09.03.2013 Aufrufe

Phänomelogie der Schrift - Peter-matussek.de

Phänomelogie der Schrift - Peter-matussek.de

Phänomelogie der Schrift - Peter-matussek.de

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

ablesen, dass die Zweitlektüre eines literarischen Textes oftmals einen von <strong><strong>de</strong>r</strong> Erstlektüre abweichen<strong>de</strong>n<br />

Eindruck produziert. Die Grün<strong>de</strong> dafür mögen in <strong><strong>de</strong>r</strong> jeweiligen Befindlichkeit <strong>de</strong>s Lesers zu suchen sein,<br />

<strong>de</strong>nnoch muss <strong><strong>de</strong>r</strong> Text die Bedingungen für unterschiedliche Realisierungen enthalten. [...]<br />

Bekannte Vorgänge rücken nun in neue, ja sogar wechseln<strong>de</strong> Horizonte und erscheinen daher als<br />

bereichert, verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t und korrigiert. Von alle<strong>de</strong>m ist im Text selbst nichts formuliert; vielmehr produziert<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Leser diese Innovationen. Das wäre aber unmöglich, enthielte <strong><strong>de</strong>r</strong> Text nicht einen gewissen<br />

Leerstellenbeitrag, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n Auslegungsspielraum und die verschie<strong>de</strong>nartige Adaptierbarkeit <strong>de</strong>s Textes<br />

überhaupt ermöglichte. In dieser Struktur hält <strong><strong>de</strong>r</strong> Text ein Beteiligungsangebot an seine Leser bereit. [...]<br />

Erst die Leerstellen gewähren einen Anteil am Mitvollzug und an <strong><strong>de</strong>r</strong> Sinnkonstitution <strong>de</strong>s Geschehens."<br />

(Iser 1971, S. 234–236)<br />

4.2.2 Leerstellen ermöglichen Mitvollzug <strong>de</strong>s Lesers<br />

4.2.3 Leerstellen in <strong><strong>de</strong>r</strong> bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Kunst<br />

Kemp (1985) exemplifiziert an Gérômes Gemäl<strong>de</strong><br />

Der Tod <strong>de</strong>s Marschall Ney, das die Situation kurz<br />

nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Erschießung eines Zivilisten zeigt,<br />

verschie<strong>de</strong>ne Arten piktoraler Leerstellen: Die<br />

bildbeherrschen<strong>de</strong> Fläche einer Mauer, vor welcher<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Getötete liegt, in die <strong><strong>de</strong>r</strong> Betrachter also das<br />

vergangene Geschehen hineinzuprojizieren hat;<br />

<strong>de</strong>n im Bild nicht dargestellten Standort <strong><strong>de</strong>r</strong> Täter,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> nur durch die Bewegungsrichtung eines<br />

zurückblicken<strong>de</strong>n Soldaten zu erschließen ist; die<br />

bildliche Unbestimmtheit <strong><strong>de</strong>r</strong> Handlung und die<br />

fehlen<strong>de</strong> Stellungnahme <strong>de</strong>s Künstlers, die an das<br />

historische Erinnerungsvermögen <strong>de</strong>s Rezipienten<br />

appellieren.<br />

Das Beispiel macht <strong>de</strong>utlich, dass piktorale<br />

Léon Gérôme: Tod <strong>de</strong>s Marschall Ney (1868). Sheffield, City Art Galleries<br />

Leerstellen nicht einfach Auslassungen sind, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n Bil<strong>de</strong>lemente, die Kombinationsleistungen <strong>de</strong>s Betrachters<br />

anstoßen:<br />

4.2.4 Leerstellen im Film<br />

So wird die Mauer erst im Kontext <strong>de</strong>s davor liegen<strong>de</strong>n Toten zur Projektionsfläche seiner imaginierten<br />

Erschießung;<br />

4.2.5 Leerstellen in <strong><strong>de</strong>r</strong> Musik<br />

http://peter-<strong>matussek</strong>.<strong>de</strong>/Leh/V_13_Materia!compact.php<br />

ohne <strong>de</strong>n zurückblicken<strong>de</strong>n Soldaten wäre sie auch nicht als Zielrichtung <strong><strong>de</strong>r</strong> Schützen auszumachen;<br />

die Bekleidung <strong><strong>de</strong>r</strong> Personen schließlich gestattet bei aller historischen Unbestimmtheit <strong>de</strong>s Geschehens immerhin<br />

eine epochale Zuordnung, ohne die sie kaum einen Erinnerungsanlass böte.<br />

In <strong><strong>de</strong>r</strong> Filmtheorie wird Isers Terminus <strong><strong>de</strong>r</strong> Leerstelle neuerdings aufgegriffen – so etwa bei Edward Branigan (1998),<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> ihn mit "gaps" übersetzt. Auch David Bordwell (1985) spricht von "gaps". Diesen cinematographischen Leerstellen<br />

wird ebenso wie <strong>de</strong>n literarischen das evokatorische, zwischen Protentionen und Retentionen oszillieren<strong>de</strong> Potential<br />

zugesprochen, die Imaginationstätigkeit <strong>de</strong>s Rezipienten zu motivieren: "Gaps are among the clearest cues for the<br />

viewer to act upon, since they evoke the entire process of schema formation and hypothesis testing" (S. 55).<br />

Bordwell unterschei<strong>de</strong>t u.a. "narrational gaps" und<br />

"causal gaps", also erzählerische und kausale<br />

Leerstellen.<br />

Ein Beispiel für eine erzählerische und kausale<br />

Leerstelle im Film ist Hitchocks Spellbound (1945).<br />

Hier wird <strong><strong>de</strong>r</strong> Zuschauer mit <strong><strong>de</strong>r</strong> für ihn zunächst<br />

nicht erklärlichen Merkwürdigkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Zentralfigur<br />

konfrontiert, dass diese keine weißen Linien<br />

ertragen kann – die erzählerische Lücke stiftet ein<br />

Spannungsmoment, bis sich das Rätsel am En<strong>de</strong><br />

auflöst: Ein verdrängtes Kindheitstrauma.<br />

Die Theorie <strong><strong>de</strong>r</strong> "gaps" lässt sich auf computeranimierte Texte übertragen, wobei dann textuelle und piktorale,<br />

eventuell auch auditive Leerstellen zusammenkommen.<br />

31.01.2009 19:40 Uhr

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!