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Dr. Josefine Heusinger, Dr. Christine Roßberg, Renate Michalski ...

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<strong>Dr</strong>. <strong>Josefine</strong> <strong>Heusinger</strong>, <strong>Dr</strong>. <strong>Christine</strong> <strong>Roßberg</strong>, <strong>Renate</strong> <strong>Michalski</strong><br />

Diskussionsforum mit Mitarbeiter/innen von<br />

Berliner Pflegeheimen<br />

Verbrauchernahe Qualitätskriterien für Pflegeheime<br />

Der Arbeitskreis Altern und Gesundheit von Gesundheit Berlin organisierte am 1. Dezember<br />

2007 während des 13. Kongresses „Armut und Gesundheit“ ein Diskussionsforum zum The-<br />

ma „Verbrauchernahe Qualitätskriterien für Pflegeheime“. Als Gäste nahmen Frau Hoempler,<br />

Seniorencentrum am Schäfersee, Frau Kühn, Bethanien Havelgarten, und Frau Nejla Kaba-<br />

Retzlaff, Türk Huzur Evi, sowie als Moderatorinnen Frau <strong>Dr</strong>. <strong>Heusinger</strong>, Frau <strong>Dr</strong>. <strong>Roßberg</strong><br />

und Frau <strong>Michalski</strong> aus dem Arbeitskreis „Altern und Gesundheit“ teil.<br />

Frau <strong>Michalski</strong> begrüßte die Teilnehmer/innen des Forums und leitete die Aussprache mit<br />

folgenden Überlegungen ein:<br />

Grundsätzlich arbeiten alle stationären Pflegeeinrichtungen auf der Grundlage eines Versor-<br />

gungsvertrages, nach standardisierten Qualitätskriterien, die von der Heimaufsicht und dem<br />

MDK abgeprüft und bewertet werden. Dies ist vorrangig die Qualität in der Grundpflege<br />

(MDK) sowie die Essenversorgung, Einhaltung des Brandschutzes, der Hygienevorschriften,<br />

der Wäscheversorgung, der medizinischen Versorgung sowie eine nachvollziehbare Doku-<br />

mentation aller Maßnahmen, anhand konkreter bewohnerbezogener Daten (Heimaufsicht<br />

und MDK). Alle Maßnahmen sind in einem von der Senatsverwaltung bestätigten Heimver-<br />

trag (z. T. 20 Seiten!) verankert. Verbindliche Ausführungsvorschriften bestimmen die Quali-<br />

tät. Arbeitsgrundlage sind die Vorgaben im Qualitätsmanagement / Qualitätsentwicklung.<br />

Bei Einhaltung aller Vorgaben sind Qualitätsmängel auszuschließen, es kann keinen Grund<br />

zur Klage bei den Heimbewohnern und deren Angehörigen geben!<br />

Für unsere heutige Diskussion gibt es viele Fragen:<br />

• Werden Vorschriften nicht eingehalten, da so viel über Mängel in der Qualität geklagt<br />

wird? Aus der Sicht des „Nutzers“, des Heimbewohners, auch der Angehörigen und Pfle-<br />

ger, ist die Qualität sehr viel weit reichender. Vorrangig wird der Faktor „ZEIT“ beklagt. -<br />

„TEILHABE“ wird in der Regel auf die Möglichkeit der Teilnahme an der Beschäftigungs-<br />

therapie und den Festveranstaltungen in der Einrichtung reduziert.<br />

• Inwieweit die individuellen Bedürfnisse der Mitmenschlichkeit definiert sind und befriedigt<br />

werden können, bleibt zu hinterfragen. Mitmenschlichkeit heißt Mitfühlen! Das bedeutet<br />

sich mitteilen zu können, Ansprechpartner zu haben bei Angst, Freude und Trauer. Dies al-<br />

les ist jedoch gebunden an Zeit. Personalschlüssel orientieren sich an Zeitfaktoren der<br />

Pflegestufen. Diese Zeitvorgaben sind nachweislich unzureichend bei zunehmend steigen-<br />

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dem Pflege- und Betreuungsbedarf. Mitmenschlichkeit bestimmt die höchste Qualität. Sie<br />

erfordert Zeit und kompetentes Handeln. Beides kostet Geld, das nicht vorhanden ist.<br />

• Sind freiwillige Hilfe und Ehrenamtlichkeit die Lösung, um auf die Bedürfnisse der Bewoh-<br />

ner angemessen zu reagieren?<br />

• Können alltägliche Bedürfnisse - wie z. B. Arztbesuche, ein Friedhofsbesuch oder Teil-<br />

nahme an Veranstaltungen außerhalb der Einrichtung - befriedigt werden, ohne dass<br />

hierfür extern Dienstleistungen, verbunden mit hohem Kostenaufwand, in Anspruch ge-<br />

nommen werden müssen?<br />

• Wie wird auf die besonderen Bedürfnisse der Bewohner mit Demenzerkrankungen einge-<br />

gangen?<br />

• Verlässliche Bezugspersonen sind lebenslang wichtig! Kann dies im Rahmen der ausgewie-<br />

senen Bezugspflege geleistet werden?<br />

• Gibt es individuelle Betreuungsmöglichkeiten, in die auch Angehörige einbezogen sind?<br />

• Welche Möglichkeiten hat der Heimbeirat im Rahmen seiner Mitwirkungsrechte auf die<br />

konzeptionelle Gestaltung einzuwirken?<br />

• Wie groß ist das Interesse / die Möglichkeit der Hausbewohner, die Aufgaben eines<br />

Heimbeirates wahrzunehmen?<br />

Frau <strong>Dr</strong>. <strong>Heusinger</strong> berichtet anschließend in ihrem Beitrag aus dem Forschungsprojekt ei-<br />

ner „Fallstudie zur Qualität von Pflege und Versorgung in stationären Pflegeeinrichtungen“:<br />

Ich möchte einleitend einige Bemerkungen zur Qualitätsdiskussion in Heimen machen. Im<br />

Auftrag des Bundesfamilienministeriums habe ich gerade eine Reihe von Fallstudien in ver-<br />

gleichsweise guten Pflegeheimen angefertigt. In diesem Zusammenhang habe ich mich noch<br />

einmal sehr genau mit Qualitätskriterien befasst. Auf die wichtigsten Eckpfeiler der aktuellen<br />

Diskussion, nämlich die Veröffentlichung der MDK-Berichte, . möchte ich jetzt gar nicht ge-<br />

nauer eingehen, sondern vielmehr gleich auf die Lücken in der heutigen Qualitätsdiskussion.<br />

Stichworte:<br />

• Körperliche Unversehrtheit der BewohnerInnen ist eine Minimalanforderung, die auch ge-<br />

prüft wird<br />

• Bauliche Voraussetzungen sind wichtig, werden benannt und geprüft<br />

• Dokumentationspflichten sollen Qualität überprüfbar machen. Das sehe ich kritisch, denn<br />

Papier und EDV sind geduldig: ein Formular in der Akte, in das die Biografie eingetragen<br />

wird, kann allein keine gute Biografiearbeit bewirken.<br />

• Es fehlen Kriterien für die so genannte. Ergebnisqualität, die m. E. gleichbedeutend ist mit<br />

der Lebensqualität der Menschen, die in den Heimen wohnen<br />

• Von dem Expertenworkshop zu Beginn der genannten Untersuchung habe ich hier schon<br />

einmal berichtet. Es sind einige Aspekte für Lebensqualität erforderlich, die ich über die<br />

körperliche Unversehrtheit hinaus als „verbrauchernahe Kriterien“ hier einführen möchte.<br />

Man könnte sie auch als Kriterien für eine menschenwürdige Versorgung bezeichnen:<br />

• Die Lebensgeschichte und die Lebensleistung eines Menschen prägen ihn und machen<br />

seine individuelle Persönlichkeit aus. Deshalb kommt es auf das Interesse an den einzel-<br />

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nen BewohnerInnen, an ihrer Geschichte und ihren Geschichten an. Biografiearbeit ist<br />

nicht nur ein Bogen in der Akte, der ausgefüllt wird, sondern Ausdruck von Interesse an<br />

und Respekt vor jedem Einzelnen.<br />

• Soziale Beziehungen pflegen, d. h., für das Pflegepersonal, für die BewohnerInnen wichti-<br />

ge Menschen zu kennen und die Kontakte zu unterstützen, vor allem zu Angehörigen so-<br />

wie zu alten Freunden und Bekannten.<br />

• Es ist aber auch durchaus möglich, neue Beziehungen zu knüpfen. Ein sehr schönes Bei-<br />

spiel findet sich in diesem Fotoband, der eine Reihe von Freundschaften dokumentiert, die<br />

in einem Pflegeheim neu entstanden sind. Vielleicht ist es ein allgemein menschliches Be-<br />

dürfnis, vielleicht in unserer Leistungsgesellschaft besonders ausgeprägt, das weiß ich<br />

nicht. Aber um sich wohl zu fühlen, ist es für fast alle Menschen entscheidend, für andere<br />

nützlich, bedeutsam, wichtig zu sein. Wie oft sagen alte Menschen ganz traurig „Ich bin<br />

doch zu nichts mehr nütze“. Ihnen Wege zu zeigen, die ihnen erlauben, etwas für andere<br />

Schönes, Gutes, Sinnvolles zu tun, ist deshalb für ihre Zufriedenheit entscheidend.<br />

• Das ist bekannt aus Wohngemeinschaften, in denen BewohnerInnen beim Kochen helfen.<br />

Das ist ein guter Ansatz. Aber nicht alle wollen kochen. Bei meinen Untersuchungen habe<br />

ich z. B. beobachtet, dass Beschäftigungsangebote für eine nützliche Tätigkeit die Bewoh-<br />

nerInnen oft sehr befriedigen. Und für einzelne ist es toll, wenn sie eine Aufgabe haben,<br />

und sei es das tägliche Abreißen der Kalenderblätter auf dem Flur und im Gemeinschafts-<br />

raum, das Tischdecken oder Serviettenfalten oder Medizinbecher abtrocknen, Zeitung ho-<br />

len oder, oder, oder. Auch selbst das Bett zu machen, kann mit Stolz erfüllen – andere<br />

sind aber auch empört, weil sie bei den Heimpreisen einen Hotelservice erwarten. Erst die-<br />

se Woche habe ich gelesen von einem Heim, das BewohnerInnen 25 - 50 € für praktische<br />

Hilfen zahlt. Das ist nicht nur eine gute Aufbesserung des Taschengeldes und Anerken-<br />

nung, das schafft auch Verbindlichkeit.<br />

• Ganz kurz möchte ich noch auf die Frage der Einzelzimmer eingehen. Ein eigenes Zimmer<br />

ist sicher das, was sich mit minimalen Ausnahmen alle Menschen wünschen. Die Privat-<br />

sphäre zu wahren ist ohnehin schwer, wenn man sich nicht mehr selbst versorgen kann.<br />

Wenigstens einen Ort zum Ungestörtsein sollte man dann haben dürfen. Die Argumente,<br />

die hier immer wieder vorgebracht werden, sind nicht überzeugend: Bettlägerigkeit sollte<br />

es außer bei Sterbenden sowieso nicht geben, jeder pflegebedürftige Mensch kann in ge-<br />

eignete Pflegerollstühle mobilisiert werden oder notfalls mit dem Bett an der Gemeinschaft<br />

teilhaben. Einsamkeit lässt sich nicht bekämpfen, indem zwei Menschen in ein Zimmer ge-<br />

steckt werden. Selbst Ehepaare bevorzugen im Heim oft zwei Zimmer nebeneinander. Die<br />

aktuellen Vorschläge der Marseille-Kliniken, eine wie sie es nennen „2-Sterne-Pflege“ an-<br />

zubieten, also Mehrbettzimmer und Gemeinschaftsbäder, lehne ich deshalb ab.<br />

• Eine gute Versorgung der BewohnerInnen kann nur von zufriedenen MitarbeiterInnen ge-<br />

sichert werden. Die BewohnerInnen sind zwar der verletzlichste Teil, aber auch die Mitar-<br />

beiterInnen verdienen mehr Aufmerksamkeit. Viele leiden darunter, die ihnen anvertrauten<br />

Menschen nicht glücklicher machen zu können. Dabei ist das Problem nicht, dass sie nicht<br />

wüssten wie das geht. Sie haben tatsächlich wenig Zeit dafür und meist viel zu wenig Un-<br />

terstützung von oben. In der Folge reagieren sie z. B. so, wie mir eine Fachkraft erklärte:<br />

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„Ich will gar nicht wissen, was die Bewohner früher gemacht haben und wer sie waren.<br />

Ich bin heute zu allen freundlich und höflich, das reicht.“ Diese Reaktion ist nicht bösartig,<br />

sondern eine sehr verbreitete und funktionale Überlebensstrategie. Wenn die Pflegekräfte<br />

sich auf die Individualität der BewohnerInnen einlassen, ihre Sorgen und Wünsche kennen<br />

und teilen, können sie sie nicht mehr so behandeln, wie sie das tun. Sobald eine individu-<br />

elle, persönliche Beziehung entsteht – wie sie sich die meisten BewohnerInnen für ihren<br />

alltäglichen Umgang sehnsüchtig wünschen – wird der Dienst nach Vorschrift zur seeli-<br />

schen Grausamkeit. Es ist deshalb oft eine Frage der Psychohygiene und des Selbstschut-<br />

zes für die Pflegekräfte, die BewohnerInnen als mehr oder weniger einheitliche Gruppe,<br />

die es zu versorgen gilt, zu betrachten, und sich möglichst wenig einzulassen.<br />

• Wer den Heimalltag kennt, weiß, dass es da immer auch Ausnahmen gibt. Fast alle Pflege-<br />

kräfte haben einzelne BewohnerInnen, zu denen sie innige Beziehungen pflegen. Gerade<br />

an denen sieht man, wie schön das sein kann und wie gut das beiden Beteiligten tut.<br />

• So was müsste strukturell gefördert werden, das System dafür ist auch bekannt. Es ist die<br />

Bezugspflege, die aber mit den bestehenden Personalschlüsseln nicht machbar ist. Ich<br />

weiß, dass heutzutage auf jeder BewohnerInnen- Akte eine Bezugspflegekraft benannt ist.<br />

Das will der MDK so und ist ja auch nicht weiter schwer zu machen. Aber in der Realität<br />

wird das kaum gelebt. In der Regel wissen weder Angehörige noch BewohnerInnen, wer<br />

ihre Bezugspflegekraft ist, und die Bezugspflegekraft macht zwar vielleicht die Pflegepla-<br />

nung und kennt den Hausarzt, aber die Biografie, das soziale Netzwerk ihrer BewohnerIn-<br />

nen kennt sie auch nicht besser als andere. Geschweige denn, dass sie mal mit ihren Be-<br />

wohnerInnen einen Ausflug zum alten Zuhause gemacht, einen Besuch bei Bekannten or-<br />

ganisiert hat oder regelmäßig etwas Besonderes mit ihm oder ihr unternimmt.<br />

• Die aktuellen Pflegeheimvergleiche in Berlin sind ein Fortschritt im Hinblick auf Verbrau-<br />

cherschutz, auch wenn sie vieles nicht zeigen bzw. man sehr viel interpretieren muss.<br />

Sehr gut finde ich dort die Erwähnung der Personalzahlen. Die zeigen nämlich schon sehr<br />

viel: Bestenfalls kommt eine Pflegekraft auf etwas mehr als 2 BewohnerInnen, es können<br />

aber auch mal nur 21 Vollzeitstellen für 121 BewohnerInnen sein. Ein Monat hat durch-<br />

schnittlich 30 Tage, mal 24 Stunden ergeben 720 Stunden. Ohne Urlaub und Krankheit zu<br />

berücksichtigen, arbeiten 21 Vollzeitkräfte in einem Monat zusammen 3360 Stunden. Für<br />

die Rund-um-die-Uhr-Versorgung von 121 BewohnerInnen stehen in dieser Einrichtung<br />

112 Arbeitsstunden am Tag zur Verfügung, das ist nicht einmal eine Stunde für pro Be-<br />

wohnerIn. Und es handelt sich hier um ein Pflegeheim, in dem die BewohnerInnen min-<br />

destens die Pflegestufe 1 haben. Die wiederum bekommen nur diejenigen, die mindestens<br />

90 Minuten am Tag Hilfe brauchen.<br />

• So ist eine menschenwürdige Versorgung nicht möglich, wir brauchen zusätzliche Ressour-<br />

cen für die stationäre Pflege. Sowohl mehr Pflegepersonal als auch nachbarschaftliche, eh-<br />

renamtliche Hilfe. Ein wichtiges verbrauchernahes Qualitätskriterium zur Bewertung von<br />

Einrichtungen ist deshalb auch, wie offen und intensiv darum gerungen wird, Angehörige<br />

und Ehrenamtliche einzubinden, ernst zunehmen, zu beteiligen, und zwar nicht nur als Lü-<br />

ckenbüßer, sondern als PartnerInnen.<br />

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Berliner Pflegeheimen<br />

Fazit:<br />

Die Qualitätskriterien, die heute überwiegend benutzt werden, beschränken sich wesentlich<br />

auf körperliche Unversehrtheit und bauliche Vorschriften sowie Dokumentationspflichten.<br />

Insofern möchte ich meinen einführenden Beitrag mit zwei Botschaften beenden:<br />

• Erstens müssen wir uns dafür einsetzen, dass mehr Ressourcen für die stationäre Pflege<br />

mobilisiert werden. Dazu gehört Geld, aber auch mehr nachbarschaftliche Integration in<br />

den Stadtteil, Zusammenarbeit mit Freiwilligen usw. Angehörige und Ehrenamtliche stellen<br />

außerdem auch Öffentlichkeit her, ein wichtiger Aspekt von Qualitätskontrolle! Wichtig hier<br />

der Hinweis: Seit der Föderalismusreform sind die Länder zuständig für die Heime. In Ber-<br />

lin und Brandenburg werden demnächst Heimgesetze gemacht. Lassen Sie uns da auf-<br />

merksam sein und uns einmischen!<br />

• Zweitens müssen die Interessen der BewohnerInnen lauter formuliert werden. Ich finde<br />

zwar die Bezeichnung „Kunde“ für Pflegeheim- BewohnerInnen falsch, aber gerade in Ber-<br />

lin, wo es ein Überangebot an Heimplätzen gibt, haben sie und ihre Angehörigen doch ei-<br />

ne gewisse Verbrauchermacht. Ich habe deshalb hier einige Fragen für die Wahl eines<br />

Heimplatzes aufgelistet, die ergänzend zu den bekannten Checklisten vielleicht stärker auf<br />

die Lebensqualität der BewohnerInnen zielen. Sie sind unvollständig, aber vielleicht könnte<br />

es eine Aufgabe sein, diese Liste zu ergänzen und weiter zu konkretisieren.<br />

Qualitätsfragen an Pflegeheime<br />

Mit diesen (unvollständigen) Fragen zur Qualität und tatsächlichen Bewohnerorientierung<br />

einer Pflegeeinrichtung möchte ich anregen, eine über die körperliche Unversehrtheit hi-<br />

nausgehende Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner sicherzustellen:<br />

• Wer interessiert sich für die Lebensgeschichte und das soziale Netzwerk, also wichtige<br />

Ressourcen der einzelnen Bewohnerinnen und Bewohner?<br />

• (Wie) Werden die Bewohnerinnen und Bewohner dabei unterstützt, sich gegenseitig ken-<br />

nen zu lernen?<br />

• Ist die Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner im Wohnbereich überschaubar, so dass<br />

nachbarschaftliche Kontakte entstehen können? Werden diese durch die Innenarchitektur,<br />

insbesondere Wohnküchen mit einer familiären (Koch- und) Esskultur, gefördert?<br />

• Wie viele Pflegekräfte sind zu welchen Tageszeiten für wie viele Pflegebedürftige da? Wird<br />

bei der Dienstplangestaltung auf Spitzenbelastungszeiten morgens und bei den Mahlzeiten<br />

geachtet? Gelingt es ganz überwiegend (60% und mehr) personelle Kontinuität für die<br />

Bewohnerinnen und Bewohner zu wahren oder wird doch meist in Funktionspflege ge-<br />

pflegt, also z. B. Essen von der Pflegekraft angereicht, die gerade Zeit hat?<br />

• Gibt es Bezugspflegekräfte, die nicht nur die Pflegeplanung machen, sondern auch bei der<br />

praktischen Pflege kontinuierlich zuständig sind? Sind sie besonders gut über „ihre“ Pfle-<br />

gebedürftigen informiert, für sie, ihre Angehörigen und Ärztinnen oder Ärzte Ansprechper-<br />

sonen? Machen sie hin und wieder etwas Besonderes mit „ihren“ Pflegebedürftigen?<br />

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• Wann endet der Spätdienst bzw. zu welcher Uhrzeit können die Bewohnerinnen und Be-<br />

wohner im Normalfall noch erwarten, Unterstützung bei der Abendtoilette und beim Zu-<br />

bettgehen zu erhalten? Wann genau gehen die Letzten, die dabei Unterstützung benöti-<br />

gen, in dem konkreten Wohnbereich tatsächlich ins Bett?<br />

• Gibt es täglich vor- und nachmittags sowie gelegentlich abends und an den Wochenenden<br />

Beschäftigungsangebote? Wie werden die Bewohnerinnen und Bewohner an der Entwick-<br />

lung von Angeboten und am Tagesablauf beteiligt?<br />

• Können daran auch Schwerstpflegebedürftige/Bettlägerige teilnehmen? Oder gibt es täg-<br />

lich andere Angebote für diese Menschen?<br />

• Werden alle Bewohnerinnen und Bewohner täglich aus dem Bett mobilisiert?<br />

• (Wie) Werden die Bewohnerinnen und Bewohner dabei unterstützt, Verantwortung bzw.<br />

sinnvolle Aufgaben auch für andere zu übernehmen?<br />

• (Wie) Werden die Bewohnerinnen und Bewohner dabei unterstützt, hin und wieder die<br />

Einrichtung einzeln und zusammen mit anderen zu verlassen?<br />

• Arbeiten freiwillig Engagierte in der Einrichtung? Beruht ihr Engagement auf einem Kon-<br />

zept, sie gezielt einzubinden? Wofür?<br />

• Wie werden die Angehörigen in den Alltag einbezogen? Gibt es dafür ein Konzept und<br />

konkrete Angebote?<br />

Am Beginn der Diskussion informierten die Vertreterinnen aus den Einrichtungen über ihre<br />

Profilierung und Schwerpunkte in der Pflege:<br />

• Das Vitanas Seniorencentrum arbeitet nach dem psychobiographischen Pflegemodell von<br />

Professor Erwin Böhm. Die Einrichtung erhielt die international anerkannte Auszeichnung<br />

für Leistungen in der Betreuung von Menschen mit Demenz ENPP (Europäisches Netzwerk<br />

für psychobiographische Pflegeforschung).<br />

• Die Senioreneinrichtung TÜRK HUZUR EVI berücksichtigt in Pflege und Betreuung die be-<br />

sonderen Bedürfnisse türkischer Mitbürger/innen.<br />

• Die Seniorenresidenz Bethanien Havelgarten ist eine neue Einrichtung mit außergewöhn-<br />

lich komfortabler Ausstattung. Bemerkenswert ist der großzügig gestaltete geschützte Gar-<br />

ten- und Wohnbereich für Menschen mit Demenz. Zu den besonderen Einrichtungen gehö-<br />

ren moderne Wellnessbäder, ein Veranstaltungssaal. ein Andachtsraum, das Restaurant<br />

mit Blick auf die Havel und ein hauseigenes Ausflugsboot.<br />

In einem regen Erfahrungsaustausch wurde vor allem über folgende Anliegen aus dem All-<br />

tag in der Pflegearbeit gesprochen:<br />

• Individuell auf die Bedürfnisse der Bewohner/innen einzugehen ist von den personellen<br />

und finanziellen Möglichkeiten der Einrichtung abhängig.<br />

• Die „Charta der Rechte hilfs- und pflegebedürftiger Menschen“ ist zwar Grundlage des<br />

Handelns, die konkrete Umsetzung für ein selbstbestimmtes Leben der Heimbewoh-<br />

ner/innen ist von vielen Voraussetzungen abhängig, die noch nicht immer realisierbar<br />

sind.<br />

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• Eine Bezugspflege, die auf die Wünsche und Bedürfnisse der Bewohner/innen ausgerichtet<br />

ist, erfordert einen erweiterten Pflegeschlüssel.<br />

• Ehrenamtliche Helfer sind in den Heimen stets willkommen. Sie benötigen eine komplette<br />

Begleitung und Betreuung (Fortbildung). Anerkennung und Dank werden ihnen zuteil.<br />

• Angehörigenarbeit fördert die Kommunikation. Angehörige lernen sich untereinander ken-<br />

nen, tauschen ihre Erfahrungen aus und helfen sich gegenseitig.<br />

• Ein gutes Qualitätsmanagement und qualifizierte Mitarbeiter sind Garanten für bestmögli-<br />

che Betreuung. Dabei ist die Kompetenz entscheidend, nicht die Anzahl.<br />

• Die ärztliche Versorgung besonders bei notwendiger Behandlung durch Fachärzte muss<br />

verbessert werden. Weitgehend zufrieden ist die Betreuung in den Einrichtungen mit dem<br />

Berliner Modell, in denen Ärzte fest angestellt sind.<br />

• Die Betreuung dementiell erkrankter Bewohner/innen gewinnt zunehmend an Bedeutung.<br />

Die Einrichtungen sind entsprechend konzeptionell darauf eingestellt. Die Pflegekräfte<br />

werden besonders fachlich qualifiziert.<br />

Am Schluss der Diskussion wurde mit dem Dank für die informative Aussprache die Einla-<br />

dung an interessierte Teilnehmer/innen zu einem Besuch der Einrichtungen ausgesprochen,<br />

<strong>Dr</strong>. <strong>Josefine</strong> <strong>Heusinger</strong>, <strong>Dr</strong>. <strong>Christine</strong> <strong>Roßberg</strong>, <strong>Renate</strong> <strong>Michalski</strong><br />

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