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Phänomelogie der Schrift - Peter-matussek.de

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0. Einführung / Übersicht<br />

0.1 Der Mythos von <strong><strong>de</strong>r</strong> Erfindung <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong> (Platon: Phaidros 274e1-275b2)<br />

0.2 Deutungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Mythenstelle<br />

0.3 Populäre Positionen<br />

1. Physiologie <strong>de</strong>s Lesens<br />

1.1 Die drei Lernstufen beim Lesen und ihre Anfälligkeit für Lesefehler<br />

1.2 Die für Sprachverarbeitung zuständigen Gehirnareale<br />

1.3 Der Mechanismus <strong>de</strong>s Lesens: simultan o<strong><strong>de</strong>r</strong> sukzessiv?<br />

1.3.1 Lesen unter <strong>de</strong>m Diktat <strong>de</strong>s Tachistoskops<br />

1.3.2 Aufzeichnungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Augenbewegung beim Lesen<br />

1.3.3 Die Augenbewegung ertasten<br />

1.3.4 Die Augenbewegung in Nachbil<strong><strong>de</strong>r</strong>n sehen<br />

2. Psychophysik <strong>de</strong>s Lesens<br />

2.1 Diskrete Kognitionsleistungen bei Sacca<strong>de</strong>n<br />

2.1.1 Kontinuität <strong>de</strong>s Lesevorgangs als Simulation <strong>de</strong>s Gehirns<br />

2.1.2 Kann man von Augenbewegungen auf kognitive Prozesse schließen?<br />

2.1.3 Der "Wortüberlegenheitseffekt"<br />

2.1.4 Minimierung <strong><strong>de</strong>r</strong> Relevanzkriterien<br />

2.2 Implizite Antizipationsleistungen bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Lektüre<br />

2.2.1 Voraberkennung <strong>de</strong>s Folgen<strong>de</strong>n: Die "eye voice span"<br />

2.5.2 Retention von Gelesenem und Protention erwarteten Sinns<br />

2.2.3 Ambiguitätstoleranz<br />

2.3 Erinnerungsaktivierung durch Leselücken<br />

2.3.1 Die Versuche von Goldschei<strong><strong>de</strong>r</strong> und Müler<br />

2.3.2 Goldschei<strong><strong>de</strong>r</strong>/Müller über die Ergänzung von Textlücken<br />

2.3.3 Erinnerungsaktivierung durch Leselücken (Bergson)<br />

2.4 Warum Speichermo<strong>de</strong>lle <strong>de</strong>s Lesens unzulänglich sind<br />

2.4.1 Das Experiment von Ebbinghaus<br />

2.4.2 Die These von <strong><strong>de</strong>r</strong> hierarchischen Struktur <strong><strong>de</strong>r</strong> Worterkennung<br />

2.4.3 Lesen als Speicherabruf: Das Lektüremo<strong>de</strong>ll <strong><strong>de</strong>r</strong> Generativen Grammatik<br />

2.5 Rezeptions- und Produktionsakte auf allen Ebenen <strong>de</strong>s Lektürevorgangs<br />

3. Phämenologie <strong>de</strong>s Lesens<br />

3.1 Können Maschinen lesen?<br />

3.2 Kontinuität <strong>de</strong>s Lesevorgangs als Simulation <strong>de</strong>s Gehirns<br />

3.3 Das Lesen geht <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong> voraus<br />

3.4 Lesen als produktiver Prozess<br />

4. Lektürezentrierte Texttheorien<br />

4.1 Roman Ingar<strong>de</strong>ns "Unbestimmtheitsstellen"<br />

4.2 Wolfgang Isers "Leerstellen"<br />

4.2.1 Der systematische Ort von Leerstellen<br />

4.2.2 Leerstellen ermöglichen Mitvollzug <strong>de</strong>s Lesers<br />

4.2.3 Leerstellen in <strong><strong>de</strong>r</strong> bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Kunst<br />

4.2.4 Leerstellen im Film<br />

4.2.5 Leerstellen in <strong><strong>de</strong>r</strong> Musik<br />

4.3 Julia Kristevas "Intertextualität"<br />

4.3.1 Typen <strong><strong>de</strong>r</strong> Intertextualität<br />

4.3.2 Lesen und Schreiben zwischen <strong>de</strong>n Zeilen: postscript<br />

5. Ursprüge <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong><br />

5.1 Thoth alias Hermes: Der Erfin<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong><br />

5.1.1 <strong>Schrift</strong> und Zahl<br />

5.2 Steinzeitliche Vorstufen <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong> I: Bil<strong><strong>de</strong>r</strong>zählungen<br />

5.3 Steinzeitliche Vorstufen <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong> II: Bildzeichen<br />

5.4 Zeichen ohne <strong>Schrift</strong>funktion: Mas d'Azil<br />

5.5 Zeichen mit <strong>Schrift</strong>funktion: Vinca<br />

6. Die antiken <strong>Schrift</strong>kulturen<br />

6.1 Übersichtskarte <strong><strong>de</strong>r</strong> antiken <strong>Schrift</strong>kulturen<br />

6.2 Ägypten<br />

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31.01.2009 19:40 Uhr


6.2.1 Ägypten I: Vom Piktogramm zum I<strong>de</strong>ogramm<br />

6.2.2 Ägypten II: Stilisierung/Reduzierung <strong><strong>de</strong>r</strong> Bildzeichen<br />

6.2.3 Ägypten III: Verlautlichung durch Rebuszeichen<br />

6.2.4 Ägypten IV: Phonetische Silben- und Lautzeichen<br />

6.2.5 Ägypten V: Ein-, Zwei-, und Dreilautzeichen, Determinative<br />

6.2.6 Ägypten VI: Beispieltext<br />

6.3 Mesopotamien, Persien, Anatolien<br />

6.3.1 Mesopotamien I: Zähltafeln<br />

6.3.2 Mesopotamien II: Vom Piktogramm zur Keilschrift<br />

6.3.3 Mesopotamien III: Technik <strong><strong>de</strong>r</strong> Keilschrift<br />

6.3.4 Mesopotamien IV: Der Co<strong>de</strong>x Hammurabi<br />

6.3.5 Persien<br />

6.3.6 Anatolien<br />

6.4 Levanteküste<br />

6.4.1 Levanteküste I: Die semitischen <strong>Schrift</strong>en<br />

6.4.2 Levanteküste II: Das phönizische Alphabet<br />

6.4.3 Levanteküste III: Phönizische Inschriften<br />

6.4.4 Levanteküste IV: Möglichkeiten und Grenzen <strong><strong>de</strong>r</strong> Entzifferung von Konsonantenalphabeten<br />

6.4.5 Levanteküste V: Stammbaum unseres lateinischen Alphabets<br />

6.5 Griechenland<br />

6.5.1 Griechenland I: Diskus von Phaistos<br />

6.5.2 Griechenland II: Linear A, Linear B (Knossos)<br />

6.5.3 Griechenland III: Verlust <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong> (ca. 1200 - 750 v. Chr.) - "Singen" und "Sagen"<br />

6.5.3.1 Die Seevölkerkrise<br />

6.5.3.2 Griechenland III: Verlust <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong> (ca. 1000 - 750 v. Chr.) - "Singen" und "Sagen"<br />

6.5.3.3 Rekonstruktion <strong><strong>de</strong>r</strong> homerischen Gesänge<br />

6.5.4 Griechenland IV: Einführung <strong>de</strong>s phönizischen Alphabets<br />

6.5.5 Griechenland V: Frühe griechische Inschriften<br />

6.5.6 Griechenland VI: Monumental- bzw. Lapidarschriften (2. Jh. n. Chr.)<br />

6.6 Italien<br />

6.6.1 Italien I: Die etruskische <strong>Schrift</strong><br />

6.6.2 Italien II: Die lateinische <strong>Schrift</strong><br />

6.7 Entwicklungsschema: Vom Bild zum Laut<br />

6.8 Buchstäbliches Resümee: Von Aleph und Beth zum Alphabet<br />

7. Die griechische <strong>Schrift</strong>revolution<br />

7.1 Synopse zur <strong>Schrift</strong>einführung in Griechenland<br />

7.2 Platon, <strong><strong>de</strong>r</strong> schriftkritische <strong>Schrift</strong>steller<br />

7.3 Platons Phaidros<br />

7.3.1 berlieferung <strong>de</strong>s Phaidros<br />

7.3.2 Aufbau <strong>de</strong>s Phaidros (nach Heitsch 1993)<br />

7.3.2.1 Der Ort <strong>de</strong>s Gesprchs<br />

7.3.2.2 Die <strong>Schrift</strong> <strong>de</strong>s Lysias (230e-234c) - Aufbauschema<br />

7.3.2.3 Sokrates' erste Re<strong>de</strong> (237b2-241d1) - Aufbauschema<br />

7.3.2.4 Sokrates' zweite Re<strong>de</strong> (243e9-257b6) - Aufbauschema<br />

7.3.3 Der Text von Platons Phaidros, (Ausführlich auf CD-ROM)<br />

7.4 Der Mythos von <strong><strong>de</strong>r</strong> Erfindung <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong> (Phaidros 274e1275b2)<br />

7.4.1 Phaidros 274e1-275b2<br />

7.4.2 Übersetzungen<br />

7.4.3 Phaidros 274e1-275b2 - Philologische Hinweise<br />

7.4.4 Die mehrfach hypoleptische Struktur <strong><strong>de</strong>r</strong> Mythenstelle<br />

7.4.4.1 Hypolepse als Charakteristikum <strong>de</strong>s frühen <strong>Schrift</strong>tums in <strong><strong>de</strong>r</strong> griechischen Antike<br />

7.4.5 Rezeptionsgeschichte <strong><strong>de</strong>r</strong> Mythenstelle<br />

7.4.6 Platon diktiert Sokrates<br />

0. Einführung / Übersicht<br />

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31.01.2009 19:40 Uhr


Der Mythos von <strong><strong>de</strong>r</strong> Erfindung <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong> (Platon: Phaidros 274e1–275b2)<br />

Deutungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Mythenstelle<br />

Populäre Positionen<br />

0.1 Der Mythos von <strong><strong>de</strong>r</strong> Erfindung <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong> (Platon: Phaidros 274e1-275b2)<br />

0.2 Deutungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Mythenstelle<br />

0.3 Populäre Positionen<br />

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Vieles nun soll Thamus <strong>de</strong>m Theuth über je<strong>de</strong> Kunst dafür und dawi<strong><strong>de</strong>r</strong> gesagt haben,<br />

welches weitläufig wäre alles anzuführen. Als er aber an die Buchstaben gekommen, habe<br />

Theuth gesagt: 'Diese Kunst, o König, wird die Ägypter weiser machen und<br />

gedächtnisreicher, <strong>de</strong>nn als ein Mittel für Erinnerung und Weisheit ist sie erfun<strong>de</strong>n.' Jener<br />

aber habe erwi<strong><strong>de</strong>r</strong>t: 'O kunstreicher Theuth, einer weiß, was zu <strong>de</strong>n Künsten gehört, ans Licht<br />

zu bringen; ein an<strong><strong>de</strong>r</strong>er zu beurteilen, wieviel Scha<strong>de</strong>n und Vorteil sie <strong>de</strong>nen bringen, die sie<br />

gebrauchen wer<strong>de</strong>n. So hast auch du jetzt, als Vater <strong><strong>de</strong>r</strong> Buchstaben, aus Liebe das Gegenteil<br />

<strong>de</strong>ssen gesagt, was sie bewirken. Denn diese Erfindung wird <strong>de</strong>n Seelen <strong><strong>de</strong>r</strong> Lernen<strong>de</strong>n<br />

vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung <strong><strong>de</strong>r</strong> Erinnerung, weil sie im<br />

Vertrauen auf die <strong>Schrift</strong> sich nur von außen vermittels frem<strong><strong>de</strong>r</strong> Zeichen, nicht aber innerlich<br />

sich selbst und unmittelbar erinnern wer<strong>de</strong>n. Nicht also für die Erinnerung, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n nur für<br />

die Gedächtnisstützung hast du ein Mittel erfun<strong>de</strong>n, und von <strong><strong>de</strong>r</strong> Weisheit bringst du <strong>de</strong>inen<br />

Lehrlingen nur <strong>de</strong>n Schein bei, nicht die Sache selbst. Denn in<strong>de</strong>m sie nun vieles gehört<br />

haben ohne Unterricht, wer<strong>de</strong>n sie sich auch vielwissend zu sein dünken, obwohl sie<br />

größtenteils unwissend sind, und schwer zu behan<strong>de</strong>ln, nach<strong>de</strong>m sie dünkelweise gewor<strong>de</strong>n<br />

statt weise.<br />

Thoth mit seinem Schreibzeug vor <strong>de</strong>m Sonnengott Re-Harachte.<br />

Aus <strong>de</strong>m Totenbuch <strong><strong>de</strong>r</strong> Prinzessin Nestanebteschra aus <strong>de</strong>m 11. Jh. v. Chr.<br />

Pap. Brit. Mus. 10554 Col. 52, 21. Dyn, Theben.<br />

Abstimmung <strong>de</strong>s Auditoriums über die Frage, welche Deutung <strong><strong>de</strong>r</strong> Mythenstelle am meisten einleuchtet:<br />

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1. Physiologie <strong>de</strong>s Lesens<br />

1.1 Die drei Lernstufen beim Lesen und ihre Anfälligkeit für Lesefehler<br />

1) Logographisches Lesen<br />

Dies ist <strong><strong>de</strong>r</strong> erste Schritt beim Lesenlernen: Ein Kind entnimmt aus<br />

visuellen Anzeichen, um welches Wort es sich han<strong>de</strong>lt. Zum Beispiel wird<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> typische Coca-Cola-<strong>Schrift</strong>zug als Coca-Cola gelesen, auch wenn er<br />

zu Cola-Coca, Calo-Coco o<strong><strong>de</strong>r</strong> Caca-Caca verfrem<strong>de</strong>t ist. Diese Art <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Merkmalserkennung bleibt beim Lesen stets involviert.<br />

2) Alphabetisches Lesen<br />

Solange die Buchstaben noch gelernt wer<strong>de</strong>n, ist das serielle Entziffern<br />

eines Wortes und <strong><strong>de</strong>r</strong> Vergleich mit <strong>de</strong>m zugehörigen Lautbild eine<br />

notwendige Stufe. Aber es ist eben nur eine Übergangsstufe. C-o-c-a C-o-l-a T-e-m-p-o<br />

3) Orthographisches Lesen<br />

Geübte Leser achten nicht mehr auf je<strong>de</strong>n einzelnen Buchstaben, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auf die gesamte Wortgestalt. Diese Lesestufe entspricht also wie<strong><strong>de</strong>r</strong> mehr <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten und<br />

ist für Lesefehler entsprechend anfällig. So wird die Individalität einzelner Buchstaben oft gar nicht bemerkt (o<strong><strong>de</strong>r</strong> haben Sie bemerkt, dass das Wort Individualität<br />

vorhin falsch geschrieben war?) bzw. es wer<strong>de</strong>n ganze Worte je nach Erfahrungshintergrund <strong>de</strong>s Lesers modifiziert – etwa wenn eine Leseforscherin berichtet, dass<br />

ihr "nach einem Tag im Frauenbuchla<strong>de</strong>n die Lebensversicherung auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Reklamewand zur Lesbenversicherung wird" (Bergermann 1994), o<strong><strong>de</strong>r</strong> eine stu<strong>de</strong>ntische<br />

Hilfskraft folgen<strong>de</strong>s in unsere Datenbank eintrug und damit verriet, was sie lieber täte als Literatur zu Aby Warburgs "Nachleben <strong><strong>de</strong>r</strong> Antike" aufzunehmen:<br />

Was auf <strong><strong>de</strong>r</strong> buchstäblichen Ebene als bloße Fehlleistung erscheint – das Auffüllen von Ungenauigkeiten <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrnehmung durch die Imagination <strong>de</strong>s Lesers – ist auf<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Ebene größerer Texteinheiten ein notwendiger Anteil an <strong><strong>de</strong>r</strong> Sinnproduktion, <strong><strong>de</strong>r</strong> von literarischen Texten auch gezielt intendiert wird (vgl. 3.2).<br />

1.2 Die für Sprachverarbeitung zuständigen Gehirnareale<br />

Quelle: Kan<strong>de</strong>l u.a. (1995), S. 17.<br />

Quelle: Hauer/Herschey (2007)<br />

PET-Scans unterschiedlicher Wortverarbeitungsmodi sowie schematische Darstellung <strong>de</strong>s Broca- (B) und <strong>de</strong>s Wernicke-<br />

Areals (W). Das Broca-Areal ist für die motorische Artikulation und grammatische Analyse von Sprache zuständig<br />

(Abb. C), das Wernicke-Areal ist entschei<strong>de</strong>nd für die integrative Verarbeitung verschie<strong>de</strong>ner Sprachaspekte und<br />

somit für das Verstehen von Wörtern (Abb. B und D). Aber auch die rechte Gehirnhälfte ist an <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Sprachwahrnehmung beteiligt. Sie verarbeitet die Klangfarbe und die emotionalen Aspekte <strong><strong>de</strong>r</strong> Sprache.<br />

(Zum aktuellen Stand <strong><strong>de</strong>r</strong> Forschung vgl. dieses Vi<strong>de</strong>o).<br />

1.3 Der Mechanismus <strong>de</strong>s Lesens: simultan o<strong><strong>de</strong>r</strong> sukzessiv?<br />

http://peter-<strong>matussek</strong>.<strong>de</strong>/Leh/V_13_Materia!compact.php<br />

Um 1860 begannen Physiologen, die Augenbewegungen beim Lesen in Labor-Experimenten zu untersuchen.<br />

Hierfür wur<strong>de</strong> das Tachistoskop eingesetzt, ein Gerät, mit <strong>de</strong>m sich kurze Expositionszeiten z.B. von Buchstaben<br />

genau einstellen lassen. Die Abbildung rechts zeigt ein "Falltachistoskop", wie es Wilhelm Wundt verwen<strong>de</strong>te.<br />

Die Beantwortung <strong><strong>de</strong>r</strong> Frage, ob das Lesen ein gestalthaft wahrnehmen<strong><strong>de</strong>r</strong> Vorgang ist, <strong><strong>de</strong>r</strong> die Wörter simultan an<br />

ihrer "Gesamtform" erkennt, o<strong><strong>de</strong>r</strong> ob es sich vielmehr um ein serielles Erfassen von Buchstabenfolgen han<strong>de</strong>lt,<br />

blieb lange umstritten. Die frühen Tachistoskpexperimente schienen die zweite These zu belegen (vgl. 1.3.1).<br />

Es gab aber auch Tachistoskopexperimente, die zu an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Ergebnissen führten (2.3).<br />

Heute gebräuchliche, weniger manipulative Verfahren sind:<br />

31.01.2009 19:40 Uhr


• Elektrookulographie (EOG)<br />

Quelle: Zimmerman (1910)<br />

• Reflexionsmetho<strong>de</strong>n mit Infrarotlicht<br />

• Blickaufzeichnung mit Lesebrillen (s. Abb.).<br />

Mit solchen Verfahren lässt sich nachweisen, dass sich die Augenbewegung beim Lesen Sprüngen, sog. "Sacca<strong>de</strong>n", vollzieht (Demonstration<br />

1.3.2).<br />

1.3.1 Lesen unter <strong>de</strong>m Diktat <strong>de</strong>s Tachistoskops<br />

Es gibt aber auch weniger aufwendige Metho<strong>de</strong>n, sich von <strong><strong>de</strong>r</strong> Tatsache zu überzeugen, dass die Augenbewegung<br />

beim Lesen charakteristische Sprünge macht:<br />

• Die Augenbewegung ertasten (1.3.3)<br />

• Die Augenbewegung in Nachbil<strong><strong>de</strong>r</strong>n sehen (1.3.4)<br />

Quelle: http://www.ceb-trier.<strong>de</strong>/forschung_ausstattung.php<br />

Manipulation <strong>de</strong>s Leseverhaltens durch Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Expositionsdauer<br />

Versuchen Sie, Ihren jeweiligen Erfassungsmodus zu beobachten (pro Klick erhalten Sie eine Präsentation):<br />

Sie wer<strong>de</strong>n feststellen, dass Sie zunehmend zu einer seriellen Lektüre gezwungen wer<strong>de</strong>n – zum Buchstabieren allerdings auch das<br />

meist nur unter <strong><strong>de</strong>r</strong> Voraussetzung, dass die Zeichenkombinationen keinen Sinn ergeben. Dies liegt am sogenannten<br />

"Wortüberlegenheitseffekt" (2.1.3).<br />

1.3.2 Aufzeichnungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Augenbewegung beim Lesen<br />

Bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Reflexionsmetho<strong>de</strong> mit Infrarotlicht wer<strong>de</strong>n die Bewegungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Pupille in Relation zum Objekt erfasst und können dann auf X-Y-Koordinaten<br />

in einem Plotter-Diagramm übertragen wer<strong>de</strong>n. So lässt sich zeigen, dass das Auge Sprünge macht, und auch diese nicht in einer linearen Sequenz<br />

erfolgen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n Rücksprünge und Schleifen einschließt (Bergermann 1994, S. 343).<br />

1.3.3 Die Augenbewegung ertasten<br />

Die Augen springen also von einer Fixation zur nächsten. Diese Sprünge<br />

wer<strong>de</strong>n Sacca<strong>de</strong>n genannt.<br />

Die Sacca<strong>de</strong>n sind, wie das Schema links zeigt, in <strong><strong>de</strong>r</strong> Regel zwischen 5<br />

und 20 Buchstaben weit und dauern durchschnittlich 9 Millisekun<strong>de</strong>n, die<br />

Fixationen 220 (Zum Vergleich: ein Lidschlag dauert ca. 100<br />

Milisekun<strong>de</strong>n).<br />

Während <strong>de</strong>s Lesens "steht" also das Auge zu etwa 90% <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit. Was<br />

dazwischen geschieht, ist so kurz, dass wir gar nicht alle Buchstaben<br />

genau erkennen können, wie in dieser Simulation.<br />

Quellen: Günther (1998) und Jegensdorf (1980)<br />

Während Sie diesen Text lesen, versuchen Sie zunächst einmal, die Buchstaben <strong><strong>de</strong>r</strong> Reihe<br />

nach aufzunehmen, ganz gleichmäßig, wie an einer Perlenschnur aufgereiht. Was machen<br />

Ihre Augen dabei?<br />

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Nun probieren Sie einmal mit diesem Absatz folgen<strong>de</strong>s: Halten Sie sich ein Auge zu,<br />

in<strong>de</strong>m Sie ganz sanft Ihre Fingerspitzen über das Lid legen (so machen Sie es richtig!).<br />

Wenn Sie nun weiterlesen, wer<strong>de</strong>n Sie spüren, dass Ihre Augäpfel nicht etwa<br />

gleichmäßige, lineare Bewegungen machen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n ruckartig hin- und herspringen. Dies<br />

ist die natürliche Lesebewegung unserer Augen. Sie vollzieht sich unter<br />

Normalbedingungen immer in solchen Sprüngen, sogenannten "Sacca<strong>de</strong>n", wie sie<br />

erstmals <strong><strong>de</strong>r</strong> französische Augenarzt Javal (1879) beschrieben hat.<br />

31.01.2009 19:40 Uhr


1.3.4 Die Augenbewegung in Nachbil<strong><strong>de</strong>r</strong>n sehen<br />

Nachbild erzeugen und Text lesen<br />

Hinweis: Bitte machen Sie diesen Versuch nur, wenn Sie einen flimmerfreien Monitor haben, da Ihre<br />

Augen sonst übermäßig angestrengt wer<strong>de</strong>n!<br />

Wenn Sie auf "Start" gedrückt haben, wer<strong>de</strong>n Sie zunächst für ca. 20 Sekun<strong>de</strong>n diese Figur<br />

zu sehen bekommen. Versuchen Sie während dieser Zeit, <strong>de</strong>n kleinen schwarzen Punkt möglichst<br />

unverwandt zu fixieren, damit sich ein <strong>de</strong>utliches Nachbild entwickeln kann. Danach wird Ihnen ein<br />

Text präsentiert. Wenn Sie diesen lesen, können Sie dabei das Nachbild <strong>de</strong>s fixierten Dreiecks über<br />

die Zeilen springen sehen – entsprechend zur Bewegung Ihrer Augen.<br />

Start<br />

2. Psychophysik <strong>de</strong>s Lesens<br />

Haben Sie dasselbe gesehen wie diese Stu<strong>de</strong>ntin?<br />

2.1 Diskrete Kognitionsleistungen bei Sacca<strong>de</strong>n<br />

2.1.1 Simulation eines kontinuierlichen Leseflusses<br />

Die Unterstellung einer seriellen Texterfassung beruht auf <strong>de</strong>m Erlebnis <strong><strong>de</strong>r</strong> Kontinuität <strong><strong>de</strong>r</strong> Lektüre.<br />

Doch dieses Erlebnis <strong><strong>de</strong>r</strong> Kontinuität entspricht nicht <strong>de</strong>m realen Vorgang, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n ist eine<br />

Simulationsleistung <strong>de</strong>s Gehirns, wie sich mit diesem Experiment nachweisen lässt.<br />

2.1.2 Unbewusste Steuerungsintelligenz bei Sacca<strong>de</strong>n<br />

Ein klassisches Experiment zum Nachweis, dass Augenbewegungsmessungen als Indikatoren für<br />

kognitives Prozessgeschehen herangezogen wer<strong>de</strong>n können.<br />

2.1.3 Erkennung von Sinneinheiten: Der "Wortüberlegenheitseffekt"<br />

Mit verschie<strong>de</strong>nen Experimenten lässt sich nachweisen, dass Buchstaben in Wörtern besser erkannt<br />

wer<strong>de</strong>n als in sinnloser Abfolge.<br />

2.1.4 Ausfilterung von Irrelevanzen<br />

Wörter wer<strong>de</strong>n von uns unbemerkt nach ihrer Relevanz bewertet. Dabei genügen in <strong><strong>de</strong>r</strong> Regel schon<br />

die Anfangs- und Endbuchstaben eines Worts, wie diese Experimente zeigen.<br />

2.1.1 Kontinuität <strong>de</strong>s Lesevorgangs als Simulation <strong>de</strong>s Gehirns<br />

Vorhersehbare und unvorhersehbare Än<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Textposition<br />

Was uns während <strong>de</strong>s Lesevorgangs als gleichmäßige, lineare Bewegung <strong><strong>de</strong>r</strong> Augen erscheint, ist iin Wirklichkeit eine Leistung <strong>de</strong>s Gehirns, das die ruckartigen<br />

Bewegungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Sacca<strong>de</strong>n sowie an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Gesichtsfeldverän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen ausgleicht Probieren Sie es, in<strong>de</strong>m Sie <strong><strong>de</strong>r</strong> Anweisung im Textfeld folgen (so wird's gemacht!).<br />

Diese Leistung <strong>de</strong>s Gehirns funktioniert nur <strong>de</strong>shalb, weil die Positionsän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Vorlage vom Akteur willentlich vollzogen wer<strong>de</strong>n: Die Än<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Blickrichtung wird antizipiert, und so kann <strong><strong>de</strong>r</strong> Übergang zur nächsten Perspektive mit <strong><strong>de</strong>r</strong> vorherigen nahtlos verknüpft wer<strong>de</strong>n; <strong><strong>de</strong>r</strong> Lesefluss bleibt erhalten.<br />

Nun probieren Sie einmal aus, wie Ihre Lektüreleistung ist, wenn die Bewegung vom Objekt ausgeht (Start = grün, Stop = rot):<br />

2.1.2 Kann man von Augenbewegungen auf kognitive Prozesse schließen?<br />

Würfel vergleichen<br />

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31.01.2009 19:40 Uhr


In dieser Versuchsanordnung von Just und Carpenter (1985)<br />

wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Proban<strong>de</strong>n die Aufgabe gestellt, zwei gezeichnete<br />

Würfelansichten miteinan<strong><strong>de</strong>r</strong> daraufhin zu vergleichen, ob sie<br />

i<strong>de</strong>ntisch sind o<strong><strong>de</strong>r</strong> nicht, wobei ein Würfel immer um ein, zwei<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> drei Achsen gedreht erschien. Es gab also unterschiedliche<br />

Schwierigkeitsgra<strong>de</strong> und genau darin unterschie<strong>de</strong>n sich die<br />

Blicksequenzen und die Dauer <strong><strong>de</strong>r</strong> Blicke. Was Sie unten sehen,<br />

ist ein durchschnittlicher Blickverlauf.<br />

2.1.3 Der "Wortüberlegenheitseffekt"<br />

Aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Tabelle lässt sich die Logik je<strong><strong>de</strong>r</strong> einzelnen Blickbewegung<br />

und -dauer ablesen, die jeweils <strong>de</strong>n Anfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Aufgabenstellung entspricht.<br />

Quelle: Lüer (1988)<br />

Buchstaben wer<strong>de</strong>n im Wort besser erkannt als einzeln o<strong><strong>de</strong>r</strong> in sinnlosen Gruppen, wobei die Erkennbarkeit sinnloser Buchstabenfolgen steigt, wenn<br />

diese <strong><strong>de</strong>r</strong> wahrscheinlichen Häufigkeit in <strong><strong>de</strong>r</strong> Alltagssprache nahekommen (vgl. Günther 1988, S. 149 ff).<br />

Die Beobachtung von Cattell<br />

Schon James McKeen Cattell (1885) hatte ent<strong>de</strong>ckt, dass Versuchspersonen tachistoskopisch dargebotene Wörter wesentlich besser reproduzieren<br />

können als sinnlose Buchstabenfolgen. Überprüfen Sie, wie oft Sie die folgen<strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Darbietungen jeweils aufrufen müssen, um die Zeichenfolgen<br />

zu erkennen:<br />

Woran liegt es, dass Worte leichter erkannt wer<strong>de</strong>n als sinnlose Buchstabenfolgen?<br />

Sinnvolle Einheiten können gleichwohl unerkannt bleben, wenn sie in Worteinheiten enthalten sind – ein weiterer Beleg für <strong>de</strong>n<br />

Wortüberlegenheitseffekt. Das lässt sich auf simple Weise mit diesem Beispiel <strong>de</strong>monstrieren:<br />

Fin<strong>de</strong>n Sie die Tiere? Wieviele sind es?<br />

(Auflösung: In das Textbeispiel klicken.)<br />

Wäre die Lektüre ein serieller Erfassungsprozess, wür<strong>de</strong>n die Tiere leichter erkannt wer<strong>de</strong>n.<br />

2.1.4 Minimierung <strong><strong>de</strong>r</strong> Relevanzkriterien<br />

Unterschiedliche Gewichtung einzelner Buchstaben<br />

Der folgen<strong>de</strong> Test zeigt, dass bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Lektüre die einzelnen Buchstaben unterschiedliche Aufmerksamkeitswerte<br />

erhalten, je nach<strong>de</strong>m, wie wichtig sie für das Verständnis sind. Lesen Sie <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Text und zählen Sie dabei,<br />

wieviele "F" in ihm vorkommen:<br />

Unabhängigkeit von <strong><strong>de</strong>r</strong> genauen Wortgestalt<br />

Dass es nicht die exakte äußere Form <strong><strong>de</strong>r</strong> Wörter ist, die <strong>de</strong>n Wortüberlegenheitseffekt bewirkt, ist seit längerem in<br />

verschie<strong>de</strong>nen Experimenten belegt wor<strong>de</strong>n. Dass aber sogar die Buchstabenreihenfolge innerhalb eines Wortes für<br />

die sofortige Erkennung gleichgültig ist – diese erstaunliche Tatsache lässt sich mit diesem Experiment belegen.<br />

Lesen Sie sich diese Zeitungsmeldung aus <strong><strong>de</strong>r</strong> "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 23.9.2003 so schnell wie<br />

möglich laut vor.<br />

Vgl. Rawlinson (1976)<br />

2.2 Implizite Antizipationsleistungen bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Lektüre<br />

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2.2.1 Voraberkennung <strong>de</strong>s Folgen<strong>de</strong>n. Die "eye-voice-span"<br />

Ein Experiment zur Verifikation <strong><strong>de</strong>r</strong> Tatsache, dass die Augen Textpartien in das Kurzzeitgedächtnis<br />

"la<strong>de</strong>n", bevor sie bewusst gelesen wer<strong>de</strong>n.<br />

2.2.2 Retention von Gelesenem und Protention erwarteten Sinns<br />

Die visuellen Vorgriffe bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Lektüre, die sogenannten "Protentionen", liefern nicht immer die<br />

richtigen Daten, weil sie auf antizipatorischen Annahmen beruhen. Diese zwei Experimente zeigen,<br />

wie wir durch Protentionshemmung beim Lesen ins Stolpern geraten können.<br />

2.2.3 Ambiguitätstoleranz<br />

Die Korrektur von Protentionen ist nur möglich, weil diese für eine Weile im Kurzzeitgedächtnis<br />

präsent bleiben und somit eine Überprüfung <strong>de</strong>s Textsinns ermöglichen, wie diese zwei Versuche<br />

dokumentieren.<br />

2.2.1 Voraberkennung <strong>de</strong>s Folgen<strong>de</strong>n: Die "eye voice span"<br />

Ohne dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Leser es bemerkt, lädt er vorausliegen<strong>de</strong> Textpartien in sein Kurzzeitgedächtnis, die dort vorrätig<br />

gehalten wer<strong>de</strong>n. Diese "eye voice span" (vgl. Schlesinger 1968) beträgt ca. 1,5 Sekun<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>ckt sich mit<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Spanne <strong>de</strong>s Kurzzeitgedächtnisses. Sie lässt sich experimentell leicht verifizieren:<br />

Auslesen <strong>de</strong>s visuellen Kurzzeitspeichers<br />

Wenn Sie auf <strong>de</strong>n run<strong>de</strong>n Lichtschalter gedrückt haben, wird Ihnen ein Text präsentiert. Lesen Sie sich diesen<br />

Text laut vor. Wenn <strong><strong>de</strong>r</strong> Text plötzlich vor Ihren Augen verschwin<strong>de</strong>t, sprechen Sie weiter, so lange es geht.<br />

2.5.2 Retention von Gelesenem und Protention erwarteten Sinns<br />

2.2.3 Ambiguitätstoleranz<br />

Das Textverständnis erschließt sich beim Lesen nicht im sukzessiven Verlauf, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n analog zum<br />

Wechselspiel von Protention und Retention bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Worterkennung.<br />

Ambiguitätstoleranz <strong><strong>de</strong>r</strong> Protention<br />

Lesen Sie die folgen<strong>de</strong>n Sätze sehr langsam. Erschließt sich ihr Sinn kontinuierlich?<br />

a) Um das Schloss zu kaufen, mussten sie es erst waschen: das Geld, das aus <strong>de</strong>m Bankraub stammte.<br />

b) Das Schloss, das sie gekauft hatten, klemmte.<br />

c) Was sie von <strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Bankräubern unterschied, war ihre Herkunft: Sie stammte aus Sachsen.<br />

Mehr<strong>de</strong>utige Worte ("Schloss", "es", "waschen", "sie") wecken unter Umstän<strong>de</strong>n falsche<br />

Be<strong>de</strong>utungserwartungen, die dann je nach Kontext korrigiert wer<strong>de</strong>n. Dass dies möglich ist, ohne <strong>de</strong>n Sinn<br />

komplett zu verlieren, weist darauf hin, dass die Protentionen ambiguitätstolerant sind.<br />

Der Kontrast zwischen Protention und Retention wird bisweilen als Stilmittel zur Erzeugug von<br />

Überrschaungseffekten eingesetzt:<br />

Bewältigung von Kollisionen zwischen Protention und Retention<br />

Lesen Sie die folgen<strong>de</strong>n Sätze wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um sehr langsam:<br />

a) Das Licht am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Tunnels gehörte zu einem entgegenkommen<strong>de</strong>n Zug.<br />

b) Das einzig Positive auf dieser Etappe war sein Doping-Test.<br />

Auch wenn Protention und Retention sich diametral wi<strong><strong>de</strong>r</strong>sprechen, muss die Kollision nicht zum<br />

Verstehensabbruch führen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n kann einen neuen Sinn erzeugen.<br />

2.3 Erinnerungsaktivierung durch Leselücken<br />

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2.3.1 Die Tachistoskopexperimente von Goldschei<strong><strong>de</strong>r</strong> und Müller<br />

Nicht alle Tachistoskopexperimente über <strong>de</strong>n Vorgang <strong>de</strong>s Lesens, die in <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit um 1900<br />

durchgeführt wur<strong>de</strong>n (vgl. 2.3), verleiteten zu <strong><strong>de</strong>r</strong> irrigen Ansicht, dass wir beim Lesen die einzelnen<br />

Buchstaben sukzessive erfassen. Goldschei<strong><strong>de</strong>r</strong> und Müller (1893) konnten mit einer an<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

Versuchsanordnung zeigen, "dass innerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong> optischen Sphäre ... Erinnerungen gewisser regelmäßiger,<br />

symmetrischer o<strong><strong>de</strong>r</strong> häufig vorkommen<strong><strong>de</strong>r</strong> Formen wachgerufen wer<strong>de</strong>n. Durch Erfahrungen <strong>de</strong>s täglichen<br />

Lebens (Formen <strong><strong>de</strong>r</strong> Gegenstän<strong>de</strong>, Zeichnungen, Lesen etc.) sind wir mit einer ganzen Reihe von<br />

Form-Anschauungen bekannt gewor<strong>de</strong>n, und diese Erinnerungen spielen ... für das Erkennen <strong><strong>de</strong>r</strong> Anordnung<br />

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<strong><strong>de</strong>r</strong> Elemente eine wichtige Rolle." Diese Formen wer<strong>de</strong>n, wie die Experimente bewiesen, simultan, als<br />

komplette Muster, erkannt.<br />

2.3.2 Goldschei<strong><strong>de</strong>r</strong>/Müller über die Ergänzung von Textlücken<br />

Mit einem weiteren Experiment konnten Goldschei<strong><strong>de</strong>r</strong> und Müller nachweisen, dass unvollständig<br />

geschriebene Wörter unwillkürlich durch <strong>de</strong>n Leser ergänzt wer<strong>de</strong>n – und zwar in Korrelation zur<br />

Geläufigkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Wörter für die Vpn, d.h. in einem Zusammenspiel von Wahrnehmung und<br />

erinnerungsgespeister Antizipation bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Lektüre.<br />

2.3.3. Erinnerungsaktivierung durch Leselücken (Bergson)<br />

Der Philosoph Henri Bergson zog in seinem Werk Materie und Gedächtnis (1896) aus <strong>de</strong>n Befun<strong>de</strong>n<br />

von Goldschei<strong><strong>de</strong>r</strong> und Müller weitreichen<strong>de</strong> Konsequenzen über <strong>de</strong>n Zusammenhang von<br />

Wahrnehmung und Erinnerung.<br />

2.3.1 Die Versuche von Goldschei<strong><strong>de</strong>r</strong> und Müler<br />

Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>erkennungstest<br />

Den Versuchspersonen wur<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>m nebenstehend abgebil<strong>de</strong>ten Gerät zur<br />

Kurzzeitpräsentation Zeichen dargeboten, die mehr o<strong><strong>de</strong>r</strong> weniger<br />

alphanumerischen Formen ähnelten, um herauszufin<strong>de</strong>n, ob die Ähnlichkeiten<br />

mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>erkennungsrate korreliert. Probieren Sie selbst:<br />

Welche <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeichengruppen benötigen mehr, welche weniger häufige<br />

Präsentationen, um sicher wie<strong><strong>de</strong>r</strong>erkannt zu wer<strong>de</strong>n?<br />

Klicken Sie die Zeichenkombinationen an und testen Sie, wieviele Durchgänge<br />

Sie benötigen. Bei Klick auf "Ergebnisse" erfahren Sie, wie die Proban<strong>de</strong>n von<br />

Goldschei<strong><strong>de</strong>r</strong> und Müller abgeschnitten haben.<br />

2.3.2 Goldschei<strong><strong>de</strong>r</strong>/Müller über die Ergänzung von Textlücken<br />

Die Beobachtung, dass es<br />

offenbar genügt, wenn Leser<br />

einige Charakteristika von<br />

bekannten Formen erfassen,<br />

um sie aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Erinnerung zu<br />

vervollständigen, verifizierten<br />

Goldschei<strong><strong>de</strong>r</strong>/Müller in einer<br />

Versuchsanordnung, bei <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

lückenhafte Wörter, die kurz<br />

unterm Tachistoskop<br />

präsentiert wur<strong>de</strong>n, ergänzt<br />

wer<strong>de</strong>n mussten.<br />

Dabei stellten sie fest, dass<br />

die jeweiligen<br />

Ergänzungsleistungen in einer<br />

Korrelation zur Geläufigkeit<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Wörter im<br />

Sprachgebrauch <strong><strong>de</strong>r</strong> Vpn<br />

stan<strong>de</strong>n. Auch hier also<br />

han<strong>de</strong>lte es sich offenbar<br />

nicht um ein<br />

buchstabenweises Lesen,<br />

son<strong><strong>de</strong>r</strong>n ein spontanes<br />

Erfassen <strong>de</strong>s Gesamtwortes,<br />

das je nach Erinnerbarkeit<br />

mehr o<strong><strong>de</strong>r</strong> weniger falsch war.<br />

2.3.3 Erinnerungsaktivierung durch Leselücken (Bergson)<br />

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Ähnliche Befun<strong>de</strong> erhoben:<br />

Külpe (1893)<br />

Erdmann/Dodge (1898)<br />

Zeitler (1900)<br />

Münsterberg (1913)<br />

Henri Bergson (1896) zog aus <strong>de</strong>n Versuchen von Goldschei<strong><strong>de</strong>r</strong>/Müller folgen<strong>de</strong> Konsequenz:<br />

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Lückenergänzungstest<br />

Sie können Bergsons These überprüfen, in<strong>de</strong>m Sie auf die Zitatfläche klicken und noch einmal<br />

versuchen, <strong>de</strong>n nun lückenhften Text zu lesen.<br />

Beispiele für <strong>de</strong>n schöpferischen Anteil <strong>de</strong>s Lesens hatten wir schon auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Stufe <strong>de</strong>s logographischen<br />

und orthographischen Lesens gefun<strong>de</strong>n (vgl. 1.1). In einem komplexeren Sinne aber weist Bergsons<br />

Bemerkung auf die Unbestimmtheits- und Leerstellentheorie Ingar<strong>de</strong>ns (3.1) und Isers (3.2) voraus.<br />

2.4 Warum Speichermo<strong>de</strong>lle <strong>de</strong>s Lesens unzulänglich sind<br />

2.4.1 Das Experiment von Ebbinghaus<br />

Ein Versuch von Hermann Ebbinghaus, um die Speicherkapazität <strong>de</strong>s menschlichen Gedächtnisses zu testen...<br />

2.4.2 Die These von <strong><strong>de</strong>r</strong> hierarchischen Struktur <strong><strong>de</strong>r</strong> Worterkennung<br />

Mo<strong>de</strong>lle, die die Worterkennung als stufenweisen Aufbau von einfachen graphischen Merkmalen über Buchstaben<br />

zu Wörtern darstellen, entsprechen nicht <strong>de</strong>m tatsächlichen Kognitionsgeschehen beim Lesen.<br />

2.4.3 Das Lektüremo<strong>de</strong>ll <strong><strong>de</strong>r</strong> Generativen Grammatik<br />

Auch das Erfassen ganzer Satzstrukturen hat man mit einem hierarchischen Speichermo<strong>de</strong>ll zu beschreiben<br />

versucht...<br />

2.4.1 Das Experiment von Ebbinghaus<br />

Um 7 Silben zu lernen, bedurfte<br />

es kaum einer Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>holung,<br />

Zwölfsilbenreihen mussten 16<br />

mal und<br />

Sechsundzwanzigsilbenreihen 55<br />

mal gelernt wer<strong>de</strong>n.<br />

Die durchschnittliche Fähigkeit,<br />

sieben Einheiten – seit Miller<br />

(1956) wer<strong>de</strong>n sie "Chunks"<br />

genannt – auf einmal zu lernen,<br />

wird damit erklärt, dass sie <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

natürlichen "Gedächtnisspanne"<br />

entspricht.<br />

Der Psychologe Hermann Ebbinghaus unternahm 1879/80 und 1883/84 einen Selbstversuch, bei <strong>de</strong>m er<br />

sinnlose Silben auswendig lernte (Ebbinghaus 1885), z.B.<br />

dosch päm feur lot ...<br />

2.4.2 Die These von <strong><strong>de</strong>r</strong> hierarchischen Struktur <strong><strong>de</strong>r</strong> Worterkennung<br />

Dabei kam er zu folgen<strong><strong>de</strong>r</strong> Verhältnisbestimmung von Silbenzahl und erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>lichen Lerndurchgängen:<br />

Nach McClelland/Rumelhart (1981) sind drei Ebenen an <strong><strong>de</strong>r</strong> Worterkennung beteiligt, die<br />

miteinan<strong><strong>de</strong>r</strong> interagieren:<br />

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31.01.2009 19:40 Uhr


2.4.3 Lesen als Speicherabruf: Das Lektüremo<strong>de</strong>ll <strong><strong>de</strong>r</strong> Generativen Grammatik<br />

Der hier dargestellten Hypothese zufolge wird ein<br />

Proband, <strong><strong>de</strong>r</strong> ein bestimmtes Wort (z.B. "Arbeiter")<br />

erinnert, bestimmte an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Wörter (z.B. "fleißige"<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> "bauen") mit einer Wahrscheinlichkeit erinnern,<br />

die <strong><strong>de</strong>r</strong> Häufigkeit ihrer Verknüpfung mit Chunk-<br />

Knoten entspricht. So wird er z.B. "fleißig" sehr viel<br />

wahrscheinlicher erinnern als "bauen", da "bauen"<br />

nur über <strong>de</strong>n höchstgelegenen Knoten S mit N1<br />

("Arbeiter") verbun<strong>de</strong>n ist, während "fleißig" schon<br />

über NP1 mit "Arbeiter" zusammenhängt.<br />

Auszug aus: Hörmann (1976), S. 447.<br />

2.5 Rezeptions- und Produktionsakte auf allen Ebenen <strong>de</strong>s Lektürevorgangs<br />

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass auf allen Ebenen <strong><strong>de</strong>r</strong> Lektüre – von <strong><strong>de</strong>r</strong> Blickbewegung <strong><strong>de</strong>r</strong> Augen<br />

über die Worterkennung bis zum Verstehen von Sätzen sowohl rezeptive als auch produktive Akte<br />

zusammenspielen.<br />

Das geläufige kognitionswissenschaftliche Textmo<strong>de</strong>ll ist daher nur dann als zutreffend zu bezeichnen, wenn<br />

wir auf allen Ebenen neben <strong>de</strong>n informationsaufnehmen<strong>de</strong>n auch die informationsgenerieren<strong>de</strong>n Akte <strong>de</strong>s<br />

Lesers berücksichtigen. Bisher haben wir folgen<strong>de</strong> Ebenen behan<strong>de</strong>lt:<br />

(1) Das visuelle Wahrnehmen <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong>zeichen […]<br />

(2) Die Verleihung von Wort- und Satzbe<strong>de</strong>utung durch 'Denkakt(e)' […]<br />

(3) Die Konstruktion von dargestellten Sachzusammenhängen zu <strong>de</strong>n Satzsinnen. […]<br />

Im folgen<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n wir dasselbe Prinzip auf diesen Ebenen wie<strong><strong>de</strong>r</strong>fin<strong>de</strong>n:<br />

3. Phämenologie <strong>de</strong>s Lesens<br />

3.1 Können Maschinen lesen?<br />

(4) Die Ausfüllung <strong><strong>de</strong>r</strong> 'Unbestimmtheitsstellen' […]<br />

(5) Die Aktualisierung, d.h. Bewusstmachung von Ansichten […]<br />

(6) Die Gewinnung ästhetischer Qualitäten durch die […] Konstitution von Gestaltqualitäten.<br />

Auch in Bezug auf Computer sagen wir, dass sie "lesen" ('Read Only Memory',<br />

'Barco<strong>de</strong>-Leser' etc.). Diese Lesarten sind hinsichtlich eines spezifischeren Begriffs<br />

von "Lesen" im Sinne von <strong>Schrift</strong>rezeption nicht weniger metaphorisch als die<br />

vorgenannten. Denn Speichermedien für Computerco<strong>de</strong>s, wie z.B. die abgebil<strong>de</strong>ten<br />

CD-ROMs, sind für uns schlechthin unlesbar.<br />

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31.01.2009 19:40 Uhr<br />

Zitate aus Grzesik (1990) S. 37 ff.<br />

Es ist aber festzustellen, dass unser Begriff <strong>de</strong>s<br />

Lesens sich <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s maschinellen Lesens bereits<br />

angenähert hat, <strong><strong>de</strong>r</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong> bloßen Entnahme von<br />

Daten aus Speichern aufgeht.<br />

Äußerungen wie die folgen<strong>de</strong>n sind damit schon<br />

beinahe unnachvollziehbar gewor<strong>de</strong>n:<br />

"Die guten Leutchen wissen nicht, was es<br />

einem [sic!] für Zeit und Mühe gekostet, um<br />

lesen zu lernen. Ich habe achtzig Jahre dazu


3.2 Kontinuität <strong>de</strong>s Lesevorgangs als Simulation <strong>de</strong>s Gehirns<br />

gebraucht und kann noch nicht sagen, dass ich<br />

am Ziel wäre."<br />

Goethe zu Eckermann, 25.1.1830.<br />

"<strong>Schrift</strong>lichkeit ist Selbstentfremdung. Ihre<br />

Überwindung, das Lesen <strong>de</strong>s Textes, ist also die<br />

höchste Aufgabe <strong>de</strong>s Verstehens."<br />

Wir haben uns zu sehr an das informationstechnische Maschinenmo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s Lesens gewöhnt, um auf Anhieb einzusehen,<br />

dass <strong>de</strong>m Lesen <strong><strong>de</strong>r</strong> Primat vor <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong> zugesprochen wer<strong>de</strong>n muss.<br />

Unser Wort "lesen" kommt vom griechischen "legein" und lateinischen "legere", was wörtlich mit "sammeln" zu<br />

übersetzen ist. Dieser Wortsinn fin<strong>de</strong>t sich auch noch in unserem Sprachgebrauch, wenn wir etwa von "Weinlese" sprechen<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> davon, dass wir heruntergefallene Kleinteile vom Bo<strong>de</strong>n "auflesen". Was wir also lesen, muss nicht notwendig <strong>Schrift</strong><br />

sein bzw. wird erst dadurch zur <strong>Schrift</strong>, dass wir es für lesbar erklären – etwa, wenn wir von <strong><strong>de</strong>r</strong> "Handschrift" eines Täters<br />

sprechen, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich durch bestimmte Tatprofile auszeichnet.<br />

Den semantischen Übergang von dieser weiteren Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Worts "lesen" zur engeren können wir z. B. am nordischen<br />

Runenorakel nachvollziehen, bei <strong>de</strong>m Tierknochen mit heißem Eisen zum Zerspringen gebracht wur<strong>de</strong>n. Die Teile wur<strong>de</strong>n<br />

dann eingesammelt und dabei das Orakel "gelesen".<br />

Der eigentliche Begriff <strong>de</strong>s Lesens fügt also <strong><strong>de</strong>r</strong> äußeren Sammlung eine innere Sammlung hinzu, die nötig ist, um einen<br />

Text zu entziffern. Dass dieser "Text" nicht unbedingt aus <strong>Schrift</strong> im konventionellen Sinne bestehen muss, können wir an<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> alten Metapher vom "Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Natur" ablesen, die eine Lesbarkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt (Blumenberg 1981) vor aller <strong>Schrift</strong><br />

unterstellt, wie z. B. in <strong>de</strong>m folgen<strong>de</strong>n Dialog aus Goethes Roman Wilhelm Meisters Wan<strong><strong>de</strong>r</strong>jahre:<br />

"Wenn ich nun aber", versetzte jener, "eben diese Spalten und Risse als Buchstaben behan<strong>de</strong>lte, sie zu entziffern suchte,<br />

sie zu Worten bil<strong>de</strong>te und sie fertig zu lesen lernte, hättest du etwas dagegen?"<br />

– "Nein, aber es scheint mir ein weitläufiges Alphabet."<br />

– "Enger, als du <strong>de</strong>nkst; man muss es nur kennen lernen wie ein an<strong><strong>de</strong>r</strong>es auch. Die Natur hat nur eine <strong>Schrift</strong>, und ich<br />

brauche mich nicht mit so vielen Kritzeleien herumzuschleppen. Hier darf ich nicht fürchten, wie wohl geschieht, wenn<br />

ich mich lange und liebevoll mit einem Pergament abgegeben habe, dass ein scharfer Kritikus kommt und mir versichert,<br />

das alles sei nur untergeschoben."<br />

– Lächelnd versetzte <strong><strong>de</strong>r</strong> Freund: "Und doch wird man auch hier <strong>de</strong>ine Lesarten streitig machen."<br />

3.3 Das Lesen geht <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong> voraus<br />

Goethe (1820/29), S. 34.<br />

Gadamer (1960), S. 368.<br />

Auch für die Situation nach Einführung <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong> als konventinalisiertem Co<strong>de</strong> gilt das zuvor Gesagte: Was die <strong>Schrift</strong> jeweils be<strong>de</strong>utet, wird durch <strong>de</strong>n Leser<br />

konstituiert. Auch konventionelle <strong>Schrift</strong>zeichen müssen vom Leser ge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n, um Sinn für ihn zu bekommen. Und da ihre Deutung vom jeweiligen<br />

Vorverständnis <strong>de</strong>s Lesers – seinem kulturell und biographisch erworbenen Wissenshorizont – abhängt, ist ihre Be<strong>de</strong>utung niemals festgelegt, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n unterliegt<br />

variablen Prozessen <strong><strong>de</strong>r</strong> Sinnproduktion.<br />

Dieser Doppelcharakter <strong><strong>de</strong>r</strong> Lektüre zwischen <strong><strong>de</strong>r</strong> Dekodierung von <strong>Schrift</strong>zeichen und <strong><strong>de</strong>r</strong> Produktion von Be<strong>de</strong>utungen zieht sich durch alle Epochen <strong><strong>de</strong>r</strong> –<br />

bisherigen – Geschichte <strong>de</strong>s Lesens. Immer schon unterschie<strong>de</strong>n die <strong>Schrift</strong>theoretiker zwischen expliziter und impliziter Aussage, zwischen <strong>de</strong>m "Buchstaben"<br />

und <strong>de</strong>m "Geist" eines Textes, und entwarfen Anleitungen, wie man "zwischen <strong>de</strong>n Zeilen" liest.<br />

Bevor wir uns einigen <strong><strong>de</strong>r</strong> wichtigsten zeitgenössischen Texttheorien zuwen<strong>de</strong>n, bei <strong>de</strong>nen dieser Doppelcharakter <strong><strong>de</strong>r</strong> Lektüre beson<strong><strong>de</strong>r</strong>e Berücksichtigung erfährt,<br />

lassen wir einen Philosophen zu Wort kommen, <strong><strong>de</strong>r</strong> eine entsprechen<strong>de</strong> Definition <strong>de</strong>s Lesens anbietet ...<br />

3.4 Lesen als produktiver Prozess<br />

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31.01.2009 19:40 Uhr<br />

Unsere Befun<strong>de</strong> über die Geschichte <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

(analogen) Lesarten könnte man mit diesem<br />

Zitat von Martin Hei<strong>de</strong>gger zusammenfassen:<br />

Was heißt Lesen? Das Tragen<strong>de</strong> und Leiten<strong>de</strong> im<br />

Lesen ist die Sammlung. Worauf sammelt sie?<br />

Auf das Geschriebene, auf das in <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong><br />

Gesagte. Das eigentliche Lesen ist die Sammlung<br />

auf das, was ohne unser Wissen einst schon unser<br />

Wesen in <strong>de</strong>n Anspruch genommen hat, mögen<br />

wir dabei ihm entsprechen o<strong><strong>de</strong>r</strong> versagen.<br />

(Hei<strong>de</strong>gger 1954, S. 111)


Um das Hei<strong>de</strong>gger-Zitat zu verstehen, muss man wissen, dass unser Wort "lesen" vom griechischen "legein"<br />

bzw. lateinischen "legere" abgeleitet ist und ursprünglich "sammeln" im Sinne von "einsammeln" be<strong>de</strong>utet – was<br />

auch in unseren Worten "Traubenlese", "Blütenlese" etc. noch enthalten ist. Zugleich verbin<strong>de</strong>t sich mit <strong>de</strong>m<br />

Begriff <strong>de</strong>s Sammelns schon früh die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Sich-Sammelns, <strong><strong>de</strong>r</strong> Kontemplation – etwa im<br />

Knochenorakel, bei <strong>de</strong>m <strong><strong>de</strong>r</strong> Prozess <strong>de</strong>s Einsammelns <strong><strong>de</strong>r</strong> Knochen zugleich eine Konzentration auf das eigene<br />

Schicksal bewirkte. Auf diesen doppelten Sprachgebrauch spielt Hei<strong>de</strong>gger hier an.<br />

4. Lektürezentrierte Texttheorien<br />

Wie wir gesehen haben, wird das, was wir als <strong>Schrift</strong> wahrnehmen, durch <strong>de</strong>n Leser mit konstituiert. So spricht Umberto Eco beispielsweise von <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

“Mitarbeit <strong>de</strong>s Lesers am Text”. Dies gilt auch für die höheren Ebenen <strong>de</strong>s Textverstehens. Nicht alle Texttheorien berücksichtigen das. Die in <strong>de</strong>n<br />

fünfziger und Anfang <strong><strong>de</strong>r</strong> sechziger Jahre <strong>de</strong>s vorigen Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts dominieren<strong>de</strong> “autorintentionale” o<strong><strong>de</strong>r</strong> “einfühlen<strong>de</strong>” Interpretation z. B. sah ihr Ziel<br />

darin, die sinnstiften<strong>de</strong> Absicht <strong>de</strong>s Autors zu rekonstruieren, und übersah dabei, dass auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Autor eines Textes nur einer von verschie<strong>de</strong>nen Deutern<br />

seines Textes sein kann. Seit <strong><strong>de</strong>r</strong> Mitte <strong><strong>de</strong>r</strong> sechziger Jahre folgte ein radikaler Umschwung: Provokativ erklärte Roland Barthes 1968 <strong>de</strong>n “Tod <strong>de</strong>s<br />

Autors” und proklamierte die leserorientierte “Lust am Text” (Barthes 1968, Barthes 1973). Sozialgeschichtliche und rezeptionsästhetische (vgl.<br />

Hohendahl 1974) sowie strukturalistische und semiotische Texttheorien (vgl. Zima 1977) entwarfen Mo<strong>de</strong>lle <strong>de</strong>s Verstehens, die die Produktivität <strong>de</strong>s<br />

Lesers berücksichtigen.<br />

Im folgen<strong>de</strong>n seien drei prominente Texttheorien vorgestellt, die beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s geeignet sind, die Appellstrukturen zu ver<strong>de</strong>utlichen, mit <strong>de</strong>nen Texte die Mitarbeit <strong>de</strong>s<br />

Lesers an <strong><strong>de</strong>r</strong> Sinnstiftung herausfor<strong><strong>de</strong>r</strong>n.<br />

4.1 Roman Ingar<strong>de</strong>ns "Unbestimmtheitsstellen"<br />

Den Begriff <strong><strong>de</strong>r</strong> "Unbestimmtheitsstellen" prägte Ingar<strong>de</strong>n in seinem Hauptwerk von 1931: Das literarische<br />

Kunstwerk. Er erläutert dazu:<br />

"Das literarische Werk und insbeson<strong><strong>de</strong>r</strong>e das literarische Kunstwerk, ist ein schematisches<br />

Gebil<strong>de</strong>. […] Min<strong>de</strong>stens eine seiner Schichten, und beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s die gegenständliche Schicht,<br />

enthalten in sich eine Reihe von 'Unbestimmtheitsstellen'. Eine solche Stelle zeigt sich<br />

überall dort, wo man aufgrund <strong><strong>de</strong>r</strong> im Werk auftreten<strong>de</strong>n Sätze von einem<br />

bestimmten Gegenstand (o<strong><strong>de</strong>r</strong> von einer gegenständlichen Situation) nicht sagen kann,<br />

ob er eine bestimmte Eigenschaft besitzt o<strong><strong>de</strong>r</strong> nicht. Wenn etwa in <strong>de</strong>n 'Bud<strong>de</strong>nbrooks'<br />

die Augenfarbe <strong>de</strong>s Konsuls Bud<strong>de</strong>nbrook nicht erwähnt wäre (was ich nicht nachgeprüft<br />

habe), dann wäre er in dieser Hinsicht überhaupt nicht bestimmt, obwohl zugleich aufgrund<br />

<strong>de</strong>s Kontextes und <strong><strong>de</strong>r</strong> Tatsache, dass er irgen<strong>de</strong>ine Augenfarbe haben musste; nur welche,<br />

das wäre nicht entschie<strong>de</strong>n. Analog in vielen an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Fällen. Die Seite o<strong><strong>de</strong>r</strong> Stelle <strong>de</strong>s<br />

dargestellten Gegenstan<strong>de</strong>s, von <strong><strong>de</strong>r</strong> man auf Grund <strong>de</strong>s Textes nicht genau wissen kann,<br />

wie <strong><strong>de</strong>r</strong> betreffen<strong>de</strong> Gegenstand bestimmt ist, nenne ich eine 'Unbestimmtheitsstelle'. […]<br />

Roman Ingar<strong>de</strong>n (1893–1970)<br />

Dieses ergänzen<strong>de</strong> Bestimmen nenne ich das 'Konkretisieren' <strong><strong>de</strong>r</strong> dargestellten Gegenstän<strong>de</strong>. Darin kommt die eigene,<br />

mitschöpferische Tätigkeit <strong>de</strong>s Lesers zu Wort: aus eigener Initiative und Einbildungskraft 'füllt' er verschie<strong>de</strong>ne<br />

Unbestimmtheitsstellen mit Momenten 'aus', die sozusagen aus vielen möglichen bzw. zulässigen gewählt wer<strong>de</strong>n, obwohl<br />

letzteres […] nicht notwendig ist. Gewöhnlich vollzieht sich diese 'Wahl' ohne bewusste und für sich gefasste Absicht <strong>de</strong>s<br />

Lesers. Er lässt einfach seine Phantasie frei walten und ergänzt die betreffen<strong>de</strong>n Gegenstän<strong>de</strong> durch eine Reihe neuer<br />

Momente, so dass sie voll bestimmt zu sein scheinen." (Ingar<strong>de</strong>n 1968, S. 49 u. 52)<br />

Die Art <strong><strong>de</strong>r</strong> Konkretisationen fin<strong>de</strong>t in <strong>de</strong>n Texten keine Berechtigung (3.1.1) – ein Angelpunkt für die Rezeptionsästhetik <strong><strong>de</strong>r</strong> 60er Jahre<br />

(3.1.2).<br />

4.2 Wolfgang Isers "Leerstellen"<br />

Wolfgang Iser (*1926)<br />

Wolfgang Iser modifiziert Ingar<strong>de</strong>ns Konzept, in<strong>de</strong>m er zwischen<br />

"Unbestimmtheitsstellen" und "Leerstellen" unterschei<strong>de</strong>t. Ingar<strong>de</strong>n<br />

benutzte <strong>de</strong>n Begriff <strong><strong>de</strong>r</strong> Leerstelle synonym mit <strong>de</strong>m <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Unbestimmtheitsstelle (1931, S. 265); Iser betont dagegen:<br />

"Ergeben sich Leerstellen aus <strong>de</strong>n Unbestimmtheitsbeträgen <strong>de</strong>s<br />

Textes, so sollte man sie wohl Unbestimmtheitsstellen nennen, wie es<br />

Ingar<strong>de</strong>n getan hatte. Leerstellen in<strong>de</strong>s bezeichnen weniger eine<br />

Bestimmungslücke <strong>de</strong>s intentionalen Gegenstan<strong>de</strong>s bzw. <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

schematisierten Ansichten als vielmehr die Besetzbarkeit einer<br />

bestimmten Systemstelle im Text durch die Vorstellung <strong>de</strong>s<br />

Lesers. Statt einer Komplettierungsnotwendigkeit zeigen sie eine<br />

Kombinationsnotwendigkeit an." (Iser 1976, S. 284)<br />

Den systematischen Ort von Leerstellen bestimmt Iser durch das Aneinan<strong><strong>de</strong>r</strong>stoßen verschie<strong>de</strong>ner Textschichten,<br />

sogenannter "Schnitte" (4.2.1).<br />

Die Funktion <strong><strong>de</strong>r</strong> Leerstellen ist es nach Iser, <strong>de</strong>m Leser einen Auslegungsspielraum zu eröffnen, durch <strong>de</strong>n er <strong>de</strong>n Sinn<br />

mitkonstituiert (4.2.2).<br />

In neuerer Zeit hat Isers Begriff <strong><strong>de</strong>r</strong> Leerstelle weit über die Texthermeneutik hinaus Karriere gemacht – so in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Kunstgeschichte (4.2.3), <strong><strong>de</strong>r</strong> Filmtheorie (4.2.4) und <strong><strong>de</strong>r</strong> Musikwissenschaft (4.2.5).<br />

4.2.1 Der systematische Ort von Leerstellen<br />

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"Die Leerstellen eines literarischen Textes sind nun keineswegs, wie man vielleicht vermuten könnte, ein<br />

Manko, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n bil<strong>de</strong>n einen elementaren Ansatzpunkt für seine Wirkung. Der Leser wird sie in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Regel bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Lektüre <strong>de</strong>s Romans nicht eigens bemerken. Dennoch sind sie auf seine Lektüre nicht ganz<br />

ohne Einfluss [...]. Der Leser wird die Leerstellen dauernd auffüllen beziehungsweise beseitigen. In<strong>de</strong>m er<br />

sie beseitigt, nutzt er <strong>de</strong>n Auslegungsspielraum und stellt selbst die nicht formulierten Beziehungen<br />

zwischen <strong>de</strong>n einzelnen Ansichten her. Dass dies so ist, lässt sich an <strong><strong>de</strong>r</strong> einfachen Erfahrungstatsache<br />

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ablesen, dass die Zweitlektüre eines literarischen Textes oftmals einen von <strong><strong>de</strong>r</strong> Erstlektüre abweichen<strong>de</strong>n<br />

Eindruck produziert. Die Grün<strong>de</strong> dafür mögen in <strong><strong>de</strong>r</strong> jeweiligen Befindlichkeit <strong>de</strong>s Lesers zu suchen sein,<br />

<strong>de</strong>nnoch muss <strong><strong>de</strong>r</strong> Text die Bedingungen für unterschiedliche Realisierungen enthalten. [...]<br />

Bekannte Vorgänge rücken nun in neue, ja sogar wechseln<strong>de</strong> Horizonte und erscheinen daher als<br />

bereichert, verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t und korrigiert. Von alle<strong>de</strong>m ist im Text selbst nichts formuliert; vielmehr produziert<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Leser diese Innovationen. Das wäre aber unmöglich, enthielte <strong><strong>de</strong>r</strong> Text nicht einen gewissen<br />

Leerstellenbeitrag, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n Auslegungsspielraum und die verschie<strong>de</strong>nartige Adaptierbarkeit <strong>de</strong>s Textes<br />

überhaupt ermöglichte. In dieser Struktur hält <strong><strong>de</strong>r</strong> Text ein Beteiligungsangebot an seine Leser bereit. [...]<br />

Erst die Leerstellen gewähren einen Anteil am Mitvollzug und an <strong><strong>de</strong>r</strong> Sinnkonstitution <strong>de</strong>s Geschehens."<br />

(Iser 1971, S. 234–236)<br />

4.2.2 Leerstellen ermöglichen Mitvollzug <strong>de</strong>s Lesers<br />

4.2.3 Leerstellen in <strong><strong>de</strong>r</strong> bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Kunst<br />

Kemp (1985) exemplifiziert an Gérômes Gemäl<strong>de</strong><br />

Der Tod <strong>de</strong>s Marschall Ney, das die Situation kurz<br />

nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Erschießung eines Zivilisten zeigt,<br />

verschie<strong>de</strong>ne Arten piktoraler Leerstellen: Die<br />

bildbeherrschen<strong>de</strong> Fläche einer Mauer, vor welcher<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Getötete liegt, in die <strong><strong>de</strong>r</strong> Betrachter also das<br />

vergangene Geschehen hineinzuprojizieren hat;<br />

<strong>de</strong>n im Bild nicht dargestellten Standort <strong><strong>de</strong>r</strong> Täter,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> nur durch die Bewegungsrichtung eines<br />

zurückblicken<strong>de</strong>n Soldaten zu erschließen ist; die<br />

bildliche Unbestimmtheit <strong><strong>de</strong>r</strong> Handlung und die<br />

fehlen<strong>de</strong> Stellungnahme <strong>de</strong>s Künstlers, die an das<br />

historische Erinnerungsvermögen <strong>de</strong>s Rezipienten<br />

appellieren.<br />

Das Beispiel macht <strong>de</strong>utlich, dass piktorale<br />

Léon Gérôme: Tod <strong>de</strong>s Marschall Ney (1868). Sheffield, City Art Galleries<br />

Leerstellen nicht einfach Auslassungen sind, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n Bil<strong>de</strong>lemente, die Kombinationsleistungen <strong>de</strong>s Betrachters<br />

anstoßen:<br />

4.2.4 Leerstellen im Film<br />

So wird die Mauer erst im Kontext <strong>de</strong>s davor liegen<strong>de</strong>n Toten zur Projektionsfläche seiner imaginierten<br />

Erschießung;<br />

4.2.5 Leerstellen in <strong><strong>de</strong>r</strong> Musik<br />

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ohne <strong>de</strong>n zurückblicken<strong>de</strong>n Soldaten wäre sie auch nicht als Zielrichtung <strong><strong>de</strong>r</strong> Schützen auszumachen;<br />

die Bekleidung <strong><strong>de</strong>r</strong> Personen schließlich gestattet bei aller historischen Unbestimmtheit <strong>de</strong>s Geschehens immerhin<br />

eine epochale Zuordnung, ohne die sie kaum einen Erinnerungsanlass böte.<br />

In <strong><strong>de</strong>r</strong> Filmtheorie wird Isers Terminus <strong><strong>de</strong>r</strong> Leerstelle neuerdings aufgegriffen – so etwa bei Edward Branigan (1998),<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> ihn mit "gaps" übersetzt. Auch David Bordwell (1985) spricht von "gaps". Diesen cinematographischen Leerstellen<br />

wird ebenso wie <strong>de</strong>n literarischen das evokatorische, zwischen Protentionen und Retentionen oszillieren<strong>de</strong> Potential<br />

zugesprochen, die Imaginationstätigkeit <strong>de</strong>s Rezipienten zu motivieren: "Gaps are among the clearest cues for the<br />

viewer to act upon, since they evoke the entire process of schema formation and hypothesis testing" (S. 55).<br />

Bordwell unterschei<strong>de</strong>t u.a. "narrational gaps" und<br />

"causal gaps", also erzählerische und kausale<br />

Leerstellen.<br />

Ein Beispiel für eine erzählerische und kausale<br />

Leerstelle im Film ist Hitchocks Spellbound (1945).<br />

Hier wird <strong><strong>de</strong>r</strong> Zuschauer mit <strong><strong>de</strong>r</strong> für ihn zunächst<br />

nicht erklärlichen Merkwürdigkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Zentralfigur<br />

konfrontiert, dass diese keine weißen Linien<br />

ertragen kann – die erzählerische Lücke stiftet ein<br />

Spannungsmoment, bis sich das Rätsel am En<strong>de</strong><br />

auflöst: Ein verdrängtes Kindheitstrauma.<br />

Die Theorie <strong><strong>de</strong>r</strong> "gaps" lässt sich auf computeranimierte Texte übertragen, wobei dann textuelle und piktorale,<br />

eventuell auch auditive Leerstellen zusammenkommen.<br />

31.01.2009 19:40 Uhr


Auch für die Musikgeschichte sind<br />

Leerstellen ein konstitutives Element <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Be<strong>de</strong>utunggenerierung durch <strong>de</strong>n<br />

Reizipienten.<br />

In Sibelius' Vertonung einer Szene aus<br />

Järnefelts Drama "Kuolema" (= Tod)<br />

erinnert sich eine Mutter im to<strong>de</strong>snahen<br />

Delirium an einen Ball, <strong>de</strong>n sie als junge<br />

Frau besuchte. Das Aussetzen <strong>de</strong>s<br />

Walzertakts auf <strong>de</strong>m Höhepunkt einer<br />

beunruhigen<strong>de</strong>n Steigerung <strong><strong>de</strong>r</strong> Dynamik<br />

lässt <strong>de</strong>n Hörer gleichsam in die<br />

Leerstelle hineinstürzen. Diese<br />

Leerstelle, nach <strong><strong>de</strong>r</strong> es ganz an<strong><strong>de</strong>r</strong>s,<br />

nämlich mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>kehr <strong>de</strong>s<br />

Walzerthemas im Lento assai,<br />

weitergeht, evoziert die<br />

Kombinationsleistung <strong>de</strong>s Hörers, dass<br />

die Frau wie aus einem Fiebertraum<br />

erwacht und mit einem agonalen Seufzer<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> Realität wie<strong><strong>de</strong>r</strong> angekommen ist:<br />

Jean Sibelius: Valse Triste aus <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Bühnenmusik op. 44 zu Arvid Järnefelts<br />

Drama Kuolema<br />

4.3 Julia Kristevas "Intertextualität"<br />

Julia Kristeva (*1941)<br />

Den Begriff <strong><strong>de</strong>r</strong> Intertextualität leitet Kristeva aus Bachtins Beobachtung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Dialogizität <strong><strong>de</strong>r</strong> Literatur ab (vgl. Bachtin 1979), die auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Grundlage<br />

von Derridas écriture und Lacans Unbewußtem als einer Sprache <strong>de</strong>s<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>en spezifiziert wird:<br />

"Für Bachtin ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Dialog nicht nur die vom Subjekt übernommene Sprache,<br />

son<strong><strong>de</strong>r</strong>n vielmehr eine Schreibweise (écriture), in <strong><strong>de</strong>r</strong> man <strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>en liest, […]<br />

So bezeichnet <strong><strong>de</strong>r</strong> Bachtinsche Dialogismus die Schreibweise zugleich als<br />

Subjektivität und als Kommunikativität, o<strong><strong>de</strong>r</strong> besser gesagt als Intertextualität.<br />

[…] Je<strong><strong>de</strong>r</strong> Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, je<strong><strong>de</strong>r</strong> Text ist Absorption<br />

und Transformation eines an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Textes." (Kristeva 1967, S. 351 u. 348)<br />

Grundsätzlich unterschei<strong>de</strong>t Kristeva zwei Textebenen: Zum einen <strong>de</strong>n "Phänotext", <strong>de</strong>n wir explizit vor uns haben; zum an<strong><strong>de</strong>r</strong>en <strong>de</strong>n<br />

"Genotext", aus <strong>de</strong>m jener hervorgeht:<br />

"Das, was wir [… ] Genotext genannt haben, umschließt alle semiotischen Vorgänge (Triebe, ihre Dispositionen, <strong>de</strong>n Zuschnitt, <strong>de</strong>n sie <strong>de</strong>m Körper<br />

aufprägen, und das ökologische und gesellschaftliche System, das <strong>de</strong>n Organismus umgibt [...]), aber auch die Heraufkunft <strong>de</strong>s Symbolischen<br />

(Auftauchen von Objekt und Subjekt, Konstituierung von Sinnkernen [...]) Also bil<strong>de</strong>t <strong><strong>de</strong>r</strong> Genotext die Grundlage <strong><strong>de</strong>r</strong> [kommunikativen] Sprache, die<br />

wir mit <strong>de</strong>m Terminus Phänotext kennzeichnen." (Kristeva 1974, S. 95)<br />

Lachmann (1990), Genette (1993) und an<strong><strong>de</strong>r</strong>e haben <strong>de</strong>n Intertextualitätsbegriff typologisch weiter differenziert (4.3.1).<br />

Was es heißt, "zwischen <strong>de</strong>n Zeilen" zu lesen und im Phänotext <strong>de</strong>n ihm zugrun<strong>de</strong>liegen<strong>de</strong>n Genotext zu erkennen, macht eine Animation<br />

von Marc Padovano und Wim Roegels anschaulich (4.3.2).<br />

4.3.1 Typen <strong><strong>de</strong>r</strong> Intertextualität<br />

Renate Lachmann (1990) unterschei<strong>de</strong>t drei Grundformen von<br />

Intertextualität:<br />

Partizipation schließt im Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holen und Erinnern <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

vergangenen Texte ein Konzept ihrer Nachahmung ein.<br />

Tropik verstehe ich im Sinne <strong>de</strong>s Tropus-Begriffs Harold<br />

Blooms als Wegwen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Vorläufertextes, als Kampf,<br />

tragischen Kampf gegen die sich in <strong>de</strong>n eigenen Text notwendig<br />

einschreiben<strong>de</strong>n frem<strong>de</strong>n Texte, als Versuch <strong><strong>de</strong>r</strong> Überbietung,<br />

Abwehr und Löschung <strong><strong>de</strong>r</strong> Spuren <strong>de</strong>s Vorläufertextes;<br />

Transformation dagegen als eine über Distanz, Souveränität<br />

und zugleich usurpieren<strong>de</strong> Gesten sich vollziehen<strong>de</strong> Aneignung<br />

<strong>de</strong>s frem<strong>de</strong>n Textes, die diesen verbirgt, verschleiert, mit ihm<br />

spielt, durch komplizierte Verfahren unkenntlich macht,<br />

respektlos umpolt, viele Texte mischt, eine Ten<strong>de</strong>nz zu Esoterik,<br />

Kryptik, Ludismus und Synkretismus zeigt (S. 39).<br />

Außer<strong>de</strong>m unterschei<strong>de</strong>t sie<br />

intendierte Intertextualität und latente Interertextualität<br />

sowie<br />

Produktionsintertextualtiät und<br />

Rezeptionsintertextualität (S. 57).<br />

4.3.2 Lesen und Schreiben zwischen <strong>de</strong>n Zeilen: postscript<br />

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31.01.2009 19:40 Uhr<br />

Ulrich Broich und Manfred Pfister (1985) unterschei<strong>de</strong>n<br />

Systemreferenz und Einzeltextreferenz – je nach<strong>de</strong>m, ob<br />

ein Text sich auf eine Gattung und ihre Tradition bezieht o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

auf ein einzelnes literarisches Vorbild.<br />

Außer<strong>de</strong>m unterschei<strong>de</strong>n sie zwischen nicht-markierter und<br />

markierter Intertextualität – je nach<strong>de</strong>m, ob implizit o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

explizit auf einen an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Text verwiesen wird.<br />

Gérard Genette (1993) erweitert Kristevas Begriff <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Intertextualität, in<strong>de</strong>m er ihn in ein Konzept einbettet, das fünf<br />

Kategorien umfasst:<br />

1. Intertextualität: Kopräsenz zweier o<strong><strong>de</strong>r</strong> mehrerer Texte<br />

(als Zitat, Plagiat, Anspielung),<br />

2. Paratextualität: die Umgebung von Texten (als Vorwort,<br />

Nachwort, Titel, Klappentext etc.)<br />

3. Metatextualität: <strong><strong>de</strong>r</strong> Kommentar, <strong><strong>de</strong>r</strong> einen Text expliziert,<br />

4. Transtextualität: das Verfahren, einen "Hypertext" (<strong>de</strong>n<br />

vorliegen<strong>de</strong>n Text) auf einen "Hypotext" (<strong>de</strong>n Text, <strong><strong>de</strong>r</strong> darin<br />

aufgerufen wird) zu beziehen,<br />

5. Architextualität: Bezug eines Textes zur aufgerufenen<br />

Gattung und zur Gattungstradition.<br />

Diese fünf Kategorien überlagern und verzahnen sich auf<br />

unterschiedliche Weise.


5. Ursprüge <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong><br />

5.1 Thoth alias Hermes: Der Erfin<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong><br />

Intertextualität kann mit<br />

audiovisuellen Mitteln sichtbar<br />

gemacht wer<strong>de</strong>n. Dieser Film z.B.<br />

visualisiert die Ebenen eines<br />

nüchternen Phänotextes und die<br />

darunterliegen<strong>de</strong> eines begehren<strong>de</strong>n<br />

Genotextes. Der Phänotext, <strong><strong>de</strong>r</strong> am<br />

En<strong>de</strong> übrig bleibt, erhält durch die<br />

voraufgegangenen Passagen <strong>de</strong>n<br />

Appell, "zwischen <strong>de</strong>n Zeilen" zu<br />

lesen, um richtig verstan<strong>de</strong>n zu<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Demnach müssen die Texttheorien,<br />

die auf Lektüremo<strong>de</strong>llen basieren, in<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Computermo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne nicht ver-<br />

abschie<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n.<br />

O<strong><strong>de</strong>r</strong>?<br />

Nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Mythologie <strong><strong>de</strong>r</strong> alten Ägypter wur<strong>de</strong> die <strong>Schrift</strong> von Thot erfun<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>m Gott <strong>de</strong>s Mon<strong>de</strong>s, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Magie, <strong><strong>de</strong>r</strong> Gelehrten, <strong><strong>de</strong>r</strong> Wissenschaft, <strong><strong>de</strong>r</strong> Schreiber, <strong><strong>de</strong>r</strong> Weisheit und <strong>de</strong>s Kalen<strong><strong>de</strong>r</strong>s. Die Abb. links<br />

und in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mitte zeigen Thot mit seinem Erkennungsmerkmal, <strong>de</strong>m Ibiskopf, in seiner typischen<br />

Schreibhaltung.<br />

5.1.1 <strong>Schrift</strong> und Zahl<br />

Die Griechen übernahmen diesen Mythos von <strong>de</strong>n Ägyptern und tauften Thot um in Hermes (Abb.<br />

rechts), <strong>de</strong>n sie auch als Götterboten, Gott <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>ls und Totenführer verehrten (und <strong>de</strong>shalb mit<br />

Flügelhelm darstellten). Von <strong>de</strong>m Namen Hermes leiten sich die Wörter "Hermetik" (Geheimwissenschaft)<br />

und "hermetisch" (luft- und wasserdicht), aber auch "Hermeneutik" (Kunst <strong><strong>de</strong>r</strong> Auslegung) ab.<br />

In <strong>de</strong>n alten Überlieferungen oszilliert die <strong>Schrift</strong>verwendung zwischen sakralen und profanen<br />

Be<strong>de</strong>utungen... (5.1.1)<br />

Jan Assmann (1992) Faulkner/Andrews (1972) Casson (1965)<br />

Auf diesem Papyrus aus <strong>de</strong>m ägytischen Totenbuch (19. Dynastie, ca. 1310 v. Chr.) sehen wir in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Mitte Thot mit einer recht profanen Aufgabe beschäftigt: <strong>de</strong>m Notieren von Zahlen:<br />

Anubis (links) führt <strong>de</strong>n Pharao Hunerfer zum Wägen seines Herzens (linke Schale) gegen die Fe<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

von Maat (rechte Schale). Anubis wird dann noch einmal gezeigt, wie er die Waage prüft. Thoth<br />

schreibt das Resultat auf, beobachtet von Ammit, <strong><strong>de</strong>r</strong> "großen Fresserin" (die mit <strong>de</strong>m Kopf eines<br />

Krokodils, <strong>de</strong>m Vor<strong><strong>de</strong>r</strong>körper eines Löwens und <strong>de</strong>m Hinterteil eines Nilpferds die gefährlichsten Tiere<br />

Ägyptens repräsentiert), Seelen, die mit Sün<strong>de</strong> bela<strong>de</strong>n sind, verschlingt. Nach<strong>de</strong>m Thot das Ergebnis<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Messung notiert hat, wird Hunefer von Horus (mit Falkenkopf) zu Osiris (auf <strong>de</strong>m Thron) geführt.<br />

Das Notieren von Zahlen (zur Registratur von Vorräten, Han<strong>de</strong>lsgütern, Messergebnissen etc.) gilt<br />

gemeinhin als älteste Form <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong>verwendung. Doch schon lange vor <strong><strong>de</strong>r</strong> Einführung schriftlicher<br />

Buchhaltung gab es an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Formen <strong><strong>de</strong>r</strong> Aufzeichnung, die zumin<strong>de</strong>st als Vorläufer <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong> anzusehen<br />

sind ... (5.2)<br />

5.2 Steinzeitliche Vorstufen <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong> I: Bil<strong><strong>de</strong>r</strong>zählungen<br />

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31.01.2009 19:40 Uhr<br />

© Marc Padovano / Wim Roegels 2001.<br />

Quelle:<br />

Faulkner/<br />

Andrews (1972)


Bil<strong><strong>de</strong>r</strong>zählungen sind die älteste Form proto-schriftlicher Mitteilung. Die Abbildungen zeigen die Beispiele von<br />

Bil<strong><strong>de</strong>r</strong>zählungen aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Eiszeit.<br />

Quelle: Föl<strong>de</strong>s-Papp (1966), S. 17–19.<br />

Oben: "Jägertragödie" o<strong><strong>de</strong>r</strong> "magische Beschwörung" (Lascaux). Unten links: "Der Kampf mit <strong>de</strong>m Bären".<br />

Auf Schieferplatte geritzt. Aus Péchialet (Dordogne). Unten rechts: "Totenklage". Stein. Aus Limeuil<br />

(Dordogne).<br />

5.3 Steinzeitliche Vorstufen <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong> II: Bildzeichen<br />

Quelle: Föl<strong>de</strong>s-Papp (1966), S. 29, 31, 36 f.<br />

Mehrfarbige Bisondarstellungen mit Hüttenzeichen (Abb. links) und abstrakten Symbolzeichen aus <strong>de</strong>n<br />

Höhlen Font-<strong>de</strong>-Gaume (Dordogne) und Marsoulas (Abb. rechts). Sie stammen aus <strong><strong>de</strong>r</strong> letzten Eiszeit, sind<br />

also über 10.000 Jahre alt.<br />

Ganz offensichtlich han<strong>de</strong>lt es sich hierbei nicht um bloße Abbildungen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n um Zeichen, die eine<br />

weitergehen<strong>de</strong> Be<strong>de</strong>utung haben. Darauf <strong>de</strong>utet auch ihre Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holung hin. Das Hüttenzeichen z.B. fin<strong>de</strong>t<br />

sich in <strong><strong>de</strong>r</strong> genannten Höhle 25 mal. Das fünfzackige Gebil<strong>de</strong> rechts könnte ein Hand darstellen, es könnte<br />

aber auch schon abstraktere Be<strong>de</strong>utung haben. Die häufigste Deutung dieser Zeichnungen ist, dass es sich<br />

um Formen <strong><strong>de</strong>r</strong> Jagdmagie han<strong>de</strong>lt (die Hütte z.B. als Fallenstellersymbol) o<strong><strong>de</strong>r</strong> auch um einen Totenkult<br />

(die Hütte als Zufluchtsort verstorbener Geister).<br />

5.4 Zeichen ohne <strong>Schrift</strong>funktion: Mas d'Azil<br />

Quelle: Föl<strong>de</strong>s-Papp (1966), S. 29, 31, 36 f.<br />

Die Kiesel von Mas d'Azil (Südfrankreich) aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Mittelsteinzeit ähneln bisweilen verblüffend unseren Alphabetbuchstaben. Doch die<br />

äußere Form von Zeichen ist keineswegs ein zuverlässiges <strong>Schrift</strong>merkmal. Zur <strong>Schrift</strong> wer<strong>de</strong>n Zeichen erst dann, wenn sie sich nach<br />

einer festgelegten Systematik wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holen. Dies ist bei <strong>de</strong>n bemalten Kieseln von Mas d'Azil nicht <strong><strong>de</strong>r</strong> Fall; es han<strong>de</strong>lt sich fast<br />

ausschließlich um Unikate. Außer<strong>de</strong>m ist die Ähnlichkeit mit unseren Buchstaben, die sich erst sehr viel später in einer langen<br />

Metamorphose von <strong><strong>de</strong>r</strong> nordsemitischen über die phönizische, griechische und etruskische zur lateinischen <strong>Schrift</strong> herausbil<strong>de</strong>n,<br />

natürlich reiner Zufall.<br />

Auch <strong><strong>de</strong>r</strong> hohe Abstraktionsgrad von Zeichen sagt nicht unbedingt etwas über <strong>de</strong>n Stand <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong>entwicklung aus. So bleibt z.B. <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Bildcharakter <strong><strong>de</strong>r</strong> ägyptischen Hieroglyphen lange erhalten (ganz zu schweigen von <strong>de</strong>n chinesischen <strong>Schrift</strong>zeichen, die ihn bis heute<br />

erhalten haben), während das älteste aller <strong>Schrift</strong>systeme offenbar von vornherein mit abstrakten Zeichen operierte ...<br />

5.5 Zeichen mit <strong>Schrift</strong>funktion: Vinca<br />

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31.01.2009 19:40 Uhr


Quellen: Haarmann (1990), S. 71 u. 76 f., Haarmann (2002), S. 21.<br />

Von einem ersten <strong>de</strong>zidierten <strong>Schrift</strong>gebrauch kann nach Harald Haarmann bei <strong><strong>de</strong>r</strong> alteuropäischen Donauzivilisation gesprochen wer<strong>de</strong>n.<br />

In <strong><strong>de</strong>r</strong>en Siedlungsgebiet (auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Karte schwarz umran<strong>de</strong>t) wur<strong>de</strong>n Kultobjekte (Tonstatuetten, Tontafeln, Spinnwirtel u.a. Votivgaben)<br />

gefun<strong>de</strong>n, in die <strong>Schrift</strong>zeichen eingraviert sind. Dass es sich um <strong>Schrift</strong> han<strong>de</strong>lt und nicht etwa nur um Ornamente, geht aus <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holung <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeichen hervor, aus <strong><strong>de</strong>r</strong> sich ein "Alphabet" ableiten lässt (Abb. rechts unten).<br />

Die ältesten Fun<strong>de</strong> stammen aus Tartaria (roter Punkt) und datieren auf ca. 5300 v. Chr. – rechts oben eine Spinnwirtel (eine in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Antike häufig gebrauchte Votivgabe) und eine Tontafel.<br />

Im Vinca-Areal (grüner Punkt) wur<strong>de</strong>n vor allem beschriftete Tonstatuetten gefun<strong>de</strong>n (Abb. Mitte). Mit ihren weiblichen Attributen<br />

rerpräsentieren Sie Gottheiten einer matrifokalen Gesellschaft.<br />

Da alle Fun<strong>de</strong> auf rituelle Kontexte hin<strong>de</strong>uten (Kultstätten, Weiheplätze in Häusern), scheint <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong>gebrauch <strong><strong>de</strong>r</strong> Donauzivilisation<br />

sich auf <strong>de</strong>n religiösen Bereich beschränkt zu haben.<br />

6. Die antiken <strong>Schrift</strong>kulturen<br />

6.1 Übersichtskarte <strong><strong>de</strong>r</strong> antiken <strong>Schrift</strong>kulturen<br />

6.2 Ägypten<br />

Kuckenburg (1986)<br />

6.2.1 Ägypten I: Vom Piktogramm zum I<strong>de</strong>ogramm<br />

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Jüngste Fun<strong>de</strong> von <strong>Schrift</strong>zeichen in Ägypten, die wahrscheinlich auf 3400 v. Chr. zurückgehen scheinen die bisherige These von <strong><strong>de</strong>r</strong> Beeinflussung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> ägyptischen <strong>Schrift</strong> durch die mesopotamische umzukehren. (Vgl. Dreyer 1999 ).<br />

31.01.2009 19:40 Uhr


Das Fische-Zeichen steht in <strong><strong>de</strong>r</strong> ägyptischen <strong>Schrift</strong> (oben) für "Abgaben",<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> mesopotamischen (unten) hat es keine übertragene Be<strong>de</strong>utung.<br />

Hier han<strong>de</strong>lt es sich also noch um ein Piktogramm, während es dort bereits<br />

in ein I<strong>de</strong>ogramm üBergegangen ist.<br />

Das Piktogramm für "Schreiber":<br />

Der Fundort: das Grab U-j bei Abydos.<br />

hieroglyphisch (1500) – hierogl. (500–100) – hierogl. Buch. (1500) – hieratisch (um 1900) – hieratisch (1300) – hieratisch (200) – <strong>de</strong>motisch (400–100)<br />

6.2.2 Ägypten II: Stilisierung/Reduzierung <strong><strong>de</strong>r</strong> Bildzeichen<br />

Kuckenburg (1986), S. 250.<br />

6.2.3 Ägypten III: Verlautlichung durch Rebuszeichen<br />

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Zum Vergleich:<br />

(2001)<br />

Japan:<br />

Die sogenannte Narmer-Palette – eine Schminkpalette <strong>de</strong>s Königs Narmer aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Reichseinigungszeit (ca. 3000 v. Chr.).<br />

Auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Vor<strong><strong>de</strong>r</strong>- und Rückseite fin<strong>de</strong>t sich hier <strong><strong>de</strong>r</strong> Name <strong>de</strong>s Königs durch Verbindung von zwei Piktogrammen (Wels und Meißel) phonetisiert:<br />

Wie bei einem Rebus ergibt sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Name aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Zusammensetzung <strong><strong>de</strong>r</strong> Wortbe<strong>de</strong>utungen ("nar" und "mer").<br />

31.01.2009 19:40 Uhr<br />

Frutiger


6.2.4 Ägypten IV: Phonetische Silben- und Lautzeichen<br />

6.2.5 Ägypten V: Ein-, Zwei-, und Dreilautzeichen, Determinative<br />

Die Abb. zeigt <strong>de</strong>n "Stein von<br />

Rosette", eine über 1 m hohe<br />

Granitplatte, die von Napoleons<br />

Soldaten 1799 in Rashid an <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Nilmündung gefun<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>. Da<br />

sie <strong>de</strong>nselben Text in Griechischer<br />

(unten) und ägyptischer <strong>Schrift</strong><br />

(oben, dazwischen <strong>de</strong>motisch)<br />

enthält, gab sie die<br />

entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Hinweise zur<br />

Entzifferung <strong><strong>de</strong>r</strong> Hieroglyphen.<br />

Durch Klicks auf <strong>de</strong>n Button oben<br />

rechts können Sie die Stadien <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Entzifferung nachvollziehen. Der<br />

entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Schlüssel hierzu<br />

war die Schreibung von<br />

Eigennamen, von <strong>de</strong>nen die<br />

Archäologen bereits wussten, dass<br />

die Ägypter sie durch eine ovale<br />

Umrandung markiereten (die sog.<br />

"Königskartuschen" von frz.<br />

"cartouche" = Patrone).<br />

Was die Lektüre altägyptischer Texte auch bei Kenntnis ihrer Lautzeichen sehr erschwert, ist die Tatsache, dass es nicht nur Einlautzeichen<br />

gibt, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch Zwei- und Dreilautzeichen. Außer<strong>de</strong>m fehlen die Vokale, so dass es viele Homonyme gibt – Worte, die gleich geschrieben<br />

aber be<strong>de</strong>utungsverschie<strong>de</strong>n sind. Um diese Mehr<strong>de</strong>utigkeiten zu reduzieren, haben die Ägypter noch weitere Zeichen eingeführt, die<br />

sogenannten Determinative. Diese geben einen Hinweis, welche von mehreren möglichen Be<strong>de</strong>utungen jeweils gemeint ist.<br />

Einkonsonantenzeichen:<br />

Zweikonsonantenzeichen:<br />

6.2.6 Ägypten VI: Beispieltext<br />

Determinative:<br />

Hier eine Textprobe: Der Gott Amon-Re spricht zum Pharao Thutmosis III. (1504–1450 v. Chr.).<br />

Quelle: Doblhofer (1957), S. 98 f.<br />

6.3 Mesopotamien, Persien, Anatolien<br />

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31.01.2009 19:40 Uhr<br />

Die ersten drei Zeichen <strong>de</strong>s folgen<strong>de</strong>n Wortes ergeben die<br />

Konsonantenfolge m-n-h. Das kann "Wachs" o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

"Papyruspflanze" be<strong>de</strong>uten. Der Determinativ am En<strong>de</strong> weist<br />

darauf hin, dass die Pflanze gemeint ist:<br />

Doblhofer (1957), S. 94 ff.


6.3.1 Mesopotamien I: Zähltafeln<br />

Die ältesten Keilschrift-Dokumente sind Zähltafeln aus Uruk und Mesopotamien, die ab ca. 3200 in Umlauf<br />

kamen.(Robinson 1995, S. 62f.):<br />

6.3.2 Mesopotamien II: Vom Piktogramm zur Keilschrift<br />

Entwicklung <strong>de</strong>s Keilschriftzeichens für "essen" im Südirak von 3000 – 600 v. Chr. (Robinson 1995, S. 84f.):<br />

Verwaltungsurkun<strong>de</strong> eines Tempels, ca.<br />

3000 v. Chr.:<br />

Ein Piktogramm (Zoomfeld) zeigt das das<br />

Profil eines Kopfes mit einem Becher<br />

Getrei<strong>de</strong> am Mund. Das Wort "essen" wird<br />

also rein bildlich ausgedrückt.<br />

6.3.3 Mesopotamien III: Technik <strong><strong>de</strong>r</strong> Keilschrift<br />

Keilschriftliche sumerische Bauurkun<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>s Ur-Nammu aus Uruk, um 2250 v. Chr.<br />

(Föl<strong>de</strong>s-Papp 1966), S. 78.<br />

6.3.4 Mesopotamien IV: Der Co<strong>de</strong>x Hammurabi<br />

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Tempelquittung, ca. 2100 v. Chr.:<br />

Die Zeichen repräsentieren nun die Wörter<br />

"Kopf" (rechts) und "Nahrung" (links), <strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

Aussprache phonetisch gleichbe<strong>de</strong>utend ist<br />

mit "essen" (Rebusprinzip).<br />

Für die Keilschrift wur<strong>de</strong>n Schilfgriffel<br />

verwen<strong>de</strong>t, die an einem En<strong>de</strong> rund, am<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>en En<strong>de</strong> dreieckig waren. Mit <strong>de</strong>m<br />

run<strong>de</strong>n En<strong>de</strong> wur<strong>de</strong>n Zahlen, mit <strong>de</strong>m<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>en kurze und lange Keile<br />

eingedrückt.<br />

(Robinson 1995, S. 83)<br />

31.01.2009 19:40 Uhr<br />

Horoskoptafel, die von Glücks- und<br />

Unglückstagen han<strong>de</strong>lt, ca. 600 v. Chr.:<br />

Die Zeichen haben nun kaum noch<br />

Ähnlichkeit mit <strong>de</strong>n Piktogrammen,<br />

be<strong>de</strong>uten aber noch dasselbe.<br />

Um die Tafeln besser stapeln zu<br />

können, wur<strong>de</strong> von <strong><strong>de</strong>r</strong> Ritztechnik<br />

zum Eindrücken übergegangen, so<br />

dass keine Hochwölbungen mehr<br />

entstan<strong>de</strong>n.


6.3.5 Persien<br />

6.3.6 Anatolien<br />

6.4 Levanteküste<br />

Stele mit <strong>de</strong>m Text von Hammurabis<br />

Gesetzesko<strong>de</strong>x (18. Jh. v. Chr.).<br />

Paris, Louvre.<br />

(Material folgt)<br />

(Material folgt)<br />

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"Gesetzt, ein Kind hat seinen Vater geschlagen, so wird man ihm die Hän<strong>de</strong> abschnei<strong>de</strong>n"<br />

(Nr. 195)."<br />

"Gesetzt, ein Mann hat bei einer Schlägerei einen an<strong><strong>de</strong>r</strong>en geschlagen und ihm eine<br />

Verwundung beigebracht, so wird selbiger Mann schwören: 'Ich habe ihn nicht mit Absicht<br />

geschlagen' und wird <strong>de</strong>n Arzt bezahlen" (Nr. 206).<br />

31.01.2009 19:40 Uhr


6.4.1 Levanteküste I: Die semitischen <strong>Schrift</strong>en<br />

6.4.2 Levanteküste II: Das phönizische Alphabet<br />

6.4.3 Levanteküste III: Phönizische Inschriften<br />

Frühsemitisch (Early Semitic):<br />

In Gebrauch um 1500 v. Chr. und davor bei <strong>de</strong>n<br />

meisten semitischen Völkern.<br />

Mittelsemitisch (Middle Semitic):<br />

In Gebrauch zwischen 1500 and 500 v. Chr. bei <strong>de</strong>n<br />

meisten semitischen Völkern. Von Hebräern bis<br />

zum ersten Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t nach Chr. benutzt. Aus ihr<br />

geht die phönizische <strong>Schrift</strong> hervor.<br />

Spätsemitisch (Late Semitic):<br />

In Gebrauch zwischen 500 v. Chr. und 100 n. Chr.<br />

bei Aramäern und Hebräern.<br />

Neusemitisch (Mo<strong><strong>de</strong>r</strong>n Semitic):<br />

Eine <strong><strong>de</strong>r</strong> spätsemitischen ähnliche <strong>Schrift</strong> und von<br />

<strong>de</strong>n heutigen Israelis benutzt.<br />

Der früheste Fund <strong><strong>de</strong>r</strong> klassischen phönizischen <strong>Schrift</strong> sind<br />

zwei Inschriften auf <strong>de</strong>m Kalkstein-Sarkophag <strong>de</strong>s Königs Ahiram<br />

von Byblos, die um 1000 v. Chr. eingemeißelt wur<strong>de</strong>n. Die<br />

korrekte Übersetzung <strong><strong>de</strong>r</strong> bei<strong>de</strong>n Inschriften konnte erst 2005<br />

ermittelt wer<strong>de</strong>n.<br />

„Zum Sarkophag machte dies Ittobaal, Sohn Ahiroms, König von Byblos,<br />

für seinen Vater Ahirom;<br />

fürwahr, er sezte ihn damit ins Verborgene“<br />

„Und wenn ein König unter Königen<br />

und Statthalter unter Statthaltern,<br />

und Heerlagerkommandant Byblos überfällt,<br />

und <strong>de</strong>ckt dann diesen Sarkophag auf –<br />

es sei entblättert <strong><strong>de</strong>r</strong> Stab seiner Gerichtsamkeit,<br />

sei umgestürzt <strong><strong>de</strong>r</strong> Thron seins Königtums,<br />

und die Ruhe fliehe von Byblos.<br />

und er – man lösche seinen Memorialeintrag für die Totenpflege.“<br />

„In Bezug auf Erkenntnis:<br />

Hier nun <strong>de</strong>mütige dich jetzt<br />

in diesem Untergeschoss“<br />

Quelle: Lehmann 2005.<br />

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Quelle: http://www.ancient-hebrew.org/6_chart.html<br />

Bei <strong><strong>de</strong>r</strong> phönizischen <strong>Schrift</strong> han<strong>de</strong>lt es sich<br />

um die älteste Alphabetschrift <strong>de</strong>s<br />

nordsemitischen Typus. Es ist eine reine<br />

Konsonantenschrift aus 22 Buchstaben. Die<br />

Namen dieser Buchstaben benutzten auch die<br />

Hebräer, und sie sind heute noch<br />

gebräuchlich.<br />

Vorläufer <strong><strong>de</strong>r</strong> phönizischen <strong>Schrift</strong> sind<br />

sowohl die sumerische Keilschrift als auch<br />

hieroglyphische und hieratische Varianten <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

ägyptischen <strong>Schrift</strong>. Aus ihnen wur<strong>de</strong><br />

schließlich ein reines Buchstabenalphabet<br />

selektiert.<br />

Quelle: Robinson (1995), S. 165.<br />

6.4.4 Levanteküste IV: Möglichkeiten und Grenzen <strong><strong>de</strong>r</strong> Entzifferung von Konsonantenalphabeten<br />

31.01.2009 19:40 Uhr<br />

Quellen:http://www.pheniciens.com – Robinson (1995), S. 165.


6.4.5 Levanteküste V: Stammbaum unseres lateinischen Alphabets<br />

6.5 Griechenland<br />

6.5.1 Griechenland I: Diskus von Phaistos<br />

6.5.2 Griechenland II: Linear A, Linear B (Knossos)<br />

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31.01.2009 19:40 Uhr<br />

Diese Inschrift auf <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Siegesstele <strong>de</strong>s Königs von<br />

Moab, Mescha, aus <strong>de</strong>m Jahr<br />

842 v. Chr. ist in<br />

althebräischer (moabitischer)<br />

Sprache abgefaßt. Die <strong>Schrift</strong><br />

ist altphönizisch und<br />

linksläufig (d.h. sie wird von<br />

rechts nach links gelesen).<br />

Wenn Sie auf "Zoom" klicken,<br />

erkennen Sie <strong>de</strong>n ersten Satz<br />

(gelb unterlegt). Die<br />

einzelnen Worte sind durch<br />

Punkte getrennt, die<br />

Satzen<strong>de</strong>n durch einen<br />

senkrechten Strich.<br />

Übersetzt heißt <strong><strong>de</strong>r</strong> erste Satz:<br />

"Ich bin Mesa, Sohn <strong>de</strong>s<br />

Kemosmelek, König von Moab<br />

aus Diban (o<strong><strong>de</strong>r</strong> Dibon)"<br />

Quelle: Föl<strong>de</strong>s-Papp S. 117<br />

Die Griechen verfügten min<strong>de</strong>stens seit 1700 v. Chr.<br />

über mehrere <strong>Schrift</strong>systeme: Die <strong>Schrift</strong> <strong>de</strong>s hier<br />

abgebil<strong>de</strong>ten Diskus von Phaistos sowie Linear A,<br />

und die etwas spätere Linear B, die einzige die sich<br />

bisher entziffern ließ. Wegen ihres Fundorts, <strong>de</strong>n<br />

Palästen von Knossos und Phaistos, wer<strong>de</strong>n diese<br />

<strong>Schrift</strong>en auch "Palastschriften" genannt.<br />

Der Diskus von Phaistos weist die Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>heit auf,<br />

dass seine hieroglyphischen Zeichen gestempelt<br />

sind – ein starkes Indiz für die Tatsache, dass es<br />

sich um eine <strong>Schrift</strong> han<strong>de</strong>lt. Der Diskus ist aber<br />

merkwürdigerweise das einzige Fundstück dieser<br />

Art. Aus diesem Grund konnte seine Beschriftung<br />

bisher nicht entziffert wer<strong>de</strong>n.


Arthur Evans, <strong><strong>de</strong>r</strong> Ausgräber <strong>de</strong>s Palastes von Knossos, fand Tontafeln mit zwei verschie<strong>de</strong>nen <strong>Schrift</strong>en, die in Linear A und B unterschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n;<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> einen wur<strong>de</strong> minoisch, in <strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en griechisch geschrieben. Linear A – die offensichtlich aus einer Hieroglypehnschrift hervorging, die schon<br />

1900 v. Chr. verwen<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>. Linear A, bis ins 15. Jh. lebendig, ist bis heute unentziffert. Allerdings ließen sich manche Zahlzeichen i<strong>de</strong>ntifizieren.<br />

Bei <strong>de</strong>m unten abgebil<strong>de</strong>ten Fundstück han<strong>de</strong>lt es sich also offenbar um eine Rechnung, wahrscinlich für Lebensmittel – das erste Zeichen in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

zweiten Zeile links ist i<strong>de</strong>ntisch mit <strong>de</strong>m Linear-B-Logogramm für "Wein".<br />

Obwohl die <strong>Schrift</strong>en sehr ähnliche Zeichen verwen<strong>de</strong>n, können wir Linear A doch nicht lesen, weil hier nicht, wie in Linear B, Griechisch geschrieben<br />

wur<strong>de</strong>, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n Minoisch (so dass zwar die Laute rekonstruiert wer<strong>de</strong>n können, nicht aber <strong><strong>de</strong>r</strong>en Be<strong>de</strong>utung, da die minoische Sprache nicht bekannt<br />

ist).<br />

Robinson (1995), S. 149 und Haarmann (1990), S. 247.<br />

6.5.3 Griechenland III: Verlust <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong> (ca. 1200 - 750 v. Chr.) - "Singen" und "Sagen"<br />

Da keine <strong>Schrift</strong>zeugnisse in <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit nach <strong>de</strong>m Verschwin<strong>de</strong>n von Linear<br />

B bis zur Einführung <strong>de</strong>s phönizischen Alphabets gefun<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n, nimmt<br />

man für <strong>de</strong>n Zeitraum von ca. 1200–750 v.Chr. eine Phase <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong>Schrift</strong>losigkeit an. In dieser Zeit entstan<strong>de</strong>n die homerischen Epen. Sie<br />

rekurrieren auf die Seevölkerkriege <strong>de</strong>s 13./12. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts (s. 6.5.3.1):<br />

Die Ilias han<strong>de</strong>lt vom Kampf um Troja, die Odyssee von <strong><strong>de</strong>r</strong> Heimkehr <strong>de</strong>s<br />

griechischen Hel<strong>de</strong>n Odysseus – bei<strong>de</strong>s ausdrücklich in Form von<br />

"Gesängen" (s. 6.5.3.2).<br />

6.5.3.1 Die Seev&ouml;lkerkrise<br />

Diese Gesänge wur<strong>de</strong>n seit mykenischer Zeit (vor 1150) durch mündliche<br />

Weitergabe in Hexameter-Form überliefert. Homer steht am En<strong>de</strong> dieser<br />

oralen Überlieferungsgeschichte, und seine bleiben<strong>de</strong> Be<strong>de</strong>utung dürfte<br />

damit zusammenhängen, dass er <strong><strong>de</strong>r</strong> erste war, <strong><strong>de</strong>r</strong> die mündlich<br />

überlieferten Gesänge um 750 aufgeschrieben hat (genauer: aufschrieben<br />

ließ, <strong>de</strong>nn er war blind). Gleichwohl blieb er "Sänger", d.h. auch er hat die<br />

Epen vermutlich noch mit musikalischer Begleitung gesungen, also nicht,<br />

wie die späteren "Rhapso<strong>de</strong>n", als bloßen Sprechgesang. Auch wenn <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Text zu seiner Zeit schon schriftlich fixiert gewesen sein dürfte, hatte er<br />

darin doch typische Merkmale <strong>de</strong>s improvisieren<strong>de</strong>n Vortrags behalten (s.<br />

d. Rekonstruktionsversuch 6.5.3.3). Homerbüste. British Museum, London.<br />

Bis zum Beginn <strong>de</strong>s 12. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts v.Chr. erlebten die Staaten <strong>de</strong>s östlichen Mittelmeerraums einen wirtschaftlichen und kulturellen<br />

Aufschwung, begünstigt insbeson<strong><strong>de</strong>r</strong>e vom Seehan<strong>de</strong>l. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Folgezeit aber wur<strong>de</strong>n diese kulturellen Zentren in rascher Folge nahezu<br />

vollständig zerstört: Mykene, Troja, das Hethiterreich, Zypern, Ugarit. Damit brach zugleich die <strong>Schrift</strong>tradition in Griechenland ab. Es<br />

dauerte Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>te, bis die Griechen im 9. o<strong><strong>de</strong>r</strong> 8. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t <strong>de</strong>n <strong>Schrift</strong>gebrauch wie<strong><strong>de</strong>r</strong>aufnahmen – auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Grundlage eines<br />

ganz an<strong><strong>de</strong>r</strong>en <strong>Schrift</strong>systems: <strong>de</strong>m phönizischen Alphabet.<br />

Die genauen historischen<br />

Ursachen für <strong>de</strong>n<br />

Unter-gang <strong><strong>de</strong>r</strong> östlichen<br />

Mittel-meerkultur sind bis<br />

heute ungeklärt – eben<br />

weil es keine schriftlichen<br />

Aufzeich-nungen aus<br />

dieser Zeit gibt. Fest steht<br />

nur, dass es Fremdvölker<br />

waren, die auf <strong>de</strong>m<br />

Seeweg über die Region<br />

herfielen. Diese<br />

"Seevölker" waren<br />

offenbar daran<br />

interessiert, neue<br />

Siedlungsgebiete zu fin<strong>de</strong>n<br />

– vielleicht, weil sie in<br />

ihrer Heimat durch eine<br />

Naturkatastrophe (Vulkan-<br />

ausbrüche,Überschwem- mungen o.ä.) ihre Lebens-<br />

grundlagen verloren<br />

hatten.<br />

Film: Klütsch, Friedrich: Die<br />

Seevölkerkriege. ZDF/arte<br />

2008.<br />

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31.01.2009 19:40 Uhr


6.5.3.2 Griechenland III: Verlust <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong> (ca. 1000 - 750 v. Chr.) - "Singen" und "Sagen"<br />

Nachstehend die Anfänge <strong><strong>de</strong>r</strong> Ilias und <strong><strong>de</strong>r</strong> etwa 50 Jahre später nie<strong><strong>de</strong>r</strong>geschriebenen Odysseee:<br />

6.5.3.3 Rekonstruktion <strong><strong>de</strong>r</strong> homerischen Ges&auml;nge<br />

Blin<strong><strong>de</strong>r</strong> Sänger. Kretische<br />

Broncefigur, Malibu.<br />

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Singe <strong>de</strong>n Zorn, o Göttin, <strong>de</strong>s Peleia<strong>de</strong>n Achilleus,<br />

Ihn, <strong><strong>de</strong>r</strong> entbrannt <strong>de</strong>n Achaiern unnennbaren Jammer erregte<br />

Und viel tapfere Seelen <strong><strong>de</strong>r</strong> Hel<strong>de</strong>nsöhne zum Ais<br />

Sen<strong>de</strong>te, aber sie selbst zum Raub darstellte <strong>de</strong>n Hun<strong>de</strong>n<br />

Und <strong>de</strong>m Gevögel umher. So ward Zeus´ Wille vollen<strong>de</strong>t:<br />

Seit <strong>de</strong>m Tag, als erst durch bitteren Zank sich entzweiten<br />

Atreus´ Sohn, <strong><strong>de</strong>r</strong> Herrscher <strong>de</strong>s Volks, und <strong><strong>de</strong>r</strong> edle Achilleus.<br />

Wer hat jene <strong><strong>de</strong>r</strong> Götter empört zu feindlichem Ha<strong><strong>de</strong>r</strong>?<br />

Letos Sohn und <strong>de</strong>s Zeus. Denn <strong><strong>de</strong>r</strong>, <strong>de</strong>m Könige zürnend,<br />

Sandte ver<strong><strong>de</strong>r</strong>bliche Seuche durchs Heer; und es sanken die<br />

Völker<br />

Sage mir, Muse, die Taten <strong>de</strong>s vielgewan<strong><strong>de</strong>r</strong>ten Mannes,<br />

Welcher so weit geirrt nach <strong><strong>de</strong>r</strong> heiligen Troja Zerstörung,<br />

Vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat<br />

Und auf <strong>de</strong>m Meere so viel unnennbare Lei<strong>de</strong>n erdul<strong>de</strong>t,<br />

seine Seele zu retten und seiner Freun<strong>de</strong> Zukunft.<br />

Aber die Freun<strong>de</strong> rettet´ er nicht, wie eifrig er strebte;<br />

Denn sie bereiteten selbst durch Missetat ihr Ver<strong><strong>de</strong>r</strong>ben:<br />

Tore! Welche die Rin<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>s hohen Sonnenbeherrschers<br />

Schlachteten; siehe, <strong><strong>de</strong>r</strong> Gott nahm ihnen <strong>de</strong>n Tag <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Zurückkunft,<br />

Sage hievon auch uns ein weniges, Tochter Kronions.<br />

Die Überlieferung, dass Homer blind gewesen sein soll,<br />

unterstreicht die Tatsache, dass er in <strong><strong>de</strong>r</strong> Tradition <strong><strong>de</strong>r</strong> Aoi<strong>de</strong>n<br />

stand, die in <strong>de</strong>n sogenannten "dunklen Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ten"<br />

(1200–750 v. Chr.) ohne Textvorgaben ihren Gesang<br />

improvisierten. Zu <strong><strong>de</strong>r</strong> enormen Gedächtnisleistung, die für <strong><strong>de</strong>r</strong>art<br />

lange Epen nötig war, verhalfen ihnen die musikalischen Elemente<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Begleitung und <strong><strong>de</strong>r</strong> Sprache selbst: Rhythmus,<br />

Melodieführung, Versifizierung in Hexametern.<br />

Nachstehend ein Versuch, die Verse 267-299 aus <strong>de</strong>m 8. Gesang<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Odyssee, in welchen <strong><strong>de</strong>r</strong> blin<strong>de</strong> Demodokos über die Liebe von<br />

Ares und Aphrodite singt, in <strong><strong>de</strong>r</strong> homerischen Vortragsweise<br />

darzubieten:<br />

267 Ares Liebe besang und Aphroditens <strong><strong>de</strong>r</strong> Meister,<br />

Wie sich bei<strong>de</strong> zuerst in Hephästos' prächtiger Wohnung<br />

Epischer Sänger. Kretische Broncefigur,<br />

Museum Heraklion.<br />

Heimlich vermischt. Viel schenkte <strong><strong>de</strong>r</strong> Gott, und entehrte <strong>de</strong>s hohen<br />

270 Feuerbeherrschers Lager. Doch plötzlich bracht' ihm die Botschaft<br />

Helios, <strong><strong>de</strong>r</strong> sie gesehn in ihrer geheimen Umarmung.<br />

Aber sobald Hephästos die kränken<strong>de</strong> Re<strong>de</strong> vernommen,<br />

Eilet' er schnell in die Esse, mit rachevollen Entwürfen:<br />

Stellt auf <strong>de</strong>n Block <strong>de</strong>n gewaltigen Amboß, und schmie<strong>de</strong>te starke<br />

275 Unauflösliche Ketten, um fest und auf ewig zu bin<strong>de</strong>n.<br />

Und nach<strong>de</strong>m er das trügliche Werk im Zorne vollen<strong>de</strong>t,<br />

Ging er in das Gemach, wo sein Hochzeitbette geschmückt war,<br />

Und verbreitete rings um die Pfosten kreisen<strong>de</strong> Ban<strong>de</strong>;<br />

Viele spannt er auch oben herab vom Gebälke <strong><strong>de</strong>r</strong> Kammer,<br />

280 Zart wie Spinnengewebe, die keiner zu sehen vermöchte,<br />

Selbst von <strong>de</strong>n seligen Göttern: so wun<strong><strong>de</strong>r</strong>fein war die Arbeit!<br />

Und nach<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n ganzen Betrug um das Lager verbreitet,<br />

Ging er gleichsam zur Stadt <strong><strong>de</strong>r</strong> schöngebaueten Lemnos,<br />

Die er am meisten liebt von allen Län<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Er<strong>de</strong>.<br />

285 Ares schlummerte nicht, <strong><strong>de</strong>r</strong> Gott mit gol<strong>de</strong>nen Zügeln,<br />

31.01.2009 19:40 Uhr<br />

Als er verreisen sahe <strong>de</strong>n kunstberühmten Hephästos.<br />

Eilend ging er zum Hause <strong>de</strong>s klugen Feuerbeherrschers,<br />

Hingerissen von Liebe zu seiner schönen Gemahlin.<br />

Aphrodite war eben vom mächtigen Vater Kronion


6.5.4 Griechenland IV: Einführung <strong>de</strong>s phönizischen Alphabets<br />

290 Heimgekehrt und saß. Er aber ging in die Wohnung,<br />

Faßte <strong><strong>de</strong>r</strong> Göttin Hand, und sprach mit freundlicher Stimme:<br />

Komm, Geliebte, zu Bette, <strong><strong>de</strong>r</strong> süßen Ruhe zu pflegen!<br />

Denn Hephästos ist nicht daheim; er wan<strong><strong>de</strong>r</strong>t vermutlich<br />

Zu <strong>de</strong>n Sintiern jetzt, <strong>de</strong>n rauhen Barbaren in Lemnos.<br />

295 Also sprach er, und ihr war sehr willkommen die Ruhe.<br />

Und sie bestiegen das Lager, und schlummerten. Plötzlich umschlangen<br />

Sie die künstlichen Ban<strong>de</strong> <strong>de</strong>s klugen Erfin<strong><strong>de</strong>r</strong>s Hephästos;<br />

Und sie vermochten kein Glied zu bewegen o<strong><strong>de</strong>r</strong> zu heben.<br />

Aber sie merkten es erst, da ihnen die Flucht schon gehemmt war.<br />

Die 22 phönizischen Buchstaben waren alle Konsonanten. Die Griechen machten einige von ihnen zu Vokalen. Vermutlich<br />

ist diese Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung darauf zurück zu führen, dass die Griechen manche Laute nicht in ihre Sprache zu übertragen<br />

wussten. So wur<strong>de</strong> z.B. aus <strong>de</strong>m phönizischen Verschlußlaut Alef, das wie ein gehustetes 'ah' klang, bei <strong>de</strong>n Griechen das<br />

vokalische 'a'. Quelle: Robinson (1995), S. 166.<br />

6.5.5 Griechenland V: Frühe griechische Inschriften<br />

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Nach <strong>de</strong>m Nie<strong><strong>de</strong>r</strong>gang <strong><strong>de</strong>r</strong> Palastkultur in <strong>de</strong>n Seevölkerkriegen und <strong><strong>de</strong>r</strong> Phase <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong>losigkeit übernahmen die Griechen<br />

wahrscheinlich im 8. Jh. v. Chr. das phönizische Alphabet und wan<strong>de</strong>lten es zum Ionischen Vokalalphabet. Denn <strong><strong>de</strong>r</strong> älteste <strong>Schrift</strong>fund<br />

(s. links unten) stammt aus dieser Zeit. Phönikische Schriifteinflüsse scheint es aber vorher schon gegeben zu haben. So ist bekannt,<br />

dass die Phönizier, die ursprünglich keine bestimmte Schreibrichtung hatten, ab ca. 800 v. Chr. nur noch von links nach rechts<br />

schrieben. Da die Griechen zunächst auch linksläufig und bustrophedon ("wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Ochse pflügt") schrieben, könnte man folgern, dass<br />

sie die phönizische <strong>Schrift</strong> bereits in <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit vor 800 übernommen haben.<br />

31.01.2009 19:40 Uhr


Die älteste griechische Inschrift auf einer<br />

Vase aus <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Hälfte <strong>de</strong>s 8. Jh. v.<br />

Chr. in linksläufiger <strong>Schrift</strong> in einem <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

"östlichen" Alphabete.<br />

Ein Epitaph in griechischer Furchenschrift , Mitte 6. Jh. v. Chr., linksläufig.<br />

Griechische Inschrift in ionischem Alphabet an einer Statue <strong>de</strong>s Tempels von Abu<br />

Simbel (6. Jh. v. Chr.), rechtsläufig.<br />

6.5.6 Griechenland VI: Monumental- bzw. Lapidarschriften (2. Jh. n. Chr.)<br />

6.6 Italien<br />

Quelle: Föl<strong>de</strong>s-Papp (1966), S. 151.<br />

6.6.1 Italien I: Die etruskische <strong>Schrift</strong><br />

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Die Etrusker (von Etrurien, <strong><strong>de</strong>r</strong> Gegend zwischen Arno und<br />

Tiber) bil<strong>de</strong>ten ab ca. 750 v. Chr. die erste Hochkultur<br />

Italiens. Ihre <strong>Schrift</strong> ist – wie die lateinische – an<br />

westgriechische Vorbil<strong><strong>de</strong>r</strong> angelehnt. Literarische Texte sind<br />

nicht in ihr überliefert, nur rituelle und Grabinschriften.<br />

Quellen: Robinson (1995), S. 167, (Föl<strong>de</strong>s-Papp 1966), S. 150, Haarmann S. 437<br />

Die <strong>Schrift</strong> wur<strong>de</strong> von rechts nach links gelesen. So ähneln zwar viele <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong>zeichen<br />

schon <strong>de</strong>n lateinischen, aber "spiegelverkehrt".<br />

Quelle: http://www.latein-pagina.<strong>de</strong>/in<strong>de</strong>x.html?http://www.latein-pagina.<strong>de</strong>/iexplorer<br />

/etrusk.htm<br />

Quelle: http://<strong>de</strong>.wikipedia.org/wiki/Bild:Etruscan.png<br />

31.01.2009 19:40 Uhr


6.6.2 Italien II: Die lateinische <strong>Schrift</strong><br />

Eines <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten rechtsläufigen Denkmäler lateinischer <strong>Schrift</strong> ist die Inschrift auf <strong>de</strong>m Sarkophag <strong>de</strong>s Cornelius Lucius Scipio<br />

Barbatus aus <strong>de</strong>m Jahre 298 v. Chr. Es han<strong>de</strong>lt sich um eine Monumental- bzw. Kapitalschrift (capitalis= Großbuchstabe).<br />

Bild-Quelle: http://www.tu-berlin.<strong>de</strong>/fb1/AGiW/Auditorium/BeGriRoe/SO5/Scipio.gif<br />

6.7 Entwicklungsschema: Vom Bild zum Laut<br />

<strong>Schrift</strong>typ <strong>Schrift</strong>variante Beispiel Be<strong>de</strong>utung<br />

Bil<strong><strong>de</strong>r</strong>zählung<br />

Fixierung einer<br />

Gedankensequenz<br />

Logographie<br />

Fixierung eines Begriffs<br />

Phonographie<br />

Fixierung einer<br />

Lautstruktur<br />

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Szenische Skizze<br />

Piktographische<br />

Symbole<br />

I<strong>de</strong>ographische<br />

Symbole<br />

Abstrakt-logographische<br />

Symbole<br />

Segmentalschrift<br />

(Zeichen für<br />

Lautsegmente)<br />

Syllabische <strong>Schrift</strong><br />

(Silbenschrift)<br />

Alphabetische <strong>Schrift</strong><br />

(Buchstabenschrift)<br />

6.8 Buchstäbliches Resümee: Von Aleph und Beth zum Alphabet<br />

31.01.2009 19:40 Uhr<br />

“Mann beugt sich über<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Mann, <strong><strong>de</strong>r</strong> tot am<br />

Bo<strong>de</strong>n liegt und von<br />

Gefährten beklagt wird.”<br />

(?)<br />

“Fisch”<br />

(sumerische Hieroglyphe)<br />

“Steuern”<br />

(ägyptische Hieroglyphe)<br />

“37 Monate”<br />

(sumerische Zählzeichen)<br />

“Nar”-”Mer”<br />

(ägyptisches<br />

Rebuszeichen)<br />

“ku”-”pi”<br />

(Silbenzeichen in Linear<br />

B)<br />

“(a)” - “b”<br />

(phönizisch-griechische<br />

Buchstaben)


7. Die griechische <strong>Schrift</strong>revolution<br />

7.1 Synopse zur <strong>Schrift</strong>einführung in Griechenland<br />

7.2 Platon, <strong><strong>de</strong>r</strong> schriftkritische <strong>Schrift</strong>steller<br />

7.3 Platons Phaidros<br />

7.4 Der Mythos von <strong><strong>de</strong>r</strong> Erfindung <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong><br />

7.1 Synopse zur <strong>Schrift</strong>einführung in Griechenland<br />

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31.01.2009 19:40 Uhr


Homer<br />

Platon<br />

Phaidros<br />

7.2 Platon, <strong><strong>de</strong>r</strong> schriftkritische <strong>Schrift</strong>steller<br />

7.3 Platons Phaidros<br />

FORSCHUNGEN ZUM<br />

ÜBERGANG VON DER<br />

ORALITÄT ZUR<br />

LITERALITÄT:<br />

Parry (1928)<br />

Lord (1960)<br />

McLuhan (1962)<br />

Lévi-Strauss (1962)<br />

Havelock (1963)<br />

Goody/Watt (1963)<br />

Ong (1967)<br />

Derrida (1972)<br />

Luhmann (1980)<br />

Assmann (1992)<br />

Platon (428–347 v. Chr.) war Schüler von Sokrates, <strong><strong>de</strong>r</strong> seine Philosophie<br />

nur mündlich, in Dialogform, vermittelte. Er zeichnete das Gelernte auf,<br />

wobei er die Dialogform in <strong><strong>de</strong>r</strong> Regel beibehielt – dies allerdings im<br />

Rahmen einer Textkonzeption, die weniger für mündliche als vielmehr für<br />

schriftliche Kommunikation typisch ist.<br />

Zu <strong>de</strong>n für unser Thema wichtigsten <strong>Schrift</strong>en Platons gehören (in<br />

chronologischer Reihenfolge):<br />

• Protagoras (Über Tugend und Rhetorik.)<br />

• Apologie (Verteidigungsre<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Sokrates.)<br />

• Lysis (Über die Freundschaft)<br />

• Kratylos (Über Sprachphilosophie)<br />

• Menon (Über die Lehrbarkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Tugend. Anamnesis-Lehre.)<br />

• Gorgias (Über Tugend und Rhetorik.)<br />

• Phaidon (Über die Unsterblichkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Seele.)<br />

• Symposion (Über <strong>de</strong>n Eros als treiben<strong>de</strong> Kraft <strong>de</strong>s Erkennens.)<br />

• Phaidros (Über die Liebe und das Verhältnis von Re<strong>de</strong>n und<br />

Schreiben)<br />

• Der 7. Brief (Über Platons Lebenslauf, Kritik <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong>)<br />

Die <strong>Schrift</strong>kritik im Phaidros und im 7. Brief wird heute von<br />

Medienkulturwissenschaftlern viel zitiert, weil sich darin bereits<br />

Grundzüge aller künftigen Debatten über die Auswirkung von<br />

Medienwechseln fin<strong>de</strong>n.<br />

Platons Dialog Phaidros entstand um 370 o<strong><strong>de</strong>r</strong> 360 v. Chr. Er fin<strong>de</strong>t heute die stärkste Beachtung von allen seinen Werken, weil in ihm <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Medienwechsel von <strong><strong>de</strong>r</strong> Oralität zur Literalität diskutiert wird, <strong><strong>de</strong>r</strong> uns an <strong><strong>de</strong>r</strong> Schwelle von <strong><strong>de</strong>r</strong> Literalität zur "sekundären Oralität" <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

elektronischen <strong>Schrift</strong> zu vergleichen<strong>de</strong>n Überlegungen Anlass bietet – bemerkenswerterweise anhand von Beispielre<strong>de</strong>n über das Thema<br />

Liebe.<br />

7.3.1 berlieferung <strong>de</strong>s Phaidros<br />

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31.01.2009 19:40 Uhr


Teil einer Papyrusrolle <strong><strong>de</strong>r</strong> Phaidros-Stelle 267c aus<br />

<strong>de</strong>m 2. Jh. P.Oxy.LII 3677, ed. W. E. H. Cockle: The<br />

Oxyrhynchus Papyri, vol. LII (1984).<br />

7.3.2 Aufbau <strong>de</strong>s Phaidros (nach Heitsch 1993)<br />

Einleitung<br />

Die <strong>Schrift</strong> <strong>de</strong>s Lysias<br />

Zwischengespräch<br />

Sokrates' erste Re<strong>de</strong><br />

a: Wesen und Macht <strong><strong>de</strong>r</strong> Liebe<br />

b: Nutzen und Nachteil <strong><strong>de</strong>r</strong> Liebe<br />

Zwischengespräch<br />

Sokrates' zweite Re<strong>de</strong><br />

a: Formen göttlichen Wahnsinns<br />

b: Liebe als eine Form göttlichen Wahnsinns<br />

Exkurse:<br />

Geflügelte Seele und Seelengespann<br />

Die Weltkugel<br />

Das Gesetz <strong><strong>de</strong>r</strong> Adrasteia<br />

b 1: Die Natur <strong><strong>de</strong>r</strong> Seele<br />

b 2: Das jenseitige Leben <strong><strong>de</strong>r</strong> Seele und die wahren Objekte <strong><strong>de</strong>r</strong> Liebe<br />

b 3: Die Seele auf Er<strong>de</strong>n und die Wirkungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Liebe<br />

Zwischengespräch: Bestimmung <strong>de</strong>s Diskussionsthemas<br />

Grundbedingung <strong><strong>de</strong>r</strong> Rhetorik: Kenntnis <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit<br />

Erläuterung <strong><strong>de</strong>r</strong> Grundbedingung durch Kritik <strong><strong>de</strong>r</strong> drei Re<strong>de</strong>n<br />

Die Leistungen <strong><strong>de</strong>r</strong> konventionellen Rhetorik<br />

Aufgaben <strong><strong>de</strong>r</strong> neuen Rhetorik<br />

Die Differenz von <strong>Schrift</strong>lichkeit und Mündlichkeit<br />

Schluß<br />

7.3.2.1 Der Ort <strong>de</strong>s Gesprchs<br />

Eine weitere Phaidros-Stelle aus <strong>de</strong>m späten 2. Jh. P.Oxy.XVII 2102, ed. A. S. Hunt, The<br />

Oxyrhynchus Papyri, vol. XVII, f (1927).<br />

227a–230e5<br />

230e6–234c5<br />

234c6–237b1<br />

237b2–241d1<br />

237d 3–238c4<br />

238d8–241d1<br />

241d2–243e8<br />

243e9–257b6<br />

244a8–245c2<br />

245c2–257a2<br />

245c2–246d5<br />

246d6–249d3<br />

249d4–257a2<br />

257b7–259d9<br />

259e1–262c4<br />

262c5–266c9<br />

266d1–269d1<br />

269d2–274b8<br />

274b9–278b6<br />

278b7–279c8<br />

Kap. 1–5<br />

Kap. 6–9<br />

Kap. 10–13<br />

Kap. 13–18<br />

Kap. 19–21<br />

Kap. 22–38<br />

Kap. 39–41<br />

Kap. 42–44<br />

Kap. 43–50<br />

Kap. 51–53<br />

Kap. 54–58<br />

Kap. 59–63<br />

Die Karte zeigt <strong>de</strong>n Weg, <strong>de</strong>n Sokrates und Phaidros gehen, und die Stelle, wo sie sich nie<strong><strong>de</strong>r</strong>lassen: Lysias, <strong><strong>de</strong>r</strong> eigentlich im Piräus wohnt, ist in Athen bei Epikrates<br />

untergebracht, in <strong><strong>de</strong>r</strong> Nähe <strong>de</strong>s Olympieion (Rechteck links oben <strong>de</strong>s roten Punkts). Von dort kommt Phaidros, als er Sokrates trifft. Die bei<strong>de</strong>n gehen durch eines von drei<br />

nahegelegenen Stadttoren zum Ilissos (blau) und lassen sich schließlich an einer Platane nie<strong><strong>de</strong>r</strong> (grüner Punkt, das Stadion <strong>de</strong>s Lykurg, rechts davon, war damals noch nicht<br />

gebaut), wo ein später gefun<strong>de</strong>nes Relief auf das im Gespräch erwähnte Pan-Heiligtum hinweist (s. Abb. rechts, im oberen Teil Pan und drei Nymphen). Das Heiligtum von<br />

Agra und <strong><strong>de</strong>r</strong> Altar <strong>de</strong>s Boreas, die ebenfalls erwähnt wer<strong>de</strong>n, befin<strong>de</strong>t sich, wie es ausdrücklich heißt, "zwei o<strong><strong>de</strong>r</strong> drei Stadien weiter unterhalb" (innerhalb <strong>de</strong>s roten Punkts<br />

bzw. gegenüber auf <strong>de</strong>m an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Ufer). Quelle: Travlos (1971), Tafeln 379 und 382.<br />

7.3.2.2 Die <strong>Schrift</strong> <strong>de</strong>s Lysias (230e-234c) - Aufbauschema<br />

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31.01.2009 19:40 Uhr<br />

Kap. 64


These ("Pointe"): Der Nichtverliebte ist ein besserer Liebhaber, <strong>de</strong>shalb soll man ihm seine Gunst schenken.<br />

Argument Nr. Konjunktion Verliebte Nichtverliebte<br />

1 (231a2) "Denn..." sind wankelmütig sind konstant<br />

2 (231a7) "Ferner..." verleugnen sich und rechnen das später auf wahren ihre Interessen, machen <strong>de</strong>shalb später keine<br />

Vorhaltungen<br />

3 (231c1) "Und ferner..." sind immer nur gut zu <strong>de</strong>m aktuell Geliebten,<br />

lassen <strong>de</strong>n früher Geliebten im Stich<br />

4 sind krank, können sich nicht beherrschen<br />

5 (231d6) "Und dann..." wenige von ihnen sind tüchtig, also<br />

eingeschränkte Partnerwahl<br />

6 wollen wegen ihrer Eroberung öffentlich<br />

bewun<strong><strong>de</strong>r</strong>t wer<strong>de</strong>n<br />

7 (232a6) "Und ferner..." fallen mit ihrem Geturtel in <strong><strong>de</strong>r</strong> Öffentlichkeit auf,<br />

was zu Phantasien über ihr Sexualleben Anlass<br />

gibt<br />

bieten große Auswahl an Tüchtigen, also bessere Chance,<br />

<strong>de</strong>n passen<strong>de</strong>n zu fin<strong>de</strong>n<br />

sind von öffentlicher Meinung unabhängig, achten<br />

<strong>de</strong>shalb mehr auf innere Werte<br />

unterhalten sich ganz normal, geben also keinen Anlass<br />

zu solchen Phantasien<br />

8 (232b6) "Und dann..." sind zu fürchten, weil mißgünstig und neidisch haben keine Verlustangst, sind also toleranter<br />

9 (233a5) "Und dann..." schmeicheln, teils aus Furcht sich unbeliebt zu<br />

machen, teils weil ihr Urteil durch Lei<strong>de</strong>nschaft<br />

getrübt ist<br />

haben nüchternes Urteil, sind <strong>de</strong>shalb auch bei Fehlern<br />

großzügiger und somit die besseren Freun<strong>de</strong><br />

10 (233d5) "Und ferner..." sind bedürftig und betteln sind unabhängig und können <strong>de</strong>shalb geben<br />

11 "nicht...son<strong><strong>de</strong>r</strong>n" Wh. von 6 Wh. von 6<br />

12 "nicht...son<strong><strong>de</strong>r</strong>n" Wh. von 1 Wh. von 1<br />

13 "nicht...son<strong><strong>de</strong>r</strong>n" Wh. von 3 Wh. von 3<br />

14 (234b2) "auch noch..." wer<strong>de</strong>n von ihren Freun<strong>de</strong>n ermahnt, weil ihr Tun<br />

schlecht sei<br />

15 (234b7) "Vielleicht aber..." wollen nicht, dass an<strong><strong>de</strong>r</strong>e auch <strong>de</strong>n Geliebten<br />

begehren<br />

7.3.2.3 Sokrates' erste Re<strong>de</strong> (237b2-241d1) - Aufbauschema<br />

ernten solche Vorwürfe nicht<br />

sind hierin zumin<strong>de</strong>st nicht schlechter<br />

These: Ein Verliebter ist schädlich für <strong>de</strong>n Geliebten (<strong>de</strong>shalb sollte <strong><strong>de</strong>r</strong> sich besser einem Nichtverliebten anschließen).<br />

1. Inklusion: Wird unter äußerem Zwang gehalten (schamverhüllten Hauptes)<br />

2. Inklusion: Setzt Lysias' Hypothese ungeprüft voraus => spricht als ein an<strong><strong>de</strong>r</strong>er<br />

3. Inklusion: Fingiert einen Sprecher, <strong><strong>de</strong>r</strong> zur Täuschung das Folgen<strong>de</strong> sagt<br />

a) Wesensbestimmung: Liebe ist ein Begehren b) Bestimmung <strong><strong>de</strong>r</strong> Arten: nützlich o<strong><strong>de</strong>r</strong> schädlich?<br />

2 Arten <strong>de</strong>s Begehrens:<br />

Urteil<br />

(rational)<br />

Lust (irrational)<br />

Repräsentant Nichtverliebter Verliebter<br />

Charakteristikum Sittsamkeit Maßlosigkeit<br />

Folge <strong>de</strong>s Essens Sättigung Völlerei<br />

Folge <strong>de</strong>s Trinkens Durstlöschung Trunksucht<br />

Folge schönen Anblicks Geistbefriedigung Eros (als Krankheit): Aspekt Wirkung<br />

Geist Besonnenheit wird verhin<strong><strong>de</strong>r</strong>t<br />

Körper Verweichlichung wird geför<strong><strong>de</strong>r</strong>t<br />

Besitz Kontaktarmut und Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>wille<br />

durch Zwang<br />

Schlussfolgerung: => Verliebter für Geliebten schädlich. (Der Umkehrschluss, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Nichtverliebte nützlich ist, folgt schon aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Begründung.)<br />

7.3.2.4 Sokrates' zweite Re<strong>de</strong> (243e9-257b6) - Aufbauschema<br />

These: Der Verliebte ist besser für <strong>de</strong>n Geliebten, <strong>de</strong>nn nur er kann <strong>de</strong>n Trieb wecken, die Seele aufsteigen zu lassen<br />

1. Inklusion: Deklariert sich als Palinodie an Eros.<br />

2. Inklusion: Inspiriert sich durch konkreten Adressaten (Phaidros als Geliebter).<br />

3. Inklusion: Fingiert Sprecher (Stesichoros),<br />

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4. Inklusion: <strong><strong>de</strong>r</strong> sich abgrenzt von einem an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Sprecher (Phaidros als Rhetoriker).<br />

Wesensbestimmung (wie zuvor) als Ausgangspunkt: Liebe ist ein Begehren<br />

31.01.2009 19:40 Uhr


2 Arten <strong>de</strong>s Begehrens:<br />

rational irrational<br />

Repräsentant Nichtverliebter Verliebter<br />

Charakteristikum bei Sinnen wahnsinnig<br />

NEU Bewertung u.U. nicht gut u.U. gut Beleg: Prophetinnen<br />

Folge schönen Anblicks Geistbefriedigung Wahnsinn in zwei Formen...<br />

Sichtweise: profan (heutige<br />

Menschen)<br />

Zukunft "Wahrsagerei<br />

(Mantikä)"<br />

ehrwürdig<br />

(gottesfürchtige)<br />

"apollinische<br />

Enthusiastik"<br />

Krankheit "Unglück" "dionysische<br />

Besessenheit"<br />

Poesie "gutes Handwerk" "musische Inspiration"<br />

7.3.3 Der Text von Platons Phaidros, (Ausführlich auf CD-ROM)<br />

Psyche auf Zweigespann.<br />

Quellen: Schweitzer (1953) Simon (1976)<br />

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Liebe "sinnlos" Eros als Göttlicher Wahnsinn<br />

bei <strong>de</strong>n Göttern bei <strong>de</strong>n Menschen<br />

Seele unsterblich, weil aus sich selbst heraus bewegt<br />

Vergleichsbild geflügeltes Gespann<br />

Pfer<strong>de</strong> bei<strong>de</strong> gut eines gut, eines<br />

schwierig<br />

Seelenfahrt Gefie<strong><strong>de</strong>r</strong> trägt, schwebt<br />

ganz oben, I<strong>de</strong>enschau<br />

verliert Gefie<strong><strong>de</strong>r</strong> u.<br />

stürzt, bis sie irdischen<br />

Halt fin<strong>de</strong>t<br />

Gesetz <strong><strong>de</strong>r</strong> Adrasteia<br />

Gutes Pferd stärker Schlechtes Pferd st.<br />

Erinnerung gut (a-letheias) schwach (lethes)<br />

Anblick <strong>de</strong>s Schönen erinnert an wahre<br />

Schönheit<br />

Reaktion auf Geliebten<br />

Effekt auf<br />

Zusammenleben<br />

256b Form <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s<br />

Aphrodite auf ihrem von Himeros und<br />

Pothos gezogenen Wagen.<br />

7.4 Der Mythos von <strong><strong>de</strong>r</strong> Erfindung <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong> (Phaidros 274e1275b2)<br />

31.01.2009 19:40 Uhr<br />

Schau<strong><strong>de</strong>r</strong> u. Anbetung<br />

philosophische<br />

Glückseligkeit<br />

beschwingt, befreit von<br />

Last<br />

keine Evokation<br />

schamlose<br />

Befriedigung<br />

unphilosophisch,<br />

aber um Ansehen<br />

bemüht<br />

immerhin mit Trieb,<br />

beschwingt zu<br />

wer<strong>de</strong>n<br />

=> Verliebtheit in je<strong>de</strong>m Fall gut für bei<strong>de</strong><br />

Der Windgott Boreas verfolgt Oreithyia.<br />

256d


7.4.1 Phaidros 274e1-275b2<br />

7.4.2 Übersetzungen<br />

"Vieles nun soll Thamus <strong>de</strong>m Theuth über je<strong>de</strong> Kunst dafür und<br />

dawi<strong><strong>de</strong>r</strong> gesagt haben, welches weitläufig wäre alles<br />

anzuführen. Als er aber an die Buchstaben gekommen, habe<br />

Theuth gesagt: 'Diese Kunst, o König, wird die Ägypter weiser<br />

machen und gedächtnisreicher, <strong>de</strong>nn als ein Mittel für<br />

Erinnerung und Weisheit ist sie erfun<strong>de</strong>n.' Jener aber habe<br />

erwi<strong><strong>de</strong>r</strong>t: 'O kunstreicher Theuth, einer weiß, was zu <strong>de</strong>n<br />

Künsten gehört, ans Licht zu bringen; ein an<strong><strong>de</strong>r</strong>er zu beurteilen,<br />

wieviel Scha<strong>de</strong>n und Vorteil sie <strong>de</strong>nen bringen, die sie<br />

gebrauchen wer<strong>de</strong>n. So hast auch du jetzt, als Vater <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Buchstaben, aus Liebe das Gegenteil <strong>de</strong>ssen gesagt, was sie<br />

bewirken. Denn diese Erfindung wird <strong>de</strong>n Seelen <strong><strong>de</strong>r</strong> Lernen<strong>de</strong>n<br />

vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Erinnerung, weil sie im Vertrauen auf die <strong>Schrift</strong> sich nur von<br />

außen vermittels frem<strong><strong>de</strong>r</strong> Zeichen, nicht aber innerlich sich<br />

selbst und unmittelbar erinnern wer<strong>de</strong>n. Nicht also für die<br />

Erinnerung, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n nur für die Gedächtnisstützung hast du ein<br />

Mittel erfun<strong>de</strong>n, und von <strong><strong>de</strong>r</strong> Weisheit bringst du <strong>de</strong>inen<br />

Lehrlingen nur <strong>de</strong>n Schein bei, nicht die Sache selbst. Denn<br />

in<strong>de</strong>m sie nun vieles gehört haben ohne Unterricht, wer<strong>de</strong>n sie<br />

sich auch vielwissend zu sein dünken, obwohl sie größtenteils<br />

unwissend sind, und schwer zu behan<strong>de</strong>ln, nach<strong>de</strong>m sie<br />

dünkelweise gewor<strong>de</strong>n statt weise."<br />

7.4.3 Phaidros 274e1-275b2 - Philologische Hinweise<br />

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vorgelesen von Michael Hoffmann<br />

Die bei<strong>de</strong>n in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mythenstelle genannten Gesprächspartner, Thoth und Thamus, haben ihre Entsprechungen in <strong><strong>de</strong>r</strong> griechischen<br />

Mythologie. Theut, <strong><strong>de</strong>r</strong> ägyptische Thoth, wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n Griechen Hermes genannt. In Thamus, <strong>de</strong>m ägyptische Amus bzw. Ammon,<br />

erkannten die Griechen Zeus (vgl. Herodot II 42,5). Bereits seit 1000 v. Chr. galt <strong><strong>de</strong>r</strong> Gott zugleich als irdischer König von ganz<br />

Ägypten. Es gibt aber auch Querverbindungen zwischen Ammon und Hermes (vgl. 7.4.3.1).<br />

31.01.2009 19:40 Uhr


Thoth-Hermes<br />

Thoth mit seinem<br />

Schreibzeug vor <strong>de</strong>m<br />

Sonnengott<br />

Re-Harachte, <strong><strong>de</strong>r</strong> als<br />

Götterkönig thront.<br />

Aus <strong>de</strong>m Totenbuch<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Prinzessin<br />

Nestanebteschra aus<br />

<strong>de</strong>m 11. Jh. v. Chr.<br />

(Pap. Brit. Mus. 10554 Col.<br />

52, 21. Dyn, Theben).<br />

Thamus/Ammon-Zeus:<br />

Quelle: Assmann/Hardmeier (1983) Quellen: Néret (1798), Casson (1965)<br />

7.4.4 Die mehrfach hypoleptische Struktur <strong><strong>de</strong>r</strong> Mythenstelle<br />

Das für die antiken griechischen <strong>Schrift</strong>steller charakteristische Verfahren <strong><strong>de</strong>r</strong> Hypolepse (vgl. 7.4.4.1) wird in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Mythenstelle von Platon auf die Spitze getrieben: Das Für und Wi<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Erfindung <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong> (literal) wird durch ein<br />

Gespräch (oral) relativiert, über das wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um nur vom Hörensagen berichtet wird (oral'), was wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um von Platon<br />

aufgeschrieben wur<strong>de</strong> (literal') und nur dadurch zu uns gelangt (literal'').<br />

7.4.4.1 Hypolepse als Charakteristikum <strong>de</strong>s fr&uuml;hen <strong>Schrift</strong>tums in <strong><strong>de</strong>r</strong> griechischen Antike<br />

Das griechische Wort "hypólepsis" be<strong>de</strong>utet "Antwort". Es fand ursprünglich Verwendung in Rhapso<strong>de</strong>nwettkämpfen,<br />

bei <strong>de</strong>nen die Regel galt, dass ein Rhapso<strong>de</strong> in seiner Homer-Rezitation genau da weitermachen musste, wo ein<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>er aufgehört hatte. In diesem Sinne wur<strong>de</strong> das Wort auch in <strong><strong>de</strong>r</strong> Rhetorik gebraucht.<br />

Jan Assmann (1992) erweitert dieses Wort zum Terminus für einen bestimmten Typ von Intertextualität, <strong><strong>de</strong>r</strong> dadurch<br />

charakterisiert ist, dass ein Text sich auf seinen Vorläufertext bezieht und dabei die eigene Textualität als solche<br />

thematisiert. Eben dies ist nach Assmann typisch für die frühen Texte <strong><strong>de</strong>r</strong> griechischen Antike. Der Anlass hierfür ist<br />

darin zu sehen, dass die Ersetzung <strong><strong>de</strong>r</strong> oralen Überlieferung durch die literale die Erfahrung eines Mangels mit sich<br />

brachte. An die Stelle <strong><strong>de</strong>r</strong> Unmittelbarkeit mündlicher Re<strong>de</strong> tritt die Anonymität schriftlicher Kommunikation:<br />

"Der ausgebettete, 'situationsabstrakt' gewor<strong>de</strong>ne und sozusagen schutzlos je<strong>de</strong>m Missverständnis und je<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Ablehnung ausgelieferte Text bedarf eines neuen Rahmens, <strong><strong>de</strong>r</strong> diesen Verlust an situativer Determination<br />

kompensiert. [...] Im Falle <strong><strong>de</strong>r</strong> Literatur ist es <strong><strong>de</strong>r</strong> Text selbst, <strong><strong>de</strong>r</strong> dadurch an Selbständigkeit gewinnt, dass er<br />

seine eigenen situativen Rahmenbedingungen in sich aufnimmt und explizit macht." (S. 284 f.)<br />

Ohne dass Assmann näher auf Platons Phaidros eingeht, können wir doch feststellen, dass sein Begriff <strong><strong>de</strong>r</strong> Hypolepse<br />

hier gera<strong>de</strong>zu paradigmatisch zur Anwendung kommt: Schon die ausführliche Schil<strong><strong>de</strong>r</strong>ung zu Beginn <strong>de</strong>s Dialogs, wie<br />

Sokrates auf Phaidros trifft, die <strong>Schrift</strong> <strong>de</strong>s Lysias bei ihm ent<strong>de</strong>ckt und bei<strong>de</strong> dann umständlich einen geeigneten Ort<br />

für die Lektüre suchen, rückt die situativen Rahmenbedingungen <strong>de</strong>s Dialoginhalts ins Bewusstsein. Insbeson<strong><strong>de</strong>r</strong>e<br />

aber die verschachtelte Struktur <strong><strong>de</strong>r</strong> Mythenstelle, die die Erfindung <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schrift</strong> als Dialog im Dialog thematisiert, und<br />

damit <strong>de</strong>n Leser dafür sensibilisiert, dass er <strong>de</strong>n Untersuchungsgegenstand nicht unmittelbar, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n als<br />

verschrifteten vor sich hat, ist hypoleptischer Natur.<br />

7.4.5 Rezeptionsgeschichte <strong><strong>de</strong>r</strong> Mythenstelle<br />

7.4.6 Platon diktiert Sokrates<br />

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31.01.2009 19:40 Uhr


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Quelle: Boldleian Library Oxford, MS. Ashomole 304, fol.<br />

31 v.<br />

31.01.2009 19:40 Uhr

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