br />
Ick sitz am Tisch und esse Klops.<br />
/ Uff eenmal kloppt’s. / Ick staune,<br />
kieke, wundre mir, / uff eenmal<br />
jeht’se uff, die Tür. / Nanu, denk ick,<br />
ick denk nanu, / jetzt steht se uff, erst<br />
war se zu. / Ick jeh nu raus und kieke.<br />
/ Und wer steht draußen? – Icke.<br />
Die Berliner Mundart ist immer wieder<br />
wissenschaftlich erforscht worden. Als<br />
die berlinische Sprachpäpstin gilt heute<br />
noch Agathe Lasch, die 1928 ihr Buch<br />
„Berlinisch. Eine Berliner Sprachgeschichte“<br />
herausbrachte. 1980 folgte<br />
Edda Prochownik mit „Berlinisch<br />
– eine Sprache mit Humor“. Streng<br />
wissenschaftlich war 1981 das „Brandenburg-Berlinische<br />
Wörterbuch“ der<br />
Akademie der Wissenschaften. Populär<br />
mit zahlreichen Auflagen war Wilhelm<br />
Frankes kleines Buch „So red’t<br />
der Berliner“ (14. Auflage 1990).<br />
Nach langjähriger Erforschung des<br />
Berlinischen hat Peter Schlobinski<br />
1984 eine praxistaugliche Anleitung<br />
vorgelegt: „Berlinisch für Berliner<br />
und alle, die es werden wollen“. Das<br />
nehmen besonders Zugereiste gern<br />
zur Hand, um zu studieren, wie diese<br />
Sprache zustande kommt und wie<br />
und wo man sie richtig anwendet.<br />
Schlobinski war in den 1980er Jahren<br />
Wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />
am Forschungsprojekt „Stadtsprache<br />
Berlin“ im Fachbereich Germanistik<br />
der Freien Universität Berlin. Er ist<br />
heute Professor für germanistische<br />
Linguistik an der Leibniz-Universität<br />
Hannover. Besonders seit seiner<br />
Veröffentlichung gilt das Berlinische<br />
als ernsthafter Dialekt und steht nicht<br />
mehr im Geruch eines Jargons.<br />
Alle diese Wissenschaftler haben<br />
sich auf die Sprachbezeichnung<br />
„Berlinisch“ geeinigt. Es gibt außer<br />
dem erwähnten Brandenburg-Berlinischen<br />
Wörterbuch mehrere Berliner<br />
Wörterbücher, deren Autoren den<br />
______ Faltblätter „Rettet die deutsche Sprache!“<br />
______ Aufkleber „Schluß mit dem Ausverkauf<br />
der deutschen Sprache!“ (9,5 x 14,5 cm; farbig;<br />
witterungsbeständig)<br />
______ NEU! Aufkleber „Freie Fahrt für die<br />
deutsche Sprache“ (5,2 x 7,4 cm; farbig; witterungsbeständig)<br />
stets vergeblichen Versuch gemacht<br />
haben, den Berliner Wortschatz vollständig<br />
darzustellen. Das Berlinische<br />
ist viel zu lebendig, als daß es<br />
sich gänzlich einfangen ließe. Es ist<br />
zudem in einem ständigen Wandel:<br />
Wörter werden ungebräuchlich, neue<br />
kommen fortwährend hinzu. Rund<br />
4.000 Stichwörter hat Schlobinski<br />
in seinem „Berliner Wörterbuch“<br />
(1993) zusammengetragen. Der Tagesspiegel<br />
hat 2005 den „Kleinen<br />
Duden“ mit einem Sonderteil „Berlin-Berlin“<br />
„für alle Berliner und solche,<br />
die es werden wollen“ mit 2.000<br />
Wörtern und Redewendungen herausgebracht,<br />
zusammengestellt von<br />
der Redakteurin Brigitte Grunert.<br />
Die Wortfolge ist jeweils in Hochdeutsch<br />
– oder wie der Schweizer sagen<br />
würde: in Schriftdeutsch – nach<br />
dem Alphabet sortiert, und dann folgt<br />
die lautmalende Interpretation in der<br />
berlinischen Aussprache. Gerade<br />
damit hatten alle Anwender des Berlinischen<br />
ihre Probleme: wie stellt<br />
man das gesprochene Berlinisch<br />
phonetisch richtig dar?<br />
Ein Beispiel: „Saren Se mal ...“. Gemeint<br />
ist: „Sagen Sie mal ...“ Wenn<br />
diese Schreibweise nun ein Bayer<br />
vorlesen soll, kommt ein rollendes<br />
R heraus. Im Berlinischen ist es aber<br />
eine Mischung aus R und G, für die<br />
die phonetische Darstellung erst<br />
noch erfunden werden müßte. Die<br />
Lektorate in den Verlagen tun sich<br />
deshalb schwer, den Berliner Dialekt<br />
so zu schreiben, daß er auch von einem<br />
Nichtberliner vorgetragen werden<br />
könnte – eine Schwierigkeit, die<br />
allerdings wohl in allen deutschen<br />
Dialekten besteht, wenn sie geschrieben<br />
werden sollen.<br />
In den 1980er Jahren sind besonders<br />
viele Bücher „in Berlinisch“ erschienen.<br />
Bemerkenswerterweise oft in<br />
Zusammenarbeit von Verlagen in<br />
West- und Ostberlin. Seit der Wende<br />
hat das Angebot an sogenannter<br />
Berlin-Literatur, die außer der berlinischen<br />
Sprache Geschichte, Kultur,<br />
Geographie, Biographien, Bildbände<br />
und so weiter umfaßt, stark zuge-<br />
Bitte senden Sie die DEUTSCHE SPRACHWELT auch an:<br />
Bitte deutlich schreiben!<br />
1<br />
Name, Vorname<br />
Straße, Postleitzahl und Ort<br />
2<br />
Name, Vorname<br />
Straße, Postleitzahl und Ort<br />
3<br />
Name, Vorname<br />
Straße, Postleitzahl und Ort<br />
4<br />
Name, Vorname<br />
Straße, Postleitzahl und Ort<br />
5<br />
Name, Vorname<br />
Straße, Postleitzahl und Ort<br />
6<br />
Name, Vorname<br />
Straße, Postleitzahl und Ort<br />
nommen. Fachleute schätzen, daß es<br />
etwa 4.000 lieferbare (!) Titel gibt,<br />
die unter dem Begriff Berlin-Literatur<br />
zusammengefaßt werden. Berlin<br />
hat damit als Stadt das umfangreichste<br />
Literaturangebot im deutschen<br />
Sprachgebiet.<br />
Verwechselt der Berliner nicht ständig<br />
mir und mich? Nee, der Berliner sagt<br />
immer mir, ooch wenn’t richtig is.<br />
Inzwischen ist eine Erweiterung des<br />
Berlinischen in eine ganz neue Richtung<br />
im Gange. Norbert Dittmar, ehemals<br />
Professor für Soziolinguistik an<br />
der Freien Universität Berlin, nennt<br />
das unter türkischen Einwanderern<br />
gesprochene Berlinisch „Berlintürkisch“.<br />
Beispiele: „Morgen üsch geh<br />
Schwimmbad“ oder „Üsch mach<br />
düsch Messer“ (klingt schlimmer als<br />
es gemeint ist). Ob und wie dieses<br />
„Kiezdeutsch“ das Berlinische auf<br />
Dauer verändern wird, läßt sich noch<br />
nicht einschätzen. Einen Einfluß wird<br />
es sicher ausüben, denken wir doch<br />
nur an die Auswirkungen des Hugenottischen<br />
(Bulette, Fisimatenten,<br />
Kleedage, aus der Lamäng) oder des<br />
Jiddischen (Tacheles, Schlamassel,<br />
Mischpoke). So wie Berlin stets ein<br />
Schmelztiegel der Menschen war, so<br />
ist auch das Berlinische letztlich eine<br />
sehr lebendige Mischsprache.<br />
Und der berühmte Berliner Witz? Na<br />
jut, kenn’se den? – „Orje, siehste wie<br />
der Storch da uff een Been steht?“ –<br />
„Muß er ja. Wenn er det andre ooch<br />
noch hebt, fliecht er uff de Fresse!“<br />
„Sach ma, wie alt biste eijentlich?“<br />
– „Achte. Aber wenn Vattern nich so<br />
schüchtern jewesen wär’, wär’ ick<br />
jetzt schon neune.“<br />
Manne kommt vom Zahnarzt. „Na,<br />
tut der Zahn noch weh?“ – „Weeß ick<br />
nich, er hat’n dabehalten.“<br />
Horst Meyer, Verleger im Ruhestand<br />
und „jewordner Berliner“, hat zahlreiche<br />
Bücher zur Berlinliteratur und<br />
zur Berliner Sprache verlegt.
Seite 6 Sprachraum<br />
Von Lienhard Hinz<br />
N<br />
iederdeutsch als Regionalsprache<br />
steht neben den Minderheitensprachen<br />
Dänisch, Friesisch,<br />
Romanes und Sorbisch seit 1999<br />
unter dem Schutz der Europäischen<br />
Sprachencharta. Wie die darin verankerten<br />
staatlichen Verpflichtungen<br />
umgesetzt werden, erörterte am 10.<br />
November 2010 der Bundesraat för<br />
Nedderdüütsch in der Berliner Landesvertretung<br />
Schleswig-Holsteins.<br />
In schonungsloser Offenheit wurden<br />
unerfreuliche Ergebnisse benannt.<br />
Zuversicht strahlten jedoch die Beiträge<br />
der Forscher, Lehrer, Journalisten<br />
und Künstler zur Sprachpflege<br />
aus. Die jungen Musiker der Tüdelband<br />
aus Hamburg gaben Kostproben<br />
plattdeutscher Rockmusik und<br />
berichteten vom großen Altersquerschnitt<br />
ihrer Anhänger.<br />
Stefan Oeter, Vorsitzender der Expertenkommission<br />
des Europarats zur<br />
← Bestellschein umseitig!<br />
Unsere Arbeit ist abhängig von Ihrer Spende!<br />
Bundesrepublik Deutschland<br />
Stadt- und Kreissparkasse Erlangen<br />
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Sprachverderbern eine!<br />
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Freie-Fahrt-Aufkleber<br />
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Bekennen Sie Farbe und bestellen<br />
Sie diese kostenlosen Aufkleber!<br />
Nedderdüütsch un de Tüdelband<br />
Berliner Kongreß zu Regional- und Minderheitensprachen<br />
Verein für Sprachpflege e.V.<br />
Sprachencharta, sieht keinen Grund<br />
für Deutschland, „sich sprachpolitisch<br />
zurückzulehnen“. Es gibt kein<br />
Minderheitssprachengesetz. Neben<br />
der schwierigen Lage der Sorben<br />
in der Niederlausitz und der dramatischen<br />
Situation der Saterfriesen<br />
könne das historisch gewachsene<br />
Dänisch in Südschleswig nicht als<br />
Luxusmodell angesehen werden.<br />
„Das Beispielmodell wird ins Trudeln<br />
gebracht, weil dem Dänischen<br />
Schulverein die deutschen Fördermittel<br />
gekürzt werden.“ Unter dem<br />
Sparzwang leide auch Sorbisch, indem<br />
beispielsweise die Lehrerausbildung<br />
in Brandenburg weggefallen<br />
ist. Mangel an Lehrern gebe es auch<br />
in Nordfriesland. Modellhaft erscheint<br />
dagegen die niederdeutsche<br />
Spracherhaltung in Hamburg. Die<br />
Hansestadt ist Vorreiter im regionalsprachlichen<br />
Unterricht und der Lehrerausbildung.<br />
Am 21. Februar 2011, dem Welttag der Muttersprache, meldete die Nachrichtenagentur dpa:<br />
Sprachwahrer: weniger Englisch, mehr Latein<br />
rlangen (dpa) – Steht zu viel Englisch auf dem Stundenplan deutscher Schüler? Sprachwahrer<br />
jedenfalls finden den Fremdsprachenunterricht zu einseitig. „Der stiere Blick auf die englische<br />
Sprache führt dazu, daß andere Sprachen und Kulturen in den Hintergrund des Bewußtseins<br />
geraten“, sagte der Chefredakteur der Erlanger Zeitschrift „<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>“, Thomas Paulwitz,<br />
am Montag zum Welttag der Muttersprache. Die weitverbreitete Auffassung, wer Englisch<br />
könne, brauche keine weitere Fremdsprache mehr zu lernen, sei „irrig, engstirnig und verhängnisvoll“.<br />
Wer kulturelle Vielfalt bewahren wolle, müsse sich auch der sprachlichen Vielfalt öffnen<br />
und mindestens zwei Fremdsprachen lernen. Um für Fremdsprachen gerüstet zu sein, sei Latein<br />
als Schulfach sowieso viel besser geeignet als Englisch. Für komplett überflüssig halten Paulwitz<br />
und seine Mitstreiter Englischunterricht bereits in der Grundschule oder gar im Kindergarten.<br />
Das Deutschlandradio berichtete ebenfalls am 21. Februar:<br />
„<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>“ fordert Einschränkung<br />
des Englisch-Unterrichts<br />
nglischunterricht von der Grundschule bis zum Abitur? Die Macher der Zeitschrift „<strong>Deutsche</strong><br />
<strong>Sprachwelt</strong>“ halten das für reine Zeitverschwendung. Lieber solle Latein gelehrt werden, am<br />
besten als erste Fremdsprache. So könnten romanische Sprachen leichter erlernt werden. Es sei<br />
engstirnig, Englisch als einzig nötige Fremdsprache anzusehen, ein „Schmalspurenglisch“ reiche<br />
für den internationalen Austausch völlig aus. Lieber sollten andere Sprachen zusätzlich erlernt<br />
und somit die Sprachenvielfalt gepflegt werden. Die Zeitschrift wird vom Verein für Sprachpflege<br />
herausgegeben. Er setzt sich unter anderem gegen Anglizismen im <strong>Deutsche</strong>n und die Rechtschreibreform<br />
ein.<br />
Julia Schollbach kommentierte am 22. Februar 2011 im Schwäbischen Tagblatt:<br />
Hier ruht die Sprachvielfalt<br />
lle zwei Wochen ein Sterbefall: Von den rund 6000 Sprachen auf der Welt ist die Hälfte<br />
bedroht. Auch Bairisch gehört dazu. Es gleicht ein wenig einer Kampfansage, was die Zeitschrift<br />
„<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>“ anläßlich des gestrigen Welttages der Muttersprache gefordert hat:<br />
K<br />
Republik Österreich<br />
Volksbank Salzburg<br />
Bankleitzahl 45010<br />
Kontonummer 000 150 623<br />
Faltblatt<br />
lären Sie Ihre Mitmenschen<br />
auf! Unser Faltblatt „Rettet<br />
die deutsche Sprache!“ findet weiterhin<br />
reißenden Absatz. Gemeinsam<br />
mit Ihnen, liebe Leser, haben<br />
wir Tausende Faltblätter bereits<br />
gezielt verteilt. Bestellen und verbreiten<br />
auch Sie das Faltblatt und<br />
klären Sie über die Sprachpflege<br />
und die DEUTSCHE SPRACH-<br />
WELT auf!<br />
Die wissenschaftliche Grundlage<br />
erläuterte Ingrid Schröder von der<br />
Universität Hamburg. Sie verwies auf<br />
drei Jahrzehnte Forschung an der niederdeutschen<br />
Sprache von Flensburg<br />
bis Göttingen und Münster bis Greifswald.<br />
In diesem Sprachgebiet hat sich<br />
die Zahl der Platt-Sprecher innerhalb<br />
einer Generation nahezu halbiert. Fast<br />
die Hälfte der Norddeutschen gab in<br />
einer Umfrage an, Niederdeutsch in<br />
Radio und Fernsehen zu hören. Deshalb<br />
entwickelt die Rundfunkjournalistin<br />
Christianne Nölting in Zusammenarbeit<br />
mit Professorin Schröder<br />
Sprachlernmaterialien, die sie in<br />
Buchform und mit dem Netzauftritt<br />
www.plattolio.de vorstellte.<br />
Über Plautdietsch als Form des Ostniederdeutschen<br />
sprach der Germanist<br />
Heinrich Siemens. Die Erhaltung<br />
dieser Sprache erfordert einen<br />
gesteuerten Spracherwerb. Eine Un-<br />
Die DSW in der Presse<br />
Lieferbare Ausgaben<br />
<strong>43</strong><br />
42<br />
Frühling 2011<br />
Winter 2010/11<br />
Unter anderem: Thomas Paulwitz: Englisch<br />
darf in Deutschland nicht zur Gerichtssprache<br />
werden / Leserdiskussion (2):<br />
E-Mail oder E-Post? / Helmut Delbanco:<br />
Paul Gerhardt – der größte deutsche<br />
Sprachmeister nach Martin Luther / Straße<br />
der deutschen Sprache: Gräfenhainichen /<br />
Andreas Raffeiner: Südtirol spricht immer<br />
noch Deutsch (2) / Johannes Heinrichs:<br />
Das wichtigste nationale Kulturprojekt: die<br />
Sprache (Sprachpolitische Thesen, Teil1)<br />
/ Ursula Bomba: Hildebrandts zweiter<br />
Glossen-Band „Mal ganz ehrlich“ / Robert<br />
Mokry: Der Löwenzahn und sein Traum<br />
(Ausgewählter Beitrag aus dem Schülerwettbewerb<br />
„Schöne deutsche Sprache“<br />
2010) / Sprachsünder-Ecke: ZDF / Lienhard<br />
Hinz: Schlagabtausch zwischen GfdS<br />
und VDS in Berlin / Gespräch mit Werner<br />
Kieser: „Die Sprache eines Unternehmens<br />
ist ein Qualitätsmerkmal“ / Lienhard Hinz:<br />
Bericht aus Berlin / Günter Körner: Flüssig<br />
oder fließend? – Sprachkritik aus naturwissenschaftlicher<br />
Sicht (5) / Wolfgang<br />
Hildebrandt: Staatssprache Deutsch: Wohin<br />
geht die Reise? (Anglizismenmuffel)<br />
Herbst 2010<br />
41<br />
Unter anderem: Thomas Paulwitz: Operation<br />
Rechtschreibung: streng geheim! Im<br />
Jahr 2011 wird die Reform wieder einmal<br />
reformiert / Leserdiskussion: E-Mail oder<br />
E-Post? / Peter Müller, Ministerpräsident<br />
des Saarlandes: Deshalb sollte Deutsch ins<br />
Grundgesetz / Straße der deutschen Sprache:<br />
Bad Lauchstädt / Andreas Raffeiner:<br />
Südtirol spricht immer noch Deutsch (1) /<br />
Hans Joachim Meyer: Kleid oder Haut?<br />
terrichtstradition gibt es noch nicht.<br />
Die mennonitischen Plautdietschen<br />
stammen aus Westpreußen und bilden<br />
heute eine globale Streuminderheit<br />
wie Sinti und Roma. Anita Awosusi<br />
vom Dokumentations- und Kulturzentrum<br />
<strong>Deutsche</strong>r Sinti und Roma<br />
hofft, daß das deutsche Romanes<br />
bald eine multidialektale Verschriftlichung<br />
erfährt. Den Wohlklang ihrer<br />
Sprache brachte ihre Tochter, die<br />
Sängerin Tayo, zu Gehör.<br />
Koloman Brenner aus Budapest sprach<br />
über Deutsch als Minderheitensprache<br />
in Ungarn. Seit dem Minderheitengesetz<br />
von 1993 gibt es in Ungarn<br />
für die deutsche Sprache Schulzentren<br />
in eigener Trägerschaft, wie zum<br />
Beispiel in Fünfkirchen. Heinz Grasmück<br />
von der Hamburger Schulbehörde<br />
stellte den Niederdeutschunterricht<br />
entsprechend der Sprachencharta mit<br />
dem auf www.hamburg.de veröffent-<br />
Was ist uns unsere deutsche Sprache?<br />
(Rede zur deutschen Sprache) / Walter<br />
Krämer: „Die englische Verdrengung“<br />
/ Ernst Jordan: Time to make Tennis /<br />
Thomas Paulwitz: Wie schreibt man eine<br />
Anti-Sprachschutz-Glosse? / Goethes später<br />
Gegenspieler / Jürgen Langhans: Ein<br />
Hilfsprogramm wandelt Neuschrieb in herkömmliche<br />
Rechtschreibung um / Sprachsünder-Ecke:<br />
REWE-Baumarkt „toom“<br />
/ Lienhard Hinz: Köthener Sprachtag<br />
über zweisprachige Erziehung / Andreas<br />
Raffeiner: Bericht aus Bozen / Lienhard<br />
Hinz: Bericht aus Berlin / Sprachschützer<br />
trifft Kulturredakteur / Günter Körner:<br />
Was bedeutet Wertigkeit? – Sprachkritik aus<br />
naturwissenschaftlicher Sicht (4) / Dagmar<br />
Schmauks: Noch mehr Quantensprünge /<br />
Klemens Weilandt: Binde-Strichitis / Wolfgang<br />
Hildebrandt: Deutschland schafft<br />
seine Sprache ab (Anglizismenmuffel)<br />
Sommer 2010<br />
40<br />
Unter anderem: Thomas Paulwitz: Zehn<br />
Jahre Spracharbeit – Die DEUTSCHE<br />
SPRACHWELT hat Geburtstag / Kräfte<br />
bündeln für die Muttersprache / Grußworte<br />
und Geburtstagswünsche der Sprachvereine<br />
/ Straße der deutschen Sprache: Schleiz<br />
/ Lienhard Hinz im Gespräch mit Winder<br />
McConell: Deutsch als Fremdsprache in<br />
den Vereinigten Staaten / Artur Stopyra:<br />
Deutschschüler aus Warschau reisen<br />
und werben für die deutsche Sprache /<br />
Lienhard Hinz: Die <strong>Deutsche</strong> Welle veröffentlicht<br />
Stellungnahmen zur deutschen<br />
Sprache / Richard Albrecht: Sprachbetrachtungen<br />
im Lichte der Gedanken Ernst<br />
Blochs / Steinfelds Standpauke in der „Süddeutschen“<br />
bringt den Sprachschützern Zulauf<br />
/ Sprachsünder-Ecke: Schweizerische<br />
Bundeskanzlei als Sprachpolizei / Diethold<br />
Tietz: 100. Geburtstag Konrad Zuses /<br />
<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>43</strong>_Frühjahr 2011<br />
lichten Rahmenplan vor. Der Erwerb<br />
der Regionalsprache Niederdeutsch,<br />
so Grasmück, sei für die Kinder eine<br />
Brücke zu den Fremdsprachen Niederländisch<br />
und Englisch. Eine Bereicherung<br />
für den Unterricht seien<br />
die Schulpaten: Großeltern, die Niederdeutschstunden<br />
in der Schule mitgestalten.<br />
Das ist eine Antwort auf die Frage<br />
des Bundesraatssprechers Reinhard<br />
Goltz: „Was tun?“ Andere wirkungsvolle<br />
Antworten gaben die praktischen<br />
Programmbeiträge: der virtuelle<br />
Stadtrundgang auf Platt von<br />
Thorsten Börnsen, die Aufführung<br />
sorbischer Trachten und Tänze mit<br />
multimedialen Effekten und die szenische<br />
Lesung von Theodor Storms<br />
Novelle „De Schimmelrieder“. „De<br />
Tüdelband“ begleitete das abendliche<br />
Buffet der gastfreundlichen<br />
Schleswig-Holsteiner.<br />
Weniger Englisch in der Schule, dafür mehr Sprachenvielfalt, gerne auch Latein. Denn, so die<br />
Meinung des Chefredakteurs Thomas Paulwitz: Der stiere Blick auf das Englische zerstöre andere<br />
Sprachen. Und überhaupt: Für den internationalen Austausch sei ein „Schmalspurenglisch“ völlig<br />
ausreichend. Allein ist er mit seiner These nicht: Auch die Unesco läßt alljährlich neue Schreckensmeldungen<br />
verlauten. Von den mehr als 6.000 Sprachen weltweit ist die Hälfte vom Aussterben<br />
bedroht. Alle zwei Wochen stirbt eine Sprache ganz. Nicht nur Sprachen auf fernen Inselstaaten<br />
wie Papua-Neuguinea (850 Sprachen bei 3,6 Millionen Einwohnern) stehen auf der roten Liste der<br />
Unesco. Auch die deutsche Sprachvielfalt ist gefährdet. Vielleicht wird in ferner Zukunft weder<br />
Sorbisch noch Moselfränkisch oder Bairisch zu hören sein. Statt dessen gewinnen das Chinesische,<br />
das Spanische und das Englische die Oberhand. Schon jetzt sprechen Schätzungen zufolge mehr<br />
als eine Milliarde Menschen Englisch zumindest als Zweitsprache, rund 330 Millionen als Muttersprache.<br />
Das, so beschreiben es die Redakteure der „<strong>Deutsche</strong>n <strong>Sprachwelt</strong>“, hat auch direkte<br />
Auswirkungen auf das <strong>Deutsche</strong>: Neue Gesetze in Tschechien und in der Slowakei beispielsweise<br />
schreiben nun Englisch als erste Fremdsprache ab der Grundschule vor – zum Nachteil der deutschen<br />
Sprache, die in beiden Ländern als Fremd- und Muttersprache eine lange Tradition hat. ….<br />
Melanie Steck schrieb auf der Titelseite der Augsburger Allgemeinen vom 22. Februar 2011:<br />
Mehr Latein!<br />
remdsprachenunterricht steht schon auf dem Stundenplan der Kleinsten. Bereits im Kindergarten<br />
und in der Grundschule lernen Kinder heute Englisch. Anläßlich des gestrigen Welttags<br />
der Muttersprache fordert die Sprachzeitung „<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>“, den Englischunterricht<br />
zugunsten anderer Sprachen einzuschränken. „Der stiere Blick auf die englische Sprache führt<br />
dazu, daß andere Sprachen und Kulturen in den Hintergrund geraten“, sagte der Chefredakteur<br />
der Erlanger Sprachzeitung, Thomas Paulwitz. Wer kulturelle Vielfalt wahren wolle, müsse sich<br />
auch der sprachlichen Vielfalt öffnen und mindestens zwei Fremdsprachen lernen, so Paulwitz<br />
weiter. Wer sich eine neue Sprache aneigne, lasse sich damit automatisch auf eine neue Kultur<br />
ein, weiß Professor Werner König vom Lehrstuhl für Sprachwissenschaft an der Uni Augsburg.<br />
Schon in der Grammatik sei die Mentalität verwurzelt. Während wir <strong>Deutsche</strong>n Ortsangaben wie<br />
vorne oder hinten benutzen, gebe es dafür bei einigen Völkern Australiens etwa Himmelsrichtungen<br />
wie Norden und Süden. Als Grundlage für das Erlernen von Fremdsprachen sei Latein besser<br />
geeignet als Englisch, so Paulwitz. Latein sei nicht nur Türöffner für romanische Sprachen,<br />
sondern auch für das Englische, das zum Teil romanisch geprägt sei. Lateinkenntnisse förderten<br />
zudem das Verständnis der Grammatik und nützten der eigenen Sprache. …<br />
Rolf Zick: Sprachschützer trifft Kulturredakteur<br />
/ Günter Körner: Vom Quantensprung<br />
zum Tantensprung – Sprachkritik<br />
aus naturwissenschaftlicher Sicht<br />
(3) / Eine BILD-Ausgabe ohne Englisch /<br />
Wolfgang Hildebrandt: Udo Lindenberg<br />
erhält den Kulturpreis <strong>Deutsche</strong> Sprache /<br />
Wolfgang Hildebrandt: Zum Geburtstag<br />
kein Congratulation (Anglizismenmuffel)<br />
Frühling 2010<br />
39<br />
Unter anderem: Thomas Paulwitz: Wird<br />
Deutsch zur Affensprache? / Esperanto<br />
hat Nachteile / Peter Ramsauer: Meine<br />
„Deutsch-Initiative“ / Thomas Paulwitz:<br />
Das Ende des Service-Points / Thomas<br />
Paulwitz: Geht auf die Straße der deutschen<br />
Sprache / Gefunden: mehr als 1.000<br />
Gründe für die deutsche Sprache / Luc<br />
Degla: Sprache schafft Gemeinsamkeit /<br />
Ralph Mocikat: Wie das Vordringen der<br />
Unterrichtssprache Englisch der Landessprache<br />
schadet / Diethold Tietz: Besuch<br />
beim Sprachkünstler Peter Schönhoff /<br />
Werbesprüche für die deutsche Sprache /<br />
Sprachwahrer 2009: Guttenberg, Wickert,<br />
van Gaal gewinnen / Sprachsünder-Ecke:<br />
Justizminister Hamburgs und Nordrhein-<br />
Westfalens / Lienhard Hinz: „Deutsch –<br />
Sprache der Ideen“ / Rolf Zick: Paul-Josef<br />
Raue ist Ehrenmitglied der ADS / Wettbewerb:<br />
<strong>Deutsche</strong> Marken- und Produktnamen<br />
/ Wieland Kurzka: Deutsch – ein<br />
„No go“? / Günter Körner: Der kleinste<br />
gemeinsame Nenner – Sprachkritik aus naturwissenschaftlicher<br />
Sicht (2) / Wolfgang<br />
Hildebrandt: Wein predigen, Wasser trinken<br />
(Anglizismenmuffel)<br />
Lieferbar sind auch noch alle früheren Ausgaben. Die Inhaltsverzeichnisse<br />
sämtlicher Ausgaben finden Sie unter<br />
www.deutsche-sprachwelt.de/archiv/papier/index.shtml
<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>43</strong>_Frühjahr 2011 Hintergrund<br />
Seite 7<br />
Das wichtigste nationale Kulturprojekt: die Sprache<br />
Sprachpolitische Thesen von<br />
Prof. Dr. Johannes Heinrichs<br />
19. Es gibt eine systembedingte<br />
Fremdheit der Politiker gegenüber<br />
Kulturfragen<br />
Wenn man also begreift, daß es sich<br />
bei der Sprachenfrage um eine kulturpolitische<br />
Frage ersten Ranges für<br />
die ganze Welt handelt, versteht man<br />
auch, daß Sprache und Kultur engstens<br />
mit der Aufgabe der Weiterentwicklung<br />
unserer politischen Systeme<br />
zusammenhängen. Wenn man ferner<br />
bedenkt, wie fremd die politischen<br />
Institutionen den Kulturproblemen<br />
gegenüberstehen, obwohl Kultur der<br />
Inbegriff der sozialen Gemeinsamkeit<br />
ist, überkommt einen das Grausen.<br />
Kulturfremdheit kennzeichnet<br />
deshalb zutiefst den Charakter unserer<br />
eigenen Halb- oder genauer Vierteldemokratien,<br />
weil die vier zuvor<br />
genannten Untersysteme (Wirtschaft,<br />
Politik im engeren Sinn, Kultur und<br />
Grundwerte) in ihnen nicht differenziert<br />
werden und daher alles von der<br />
Politik im engeren Sinn beherrscht<br />
wird – diese aber von der Wirtschaft.<br />
Die neuerliche Einrichtung eines<br />
Staatsministeriums für Kultur ändert<br />
an diesen Gegebenheiten wenig. Gegen<br />
diesen Befund richtet sich – auf<br />
konstruktive Weise – die vom Verfasser<br />
vertretene, systemtheoretisch begründete<br />
Forderung einer „Viergliederung“<br />
der Demokratie, angefangen<br />
beim Herz der Demokratie, dem Parlament.<br />
Das menschliche Herz kann<br />
bekanntlich nur mit vier Kammern<br />
funktionieren (was jedoch nur ein<br />
Vergleich, kein Argument ist).<br />
20. Beispiel Wiedervereinigung:<br />
Ihr Halbgelingen beruht auf<br />
Nicht-Differenzierung der sozialen<br />
Ebenen<br />
Unsere derzeitigen Parteiensysteme<br />
erweisen sich als unfähig, spezifisch<br />
kulturelle Fragen als solche zu stellen,<br />
geschweige denn zu beantworten.<br />
Die Frage der Art der nationalen<br />
Einheit Deutschlands war eine solche.<br />
Sie wurde „eintopfpolitisch“ gelöst,<br />
also ohne jede Unterscheidung<br />
der genannten vier Untersysteme<br />
(Wirtschaft, Politik im engeren Sinn,<br />
Kultur und Grundwerte), wovon wir<br />
die teils unbefriedigenden Ergebnisse<br />
heute sehen. Es wäre möglich gewesen,<br />
das lebhafte Bedürfnis nach<br />
national-kultureller Einheit sofort<br />
voll zu berücksichtigen – um in der<br />
Frage der wirtschaftlichen und politischen<br />
Verfassung, über die wir<br />
bis heute nicht abstimmen durften,<br />
behutsamer, schrittweise vorzugehen.<br />
Es fehlte den Politikern aber ein<br />
realistisches systemlogisches Werkzeug,<br />
wenngleich zahlenmäßig kein<br />
Mangel an Sozialwissenschaftlern<br />
bestand. Die meisten von ihnen stehen<br />
jedoch den „Einheits-Parteien“<br />
zu nahe. Für diese Parteien ist gerade<br />
die Nicht-Unterscheidung der<br />
Systemebenen, also die sachfremde<br />
Bündelung aller Fragen, charakteristisch.<br />
Wir haben bis heute nur solche.<br />
Das systemische Problem wird<br />
von allen fleißig verdrängt. Die Einheits-Parteien<br />
sind die Feudalherren<br />
unserer Zeit.<br />
21. Beispiel Zuwanderung:<br />
wirtschaftlicher, kultureller und<br />
religiöser Aspekt sind sauber zu<br />
unterscheiden<br />
Die Ausländer- und Zuwanderungsfrage<br />
ist primär eine kulturelle, wurde<br />
jedoch nur nebenbei und erst in<br />
den letzten Jahren halb bewußt als<br />
solche behandelt. Die beherrschende<br />
Fragestellung war stets wirtschaftspolitisch,<br />
neuerdings (mit der Terrorismusangst)<br />
auch sicherheits-<br />
politisch. Die zentrale Frage einer<br />
grundsätzlichen Regelung im Sinne<br />
der „Gastfreundschaft der Kulturen“<br />
(Heinrichs 1994) wurde zerrieben<br />
zwischen einem geistlosen, kulturfremden<br />
Internationalismus („multikulturelle<br />
Gesellschaft“) einerseits<br />
und einem nationalistisch getönten<br />
Argwohn und Hochmut gegen Fremde<br />
andererseits. Beide Seiten arbeiten<br />
sich in die Hände, durch Nichtbeachten<br />
der einfachen Gesetze kultureller<br />
Identität und Gastfreundschaft. Die<br />
ganze Frage auf der Grundlage eines<br />
Rechtes auf Identität territorialer<br />
Gastkulturen (ius culturae) zu diskutieren,<br />
hätte die Auseinandersetzung<br />
geklärt und entschärft – ebenso die<br />
heutige Diskussion um Thilo Sarrazins<br />
Buch. Nicht Zahlen von Einwanderern<br />
machen das Problem aus,<br />
sondern mangelnde Kulturbewußtheit<br />
und daher Integrationsfähigkeit<br />
der falsch angeleiteten <strong>Deutsche</strong>n.<br />
Hinzu kommt, daß Kultur (türkisch,<br />
deutsch) und Religion (christlich, islamisch)<br />
nicht sauber unterschieden<br />
werden – was folgenreich ist.<br />
22. Beispiel Rechtschreibreform:<br />
Sie wurde zwischen Parteipolitik<br />
und Fach-Philologie zum Unsinn<br />
zerrieben<br />
Als drittes Beispiel für eine spezifisch<br />
kulturpolitische Aufgabe sei die Lach-<br />
und Weinnummer Rechtschreibreform<br />
genannt: Es fehlen unserer Demokratie<br />
die spezifisch kulturstaatlich-demokratischen<br />
Institutionen, sprich vor<br />
allem ein Kulturparlament, das eine<br />
bundesweite kulturpolitische Diskussion<br />
ohne Vermischung mit anderem<br />
Parteienhader transparent zusammenführen<br />
könnte; und dieses nicht nur in<br />
Unterscheidung zum Wirtschafts- und<br />
Politikparlament, sondern auch zum<br />
Grundwerteparlament. Wenn untergründig<br />
über alles gleichzeitig diskutiert<br />
wird, kann nichts Sachliches<br />
herauskommen. Eigens legitimierte<br />
Kulturpolitiker könnten auch mit der<br />
„Fachidiotie“ vieler Philologen besser<br />
umgehen.<br />
23. Der Unterschied zwischen<br />
religiöser und kultureller Zugehörigkeit<br />
hat größte praktische<br />
Bedeutung<br />
Unterschiedliche Parlamentskammern<br />
für Grundwerte (Religion) und<br />
für Kultur würden den wesentlichen<br />
Unterschied zwischen Weltanschauung/Religion<br />
und kultureller Zugehörigkeit<br />
berücksichtigen. Dieser<br />
Unterschied ist die unerläßliche<br />
Basis dafür, daß zum Beispiel auch<br />
Moslems solidarische <strong>Deutsche</strong> im<br />
kulturellen Sinne werden können, ja<br />
werden müssen, wenn sie auf Dauer<br />
bleiben wollen. Auch bei der jüngsten<br />
Stellungnahme des Bundespräsidenten<br />
Christian Wulff, daß der Islam<br />
zu Deutschland gehöre, entstanden<br />
notwendig Unklarheiten wegen dieser<br />
mangelnden Unterscheidung.<br />
Einerseits ist längst selbstverständlich,<br />
daß jede Weltanschauung und<br />
Religion, sofern sie unser Grundgesetz<br />
achtet, hier heimisch sein kann.<br />
Seitdem hier viele Muslime leben,<br />
trifft das selbstverständlich auch für<br />
den Islam zu. Wenn anderseits über<br />
kulturelle Traditionen gesprochen<br />
wird, gewinnt die Aussage des Bundespräsidenten<br />
einen ganz anderen,<br />
fragwürdigen Sinn. Im Grunde ist es<br />
unverantwortlich, diese beiden Ebenen<br />
nicht zu unterscheiden. Im Munde<br />
der Politiker hat die (sprachlich<br />
geprägte) Kultur meist gar keinen eigenen<br />
Stellenwert zwischen Religion<br />
und bloßer Rechtsordnung.<br />
Teil 2: Das <strong>Deutsche</strong> in die Zukunft übersetzen<br />
24. Integration ist nur vorübergehend<br />
von Assimilation verschieden<br />
Es ist höchst fragwürdig, wenn man<br />
mit dem Unterschied von „Integration“<br />
und „Assimilierung“ spielt. So lautete<br />
auch am 10. Oktober 2010 in Berlin<br />
noch die Ausflucht des türkischen Ministerpräsidenten<br />
Recep Erdo˘gan: Integration<br />
ja, Assimilierung sei jedoch<br />
„ein Verbrechen“. Es ist allerdings im<br />
höchsten Maße kulturzerstörerisch,<br />
die Staatsangehörigkeit zu beanspruchen<br />
und im Herzen einer anderen<br />
Nation anzugehören. Daß deutsche<br />
Politiker eine solche Unterscheidung<br />
billigen oder zumindest diplomatisch<br />
hinnehmen, gehört mit zu dem, was<br />
Thilo Sarrazin die Selbstabschaffung<br />
Deutschlands nennt. Dieser Fehler<br />
wird nicht demographisch von allein<br />
ausgebügelt. Landsmannschaftliche<br />
Sekundärkulturen können innerhalb<br />
einer intakten primären, gastgebenden<br />
Kultur weiterbestehen, doch<br />
nicht als Parallelgesellschaften. Von<br />
den einzelnen darf und muß erwartet<br />
werden, daß sie auf Dauer im vollen<br />
kulturellen Sinne <strong>Deutsche</strong> werden.<br />
Anders ist es auch in dem Einwanderungsland<br />
USA nicht! „Multikulturelle<br />
Gesellschaft“ hat nur in transnationalen<br />
Gebilden wie Europa oder<br />
in internationalen Ausnahme-Städten<br />
(zum Beispiel Brüssel oder Hongkong)<br />
einen vernünftigen Sinn. Selbst<br />
und gerade in Staaten, in denen die<br />
staatlich-rechtliche Einheit mehrere<br />
sprachlich kulturelle Regionen umfaßt<br />
(Schweiz, Belgien, auch Spanien oder<br />
Rumänien) gibt es mehr oder weniger<br />
gut funktionierende Regeln für die regionalen<br />
kulturellen Identitäten.<br />
25. Es gibt ein Menschenrecht auf<br />
unbeschädigte Muttersprache<br />
Die zweite Hauptaufgabe des Grundwerte-Gesetzgebers<br />
im Hinblick auf<br />
Kultur ist klarzustellen, daß es ein<br />
unveräußerliches Menschenrecht auf<br />
unbeschädigte und geachtete Muttersprache<br />
für jeden Erdenbürger, folglich<br />
auch für jeden <strong>Deutsche</strong>n gibt.<br />
Daß die Sprachen der Welt als Kulturgüter<br />
ersten Ranges gleichwertig<br />
zu achten und zu schützen seien, einschließlich<br />
der deutschen, aber auch<br />
der kleineren Sprachen wie der dänischen<br />
oder tschechischen in einem<br />
vereinten Europa. Daraus ergeben<br />
sich Folgerungen in Richtung einer<br />
europäischen Verkehrssprache, die<br />
wohl mit der Weltverkehrssprache<br />
identisch sein sollte.<br />
26. Kulturgesetzliche Vorgaben<br />
für Wirtschaft, Politik und Wissenschaft<br />
scheinen notwendig<br />
Unter solchen gesamtpolitischen<br />
Rahmenvoraussetzungen hat es Sinn,<br />
auf die sprachliche Innenpolitik näher<br />
einzugehen, zum Beispiel darauf,<br />
• daß auch die Sprache in Politik und<br />
Verwaltung sowie in Verkehr und<br />
Wirtschaft sich den kultursprachlichen<br />
Landessitten zu unterwerfen hat,<br />
• daß die Wirtschaft trotz kapitalistischer<br />
Globalisierung und Gleichmacherei<br />
unter kulturellen Vorgaben<br />
zu stehen hat (ebenso wie<br />
unter Grundwerte-Vorgaben) und<br />
• daß in der von der Allgemeinheit<br />
finanzierten Wissenschaft Deutsch<br />
nicht zum Regionalidiom herabsinken<br />
darf.<br />
In all diesen Bereichen muß im Bedarfsfall<br />
Zweisprachigkeit, also<br />
Übersetzung, gepflegt und gefördert<br />
werden. Insofern ist ein Sprachgesetz<br />
nach dem Vorbild Frankreichs demokratisch<br />
zumindest gerechtfertigt<br />
– wenn das freigesellschaftliche, bürgerschaftliche<br />
Engagement, also die<br />
freiwillige Beachtung kultureller Regeln<br />
allein nicht gelingt. Derzeit genügt<br />
Freiwilligkeit offenbar nicht. Die<br />
Argumente gegen ein Sprachgesetz<br />
beruhen auf unzureichender Demokratietheorie<br />
ebenso wie auf unserer<br />
völlig unzureichenden parlamentarischen<br />
Praxis: Zugegeben, einem Einheitsparlament<br />
derzeitiger Prägung,<br />
unter der Vorherrschaft der Wirtschaftslobby,<br />
stünde ein Sprachgesetz<br />
derzeit noch fremdartig zu Gesicht.<br />
Das läge aber nicht am Sprachgesetz,<br />
sondern an der Kulturfremdheit unseres<br />
derzeitigen Einheitsparlaments.<br />
27. Sprachgemeinschaft ist eine<br />
liberale, moderne Form sozialen<br />
Zusammenhalts<br />
Wer eine Sprachgemeinschaft zerstören<br />
will, braucht lediglich die babylonische<br />
Sprachverwirrung von einander<br />
nicht mehr verständlichen Dialekten,<br />
von „Fremdsprachen“ als Verfremdungsprodukten<br />
einer früher einmal<br />
gemeinsamen Muttersprache, zu fördern!<br />
Denn gerade die Sprache war es<br />
und könnte es künftig wieder sein, die<br />
all jene kulturellen Alltags-Dimensionen<br />
miteinander verbindet, die einen<br />
sozialen Zusammenhalt, ein Zusammengehörigkeitsgefühl<br />
herstellt, bei<br />
aller arbeitsteiligen Differenzierung.<br />
Diese Aufgabe der Sprache ist so unersetzlich<br />
wie nie, wichtiger noch als in<br />
Zeiten einer konventionellen religiösen<br />
Gemeinsamkeit. Das kulturelle Medium<br />
Sprache leistet dies auf liberalere<br />
Weise als ein religiöses Bekenntnis das<br />
je könnte, und doch mit einer gewissen<br />
Wärme, die uns <strong>Deutsche</strong>n trotz des<br />
Wiedervereinigungserlebnisses so verdächtig<br />
geworden ist. Dagegen bleibt<br />
die Berufung allein auf gemeinsame<br />
ethische und rechtlich festgeschriebene<br />
Grundwerte („Verfassungspatriotismus“)<br />
eine kühle Angelegenheit.<br />
Wir brauchen jene liberale Sprachgemeinsamkeit<br />
mehr denn je, wobei<br />
die „Dialekte“ der verschiedenen Generationen<br />
reizvoll sind – solange sie<br />
nicht aus der Sprachgemeinsamkeit in<br />
einen angemaßten Internationalismus<br />
auswandern! Oder wir geben uns als<br />
Nation(en) auf – den oft fanatischen<br />
Propheten eines falschen, neokolonialen<br />
Internationalismus folgend, die im<br />
hohepriesterlichen Gewand des Fortschritts<br />
oder vorgeblich wissenschaftlicher<br />
Aufklärung daherschreiten.<br />
28. Ergebnis: Bewußte Sprach-<br />
und Kulturpolitik wird unbedingt<br />
notwendig<br />
Sprache ist – als allein alle Lebensbereiche<br />
und ihre „Dialekte“ Verbindendes<br />
– unser bei weitem wichtigstes<br />
Kulturprojekt, zumal in dieser<br />
sprachpolitisch völlig neuartigen<br />
und einzigartigen weltgeschichtlichen<br />
Stunde einer einsgewordenen<br />
Menschheit. Es geht um die bewußte<br />
Gestaltung einer Welteinheit in Verschiedenheit<br />
der Kulturen. Die kulturelle<br />
Dimension, die alle sozialen<br />
Sphären durchdringt, muß auch vom<br />
kulturellen Untersystem und seinen<br />
zu schaffenden Institutionen maßvoll<br />
gesteuert werden, wenn es bewußt<br />
zugehen soll. Man kann dies nicht<br />
allein einer wild wuchernden, im<br />
Grunde von interessierten Mächten<br />
gesteuerten „Zivilgesellschaft“ überlassen.<br />
„Sprachpflege“ als Liebhaberei,<br />
gleich ob von Fachleuten oder Laien<br />
betrieben, gar als konservative Nostalgie,<br />
reicht nicht, wenn man heute<br />
ernsthaft etwas Entscheidendes für<br />
die deutsche Sprache tun will. Man<br />
muß sich schon zur Sprachpolitik entschließen.<br />
Diese aber ist Kulturpolitik,<br />
weil Sprache nicht irgendein, sondern<br />
das Medium der Kultur ist (wie<br />
Geld das Medium der Wirtschaft).<br />
Kulturpolitik aber steht ihrerseits in<br />
dem umrissenen gesamtsystemischen<br />
und gesamtdemokratischen Rahmen.<br />
Man kann das alles verleugnen oder<br />
ausblenden, man kann den Kopf in<br />
den Sand stecken, weil man es nicht<br />
wahrhaben will. Doch argumentativ<br />
leugnen läßt es sich nicht. Soll der<br />
Einsatz für die deutsche Sprache<br />
auch von Menschen ernst genommen<br />
werden, die Sprachpflege nicht als ihr<br />
Steckenpferd betreiben, muß man ihn<br />
in den globalen und systematischen<br />
Gesamthorizont stellen.<br />
Der Philosoph und Sozialökologe Prof.<br />
Dr. Johannes Heinrichs ist Mitglied des<br />
Wissenschaftlichen Beirats des Vereins<br />
<strong>Deutsche</strong> Sprache und Autor zahlreicher<br />
sozialphilosophischer Bücher.<br />
www.viergliederung.de<br />
(Demokratiekonzept)<br />
www.johannesheinrichs.de<br />
(philosophisches Werk)<br />
Anzeige<br />
Bücher von Johannes Dornseiff<br />
Tractatus absolutus<br />
Selbstaufkläung des Denkens<br />
2. Auflage<br />
Aus der Erfahrung, daß sich alles von ihm Gedachte immer wieder zerdenken<br />
ließ, hat der Verfasser einen Standpunkt gewonnen ("Ist etwas zu sagen? – An<br />
sich ist nichts zu sagen"), von dem aus diese zunächst anstößige Erfahrung<br />
verständlich ist und alles bisherige Denken – zunächst nur das eigene Denken<br />
des Verfassers, dann aber auch das aller Anderen – als naiv erscheint. Dieser<br />
Standpunkt ist zugleich eine neue und vielleicht letzte Stufe eines historischen<br />
Weges, der mit der frühgriechischen Philosophie (Vorsokratik) beginnt.<br />
Während der Kern des Tractatus sozusagen ungegenständlich ist, werden in den<br />
weiteren Verzweigungen alle klassischen Gegenstände des Denkens – Raum,<br />
Existenz, Begriff, Welt, Ding, subjektiv-objektiv, Ich, Moral u.a. – in der gehörigen<br />
Ordnung entwickelt und dargestellt.<br />
Warnung! Ein Leser, der an Wortgebilde wie „kognitive Relevanz“, „taxonomische<br />
Interdependenz“ oder auch „basic relations“ gewöhnt ist, wird bald an<br />
Entzugserscheinungen leiden.<br />
Leinen, 896 Seiten * Euro 29.00 * ISBN 978-3-8280-1099-4 * Frieling-Verlag Berlin<br />
Sprache, wohin?<br />
Bemerkungen eines Sprachteilnehmers<br />
2. Auflage<br />
Die Sprache hat, vor allem in den letzten Jahrzehnten, schlimme<br />
Entwicklungen genommen, die man weitgehend als Schwächung oder als<br />
Verschmutzung bezeichnen kann; ersteres vor allem in der Grammatik (z.B.<br />
Viele würden die Gefahr leider noch unterschätzen), letzteres vor allem im<br />
Wortgebrauch (z.B. schwul oder die Menschen bei den Reformen mitnehmen).<br />
[Zur Wortschatzverschlechterung gehört auch die Fremdwörterei, die<br />
graecolateinische und mehr noch die englische.] Der Verfasser stellt den<br />
verdorbenen Sprachgebrauch an den Pranger und zeigt zugleich, daß man sich<br />
davon freihalten kann; darüber hinaus, daß auch Sprachbereicherung möglich<br />
ist. – Im Anhang wird die Rechtschreib„reform“ zerpflückt.<br />
288 Seiten * Euro 12,90 * ISBN 978-3-8280-2393-2 * Frieling-Verlag, Berlin
Seite 8 Besprechungen<br />
Von Johannes Heinrichs<br />
s gilt, zwei sehr verschieden-<br />
E artige, sich ergänzende Bücher<br />
aus dem Paderborner IFB-Verlag<br />
vorzustellen. Das erste, „Deutsch<br />
lebt! Ein Appell zum Aufwachen“,<br />
stellt ein Gemeinschaftswerk von<br />
vier hochkarätigen Fachleuten verschiedener<br />
Disziplinen dar. Zwar<br />
sind die zehn Kapitel, die sich in vier<br />
Hauptteile gliedern, den Beteiligten<br />
nicht namentlich zugeordnet.<br />
Doch der personen- und stilkundige<br />
Kenner kann meist erkennen, in welchen<br />
Kapiteln oder Passagen jeweils<br />
wer die Feder führt: So für „Deutsch<br />
in der Schule“ selbstverständlich<br />
Josef Kraus, der Präsident des <strong>Deutsche</strong>n<br />
Lehrerverbandes, für „Deutsch<br />
in der Wirtschaft“ und viele Passagen,<br />
die mit Werbung und Statistik<br />
zu tun haben, auch für „Deutsch an<br />
Universitäten“, der VDS-Vorsitzende<br />
Walter Krämer. Die geschichtlich geprägten<br />
Kapitel über aktive Sprachpflege<br />
in Deutschland und anderswo<br />
teilen sich der Journalistenausbilder<br />
und Sachbuchautor Wolf Schneider<br />
und der Diplomat und Diplomatenausbilder<br />
Cornelius Sommer.<br />
Es ist amüsant, besser, belustigend,<br />
die Unterschiede in Stil und Kenntnissen<br />
bei aller Einheit der Stoßrichtung<br />
zu erkennen. So wird dieses<br />
Buch trotz der Fülle wohlfundierter<br />
Sachinformationen nirgends langweilig.<br />
Die Stoßrichtung wird im<br />
einleitenden Kapitel Krämers bereits<br />
unmißverständlich klar: zu beweisen,<br />
erstens daß der Appell zur Zurückdrängung<br />
des Englischen aus<br />
einer noch vitalen deutschen Sprache<br />
(noch sei sie „global Nr. 4 nach Englisch,<br />
Spanisch und Chinesisch“) kein<br />
Kampf gegen Windmühlenflügel und<br />
keine antiquierte Deutschtümelei ist;<br />
zweitens warum die Sprachkreativität<br />
bekannter wie unbekannter Vorfahren,<br />
die aus dem „acteur“ einen<br />
„Schau-Spieler“, aus dem „off-side“<br />
das perfekte deutsche „Abseits“<br />
machten, eine aktuelle Fortsetzung<br />
verdient; drittens „warum Deutsch<br />
eine weit über das rein Sprachliche<br />
hinausgehende Bedeutung besitzt<br />
(und die Flucht daraus den Fliehenden<br />
netto eher schadet“; viertens<br />
welche Beiträge der VDS selbst geleistet<br />
hat, wohlwissend, „wie Wörter<br />
seit jeher wandern und daß natürlich<br />
die gegenseitige Befruchtung für alle<br />
Sprachen von Vorteil ist“.<br />
Anzeigen<br />
Ein Appell zum Aufwachen<br />
Wieviel Englisch verkraftet die deutsche Sprache?<br />
Es ist zweifellos ein notwendiges,<br />
zeitgemäßes Buch, das demgemäß<br />
auch eine etwas modernere, weniger<br />
hausbackene Aufmachung verdiente.<br />
Und doch bin ich froh, nun eine wesentliche<br />
Ergänzung aus der Feder<br />
eines einzelnen Schreibers vorstellen<br />
zu können, der einen anderen, wenn<br />
nicht berichtigenden Akzent setzt.<br />
Franz Stark, der Verfasser des in stark<br />
erweiterter Auflage neu erschienenen<br />
Buches „Wieviel Englisch verkraftet<br />
die deutsche Sprache? Die Chance<br />
zwischen Globalisierungserfordernis<br />
und Deutschtümelei“, ist ehemaliger<br />
Fernsehredakteur beim Bayerischen<br />
Rundfunk, heute Lehrbeauftragter<br />
an den Universitäten München und<br />
Passau. Er gehört dem Wissenschaftlichen<br />
Beirat des „Vereins <strong>Deutsche</strong><br />
Sprache“ an. Darin ist er einer der<br />
wenigen, die sprachsoziologisch argumentieren,<br />
nicht allein innerlinguistisch<br />
oder sprachgeschichtlich.<br />
Der erste Hauptteil der Schrift<br />
(Die Linguistik und die öffentliche<br />
Sprachkritik) ist allerdings zunächst<br />
sehr sorgfältigen Stellungnahmen<br />
zur Kluft zwischen akademischer<br />
„Mainstream“-Toleranz und öffentlicher,<br />
immer populärer werdenden<br />
Sprachpolitik und<br />
Sprachkultur in Europa<br />
I<br />
n diesem Tagungsband sind die<br />
Vorträge des Grazer Symposiums<br />
„Sprachpolitik und Sprachkultur<br />
in Europa“ zusammengefaßt.<br />
Diese Veranstaltung trägt durch ihre<br />
widerstreitenden Beiträge dazu bei,<br />
die Diskussion um den Einfluß des<br />
Englischen auf zahlreiche europäische<br />
Sprachen sinnvoll zu erweitern.<br />
Dafür sorgt bereits die internationale<br />
Besetzung der Tagung, die französische,<br />
slowenische, ungarische, slowakische,<br />
österreichische und deutsche<br />
Referenten aufbieten konnte. Ebenso<br />
unterschiedlich wie ihre Herkunftsländer<br />
sind die Denkansätze und Diskussionsbeiträge<br />
der Teilnehmer der<br />
Konferenz. Der Herausgeber Werner<br />
Pfannhauser betont: „In der Vielfalt<br />
der Kulturen und Sprachen liegt die<br />
Kraft Europas. Sie zu schützen, zu<br />
Anglizismenkritik gewidmet. Stark<br />
versucht mit Erfolg, der Mehrheit<br />
der deutschen Sprachwissenschaftler<br />
seriös Rechnung zu tragen, die<br />
den Gebrauch von Anglizismen für<br />
unbedenklich hält. Sein Ergebnis:<br />
So unschön und snobistisch der uns<br />
allen bekannte, weitgehend unnötige<br />
Gebrauch englischer Wörter und Redewendungen<br />
im sogenannten Neudeutschen<br />
ist – eine Bedrohung für<br />
die Vitalität der deutschen Sprache<br />
stelle er im Hinblick auf die Sprachstruktur<br />
nun noch nicht dar. Wohl<br />
aber bestehe eine solche Bedrohung<br />
hinsichtlich der Kreativität der <strong>Deutsche</strong>n,<br />
einzelne neue und attraktive<br />
Wörter und Redewendungen zu finden.<br />
Die deutsche (Neu-)Wortbildung<br />
sei gelähmt. Gäbe es diese Lähmung<br />
nicht, würde die modische Flucht<br />
ins Englische auch für Jugendliche<br />
weitgehend überflüssig. Es gibt sie<br />
jedoch, und darüber tröstet auch das<br />
reichhaltige, neugeschriebene vierte<br />
Kapitel über die kulturelle Prägung<br />
des Denkens durch die jeweilige<br />
Sprache mit all seiner Sachlichkeit<br />
nicht hinweg.<br />
Des Pudels Kern liegt nämlich im<br />
Sprachsoziologischen, im Unterschied<br />
zur bloßen Sprachpflege, die<br />
erhalten und weiterzuentwickeln, ist<br />
eine wesentliche Aufgabe unserer<br />
Zeit!“ (dsw/ifb)<br />
Mit Beiträgen von Dr. Reiner Pogarell,<br />
Dr. Kurt Gawlitta, Odile Canale,<br />
Prof. Dr. Lívia Adamcová, MMag. Dr.<br />
Helwig Brunner, Prof. Dr. Marjeta<br />
Humar, Dr. Karl Irresberger, M. A.<br />
Thomas Paulwitz, Prof. Dr. Werner<br />
Pfannhauser, Mmag. Tünde Primus-<br />
Kövendi, Prof. Dr. Gerhard Stickel.<br />
Werner Pfannhauser und Interessengemeinschaft<br />
Muttersprache in Graz<br />
(Hrsg.): Sprachpolitik und Sprachkultur<br />
in Europa – Akten des Grazer<br />
Symposiums April 2010, 1. Auflage,<br />
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Prospektblatt des Frankenland-<br />
Versands, Nürnberg, bei. Wir<br />
bitten um freundliche Beachtung<br />
ja oft sehr konservativ angehaucht<br />
war und ist, wie modern sich auch<br />
die vorher besprochenen Autoren<br />
geben. Der Autor bringt im zweiten<br />
Teil „Außerlinguistische Überlegungen<br />
zur Anglizismenkontroverse“.<br />
„Sprachsoziologisch“ bedeutet hier:<br />
die Sprache als Medium einer Kultur<br />
oder als mißbrauchtes Werkzeug einer<br />
politischen und wirtschaftlichen<br />
Globalisierungsmacht zu sehen.<br />
Die Diagnose der wirklichen Ursachen<br />
führt auf den Befund: Diese<br />
Ursachen „sind doch vorwiegend<br />
politisch-gesellschaftlicher Natur<br />
bei gleichzeitiger Erinnerungslosigkeit<br />
an gute Seiten der eigenen<br />
Geschichte und Kultur, das Fehlen<br />
historischer ‚Großerzählungen‘, wie<br />
sie bei anderen Völkern nach wie vor<br />
lebendig sind, … ein auffallend geringes<br />
kulturelles Selbstgefühl, das<br />
auch auf die Verwendung und Pflege<br />
der eigenen Sprache durchschlägt“.<br />
Dabei ist Deutschland das einzige<br />
Land Europas, das seinen Namen<br />
von der Sprache herleitet und das<br />
geschichtlich, im alten <strong>Deutsche</strong>n<br />
Reich, primär eine kulturelle und<br />
religiöse, erst spät (an welchem<br />
Maßstab „verspätet“?) auch eine<br />
politische Einheit bildete. Dieses<br />
Bewußtsein für die in erster Linie<br />
kulturelle Identität Deutschlands ist<br />
aufgrund der Vorherrschaft der Politik<br />
seit der Gründung des Zweiten<br />
<strong>Deutsche</strong>n Reiches und der heutigen<br />
Vorherrschaft von Wirtschaft und<br />
Politik vollends verblaßt.<br />
Am Schluß zitiert Franz Stark eine<br />
im Grunde skandalöse, wenngleich<br />
vielleicht realistische Sicht des Romanisten<br />
Jürgen Trabant: daß die<br />
<strong>Deutsche</strong>n, im Unterschied zu den<br />
Spaniern und Franzosen „ihre anscheinend<br />
auf ewig kompromittierte<br />
Sprache aufgeben und das Englische<br />
als Kultursprache adoptieren“<br />
werden, auf ewig kompromittiert<br />
natürlich durch gewisse zwölf Jahre.<br />
Diese Alternative, mit Thilo Sarrazin<br />
zu sprechen, daß Deutschland<br />
sich sprachlich abschafft, muß klar<br />
erkannt werden. Es ist die grausame<br />
Alternative zum vollen Aufwachen,<br />
zum Bewußtsein dessen, worum es<br />
heute eigentlich geht.<br />
Die sprach- und kultursoziologische<br />
Sichtweise stellt in meinen Augen<br />
<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>43</strong>_Frühjahr 2011<br />
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manche Frage an die eher sprachpflegerischen<br />
Bemühungen des<br />
„Vereins <strong>Deutsche</strong> Sprache“, obwohl<br />
im Untertitel des zuerst besprochenen<br />
Buches doch vom „Aufwachen“<br />
die Rede war. So löblich viele, nicht<br />
alle dieser Bemühungen an sich sind,<br />
so erfolgen sie doch auf verlorenem<br />
Posten, solange Kultur als eine eigene<br />
Ebene und Aufgabe (systemtheoretisch<br />
unter den weltanschaulichethischen<br />
Grundwerten, doch über<br />
Politik und Wirtschaft) nicht klar als<br />
eigene Hauptaufgabe aller sozialen<br />
Gestaltung und somit als kulturpolitische<br />
und darin gesamtpolitische<br />
Aufgabe thematisiert wird.<br />
Die vom Verein getragene Bewegung<br />
„Deutsch ins Grundgesetz“ zielt zwar<br />
ausnahmsweise in diese gesamtpolitische<br />
Richtung. Es brauchte aber<br />
mehr Schriften wie die von Franz<br />
Stark und viele kulturbewußte Fortsetzungen<br />
seines Gedankengangs, um<br />
aus einer halbherzigen Sprachpflegerei<br />
eine kraftvolle Bewegung für die<br />
Erhaltung der nationalen Kultur(en)<br />
angesichts der alles nivellierenden<br />
Globalisierung zu machen.<br />
Das soziale Medium (die „Währung“)<br />
einer Kultur ist wie kein anderes<br />
sonst die jeweilige Muttersprache.<br />
Schon das „jeweilige“ zeigt,<br />
daß hier keinem Nationalismus das<br />
Wort geredet wird. Es könnte zwar<br />
geschickt sein, die kulturpolitische<br />
Aufgabe vom Medium der Kultur<br />
her, von der Sprache her, anzufassen.<br />
Doch das ist nur dann der Fall,<br />
wenn diese eben als soziales Medium<br />
verstanden wird und nicht als<br />
für sich zu pflegender Gegenstand<br />
der akademisch-philologischen oder<br />
laienhaften Liebhaberei, geschweige<br />
denn der Nostalgie.<br />
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<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>43</strong>_Frühjahr 2011 Literatur<br />
Seite 9<br />
Von Elmar Tannert<br />
ine Zeitlang gelangen mir Spa-<br />
E ghetti nur noch sporadisch, obwohl<br />
ich meine Methode nie änderte:<br />
Ich gab stets 200 Gramm Spaghetti<br />
mit 20 Gramm Salz in drei Liter<br />
Wasser und ließ sie exakt siebeneinhalb<br />
Minuten kochen. Als ich<br />
eines Tages zum wiederholten Male<br />
feststellen mußte, daß dieser Weg<br />
keine Spaghetti al dente mehr garantiert,<br />
sondern zu einem klebrigen<br />
ungenießbaren Knäuel führt, rief ich<br />
kurzerhand die Verbrauchernummer<br />
des Nudelherstellers an, beschwerte<br />
mich über die neuerdings mindere<br />
Qualität der Spaghetti und fragte<br />
nach dem Grund. Man forsche bereits,<br />
wurde mir mitgeteilt, denn in<br />
letzter Zeit hätten sich die Beschwerden<br />
gehäuft, und man bat mich um<br />
Geduld, ich bekäme noch Bescheid.<br />
Nur eines sei bislang sicher: an den<br />
Rohstoffen liege es nicht.<br />
Nach einigen Wochen wurde ich angerufen,<br />
ausgerechnet in einem Augenblick,<br />
in dem mein Küchenwekker<br />
meldete, daß die Spaghetti den<br />
Zustand „al dente“ erreicht hätten,<br />
zumindest theoretisch. Eine Dame<br />
von der Kundenbetreuung teilte mir<br />
mit, daß nicht ein Lebensmittelchemiker,<br />
sondern ein Linguist die Ursache<br />
gefunden habe: Es handele sich<br />
um das fehlende „h“ in der Mitte, das<br />
aufgrund der Rechtschreibreform<br />
Klebrige Spadschetti<br />
Fehlerhafte Wörter ziehen fehlerhafte Dinge nach sich<br />
„Sketsch“ geht, „Schmand“ kommt, „Spagetti“ bleibt<br />
Von Thomas Paulwitz<br />
D<br />
ürftig fällt die neue Reform<br />
der Reform aus. In Brüssel<br />
übergab am 9. Dezember 2010 der<br />
Rat für deutsche Rechtschreibung<br />
seinen zweiten Tätigkeitsbericht der<br />
Kultusministerkonferenz. Er umfaßt<br />
den Zeitraum von März 2006 bis Oktober<br />
2010. Die Reform ist zum einen<br />
gerade einmal so groß, daß neue<br />
Wörterbücher zu drucken sind. Zum<br />
anderen ist sie jedoch so winzig, daß<br />
sie keinen wesentlichen Mangel behebt,<br />
wie zum Beispiel den Wirrwarr<br />
doppelter Schreibweisen.<br />
Zwar erhält die Duden-Redaktion in<br />
dem Bericht einen deutlichen Rüffel<br />
für die Empfehlung altreformerischer<br />
Schreibweisen: „Als nicht sehr glücklich<br />
wurde angesehen, dass zumindest<br />
eines der auch im Rat vertretenen großen<br />
Wörterbücher von der ‚Beobachtungsmaxime‘<br />
des Rats deutlich abgewichen<br />
ist und – v. a. im Bereich der<br />
Getrennt- und Zusammenschreibung<br />
– die Schreibungen empfohlen werden,<br />
die mit der Reform von 1996ff.<br />
verbunden sind.“ An der Ursache<br />
des Übels, daß nämlich die Doppel-<br />
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A. Neussner<br />
D-37284 Waldkappel<br />
entfernt worden sei. Denn das „h“,<br />
so erläuterte sie mir weiter, habe die<br />
Spaghetti locker gemacht, während<br />
Spaghetti ohne „h“, dies sei nunmehr<br />
wissenschaftlich erwiesen, klebrig<br />
würden, was sich in der Aussprache<br />
widerspiegle. Denn Spaghetti ohne<br />
„h“ spreche der Italiener bekanntlich<br />
„Spadschetti“, also mit eindeutig<br />
matschigem Klang, ohne eine Spur<br />
von al dente. Man werde die bereits<br />
ausgelieferten Packungen zurückziehen<br />
und die Spaghetti in Packungen<br />
umfüllen, die nach bewährter Orthographie<br />
neu bedruckt sind. Und im<br />
übrigen sei mit der Post eine Ersatzsendung<br />
mit drei Familienpackungen<br />
an mich unterwegs.<br />
Ich kehrte an den Herd zurück, schüttete<br />
die inzwischen verkochten Spaghetti<br />
weg, setzte mich an den Küchentisch<br />
und dachte nach. Die Sache<br />
mit dem „h“ leuchtete mir ein, denn<br />
ich hatte schon immer das Gefühl<br />
gehabt, daß die reformierte deutsche<br />
Rechtschreibung aus Fehlern besteht,<br />
die man zur Regel gemacht hat. Und<br />
fehlerhafte Wörter, überlegte ich,<br />
müssen zwangsläufig fehlerhafte<br />
Dinge nach sich ziehen. Ich begann,<br />
die Auswirkungen der Rechtschreibreform<br />
zu begreifen. Ein Phantom mit<br />
„Ph“ war mir schon immer unheimlicher<br />
vorgekommen als ein Fantom<br />
mit „F“. Ich hatte Delphine klüger ge-<br />
I<br />
Einzelheiten zur winzigen Rechtschreibreform 2011<br />
schreibweisen verschiedene willkürliche<br />
Empfehlungen zulassen, ändert<br />
sich jedoch überhaupt nichts.<br />
Unter dem Strich bleibt von viereinhalb<br />
Jahren Ratsarbeit die folgende<br />
Empfehlung: „Der Rat empfiehlt die<br />
Streichung der Variantenschreibungen<br />
Butike, Fassette, Kabrio, Katarr,<br />
Krem/Kreme, Kupee, Maffia, Maläse,<br />
Mohär, Myrre, Scharm (inkl. scharmant),<br />
Schikoree, Schose, Sketsch,<br />
Sutane, transchieren. Der Rat empfiehlt<br />
die Aufnahme der Schreibungen<br />
Caprice, Clementine, Crème,<br />
Schmand.“ Das war’s. Davon sind<br />
lediglich sechs Wörter echte Reformschreibungen,<br />
die anderen standen<br />
schon vorher im Duden. Nicht einmal<br />
zu einer „Spaghetti“-Reform hat<br />
es gereicht: Die von den Reformern<br />
erfundene Fehlschreibung „Spagetti“<br />
bleibt den Schülern erhalten.<br />
Keine Verwechslungen<br />
beim „dass“?<br />
Ein Witz ist, daß der Rat die in der<br />
„AG Korpus“ versammelten Wörter-<br />
!"#$%&'()"* !<br />
/00 12 1/ 3 1 12 453 1<br />
"## $ $ #<br />
! %<br />
& & & '<br />
funden, so lange man sie noch wie das<br />
Orakel von Delphi mit „ph“ schrieb.<br />
Ein Faß mit scharfem „s“ erschien<br />
mir plötzlich runder und geschlossener<br />
als seine scheinbar modernisierte<br />
Variante. Nur mit scharfem „s“<br />
hat ein Schloß Majestät und Würde,<br />
dachte ich, während ein Schloss mit<br />
Doppel-„s“ nichts Besseres ist als ein<br />
deutsches Einheitsreihenhaus.<br />
Und allmählich ging mir auf, warum<br />
sich seit einiger Zeit eine so lähmende<br />
Phantasielosigkeit ausbreitet.<br />
Wir fantasieren nämlich heutzutage<br />
mit „f“, und eine Phantasie, die mit<br />
„f“ beginnt, ist affig wie ein Affo-<br />
buchverlage damit beauftragte zu begutachten,<br />
ob sich die eigenen Textsammlungen<br />
für eine Beobachtung<br />
des Schreibgebrauchs eignen. Und,<br />
welch ein Wunder: „Dabei zeigte<br />
sich sehr schnell, dass Vorbehalte im<br />
Hinblick auf die Grenzen einer Korpusanalyse<br />
unbegründet waren.“ Die<br />
Textsammlungen wiesen erstaunlicherweise<br />
„einen hohen Grad an Zuverlässigkeit“<br />
auf. Wer bescheinigt<br />
sich schon selbst etwas Schlechtes?<br />
So kommt die AG Korpus zum Beispiel<br />
für das Wort „dass“ zu dem<br />
Ergebnis einer „Normentsprechung<br />
von 100 % nach dem Jahr 2000“.<br />
Die Schreibung „dass“ statt „daß“<br />
wenden die Zeitungen also angeblich<br />
völlig problemlos an. Eine kleine<br />
Stichprobe aus der Zeitungssuchmaschine<br />
„Google News“ genügt, um<br />
nachzuweisen, wie wirklichkeitsfern<br />
dies ist. So gibt es immer noch jede<br />
Menge Belege für „daß“ statt „dass“<br />
und für die fehlerhafte Schreibung<br />
von „dass“ statt „das“. Ebenso lassen<br />
sich mit Leichtigkeit Belege finden,<br />
bei denen von „das“ statt von<br />
Bild: Ed Hawco<br />
rismus, den man mit doppeltem „f“<br />
schreibt und flach wie eine Flunder<br />
obendrein, was wiederum logisch ist,<br />
denn eine Phlunder mit „ph“ wäre<br />
ein aufgeblasenes Gebilde.<br />
Ich sah auf die Uhr. Herrgott, ich war<br />
ja verabredet; mit der Freundin. Voll<br />
Sehnsucht dachte ich an einen Kuß,<br />
und im selben Moment gab es mir einen<br />
Stich. Was wäre, wenn sie „Kuß“<br />
mit Doppel-„s“ buchstabierte? Dann<br />
hätten wir schon jahrelang aneinander<br />
vorbeigeküßt. Wie können<br />
zwei Menschen im Kuß zur Einheit<br />
verschmelzen, wenn der eine ihn so<br />
schreibt und der andere so?<br />
„dass“ zu lesen ist. Die vermeintliche<br />
„Normentsprechung von 100 %“ ist<br />
also hundertprozentiger Blödsinn.<br />
Eisenbergs Rückbauversuch<br />
scheiterte<br />
Der Versuch des Sprachwissenschaftlers<br />
Peter Eisenberg, über eine<br />
Neuformulierung der Regeln den<br />
Rückbau der Reform fortzusetzen,<br />
scheiterte mit Pauken und Trompeten.<br />
So heißt es in dem Bericht vorwurfsvoll,<br />
Eisenbergs Entwurf sei<br />
„an einer entscheidenden Stelle von<br />
den geltenden Regeln“ abgewichen.<br />
Er habe nämlich „Kleinschreibung<br />
für einzelne Formen substantivierter<br />
Adjektive in erstarrten Verbindungen<br />
mit idiomatisierter Bedeutung“<br />
vorgesehen. Eisenberg wollte also<br />
wieder Schreibungen wie „im allgemeinen“<br />
(statt „im Allgemeinen“)<br />
zulassen.<br />
Das kam bei den übrigen Ratsmitgliedern<br />
allerdings schlecht an. Die<br />
Rats-„AG Linguisten“, in der neben<br />
Eisenberg die Altreformer Richard<br />
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„Bevor ich dich küsse“, fragte ich<br />
sie, „sag mir eins: Wie schreibst du<br />
‚Kuß‘?“ Sie erkundigte sich befremdet,<br />
wieso ich das wissen wolle. Ich<br />
erzählte ihr von Spagetti und Delfinen,<br />
von Flüssen und Schlössern,<br />
von Raubeinen und Raufasertapeten,<br />
die nicht mehr das seien, was sie einmal<br />
waren. „Sie sind allesamt Opfer<br />
von deutschen Sprachingenieuren<br />
geworden“, sagte ich verbittert, „die<br />
alles, was lebendig ist, in einer Norm<br />
ersticken; sogar den Kuß. Wie also<br />
schreibst du Kuß?“ fragte ich und<br />
bemerkte einen drohenden Unterton<br />
in meiner Stimme.<br />
Da eröffnete sie mir, daß sie schon<br />
immer die Sprache nach Gefühl handhabe,<br />
weswegen sie während ihrer gesamten<br />
Schulzeit mit Deutschlehrern<br />
in Konflikt gewesen sei. Insbesondere<br />
wegen ihrer Vorliebe für das „h“.<br />
Ein Thor mit „h“ hinter dem „T“ beispielsweise<br />
sei ihr nämlich eindrucksvoller<br />
vorgekommen als ein modernes<br />
Tor ohne „h“. Und „Kuß“, sagte sie,<br />
werde sie ihr Leben lang mit „Eszet“<br />
schreiben. Denn seit ihrer Kindheit<br />
denke sie bei „Kuß“ an etwas Süßes,<br />
süß wie „Eszet-Schokolade“,<br />
die heute kaum noch jemand kenne.<br />
„Wahrscheinlich wurde sie verboten“,<br />
merkte meine Freundin an, „weil sie<br />
nach der Rechtschreibreform plötzlich<br />
‚SS-Schokolade‘ hieß.“<br />
Schrodt und Peter Gallmann sitzen,<br />
und die „AG Korpus“, die die Wörterbuchverlage<br />
umfaßt, zogen die Notbremse<br />
und gaben eine gemeinsame<br />
Stellungnahme ab. Der Direktor des<br />
Instituts für deutsche Sprache (IDS),<br />
das den Rechtschreibrat beherbergt,<br />
faßte sie so zusammen: „Die zu erarbeitende<br />
Textfassung … darf keine<br />
neuen Schreibungen erzeugen, muss<br />
aber sich vollziehende Änderungen<br />
in der Schreibgewohnheit aufnehmen<br />
können. … Die Erarbeitung<br />
einer solchen Textfassung wird von<br />
den Mitgliedern der beiden AGs als<br />
mittelfristige Aufgabe verstanden,<br />
die ohne äußeren Druck angegangen<br />
werden sollte.“ Das bedeutet, daß<br />
das Regelwerk unangetastet bleiben<br />
soll und lediglich Varianten gestrichen<br />
werden können, allerdings frühestens<br />
in fünf Jahren, wenn der Rat<br />
seinen dritten Bericht abliefert.<br />
Solange Altreformer und Wörterbuchverlage<br />
die Arbeit des Rechtschreibrats<br />
bestimmen, wird die Rechtschreibreform<br />
weiterhin lediglich im<br />
Schneckentempo zurückgebaut.<br />
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Seite 10 Werkstatt<br />
Peter Ramsauers „Deutsch-Initiative“ überzeugt<br />
Die Leser der DEUTSCHENDie SPRACHWELT Sprachwahrer haben des dieJahres Sprachwahrer 2010 des Jahres 2010 bestimmt<br />
E<br />
in Minister, zwei evangelische<br />
Theologen und ein Dichter haben<br />
die meisten Stimmen bei der<br />
Wahl zum Sprachwahrer des Jahres<br />
2010 erhalten. Bundesverkehrsminister<br />
Peter Ramsauer erringt mit<br />
25,3 Prozent der Stimmen den ersten<br />
Platz. Der Pastor Joachim Gauck<br />
folgt mit 18,2 Prozent an zweiter<br />
Stelle. Auf Platz 3 liegt der Theologe<br />
und Moderator Peter Hahne gleichauf<br />
mit dem Dichter Günter B. Merkel.<br />
Beide erreichen 16,7 Prozent.<br />
Platz 1: Peter Ramsauer<br />
Peter Ramsauer folgt auf Karl-<br />
Theodor zu Guttenberg, der im vergangenen<br />
Jahr die meisten Stimmen<br />
auf sich vereinigt hatte. Seine Anfang<br />
2010 begonnene „Deutsch-Initiative“,<br />
die er auch in der DEUTSCHEN<br />
SPRACHWELT vorstellte („Achten<br />
wir die deutsche Sprache“, DSW<br />
39), trug ihm Tausende zustimmende<br />
Zuschriften aus der Bevölkerung ein.<br />
Mit Ramsauer gibt es einen verläßlichen<br />
Anwalt der deutschen Sprache<br />
in der Bundesregierung. Er hält keine<br />
Sonntagsreden, er handelt. In seinem<br />
Ministerium wird ein entbehrlicher<br />
Anglizismus nach dem anderen getilgt.<br />
Auf über einhundert Wörter<br />
ist seine Verdeutschungsliste (siehe<br />
Kasten) inzwischen gewachsen. Eine<br />
weitere Glanztat: Der Reifenhersteller<br />
Goodyear mußte den „Highway<br />
Hero“, einen Preis für selbstloses und<br />
mutiges Handeln im Straßenverkehr,<br />
umbenennen. „Ich verleihe den Preis<br />
gerne an einen ‚Helden der Straße‘<br />
– und wenn das den Organisatoren<br />
nicht paßt, werden sie wohl mit dem<br />
Staatssekretär vorliebnehmen müssen<br />
…“ Das wirkte. Ramsauer setzt<br />
sich auch dafür ein, daß die <strong>Deutsche</strong><br />
Bahn (DB) als privatrechtlich organisiertes<br />
Staatsunternehmen weniger<br />
Anglizismen verwendet. (Das Eisen-<br />
Joachim Gauck<br />
18,2%<br />
Andere<br />
4,7%<br />
Günter B. Merkel<br />
16,7%<br />
bahn-Bundesamt als Aufsichtsbehörde<br />
auch für die DB untersteht dem<br />
Bundesverkehrsministerium.) Ramsauer<br />
ist sich sicher: Rüdiger Grube,<br />
der Vorstandsvorsitzende der DB, sei<br />
ein „pragmatischer und handfester<br />
Mann, der in seinem Unternehmen<br />
in jeder Hinsicht aufräumen wird –<br />
auch in dieser!“<br />
Platz 2: Joachim Gauck<br />
Wie bei der vergangenen Bundespräsidentenwahl<br />
wurde der Pastor und<br />
ehemalige Bürgerrechtler Joachim<br />
Gauck auch diesmal nur zweiter Sieger.<br />
Als wir kurz vor Weihnachten<br />
die Kandidaten für den Sprachwahrer-Preis<br />
verkündet hatten, setzte<br />
sich Gauck gleich an die Spitze. Peter<br />
Ramsauer jedoch machte Ende<br />
Dezember von sich reden, weil sein<br />
Kampf gegen Denglisch erneut in das<br />
öffentliche Interesse rückte. Dadurch<br />
entschied Ramsauer die Wahl für<br />
Die DSW in der Presse<br />
Die Nachrichtenagentur dpa meldete am 23. Dezember 2010:<br />
Gauck als „Sprachwahrer<br />
des Jahres“ nominiert<br />
rlangen (dpa) – Der ehemalige Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten,<br />
Joachim Gauck, könnte „Sprachwahrer des Jahres“ 2010 werden.<br />
Gauck sei ein sprachgewandter Redner, der seine Zuhörer mit Hilfe<br />
von verständlichem Deutsch erreiche, begründete die Zeitschrift „<strong>Deutsche</strong><br />
<strong>Sprachwelt</strong>“ am Donnerstag in Erlangen ihre Entscheidung. Neben<br />
Gauck nominierte das Blatt den Schauspieler Axel Milberg („Tatort“) und<br />
den ZDF-Moderator Peter Hahne für die Auszeichnung. Weitere Kandidaten<br />
sind <strong>Deutsche</strong>-Bahn-Chef Rüdiger Grube und Bundesverkehrsminister<br />
Peter Ramsauer (CSU), die Musikgruppe „Ich + Ich“ und der Dichter<br />
Günter B. Merkel. Aber auch Moderator Stefan Mross und der Karikaturist<br />
Götz Wiedenroth dürfen auf den Preis hoffen. An der Abstimmung via Internet<br />
können sich Interessierte noch bis zum 31. Januar 2011 beteiligen.<br />
Die „<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>“ zeichnet Persönlichkeiten, Unternehmen oder<br />
Gruppen aus, die sich um die deutsche Sprache verdient gemacht haben.<br />
Im vergangenen Jahr wurde Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu<br />
Guttenberg (CSU) „Sprachwahrer des Jahres“.<br />
Harald Peters schrieb am 24. Dezember 2010 in<br />
der Tageszeitung „Die Welt“:<br />
Das <strong>Deutsche</strong> schafft sich ab<br />
und 105 Millionen Menschen sprechen Deutsch als Muttersprache,<br />
etwa 28 Millionen als Zweitsprache, im Vergleich der wichtigsten<br />
Sprachen der Welt steht Deutsch auf dem zehnten Platz. Dabei wird der<br />
aktive Wortschatz auf etwa 75 000 Vokabeln geschätzt; rechnet man den<br />
Fachwortschatz hinzu, kommt man sogar mühelos auf mehrere Millionen.<br />
Aber, und das wird gerne übersehen, die deutsche Sprache ist bedroht. Kleine,<br />
zunächst unscheinbare Worte aus fernen Gegenden haben sich nachhaltig<br />
in den Alltagsgebrauch eingeschlichen und zersetzen das <strong>Deutsche</strong> von innen.<br />
Die Zeitung „<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>“ bemüht sich seit langer Zeit, dieser<br />
Gefahr Einhalt zu gebieten und läßt daher auch 2010 den Sprachwahrer<br />
des Jahres wählen. Nominiert ist der ZDF-Moderator Peter Hahne, weil ihm<br />
„dieses ewige Denglisch auf den Wecker“ geht. Das ist ein schöner Gedanke,<br />
wenn auch etwas unsauber formuliert, das geht bestimmt noch besser. Verkehrsminister<br />
Peter Ramsauer hat in seinem Ministerium entbehrliche Anglizismen<br />
getilgt (ja, gibt es denn unentbehrliche?) und das Meeting wieder<br />
zur Besprechung gemacht – ein tapferer Mann! Noch mutiger ist der Sänger<br />
Adel Tawil der inzwischen historischen Band Ich + Ich. Er sagt: „Für mich<br />
gibt es keine andere Sprache als Deutsch.“ Schauspieler Axel Milberg hat<br />
am jährlichen „Festspiel der deutschen Sprache“ in Bad Lauchstädt teilgenommen,<br />
während Volksmusikbläser Stefan Mross sagt: „Englisch kommt<br />
bei mir nicht in die Tüte.“ Wie auch, Englisch kann man ja nicht kaufen. Und<br />
Joachim Gauck, der Bundespräsident der Herzen, fordert von der politischen<br />
Klasse: „Redet mit uns, und so, daß wir euch auch verstehen!“ Offenbar hat<br />
er das Grundprinzip der politischen Sprache nicht verstanden. Wie rührend.<br />
Wir denken, zumindest diesmal hätte er den Sieg verdient.<br />
Die Sprachwahrer des Jahres 2010<br />
Peter Ramsauer<br />
25,3%<br />
Rüdiger Grube<br />
4,5%<br />
<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>43</strong>_Frühjahr 2011<br />
<strong>Deutsche</strong><br />
Wortwelt<br />
Das entbehrliche Fremdwort<br />
Hashtag / live / streamen<br />
Die CDU/CSU schrieb in<br />
Twitter, einem Kurzmitteilungsdienst<br />
im Netz: „Der<br />
#Kongress Sprache ist Heimat<br />
wird am Montag live gestreamt<br />
… Der Hashtag zum Kongress<br />
Sprache ist Heimat ist #sih.“<br />
Wir übersetzen das einmal:<br />
„Der Kongreß ‚Sprache ist<br />
Heimat‘ wird am Montag im<br />
Netz direkt übertragen … Das<br />
(Twitter-)Kürzel lautet #sih.“<br />
Das richtig geschriebene Wort<br />
Libyen<br />
Der Name „Libyen“ geht<br />
auf die griechische Fassung<br />
„libyē“ der altägyptischen Bezeichnung<br />
„ribu“ zurück. Er<br />
gelangte über das Lateinische<br />
„libya“ ins <strong>Deutsche</strong>. Für uns<br />
ist das Wort schwierig auszusprechen,<br />
weil wir den Laut<br />
„ü“ in der Regel nur betont<br />
aussprechen, die Betonung<br />
von „Libyen“ jedoch auf der<br />
ersten Silbe liegt. Außerdem<br />
sind sich die Laute „i“ und „ü“<br />
sehr ähnlich. Daher kommt es<br />
zu Verwechslungen.<br />
Das treffende Wort<br />
zeitnah / bald<br />
Das Modewort „zeitnah“ ist<br />
bei Behörden, Politikern und<br />
Zeitungsschreibern sehr beliebt.<br />
Meistens bedeutet es<br />
schlicht und einfach „bald“,<br />
manchmal „sofort“, „kurzfristig“,<br />
„schnellstmöglich“,<br />
„zeitgemäß“ oder „neu“. Es<br />
läßt sich also immer durch ein<br />
schöneres Wort ersetzen.<br />
Das richtig gebeugte Wort<br />
geschafft / geschaffen<br />
Je nach Bedeutung wird das<br />
Wort „schaffen“ regelmäßig<br />
(schaffte, geschafft) oder unregelmäßig<br />
(schuf, geschaffen)<br />
gebeugt. Wer etwas geschafft<br />
hat, hat etwas geleistet. Wer etwas<br />
geschaffen hat, hat etwas<br />
entstehen lassen. Am Anfang<br />
schuf Gott Himmel und Erde.<br />
Er schaffte es.<br />
Welche weiteren Wörter sollten<br />
in dieser Wortwelt stehen?<br />
Schreiben Sie uns!<br />
„Platt is cool“ – Hochdeutsch wertlos<br />
D<br />
Peter Hahne<br />
16,7%<br />
Axel Milberg<br />
3,6%<br />
Götz Wiedenroth<br />
2,8%<br />
Ich + Ich<br />
3,5%<br />
Stefan Mross<br />
4,0%<br />
sich, da die Stimmen für ihn sprunghaft<br />
zunahmen. Doch auch Gauck<br />
hätte als sprachgewandter Redner,<br />
der seine Zuhörer mit Hilfe von kla-<br />
äußert er nicht einfach nur sein Unbehagen<br />
gegen eine als unangenehm<br />
empfundene Sprachentwicklung,<br />
sondern unterstreicht auch den Wert<br />
der Sprache für den Zusammenhalt<br />
des Volkes. Hahne fordert sprachpolitisches<br />
Handeln als „Schutz gegen<br />
Zwangsverblödung“: „Offenbar muß<br />
das Vaterland die Muttersprache per<br />
Grundgesetz schützen, da alle Appelle<br />
und Versprechungen nicht helfen.“<br />
Überraschend errang der weniger<br />
bekannte Dichter Günter B. Merkel<br />
ebenfalls den 3. Platz. Gründe<br />
für diesen Erfolg waren nicht nur<br />
seine Verse, die regelmäßig auch in<br />
der DEUTSCHEN SPRACHWELT<br />
zu lesen sind, sondern auch die Berichterstattung<br />
der Presse in seiner<br />
Heimat, wodurch viele auf uns aufmerksam<br />
wurden. Unter anderem berichtete<br />
die „Rhein-Neckar-Zeitung“<br />
ausführlich. Der „Mannheimer Morgen“<br />
brachte ein Gespräch mit Merkel,<br />
in dem dieser sagte: „Ich hoffe<br />
auf das Wohlwollen jener kritischen<br />
Zeitgenossen, die sich dem Zeitgeist<br />
Ramsauers Liste (Auszug)<br />
Advisory Board Beirat<br />
Beamer Datenprojektor<br />
Brainstorming Ideensammlung<br />
Briefing Vorbesprechung<br />
Checkliste Prüfliste<br />
Computer Rechner<br />
Deadline Abgabetermin,<br />
Frist<br />
Debriefing Nachbesprechung<br />
e-government elektronische<br />
Behördendienste<br />
Flipchart Tafelschreibblock,<br />
Schreibblocktafel<br />
Flyer Faltblatt<br />
Good Governance verantwortungs-<br />
bewußte Regie-<br />
rungsführung<br />
keynote speech Grundsatzrede<br />
rem Deutsch erreicht, den ersten Platz<br />
verdient gehabt. Seine Forderung<br />
nach verständlichem Politikerdeutsch<br />
wird von vielen Menschen geteilt.<br />
Platz 3: Peter Hahne<br />
und Günter B. Merkel<br />
Peter Hahne ist ein Glücksfall für<br />
die deutsche Sprachkritik. Er setzt<br />
sich nicht nur mit deutlichen und<br />
schnörkellosen Worten für die deutsche<br />
Sprache ein; er erreicht damit<br />
auch eine breite Öffentlichkeit: sei es<br />
als ZDF-Moderator, Bild-Kolumnist<br />
oder erfolgreicher Buchautor. Dabei<br />
Kick-off-Meeting Auftaktveranstal-<br />
tung<br />
Laptop mobiler Rechner<br />
Mail elektronische Post,<br />
Elektropost<br />
Meeting Besprechung,<br />
Sitzung, Treffen<br />
Monitoring Überwachung,<br />
Beobachtung,<br />
Kontrolle<br />
Styleguide Gestaltungs-<br />
handbuch<br />
Task Force Projektgruppe<br />
Team Gruppe<br />
Ticket Fahrschein, Flug-<br />
schein<br />
Travel Management Reisestelle<br />
Voting Abstimmung<br />
widersetzen und es ablehnen, den<br />
Mischmach nachzuplappern, den<br />
ihnen die Werbung vorsetzt, die<br />
mit Unverständnis und Wut auf<br />
die Flut des Kauderwelsches reagieren,<br />
… und ich hoffe auf die<br />
Stimmen jener Mitbürger, die die<br />
Wort-Akrobatik des ‚gnadenlosen<br />
Dichters‘ mögen.“ Möge die Wahl<br />
zum „Sprachwahrer des Jahres“<br />
auch in Zukunft dazu anspornen,<br />
für gutes Deutsch einzutreten!<br />
www.deutsche-sprachwelt.de/<br />
sprachwahrer<br />
und rufen unsere Leser zum Protest auf<br />
Das niedersächsische Kultusministerium wirbt mit<br />
Denglisch für Plattdeutsch<br />
as Richtige wollen, aber das Falsche tun: Johanna<br />
Wanka hat Übung darin. Als Kultusministerin<br />
des Landes Brandenburg erklärte sie einst<br />
freimütig dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“,<br />
kurz nachdem sie ihre Amtszeit als Präsidentin der<br />
Kultusministerkonferenz beendet hatte: „Die Kultusminister<br />
wissen längst, daß die Reform falsch war …<br />
Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen<br />
worden.“<br />
Heute ist Wanka Wissenschafts- und Kultusministerin<br />
in Niedersachsen und will etwas für Plattdeutsch<br />
tun. Sprachen 1986 noch fünf Millionen Niedersachsen<br />
Platt, so hat sich diese Zahl bis heute halbiert.<br />
Um das Aussterben des Plattdeutschen zu verhindern,<br />
unterstützt das Ministerium einen Musikwettstreit<br />
für junge Nachwuchsmusiker. Doch Hochdeutsch<br />
ist dabei offenbar nicht gern gesehen, sonst würden<br />
die Veranstalter es nicht so verhunzen. Der Wettbewerb<br />
heißt nämlich „Plattsounds – der plattdeutsche<br />
Bandcontest“ und ist Teil des Gemeinschaftsprojekts<br />
„Platt is cool“. „Plattsounds bietet die Möglichkeit,<br />
das Interesse und die Akzeptanz für Niederdeutsche<br />
Musik und Sprache bei Jugendlichen zu erhöhen“,<br />
meint Wanka. Die deutsche Sprache ist dabei wohl<br />
nicht akzeptiert.<br />
Auf einen entsprechenden Beschwerdebrief der „Aktion<br />
<strong>Deutsche</strong> Sprache“ (ADS) ist Wanka wiederum<br />
um eine Begründung nicht verlegen. Diesmal muß<br />
allerdings nicht die „Staatsräson“ herhalten. Hochdeutsch<br />
ist für Wanka einfach nicht modern genug:<br />
„Die Idee, den niederdeutschen Schüler-Band-Wettbewerb<br />
‚Plattsounds‘ zu nennen, soll keinen Affront<br />
gegen die deutsche Sprache darstellen, sondern als<br />
eine gelungene sprachliche Verbindung aus Tradition<br />
und Innovation verstanden werden“, antwortete<br />
Wanka am 31. Januar dieses Jahres der ADS. (dsw)<br />
Sprachsünder Ecke An dieser Stelle stellen wir Sprachsünder vor, die besonders unangenehm aufgefallen sind,<br />
Fragen Sie die niedersächsische Kultusministerin Johanna<br />
Wanka, warum zwischen „Tradition und Innovation“<br />
kein Platz mehr für die deutsche Sprache<br />
ist, und lassen Sie uns bitte ein Doppel zukommen:<br />
Sprachsünderin Frau Kultusministerin Prof. Dr. Johanna<br />
Wanka, Leibnizufer 9, D-30169 Hannover,<br />
Telefon +49-(0)511-120-2401, Telefax +49-(0)511-<br />
120-2622, johanna.wanka@mwk.niedersachsen.de
<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>43</strong>_Frühjahr 2011 Anstöße<br />
Seite 11<br />
Von Hartmut Heuermann<br />
S<br />
teckt hinter Denglisch eine<br />
Ideologie? Wer diese Frage<br />
hört, wird mit einer Antwort wahrscheinlich<br />
zögern. Entweder, weil<br />
er sich über den Ideologiebegriff<br />
nicht gleich im klaren ist, oder weil<br />
ihn dessen Anwendung auf die Erscheinung<br />
„Denglisch“ vor Probleme<br />
stellt. Er mag Denglisch vielleicht als<br />
modische Marotte, als zwitterhafte<br />
Pseudosprache, als dümmliche Nachäfferei<br />
oder als Symptom kulturellen<br />
Niedergangs ansehen; möglicherweise<br />
sieht er Denglisch aber auch bloß<br />
als Erscheinungsform eines natürlichen<br />
Sprachwandels. Doch als Ideologie?<br />
Ist das Phänomen dazu nicht<br />
viel zu verschwommen und zufällig,<br />
geistig unausgegoren und gesellschaftlich<br />
belanglos? Ideologien sind<br />
doch systematisch entwickelte Gedankengebäude<br />
mit geistig nachvollziehbaren<br />
Aussagen und politischen<br />
Ansprüchen. Vermitteln sie nicht ein<br />
spezifisches Welt- und Menschenbild<br />
mit erkennbarem geistigem Profil?<br />
Die treffende Definition eines Gelehrten,<br />
des Philosophen Karl Jaspers, mag<br />
uns auf die Sprünge helfen: „Ideologie<br />
heißt ein Gedanken- oder Vorstellungskomplex,<br />
der sich dem Denkenden zur<br />
Deutung der Welt und seiner Situation<br />
in ihr als absolute Wahrheit darstellt,<br />
jedoch so, daß er damit eine Selbsttäuschung<br />
vollzieht zur Rechtfertigung,<br />
zur Verschleierung, zum Ausweichen,<br />
in irgendeinem Sinne zu seinem gegenwärtigen<br />
Vorteil.“ Demnach gibt<br />
es also drei Merkmale: erstens einen<br />
Gedanken- oder Vorstellungskomplex<br />
mit Wahrheitsanspruch; zweitens eine<br />
Deutung der Welt aus der Sicht des<br />
Denkers/Deuters (= Ideologen); drittens<br />
eine Vorteilsbeschaffung durch<br />
Verschleierung des Motivs.<br />
So weit, so gut. Weshalb aber Verschleierung?<br />
Und was genau soll verschleiert<br />
werden? Gesellschaftswissenschaftler<br />
sind sich weithin einig,<br />
Steckt hinter Denglisch eine Ideologie?<br />
Muß jeder „im Job permanently seine intangible assets mit high risk neu relaunchen“?<br />
daß es der Machttrieb ist, das archaisch<br />
angelegte Streben des Menschen<br />
nach Geltung und Herrschaft. Ideologen<br />
sind machtgierige Einzelwesen<br />
oder auf Herrschaft erpichte Gruppen.<br />
Sie predigen bestimmte „Wahrheiten“,<br />
ohne zu erkennen oder einzugestehen,<br />
daß diese vornehmlich<br />
ihnen selbst nutzen, während sie anderen<br />
eher zum Nachteil gereichen.<br />
In einer Kurzformel: Ideologie ist<br />
behauptete Wahrheit hinter der Larve<br />
beanspruchter Macht.<br />
Der Anspruch wird verschleiert, weil<br />
die Gier nach Macht als „rohe“ Gemütserregung<br />
in der zivilisierten Gesellschaft<br />
verpönt ist. Der Trieb wird<br />
„rationalisiert“, umgewandelt in eine<br />
Doktrin, die als segensreich, da vorgeblich<br />
wahr, verkauft wird und nicht<br />
anstößig erscheint. Letztlich dienen<br />
Ideologien der Errichtung von Herrschaftssystemen,<br />
die Machtgelüste<br />
befriedigen. Doch auf niederer Ebene<br />
können Denkschulen, Organisationen<br />
und Institutionen entstehen,<br />
die die Handschrift der Ideologie nur<br />
mittelbar erkennen lassen. Läßt sich<br />
das – so oder so – auf Denglisch anwenden?<br />
Zunächst können wir getrost alle diejenigen<br />
vernachlässigen, die diesen<br />
sprachlichen Zwitter als reine Modeerscheinung<br />
kultivieren und einem<br />
pubertären Internationalismus frönen.<br />
Es sind die, welche sich „hip“<br />
dünken, sich an vorderster Front populärer<br />
Trends wähnen und im Gebrauch<br />
fetzig-poppiger Formen der<br />
Verständigung ihre Selbstbestätigung<br />
finden. Sie mögen sich weltmännisch<br />
fühlen, doch Weltbürgertum<br />
äußert sich anders als in denglischen<br />
Sprachfetzen, und einer Ideologie<br />
entspricht ihr Weltbild wohl kaum.<br />
Anders sieht es freilich bei den Großunternehmen<br />
und multinationalen<br />
Konzernen aus, welche die Globali-<br />
Den Fokus an<br />
den Hörnern gepackt!<br />
Sprachkritik aus naturwissenschaftlicher Sicht (6)<br />
Von Günter Körner<br />
ie sprachphilosophische Prag-<br />
D matik verwendet das Wort<br />
„Fokus“ zur Kodierung von Satzteilen,<br />
in denen etwas behauptet oder<br />
gefragt wird. Äußert aber ein Minister,<br />
„wir“ wollten prüfen, inwieweit<br />
„wir“ ankündigen könnten, darüber<br />
nachzudenken, „den Fokus“ auf die<br />
Sicherheitsverwahrung zu legen, so<br />
sei ihm wenigstens unterstellt, er<br />
habe das Thema „Sicherheitsverwahrung“<br />
auf einem Zettel notiert.<br />
Sicher haben unverbindlich formulierende<br />
Politiker anderes im Sinn,<br />
als den Mikrofonträgern ein Beispiel<br />
von Diskurspragmatik anzubieten.<br />
Doch sogar diejenigen, die mit dem<br />
Sachverhalt in ihren Verlautbarungen<br />
vertraut sind, handhaben den Begriff<br />
„Fokus“ in modischer Fehlleistung.<br />
Dabei fordert die Bildhaftigkeit der<br />
physikalischen Bedeutung des „Fokus“<br />
seine Benutzung in einer eindrucksvollen<br />
Sprechweise geradezu<br />
heraus. Im Brennpunkt optischer oder<br />
elektromagnetischer Geräte kann es<br />
einerseits heiß hergehen, andererseits<br />
die Quantenstreuung zu einem<br />
vergrößert erscheinenden Betrachtungsfeld<br />
führen. Weiters bietet die<br />
wörtliche Übersetzung aus dem Lateinischen<br />
mit „Herd“ eine Metapher<br />
mit umfangreichen Einsatzmöglichkeiten.<br />
So haben sich beispielsweise<br />
die Mediziner des „Herdfeuers“<br />
bedient, um die – hier unerwünschte<br />
– Hitze im Mittelpunkt einer körperlichen<br />
Entzündung zu verdeutlichen.<br />
Was leistet der „Fokus“ als Bild? Als<br />
Sammelstelle gebündelten Lichts<br />
kann er beleuchten, bestrahlen, blenden,<br />
brennen, erhitzen, feuern, gleißen,<br />
glühen, strahlen, verschmoren,<br />
zerschmelzen. Umgekehrt wird er<br />
aufzeigen, darstellen, erhellen, erleuchten,<br />
ordnen, scheinen, strahlen,<br />
vereinzeln. Als Akkusativobjekt kann<br />
man ihn auf- oder abblenden, ihn eingrenzen,<br />
einrichten, einstellen, entfachen,<br />
verstärken. Will ihn jemand<br />
jedoch auffrischen, beschleunigen,<br />
drücken, fangen, gutheißen, legen,<br />
opfern, packen, oder verzögern, so<br />
möge er sich von einem Besserwissenden<br />
„reinen Tisch einschenken“<br />
lassen.<br />
sierung vorantreiben und daraus den<br />
Globalismus schaffen, jene weltumspannende<br />
neoliberale Wirtschaftslehre,<br />
die die Weltwirtschaft über den<br />
Leisten eines turbokapitalistischen<br />
Systems schlägt. In ihrem Fahrwasser<br />
bewegen sich Nutznießer wie Banker,<br />
Manager, Ökonomen, Börsenspezialisten<br />
und Werbepsychologen, die<br />
den Globalismus zur Heilslehre der<br />
Menschheit gekürt haben.<br />
Hier wird Englisch zu einem Motor,<br />
und wo einschlägige Sprachkompetenz<br />
nicht ausreicht, werden die<br />
mischmaschigen Gebilde namens<br />
Denglisch, Franglais, Italianglo oder<br />
Spanglish zu Hilfsaggregaten dieses<br />
Motors. Hier geraten die bestehenden<br />
Nationalsprachen unter das Diktat<br />
eines angloamerikanischen Kultur-<br />
und Wirtschaftsimperialismus und<br />
werden (lexikalisch) umgemodelt.<br />
Das Hilfsmittel der (pseudo-)englischen<br />
Sprache, so die Berechnung<br />
der „Anglo-Fuzzies“ (Wolf Schneider),<br />
erleichtert die Durchsetzung der<br />
Interessen der „Global Player“. Was<br />
sie dabei verkennen: Nicht-Sprachkundige<br />
geraten unter Zwänge, die<br />
Sprache ist Heimat<br />
Kongreß der Unionsfraktion im Bundestag<br />
Von Reingard Böhmer und Diethold Tietz<br />
Z<br />
um Tag der Muttersprache am<br />
21. Februar dieses Jahres lud<br />
die Fraktion der CDU/CSU zu einem<br />
Kongreß in den Bundestag ein. Er<br />
stand unter dem Motto „Sprache ist<br />
Heimat“. Über 200 Teilnehmer waren<br />
der Einladung gefolgt. Sie alle bewegte<br />
unter anderem die abnehmende<br />
Sprachkompetenz in Deutschland<br />
und deren Folgen, wie zum Beispiel<br />
die Allgegenwart des Englischen und<br />
die Verdrängung des <strong>Deutsche</strong>n aus<br />
den Einrichtungen der EU.<br />
Persönlichkeiten wie die Literaturnobelpreisträgerin<br />
Herta Müller, die<br />
Kammersängerin Edda Moser, der<br />
Literaturkritiker Hellmuth Karasek<br />
und Bundestagspräsident Norbert<br />
Lammert verliehen dem Kongreß Gewicht.<br />
Einer der Grundgedanken war:<br />
Die Muttersprache bewußt zu nutzen<br />
und ihre Schönheit zu genießen, vermittelt<br />
und festigt das Heimatgefühl.<br />
einer demokratischen Legitimierung<br />
entbehren und sie im sprachlichen<br />
Leben benachteiligen. Hier werden<br />
– einseitig – Machtansprüche artikuliert<br />
und Interessen durchgesetzt,<br />
die den wirtschaftlichen Ertrag an<br />
sprachliche Strategien knüpften, die<br />
den Nationalsprachen Gewalt antun.<br />
Versprochen werden die Segnungen<br />
eines weltweiten Marktes, bewirkt<br />
werden jedoch – wie von Joseph<br />
Stieglitz, Ulrich Beck und anderen<br />
gezeigt – die Besserstellung der<br />
Nutznießer und die Benachteiligung<br />
aller anderen. Wie immer die Zukunft<br />
der „Weltsprache“ Englisch<br />
aussieht: Noch leben wir in Nationalstaaten<br />
mit nationalen Sprachen und<br />
nationalen Kulturen. Von einer Welt<br />
mit einer Weltsprache sind wir weit<br />
entfernt. Wollen wir unterdessen in<br />
Limbo (in einem Schwebezustand)<br />
leben, wo die Menschen nicht mehr<br />
richtig Deutsch und noch nicht richtig<br />
Englisch sprechen?<br />
Wenn Hilmar Kopper, der ehemalige<br />
Vorstandssprecher der <strong>Deutsche</strong>n<br />
Bank, sein Publikum folgenderma-<br />
Auch drei Vertreter des Sprachrettungsklubs<br />
Bautzen waren der Einladung<br />
gefolgt und konnten mit Genugtuung<br />
feststellen, daß die brennenden<br />
Fragen klar und deutlich – wenn auch<br />
mit unterschiedlicher Bewertung –<br />
angesprochen wurden. Etwa: Ist die<br />
deutsche Sprache bedroht? Ist sie gar<br />
dem Untergang geweiht?<br />
Die Referenten beschränkten sich<br />
nicht nur auf statistische Aussagen<br />
wie: Für 100 Millionen Menschen ist<br />
Deutsch die Muttersprache, und 20<br />
Millionen Menschen lernen weltweit<br />
Deutsch als Fremdsprache. Viele der<br />
Ausführungen mündeten in der These,<br />
daß die Muttersprache der Nährboden<br />
für präzises Denken sei.<br />
Mit einer etwas knapp bemessenen<br />
Diskussionsrunde für die Zuhörer endete<br />
die Veranstaltung. Diethold Tietz<br />
vom Sprachrettungsklub Bautzen<br />
Ali schlägt Mohammed<br />
Von Thomas Paulwitz<br />
W<br />
o bleibt Mohammed? Abgeschlagen<br />
auf Platz 116 finden<br />
wir ihn unter den beliebtesten männlichen<br />
Vornamen des Jahres 2010 in<br />
Deutschland. In westlichen Nachbarländern<br />
sieht es völlig anders aus. So<br />
meldete der Daily Telegraph im Oktober<br />
2010, daß nach Angaben der Nationalen<br />
Statistikbehörde nicht mehr<br />
„Jack“, sondern „Mohammed“ der<br />
am häufigsten vergebene Vorname in<br />
England sei. Die Engländer fühlen sich<br />
jedoch nicht als Sonderfall, denn sie<br />
weisen mit Recht darauf hin, daß nicht<br />
nur in London, sondern auch in Brüssel,<br />
Amsterdam, Kopenhagen und Oslo<br />
„Mohammed“ der am häufigsten vergebene<br />
Vorname für Neugeborene ist.<br />
Wie sieht es hingegen in der deutschen<br />
Hauptstadt Berlin aus? Unter den ersten<br />
30 Plätzen suchen wir vergeblich nach<br />
Mohammed. „Ali“ hat es im Jahr 2010<br />
gerade einmal auf Platz 29 geschafft<br />
und damit Mohammed überflügelt. Ge-<br />
genüber den Vorjahren hat sich die Plazierung<br />
Mohammeds in Deutschland<br />
sogar verschlechtert: von Platz 84 im<br />
Jahr 2007, 96 im Jahr 2008, 97 im Jahr<br />
2009 auf jetzt nur noch Platz 116.<br />
Auch in Frankreich liegt der Name<br />
„Mohammed“ nicht besonders hoch<br />
im Kurs und landet auf den hinteren<br />
Plätzen. Vor kurzem erregte ein Fall<br />
Aufsehen, bei dem ein Praktikant einer<br />
nordfranzösischen Firma entlassen<br />
wurde, weil er sich nicht mit dem Namen<br />
„Alexandre“ am Telefon nennen<br />
wollte. Sein Arbeitgeber hatte ihm das<br />
Pseudonym angetragen, weil er glaubte,<br />
daß es bei seinen Kunden schlecht<br />
ankomme, wenn der Praktikant sich mit<br />
seinem richtigen Namen „Mohammed“<br />
meldete. Moslemische Interessenverbände<br />
empörten sich darüber, so gelangte<br />
der Fall auch in unsere Presse.<br />
Was ist das Besondere an dem männlichen<br />
Vornamen „Mohammed“? Er ist<br />
ßen anredet, dann ist das – vordergründig<br />
– nur lächerlich: „Jeder muß<br />
im Job permanently seine intangible<br />
assets mit high risk neu relaunchen<br />
und seine skills so posten, daß die<br />
benefits alle ratings sprengen, damit<br />
der cash-flow stimmt. Wichtig<br />
ist corporate identity, die mit perfect<br />
customizing und eye catchern jedes<br />
Jahr geupdated wird.“<br />
Doch hintergründig verrät die Sprache<br />
die Denkweise eines Mannes, der<br />
so unter die verinnerlichten Zwänge<br />
seines Berufes geraten ist, daß die<br />
geäußerten Interessen zur Ideologie<br />
geronnen sind. Kopper bezweifelt<br />
offenbar keine Sekunde die „Wahrheit“<br />
seiner Aussage. Sein verunglückter<br />
Fachjargon ist Ausdruck eines<br />
Berufs- und Gesellschaftsbildes,<br />
das seine ideologischen Ansprüche<br />
kaum verbergen kann: „Jeder muß<br />
im Job permanently seine intangible<br />
assets mit high risk neu relaunchen<br />
…“ Wieso muß er das?<br />
Prof. Dr. Hartmut Heuermann lehrte<br />
Amerikanistik an der Technischen<br />
Universität Braunschweig.<br />
nutzte die Gelegenheit, für die „Straße<br />
der deutschen Sprache“ zu werben.<br />
Weitere Diskussionsteilnehmer forderten<br />
von der CDU/CSU-Fraktion,<br />
daß die deutsche Sprache nun endlich<br />
ins Grundgesetz aufgenommen<br />
werde. Norbert Lammert erklärte,<br />
daß die politischen Kräfte über diese<br />
Frage weniger inhaltlich als vielmehr<br />
parteitaktisch diskutierten. Unter den<br />
58 Änderungen und Ergänzungen des<br />
Grundgesetzes seit 1949 seien keine<br />
fünf Änderungen, „die es an Bedeutung<br />
und Rang mit der Sprache als<br />
Mittel der Selbstverständigung und<br />
Identität eines Landes aufnehmen<br />
können“. Bleibt die Hoffnung, daß<br />
die 59. Grundgesetz-Ergänzung den<br />
Worten auch Taten folgen läßt.<br />
„Unsere deutsche Sprache pflegen“:<br />
Positionspapier der CDU/CSU-Bundestagsfraktion<br />
zur deutschen Sprache<br />
(Beschluß vom 8. Februar 2011)<br />
nicht nur der häufigste Vorname der<br />
Welt, sondern seine Verbreitung gilt<br />
auch als Zeichen dafür, wie stark sich<br />
eine moslemische Einwanderergruppe<br />
zum Religiösen hinwendet. Umgekehrt<br />
könnte man die sinkende Anziehungskraft<br />
von Apostelnamen bei der<br />
Namensvergabe – von „Lukas“ und<br />
„Paul“ einmal abgesehen – als Zeichen<br />
wachsender Entfremdung von der Kirche<br />
verstehen.<br />
Selbstverständlich sollten wir die Beweiskraft<br />
der Statistik nicht überbewerten.<br />
Bei der Namensvergabe spielen oft<br />
auch ganz andere Gründe eine Rolle.<br />
Könnte der Verzicht auf „Mohammed“<br />
aber nicht vielleicht doch ein Zeichen<br />
dafür sein, daß in Deutschland – anders<br />
als in bestimmten west- und nordeuropäischen<br />
Staaten – die Eingliederungsschwierigkeiten<br />
vieler Türken und<br />
Araber nicht in erster Linie in den religiösen,<br />
sondern in anderen kulturellen<br />
Unterschieden zu suchen sind?
Seite 12 Bunte Seite<br />
Wir <strong>Deutsche</strong> oder wir <strong>Deutsche</strong>n?<br />
Von Rominte van Thiel<br />
M<br />
it „uns <strong>Deutsche</strong>n“ gibt es<br />
Schwierigkeiten. Nein, damit<br />
meine ich keine politischen Verwicklungen,<br />
sondern die Verwendung des<br />
Wortes, das uns bezeichnet. Anlaß<br />
ist ein Beitrag Michael Wolffsohns<br />
für die Tageszeitung „Die Welt“ von<br />
Anfang Februar dieses Jahres. Der<br />
Historiker schrieb nämlich, Außenminister<br />
Guido Westerwelle wisse<br />
nicht, wie dieses Wort gebeugt wird,<br />
denn er sage oft „Wir <strong>Deutsche</strong>“.<br />
Und das sei schlichtweg falsch, obwohl<br />
Westerwelle die deutsche Sprache<br />
doch in Wort und Schrift fließend<br />
beherrsche.<br />
Wolffsohn meinte weiter: „Der Bursche<br />
im Singular, die Burschen im<br />
Plural und nicht die Bursche. Oder:<br />
Der Lurch und die Lurche. Also: Der<br />
oder die <strong>Deutsche</strong> im Singular und<br />
die <strong>Deutsche</strong>n im Plural, also auch<br />
Wir <strong>Deutsche</strong>n. Wenn Westerwelle<br />
‚Wir <strong>Deutsche</strong>‘ sagt, vermengt er<br />
Singular und Plural.“<br />
Das ist scheinbar einleuchtend. Wie<br />
ist es aber, wenn wir statt des bestimmten<br />
Artikels den unbestimmten<br />
setzen? Ob „der“ oder „ein“, der<br />
Bursche bleibt ein Bursche. Nicht<br />
so der <strong>Deutsche</strong>, aus ihm wird „ein<br />
<strong>Deutsche</strong>r“. Auch im Plural ist der<br />
<strong>Deutsche</strong> widerspenstig: Ob „die<br />
Burschen“ oder „Burschen“, die<br />
Endung bleibt gleich, nicht so bei<br />
uns <strong>Deutsche</strong>n. Aus „der <strong>Deutsche</strong>“<br />
werden „die <strong>Deutsche</strong>n“. Aus „ein<br />
<strong>Deutsche</strong>r“ werden aber im Plural<br />
„<strong>Deutsche</strong>“.<br />
Des Rätsels Lösung: Was uns bezeichnet<br />
ist eben, anders als bei einem<br />
Franzosen, einem Briten oder<br />
Serben, ein substantiviertes Adjektiv,<br />
Es ist nicht einfach mit unserem Volksnamen<br />
A<br />
ls Bundesverkehrsminister<br />
Ramsauer Ende Dezember<br />
2010 wieder als Hüter<br />
unserer Muttersprache auftrat,<br />
schlugen die Wellen in der<br />
Presse hoch. Er hatte einst in seinem<br />
Ministerium, so die „Financial Times<br />
Deutschland“, eine Anzeige mit dem<br />
Text „Inhouse Meeting über Outsourcing<br />
Projekte“ gelesen, die ihn so erzürnte,<br />
daß er seitdem gegen „überflüssige<br />
Anglizismen“ vorgeht – in seinem<br />
Ministerium wie bei der <strong>Deutsche</strong>n<br />
Bahn (DB). Die Medien überschlugen<br />
sich mit Kritik an ihm. Der „Winterminister“<br />
solle lieber die Probleme lösen,<br />
die durch die unerwarteten großen<br />
Schneemengen und das Blitzeis entstanden<br />
seien, statt gegen Denglisch<br />
durchzugreifen, lautete der Tenor.<br />
Doch was spricht eigentlich dagegen,<br />
neben dem Auftauen eingefrorener<br />
Weichen auch die Weichen für eine<br />
Von Dagmar Schmauks<br />
DSW-Silbenrätsel<br />
1. sehr alter Alkohol (Kurzform) – 2. austauschbare Gefängnisstrafe – 3.<br />
nicht-städtisches Hühnerprodukt – 4. Flaggen schlachtreif füttern – 5. Diener<br />
eines Textilherstellers – 6. streitsüchtige Frucht – 7. freiwillige Übung<br />
des kleinen Wilhelm – 8. jemand, der die Anzahl großer Flüsse feststellt<br />
– 9. Gerät, mit dem man geborgtes Geld fängt – 10. etwas in einen großen<br />
Topf tun – 11. Frau, die kleinen Fingerschmuck nicht hört – 12. Muskelzucken<br />
durch vergorenen Traubensaft – 13. was der Scharfrichter ißt – 14.<br />
jemand, der Honighersteller betastet – 15. Kuriere tragen dieses Gewebe<br />
– 16. Schreibgerät für Arbeitsunterbrechungen – 17. schlüpfriger Regen-<br />
Die Weichen stellen?<br />
verständlichere und damit<br />
bessere Sprache zu stellen?<br />
Was spricht dagegen, neben<br />
der Beseitigung der Schneemassen<br />
und des Blitzeises<br />
an den Oberleitungen auch dafür zu<br />
sorgen, daß wir nicht auf dem denglischen<br />
Sprach-Parkett ausrutschen? Im<br />
übrigen wird das Wetter schon morgen<br />
„Schnee von gestern“ sein oder ist<br />
es heute schon; schön wäre es, wenn<br />
das auch vom „Service Point“, „Kiss<br />
& Ride“ und von anderem DB-Unsinn<br />
gesagt werden könnte, meint<br />
Ihr Anglizismenmuffel<br />
Wolfgang Hildebrandt<br />
Wolfgang Hildebrandt, Mal ganz ehrlich<br />
– denglischst du noch oder sprechen<br />
Sie schon?, Band 2, ISBN 978-3-<br />
929744-52-1, 6,00 Euro. Bestellungen:<br />
Wolfgang Hildebrandt, Am Steingrab<br />
20a, D-27628 Lehnstedt, Telefon +49-<br />
(0)4746-1069, Telefax +49-(0)4746-<br />
931<strong>43</strong>2, hillesimm@t-online.de<br />
schutz – 18. wärmendes Kriechtier – 19. Schlafmöbel oberhalb der Eisenbahn<br />
– 20. jemand, der durch Faserpflanzen kriecht – 21. kleines Unglück<br />
von Borstenvieh – 22. Fernwaffe, die Schmutz verteilt – 23. Lebensraum<br />
eines Kellners – 24. innerster Lotterieschein – 25. Meßlatte für Nachtlokale<br />
– 26. Bulle, der zwei Kühe begattet – 27. haarige Haut des Internets –<br />
28. kleiner Blutsauger als Anwendung für sog. „Smartphones“ – 29. wenn<br />
Mönche ihre Zimmer halbieren – 30. besonders gründliche Reinigung<br />
an – ap – ap – ba – baum – be – ber – ber – ber – bett – bie – bo – che – chen<br />
– dek – den – der – dop – dreck – ei – ein – fah – fal – fein – fel – fer – flä – füh –<br />
fül – ge – gel – gleit – haft – heiz – hen – kalk – ker – kern – kers – kes – knecht<br />
– krampf – kür – land – le – lend – ler – ler – ler – los – lung – mahl – mast<br />
– me – ne – nen – nen – o – pau – pel – pelz – plaus – putz – rin – ro – schirm<br />
– schlan – schleu – schlüp – schul – schwei – sel – seln – sen – stoff – strom –<br />
tau – tei – ten – ter – ti – ü – we – web – wech – wein – will – woll – zäh – zank<br />
– zeit – zell – zug<br />
<strong>Deutsche</strong> <strong>Sprachwelt</strong>_Ausgabe <strong>43</strong>_Frühjahr 2011<br />
Bericht aus Berlin<br />
Lösungen: 1. Antikalk – 2. wechselhaft – 3.<br />
Landei – 4. Fahnenmast – 5. Weberknecht<br />
– 6. Zankapfel – 7. Willkür – 8. Stromzähler<br />
– 9. Schuldenfalle – 10. einkesseln<br />
– 11. Ringeltaube – 12. Weinkrampf – 13.<br />
Henkersmahlzeit – 14. Bienenfühler – 15.<br />
Botenstoff – 16. Pausenfüller – 17. Gleitschirm<br />
– 18. Heizschlange – 19. Bettüberzug<br />
– 20. Baumwollschlüpfer – 21. Schweinelendchen<br />
– 22. Dreckschleuder – 23.<br />
Oberfläche – 24. kernlos – 25. Barometer<br />
– 26. Doppeldecker – 27. Webpelz – 28.<br />
Applaus – 29. Zellteilung – 30. Feinputz<br />
Prof. Dr. Dagmar Schmauks ist in der Arbeitsstelle<br />
für Semiotik an der Technischen Universität<br />
Berlin tätig. Semiotik ist die Wissenschaft<br />
von den Zeichen.<br />
Einladung zum Fünften Köthener Sprachtag<br />
am 24. und 25. Juni 2011 in Köthen/Anhalt, ausgerichtet von der Neuen Fruchtbringenden Gesellschaft<br />
Bitte deutlich schreiben!<br />
das im wesentlichen wie das attributive<br />
(beifügende) Adjektiv gebeugt<br />
wird. Und diese Deklination kann<br />
stark oder schwach sein; schwach<br />
nach dem bestimmten Artikel (der<br />
alte Mann, das kleine Kind), stark<br />
ohne Artikel (alter Mann, kleines<br />
Kind).<br />
So weit, so einfach. Dem Adjektiv<br />
können aber auch andere Adjektive,<br />
unbestimmte Für- und Zahlwörter,<br />
Demonstrativ- und Possessivpronomen<br />
vorangehen, genauso dem substantivierten.<br />
Da treffen wir etliche<br />
nette <strong>Deutsche</strong>, einige unangenehme<br />
<strong>Deutsche</strong>, einzelne <strong>Deutsche</strong>,<br />
manche <strong>Deutsche</strong>(n), mehrere <strong>Deutsche</strong>,<br />
sämtliche <strong>Deutsche</strong>(n), solche<br />
Anmeldung<br />
n Ich nehme am Fünften Köthener Sprachtag (24. und 25. Juni<br />
2011) teil und bringe ________ Personen mit. Bitte senden Sie<br />
mir die Tagungsunterlagen (endgültiges Programm, Hotelliste) zu<br />
___________________________________________________________<br />
Name, Vorname<br />
_________________________________________________________________________________________<br />
Straße<br />
_________________________________________________________________________________________<br />
Postleitzahl und Ort<br />
_________________________________________________________________________________________<br />
Elektronische Post<br />
_________________________________________________________________________________________<br />
Datum und Unterschrift<br />
Schicken Sie die ausgefüllte Anmeldung bitte bis spätestens zum 31. Mai 2011 an:<br />
Neue Fruchtbringende Gesellschaft zu Köthen/Anhalt e. V., Schloßplatz 5, D-06366<br />
Köthen/Anhalt, Telefon und Telefax +49-(0)3496-405740, sprachtag@fruchtbringendegesellschaft.de<br />
<strong>Deutsche</strong>n, wenige <strong>Deutsche</strong>, unsere<br />
<strong>Deutsche</strong>n, diese <strong>Deutsche</strong>n und uns<br />
<strong>Deutsche</strong>.<br />
Es ist also nicht so einfach mit<br />
uns <strong>Deutsche</strong>n. Wie sollen wir<br />
<strong>Deutsche</strong>(n) nun richtig sagen und<br />
schreiben? Die Grammatik belehrt<br />
uns, daß nach Personalpronomen die<br />
Deklination schwankt, besonders im<br />
Nominativ Plural. „Wir <strong>Deutsche</strong>n“<br />
scheint etwas häufiger zu sein als das<br />
Bismarcksche „Wir <strong>Deutsche</strong> (fürchten<br />
Gott …)“. Doch falsch lag Otto<br />
von Bismarck nicht und Westerwelle<br />
in diesem Fall auch nicht. Sollte<br />
noch ein „als“ hinzukommen, wird<br />
übrigens nur stark gebeugt: „Wir als<br />
<strong>Deutsche</strong>“.<br />
E<br />
inmal im Jahr treffen sich Sprachfreunde<br />
und Sprachvereine im<br />
anhaltischen Köthen zum Sprachtag.<br />
Freitag, 24. Juni<br />
„Kleines Volksfest der deutschen<br />
Sprache“ von 16.00 bis 19.30 Uhr<br />
im Schloßbereich mit Informationen<br />
rund um die deutsche Sprache und<br />
mit Mitmachaktionen für Groß und<br />
Klein.<br />
Samstag, 25. Juni<br />
Vorträge und Vorführungen der Städte<br />
entlang der „Straße der deutschen<br />
Sprache“. Der Tagungsort ist in der<br />
Wallstraße 48, D-06366 Köthen/Anhalt.<br />
Von Lienhard Hinz<br />
s lebe Berlin“ heißt der treff-<br />
E liche Wahlspruch der Berliner<br />
Verkehrsbetriebe (BVG.de). „Es lebe<br />
Berlin“ könnte auch das Leitwort<br />
der Ausstellung „Berlins vergessene<br />
Mitte. Stadtkern 1840–2010“ im<br />
Ephraim-Palais sein. Die Stiftung<br />
Stadtmuseum und das Landesarchiv<br />
zeigen noch bis zum 27. März auf<br />
380 Originalfotos und mit Fundstükken<br />
Berlins historische Altstadt rund<br />
um die Kirchen St. Marien und St.<br />
Nikolai, wo heute der Fernsehturm<br />
am Alexanderplatz und das Nikolaiviertel<br />
sind. Die Spuren der Geschichte<br />
unter dem Berliner Pflaster<br />
reizen die heutigen Stadtplaner – das<br />
veranschaulicht ein Kartenausschnitt<br />
des Planwerkes Innenstadt.<br />
„Es lebe Berlin“ – unter diesem Zeichen<br />
stand bis zum 6. März auch die<br />
Ausstellung im <strong>Deutsche</strong>n Historischen<br />
Museum „Reinhold Begas:<br />
Monumente für das Kaiserreich“. Sie<br />
erinnerte an den berühmtesten Bildhauer<br />
des Berliner Neubarocks anläßlich<br />
seines 100. Todestages. Sein<br />
Nationaldenkmal für Kaiser Wilhelm<br />
I. wurde 1950, ein Jahr vor der<br />
Sprengung des Berliner Schlosses,<br />
zerstört. Verschwunden sind auch<br />
seine brandenburgisch-preußischen<br />
Herrscherstandbilder der Siegesallee<br />
im Tiergarten. Dort wurden sie 1954<br />
heimlich vergraben. Erhalten sind<br />
zum Glück nicht nur die Löwengruppen<br />
vom Sockel des Nationaldenkmals<br />
im Tierpark Friedrichsfelde.<br />
Verspielt und lebendig wirken die<br />
Figuren des „Neptunbrunnens“ vor<br />
dem Roten Rathaus. Anziehungspunkte<br />
sind auch das „Alexandervon-Humboldt-Denkmal“<br />
Unter den<br />
Linden, das „Bismarck-Denkmal“<br />
am Großen Stern und natürlich das<br />
Das endgültige Tagungsprogramm<br />
wird sowohl auf www.fruchtbringendegesellschaft.de<br />
veröffentlicht als auch<br />
nach der Anmeldung zugeschickt.<br />
Anreise<br />
Köthen liegt unweit der Autobahnen<br />
A9 (Berlin – München) und A14<br />
(Magdeburg – Dresden). Die nächsten<br />
großen Städte sind Berlin (120<br />
km), Leipzig (50 km), Magdeburg<br />
(50 km), Halle (30 km), Hannover<br />
(200 km). Züge des Fernverkehrs<br />
zwischen Leipzig – Halle – Köthen<br />
– Magdeburg – Braunschweig –<br />
Hannover – Dortmund fahren alle<br />
zwei Stunden. Nahverkehrszüge<br />
zwischen Köthen und Dessau sowie<br />
zwischen Magdeburg und Halle<br />
über Köthen verkehren stündlich.<br />
„Schiller-Denkmal“<br />
auf dem<br />
Gendarmenmarkt.<br />
Die Auseinandersetzung<br />
der<br />
Photographen mit<br />
Begas’ Werken im<br />
Berliner Stadtraum<br />
veranschaulichte bis zum 16. Januar<br />
die Photoschau im Georg-Kolbe-Museum<br />
„Reinhold Begas – Vom Atelier<br />
in die Stadt – Photographien“.<br />
Ergreifend sind die Photoserien zum<br />
Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmal –<br />
die glanzvolle Einweihung und der<br />
Abriß. Dokumentiert sind richtungsweisende<br />
Werke, wie der Neptunbrunnen<br />
und das Schillerdenkmal.<br />
Der Dichter der Freiheit, Friedrich<br />
Schiller, konnte die Huldigung<br />
der Berliner anläßlich seiner Reise<br />
nach Berlin im Mai 1804 entgegennehmen.<br />
Vor der Aufführung seines<br />
Trauerspiels „Die Braut von Messina“<br />
wurde er bei seinem Erscheinen<br />
in der Theaterloge von den Zuschauern<br />
mit endlosem Jubel begrüßt. Eine<br />
Sensation war schon am 23. November<br />
1801 die Berliner Aufführung<br />
der romantischen Tragödie „Die<br />
Jungfrau von Orleans“ unter dem berühmten<br />
Schauspieler Iffland durch<br />
den prunkvoll inszenierten Krönungszug.<br />
Der 100. Geburtstag des<br />
Nationaldichters war den Berlinern<br />
1859 Anlaß für die Errichtung des<br />
auch heute bestaunten Denkmals.<br />
Im wieder reichhaltigen Berliner<br />
Konzertprogramm des Winters machten<br />
die Rockkonzerte der Gruppe<br />
„Unheilig“ von sich reden, weil der<br />
Sänger Graf mit hoher Musikalität<br />
nur deutsch singt. Ein viel gewünschtes<br />
Lied aus dem Album „Große Freiheit“<br />
ist „Geboren um zu leben“.<br />
Der Flughafen Leipzig-Halle ist mit<br />
einer direkten Zugverbindung in 35<br />
Minuten erreichbar.