Fängt der frühe Vogel den Wurm? - Freie Waldorfschulen in Hessen ...
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Nr. 12 / März 2007 / 2<br />
Fortsetzung von Seite 1<br />
In ihm lernt es durch nachahmendes und wie<strong>der</strong>holendes<br />
Tun, beispielsweise Physik:<br />
Das Bewusstse<strong>in</strong> für die Qualitäten von Raum<br />
und Zeit, von Menge und Zahl, von geometrisch-mathematischen<br />
Gesetzmäßigkeiten ist<br />
bei kle<strong>in</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong>n noch eng mit ihrer körperlichen<br />
Entwicklung verbun<strong>den</strong>. Die Eigenschaften<br />
und Gesetzmäßigkeiten ihrer Umwelt<br />
erfahren Marie, Jacob o<strong>der</strong> Tessa am eigenen<br />
Leib: Schon wenn sie sich aufrichten und gehen<br />
lernen, erleben sie die Schwerkraft und die<br />
Mechanik und Reibungswärme beim Sägen<br />
Dimensionen des Raumes. Wenn sie schaukeln<br />
und rutschen, Karussell fahren und seilspr<strong>in</strong>gen,<br />
erleben sie die Naturgesetze s<strong>in</strong>nlich. Die<br />
wissenschaftlichen Begriffe von Schwung und<br />
Reibung, von Schwerkraft o<strong>der</strong> Fliehkraft spielen<br />
dabei ke<strong>in</strong>e Rolle.<br />
Was die K<strong>in</strong><strong>der</strong> so selbstverständlich erleben,<br />
vollziehen sie anschließend im Spiel nach.<br />
Wenn Jacob auf <strong>der</strong> Rutsche sitzt o<strong>der</strong> Tessa die<br />
Rodelbahn h<strong>in</strong>unter saust, fühlen sie mit dem<br />
gesamten Körper die schiefe Ebene. Beim Spielen<br />
Im K<strong>in</strong><strong>der</strong>garten o<strong>der</strong> zu Hause lassen sie<br />
dann später folgerichtig Kastanien auf schiefen<br />
Brettern herunterrollen o<strong>der</strong> sie br<strong>in</strong>gen ihre<br />
Erfahrung beim Bau e<strong>in</strong>er Murmelbahn e<strong>in</strong>.<br />
Probieren geht über Studieren<br />
Genauso nutzen kle<strong>in</strong>e K<strong>in</strong><strong>der</strong> im Umgang<br />
mit naturbelassenem Material die<br />
Gelegenheit, selbständig zu bauen und zu<br />
konstruieren. Nach dem Motto „Probieren<br />
geht über Studieren“ entstehen Brücken<br />
und Türme, Hochhäuser und Luxusvillen.<br />
Und immer mit unbewusster Anwendung<br />
von Hebelgesetzen, Statik und Balance.<br />
Die Erfahrung dabei nehmen die kle<strong>in</strong>en<br />
Forscher tief <strong>in</strong> sich auf und schaffen so<br />
Statik und schiefe Ebene<br />
die Voraussetzungen, um später kausale<br />
Erklärungen zu verstehen.<br />
Neben <strong>der</strong> großen Regenpfütze sitzend, schaut<br />
Lena andächtig zu, wie Sand und Ste<strong>in</strong>e trudelnd<br />
untergehen, während die Blätter und<br />
die R<strong>in</strong><strong>den</strong>stückchen, die Philipp h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> wirft,<br />
munter an <strong>der</strong> Oberfl äche schwimmen. Vor allem<br />
beim Spielen im <strong>Freie</strong>n erfahren die K<strong>in</strong><strong>der</strong>,<br />
wie verschie<strong>den</strong> Sand, Lehm, Wasser, Holz<br />
und Ste<strong>in</strong>e nicht nur sich anfühlen, son<strong>der</strong>n<br />
auch reagieren.<br />
Ordnung, Überblick, Systematik<br />
Und auch nach dem Spiel geht das Lernen beim<br />
Aufräumen weiter. Die Tücher kommen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />
Korb, die Bauklötze <strong>in</strong> die Holzkiste und<br />
die Werkzeuge <strong>in</strong>s Regal. Fünfzehn Schäfchen<br />
sammelt Patrick e<strong>in</strong>: fünf große, fünf mittlere<br />
und fünf kle<strong>in</strong>e. Die langen Spiel-Bän<strong>der</strong> muss<br />
Maria zunächst noch abmessen und sortieren:<br />
es gibt drei ganz lange, drei lange, drei mittlere<br />
und drei kurze Bän<strong>der</strong>. Diese täglich wie<strong>der</strong>hol-<br />
Mathematik beim Tischdecken<br />
te Aufräumaktion ist nicht nur angewandte Mathematik.<br />
„Sie schafft neben <strong>der</strong> äußeren auch<br />
e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Ordnung, för<strong>der</strong>t <strong>den</strong> Überblick<br />
und die Selbständigkeit“ sagt Gabriele Kynast,<br />
Erzieher<strong>in</strong> im Waldorfk<strong>in</strong><strong>der</strong>garten Eisenbach.<br />
Tatsachenlogik und das Verständnis für Systematik<br />
entstehen damit aus <strong>der</strong> Handlung heraus<br />
und wer<strong>den</strong> nicht oberfl ächlich antra<strong>in</strong>iert.<br />
Teilen des Brotes<br />
Ähnlich selbstverständlich erobern sich Lena,<br />
Rebecca, Tim und viele an<strong>der</strong>e K<strong>in</strong><strong>der</strong> im Waldorfk<strong>in</strong><strong>der</strong>garten<br />
täglich weitere naturwissenschaftliche<br />
Gebiete.<br />
Der Umgang mit Zahlen wird beim täglichen<br />
Zubereiten des Frühstücks selbstverständlich.<br />
Wenn die K<strong>in</strong><strong>der</strong> beim Backen sorgfältig die<br />
Zutaten für <strong>den</strong> Teig abmessen, die halben<br />
Brötchen bestreichen und dazu die geviertelten<br />
Äpfel verteilen, gew<strong>in</strong>nen sie e<strong>in</strong>e praktische<br />
Vorstellung von Mengen. Anschließend wird<br />
beim Spiel im Kaufmannsla<strong>den</strong> die Ware mit<br />
<strong>der</strong> Waage abgewogen, <strong>der</strong> Preis festgelegt und<br />
auf die Hand abgezählt.<br />
Mathe im Dreiviertel-Takt<br />
Sogar das tägliche S<strong>in</strong>gen ist Teil dieses Kon-<br />
Zählen und…<br />
zepts: Lennart und Lena stampfen Zweier-,<br />
Dreier- o<strong>der</strong> Vierertakt, hüpfen und klatschen<br />
<strong>in</strong> die Hände. Indem sie nachahmend mits<strong>in</strong>gen<br />
und dabei Intervalle hören, nehmen sie mathematische<br />
Gesetzmäßigkeiten auf, die <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Musik leben. Auch bei Reigen und Tanzspielen,<br />
bei <strong>den</strong>en das erste K<strong>in</strong>d nach e<strong>in</strong>em Partner<br />
suchend durch <strong>den</strong> Kreis geht und schließlich<br />
zwei, vier o<strong>der</strong> acht K<strong>in</strong><strong>der</strong> herumwirbeln,<br />
funktioniert das so.<br />
Viele Tätigkeiten im K<strong>in</strong><strong>der</strong>garten s<strong>in</strong>d begleitet<br />
von Versen und Lie<strong>der</strong>n, wie etwa das Seilspr<strong>in</strong>gen.<br />
Wenn die K<strong>in</strong><strong>der</strong> rhythmisch hüpfen und<br />
dazu s<strong>in</strong>gen „Henriette, goldne Kette, goldner<br />
Schuh, wie alt bist du? 1 – 2 – 3 – 4 …“ erüben<br />
sie unbewusst die Zahlenfolge. Geometrie lernen<br />
sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Eurythmie und im Reigen, wenn<br />
sie Formen wie Kreis und Mittelpunkt, Oval,<br />
Gerade und Spirale bewegen, und zwar immer<br />
<strong>in</strong>nen und außen, oben und unten, rechts und<br />
l<strong>in</strong>ks. Die räumliche Vorstellungskraft und das<br />
Gefühl für Proportionen schulen sich daran.<br />
Lehr-Garten<br />
Täglich gehen Lennart, Rebecca und Philipp <strong>in</strong><br />
<strong>den</strong> Garten, <strong>der</strong> seit Fröbel (vgl. Info-Kasten)<br />
wichtiger Bestandteil e<strong>in</strong>es je<strong>den</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>gartens<br />
ist. Hier wer<strong>den</strong> die Grundlagen des späteren<br />
Biologieunterrichts gelegt. Im festen Rhythmus<br />
des Tages-, Wochen- und Jahreslaufs lernen sie<br />
die Pfl anzen nicht nur kennen, son<strong>der</strong>n verfolgen<br />
Wachsen, Blühen und Welken. Ebenso beobachten<br />
sie die Tiere, bestaunen Regenbogen<br />
und Wolken, nehmen <strong>den</strong> Jahreslauf wahr mit<br />
se<strong>in</strong>em Sonnengang, <strong>der</strong> wechseln<strong>den</strong> Helligkeit<br />
und Dunkelheit, <strong>der</strong> Wärme und <strong>der</strong> Kälte.<br />
Hexenküche<br />
Beson<strong>der</strong>s spannend wird es, wenn die Erzieher<strong>in</strong><br />
<strong>den</strong> großen Färbekessel anheizt. Die K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
tragen zusammen, was später das Wun<strong>der</strong> des<br />
Farbwechsels vollzieht: die Birkenblätter, die<br />
e<strong>in</strong> kräftiges Gelb <strong>in</strong> die Sei<strong>den</strong>tücher zaubern,<br />
die Krappwurzel, die für e<strong>in</strong> warmes Rot sorgt,<br />
und die Walnussschalen, die e<strong>in</strong> molliges Braun<br />
hervorrufen. Schon nach kurzer Zeit nehmen<br />
die weißen Stoffe und Garne die entsprechende<br />
Farbe an. Noch schnell alles Gefärbte <strong>in</strong>s klare<br />
Wasserbad, und Lennart, Rebecca und ihre<br />
Freunde freuen sich: Die Verwandlungsprozes-<br />
Teilen<br />
se von Holz <strong>in</strong> Wärme und Asche, von weißen<br />
zu gefärbten Stoffen machen Spaß. Das chemische<br />
Experiment ist gelungen!<br />
Staunen und Begreifen<br />
Lena, Rebecca, Lennart und Philipp erleben<br />
so die Welt im Sehen, Hören, Riechen, Schmecken,<br />
Fühlen und Anfassen mit allen S<strong>in</strong>nen.<br />
Durch die sich wie<strong>der</strong>holen<strong>den</strong>, differenzierten<br />
Erlebnisse verb<strong>in</strong><strong>den</strong> sie sich seelisch mit<br />
<strong>der</strong> Natur. Und sie lernen etwas, das als Voraussetzung<br />
aller Wissenschaft und Forschung<br />
nicht verloren gehen darf: Sie lernen staunen.<br />
Die damit verbun<strong>den</strong>e Achtung und Ehrfurcht<br />
gegenüber <strong>den</strong> Naturersche<strong>in</strong>ungen grün<strong>den</strong><br />
e<strong>in</strong> Verantwortungsgefühl und e<strong>in</strong> religiöses,<br />
moralisches Fundament im K<strong>in</strong>d.<br />
Haben die K<strong>in</strong><strong>der</strong> e<strong>in</strong>e unmittelbare Erfahrung<br />
von <strong>der</strong> unerschöpfl ichen Fülle <strong>der</strong> S<strong>in</strong>neswelt<br />
bekommen, bleiben Staunen und produktive<br />
Neugierde erhalten. In <strong>der</strong> Schulzeit gel<strong>in</strong>gt<br />
dann unspektakulär <strong>der</strong> Wechsel zu e<strong>in</strong>em bewussten<br />
„Begreifen“ auch mit dem Verstand.<br />
Das rationale gedankliche Element trifft auf<br />
e<strong>in</strong>e Empfi ndungsgrundlage, die schon <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
K<strong>in</strong>dheit gelegt wurde. Dies hilft, sich als Erwachsener<br />
nicht nur über <strong>den</strong> Kopf mit <strong>der</strong> Welt<br />
zu verb<strong>in</strong><strong>den</strong>, son<strong>der</strong>n als ganzer Mensch mit<br />
Kopf, Herz und Hand.<br />
Vgl. Patzlaff,R./ Saßmannshausen,W.: Leitl<strong>in</strong>ien<br />
<strong>der</strong> Waldorfpädagogik für die K<strong>in</strong>dheit von 3 bis<br />
9 Jahren, Teil I, Stuttgart 2005, ISBN 3-927286-<br />
46-X 3-9,<br />
Vgl. Kardel,T. u.a.: Leitl<strong>in</strong>ien <strong>der</strong> Waldorfpädagogik<br />
für die K<strong>in</strong>dheit von 3 bis 9 Jahren, Teil II: Bildungsziele,<br />
Stuttgart 2006, ISBN 10-927286-65-6<br />
Alle Fotos Seite 1-3: Ch.Fischer<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>garten<br />
Vor hun<strong>der</strong>tdreißig Jahren richtete Friedrich<br />
Fröbel <strong>den</strong> ersten K<strong>in</strong><strong>der</strong>garten e<strong>in</strong>.<br />
Nicht <strong>der</strong> bis dah<strong>in</strong> übliche Unterricht <strong>in</strong><br />
christlicher Lehre stand im Mittelpunkt,<br />
son<strong>der</strong>n vor allem Spiele und Lie<strong>der</strong>,<br />
Gruppentänze und Reigen. K<strong>in</strong><strong>der</strong>garten<br />
wur<strong>den</strong> die rasch sich verbreiten<strong>den</strong><br />
E<strong>in</strong>richtungen nicht etwa genannt, weil<br />
die K<strong>in</strong><strong>der</strong> als Pfl anzen galten, son<strong>der</strong>n<br />
weil die K<strong>in</strong><strong>der</strong> dort als Gärtner <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
wirklichen Garten tätig wer<strong>den</strong> sollten.<br />
Beim Säen und Pfl anzen, beim Gießen<br />
und Pfl egen können sie das Pfl anzenwachstum<br />
beobachten. Sie bekommen<br />
e<strong>in</strong> Gefühl von ihrer eigenen Größe, für<br />
langsame Prozesse. Orte, D<strong>in</strong>ge, Namen<br />
und Eigenschaften prägen sich e<strong>in</strong>. In<br />
Boston (USA) wur<strong>den</strong> von Fröbels Anhängern<br />
aus <strong>den</strong>selben Motiven <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />
ärmeren Stadtviertel Sandgärten e<strong>in</strong>gerichtet,<br />
wo Erzieher<strong>in</strong>nen die K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
beim Spielen im <strong>Freie</strong>n auf diesen Sandplätzen<br />
betreuten. nhw