Beispiel einer Seminararbeit - Oliver Götze
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Der folgende Text zeigt beispielhaft, wie eine <strong>Seminararbeit</strong> gegliedert,<br />
formuliert und richtig belegt werden kann. Er wurde im Jahr 2001 verfasst<br />
und seither nicht aktualisiert, gibt also weder den aktuellen<br />
Forschungsstand wieder noch beweist er eine besondere stilistische Finesse.<br />
Für neuere Informationen berücksichtigen Sie bitte meine Dissertation „Der<br />
öffentliche Kosmos“, voraussichtliche Veröffentlichung: Februar 2010.
TECHNISCHE UNIVERSITÄT BERLIN<br />
FACHBEREICH GESCHICHTS- UND KOMMUNIKATIONSWISSENSCHAFTEN<br />
FACHRICHTUNG NEUERE GESCHICHTE<br />
Über die Investitur des Borso d'Este<br />
zum Markgrafen von Ferrara<br />
Sommersemester 2001<br />
Hausarbeit zum Hauptseminar „Italienische Städterepubliken“<br />
Dozent: Prof. Dr. V. Hunecke<br />
Vorgelegt von:<br />
<strong>Oliver</strong> <strong>Götze</strong><br />
Matrikelnummer: 187662<br />
Berlin, den 18.08.01
Inhalt<br />
1. Einleitung ....................................................................................<br />
2. Ferrara in der Mitte des Quattrocento (Hauptteil)……………...<br />
2.1. Der Consiglio de XII Savi .......................................................<br />
2.2. Des Rates Wahl .......................................................................<br />
2.3. Die Tugenden Borsos ..............................................................<br />
2.4. Hof und Gesellschaft unter Borso d'Este ................................<br />
3. Schluss.........................................................................................<br />
Literatur ..........................................................................................<br />
- 3 -<br />
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5<br />
5<br />
7<br />
9<br />
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Über die Investitur des Borso d'Este zum Markgrafen von Ferrara<br />
1. Einleitung<br />
Im Herbst 1450, als die ersten Blätter von den Bäumen fielen und in der Poebene die Ernte<br />
eingefahren werden musste, konnten die Bürger der oberitalienischen Stadt Ferrara einem seltenen<br />
Ereignis beiwohnen: 1 An einem Oktobernachmittag, nur wenige Stunden nach dem Tode des<br />
Markgrafen Leonello, ritt sein Bruder Borso d'Este in Begleitung einiger Anhänger von<br />
Belriguardo, der unweit von Voghenza erbauten, vielfach besungenen Lieblingsvilla der Este,<br />
durch das von vielen kleinen Kanälen durchzogene, üppig sumpfige Contado nach Ferrara. Einer<br />
vorher mit dem Consiglio de XII Savi, dem Stadtkonzil, vereinbarten Prozedur gemäß, stoppte der<br />
Reiter außerhalb der Stadtmauern in der Nähe der alten byzantinischen Kathedrale und wurde dort<br />
von <strong>einer</strong> jubelnden Menge mit Rufen "Viva Borso!" und "Borso marchese!" begrüßt. Aus dieser<br />
Menge trat sodann Agostino da Villa, der Guidice de Savi, und geleitete den jungen Mann in die<br />
Kathedrale, um ihn vor dem Altar im Beisein aller Räte zum Markgrafen auszurufen und ihm die<br />
Insignien des Signorats zu überreichen. Freudig nahm Borso diese entgegen, versprach, stets ein<br />
guter Herrscher zu sein, und kleidete sich nun in ein mit Gold und Edelsteinen besetztes<br />
Brokatgewand. Anschließend bestieg er sein weißes Lieblingspferd Aethon, überquerte den Po auf<br />
der Ponte di San Giorgio und gelangte durch die Porta di Sotto in die Straßen der Altstadt, an<br />
deren Seiten sich die Bürger versammelt hatten, um zu winken oder Blumen zu werfen. Der neue<br />
Stadtherr lächelte freundlich zurück, reichte seinen Untertanen die Hand zum Kuss und<br />
durchquerte von Trompetenklängen begleitet die Via Grande und die Via San Paolo bis zur Piazza<br />
del Duomo. Vor der pittoresken Kathedrale stiegen er und sein Gefolge von den Pferden und<br />
mussten viel Mühe aufwenden, um sich durch die Menge einen Weg zum Hochaltar zu bahnen,<br />
vor dem bereits der Bruder des Herzogs von Mailand und andere Adlige warteten. Noch einmal<br />
sprach der Guidice de Savi und legte den Treueschwur für die Bürger von Ferrara ab, bevor auch<br />
die Herren aus Modena und Reggio, den neben Ferrara größten Städten des estensischen<br />
Herrschaftsgebietes, dem Signore ihre Loyalität versicherten. In <strong>einer</strong> kurzen Ansprache dankte<br />
Borso dann den Anwesenden und verließ als neuer Signore die Kathedrale, um seine Gemächer im<br />
Castel Vecchio, einem der Stadtpaläste der Este, aufzusuchen.<br />
Die oben beschriebene Amtseinsetzung Borsos wurde von verschiedenen ferraresischen<br />
Chronisten überliefert, weil der neue Signore kein legitimer Erbe, sondern ein in der Erbfolge<br />
ursprünglich nicht berücksichtigter Bastard des Marchesen Niccolo III. (reg. 1393-1441) war.<br />
1 Zu der folgenden Schilderung vgl. Charles Rosenberg, The Este monuments and urban development in<br />
Renaissance Ferrara, Cambridge 1997, S. 80ff und Walther Ludwig, Die Borsias des Tito Strozzi, Ein lateinisches<br />
Epos der Renaissance, München 1977, S. 264-267.<br />
- 4 -
Dieser Markgraf verfügte in seinem Testament, sein Sohn und Nachfolger Leonello sollte durch<br />
die eigenen Söhne oder die legitimen Söhne seines Vaters beerbt werden. Dennoch entschied sich<br />
das Stadtkonzil gegen die rechtmäßigen Nachfolger Niccolo di Leonello, Sigismondo und Ercole<br />
und offerierte nach kurzer Beratung Borso die Markgrafschaft. Dieser nahm das Angebot an und<br />
demonstrierte mit dem erwähnten öffentlichen Triumphzug sowohl seine Machtübernahme, als<br />
auch den Anschein, er sei der vom Volk gewünschte Herrscher. Nur wenige Wochen später<br />
annullierte Papst Nikolaus V., der um einen mächtigen Pufferstaat zwischen dem Patrimonium<br />
Petri und den Territorien von Venedig und Mailand bemüht war, in <strong>einer</strong> Bulle die Ansprüche<br />
Niccolo di Leonellos und erkannte Borso als legitimen Markgrafen an.<br />
In den folgenden Jahren versuchten einige am Hofe der Este lebende Autoren, die Gunst des<br />
neuen Regenten zu erlangen, indem sie ihm Werke widmeten, in denen die Rechtmäßigkeit der<br />
Investitur bewiesen wurde, so Frater Giovanni, welcher eine Historie der Familie Este verfasste,<br />
und Michele Savonarola, der in seinem Dialog "De felice progresso di Borso d'Este" über<br />
Umstände der Wahl berichtete. Tito Strozzi, ein von Borso bevorzugter Dichter, vollendete erst<br />
nach dem Tode des Markgrafen sein Epos "Borsias", in welchem er den Lebensweg Borsos von<br />
der Kindheit bis zur Regentschaft literarisch ausschmückte und gleichfalls eine Version der<br />
Investitur überlieferte. Mittels dieser drei Autoren kann die Abfolge der Geschehnisse von 1450<br />
nachvollzogen werden, doch es stellen sich weitere Fragen, so nach dem Recht der Ferrareser<br />
Stadtkommune, auf die Erbfolge der Este Einfluss zu nehmen, und nach den Gründen des<br />
Konzils, Borso die Signorie anzutragen. Im Folgenden sollen deshalb sowohl die politischen<br />
Verhältnisse Ferraras als auch die Regierungszeit Borsos (1450-1471) genauer betrachtet und ein<br />
Blick auf das Leben am Hofe geworfen werden, um zu klären, inwiefern der Makel der illegitimen<br />
Erbfolge die markgräfliche Politik beeinflusste.<br />
2. Ferrara in der Mitte des Quattrocento (Hauptteil)<br />
2.1. Der Consiglio de XII Savi<br />
Wie in anderen oberitalienischen Städten auch, trat der Consiglio de XII Savi erstmals im frühen<br />
zwölften Jahrhundert zusammen, als weder der Erzbischof von Ravenna noch der Kaiser ihre<br />
Herrschaftsrechte in der von den Familienkämpfen der Adelardi und Torelli geprägten Poregion<br />
durchsetzen konnten. Die lokale gesellschaftliche Elite nahm deshalb vermehrt öffentliche<br />
Aufgaben wahr und schuf zu diesem Zweck lokale Ämter, so den Stadtrat der Zwölf. Doch<br />
während in anderen italienischen Kommunen eine einflussreiche Kaufmannschaft politisch aktiv<br />
wurde, konnte sich der Popolo in Ferrara nicht entwickeln. 2 Vielmehr gelang es den Este durch<br />
2 Vgl. Trevor Dean, Land and power in late medieval Ferrara, Cambridge 1988, S. 11f.<br />
- 5 -
eine kluge Vergabe von Benefizien und Pfründen an lokale Adlige, sich loyaler Anhänger zu<br />
versichern, welche zuverlässig die kommunalen Ämter in den größeren Städten (Ferrara, Reggio,<br />
Modena, Rovigo, Comacchio) verwalteten. Dementsprechend setzte sich auch der Consiglio de<br />
XII Savi aus Vasallen des Markgrafen zusammen, 3 während die Händler und Bürger Ferraras nur<br />
geringen Einfluss besaßen. Ihre Zünfte waren gewöhnlich klein und spezialisiert, so die Kürschner-<br />
oder die Bäckerzunft, und kämpften gegen die Vormacht der venezianischen Händler, welche von<br />
den Este als Dank für militärische Unterstützung der Serenissima verschiedene Monopole und<br />
Vergünstigungen gewährt bekommen hatten, so Steuerbefreiungen, Kontrolle über die Schifffahrt<br />
auf dem Po und das Salzmonopol. Die Ferrareser Händler hingegen mussten sich mit<br />
ökonomischen Nischen zufrieden geben und konnten sich deshalb weder zu <strong>einer</strong> einflussreichen<br />
Händlerzunft zusammenschließen, noch waren sie zur politischen Opposition fähig 4 . Die<br />
Markgrafen nutzten diesen Vorteil. Sie konnten letztlich auf die Besetzung der kommunalen Ämter<br />
Einfluss nehmen, indem sie ihren Vertrauten durch Benefizien eine Kandidatur ermöglichten oder<br />
sie selbst ernannten, so den Ratspräsidenten (Guidice de Savi) in Ferrara. 5 Außerdem sicherten die<br />
Este ihre Herrschaft, indem sie parallel zu den städtischen Ämtern neue Behörden schufen, denen<br />
sie wichtige kommunale Aufgaben übertrugen. So forderten die Mitarbeiter der markgräflichen<br />
Finanzkammer (camera) die Steuern ein und erledigten die Kanzler des Signore außenpolitische<br />
Aufgaben, während die Befugnisse des Stadtkonzils stetig gemindert und auf die Zuständigkeit für<br />
die öffentlichen Gebäude und Anlagen, sowie die Nahrungsversorgung reduziert wurden. 6 Da<br />
jedoch viele kommunale Amtsträger dem lokalen Adel entstammten und zumeist als Vasallen und<br />
Inhaber lukrativer Pfründe dem Markgrafen verpflichtet waren, arbeiteten sie gut mit den<br />
markgräflichen Beamten zusammen.<br />
Die ambivalenten Beziehungen zwischen der Stadtkommune und dem Signore lassen sich<br />
eindrücklich anhand der Mitglieder des Consiglio nachweisen, da es einigen Familien während der<br />
Regierungszeit Niccolos III. gelang, einträgliche Ämter für längere Zeit auszuüben und Ansehen<br />
und Wohlstand zu erwerben. Die Familien der Contrari und der Roberti aus Ferrara, der Boiardi<br />
aus dem Reggiano und der Strozzi aus Florenz nahmen am höfischen Leben teil und bildeten eine<br />
Elite, die auch von Niccolos Nachfolger Leonello kaum verändert, sondern lediglich ergänzt<br />
wurde, so durch die Ernennung Agostinos da Villa zum Guidice de Savi (1445). Da Villa war unter<br />
Niccolo Kanzler in Ferrara und wurde von den Este zu diplomatischen Missionen nach Mailand,<br />
Florenz und Rom geschickt, bevor er in den Stadtrat aufgenommen wurde. 7 Die weiteren<br />
3 Vgl. Richard Tristano, Vassals, Fiefs and Social Mobility in Ferrara during the Middle Ages and Renaissance. In:<br />
Medievalia et Humanistica, Number 15, Totowa 1987, S. 47f.<br />
4 Ebd., S. 44, 58f.<br />
5 Vgl. Thomas Tuohy, Herculean Ferrara, Ercole I., 1471-1505, and the Invention of a ducal capital, Cambridge<br />
1996, S. 28.<br />
6 Vgl. Dean, S. 22f.<br />
7 Vgl. Michele Savonarola, Del felice progresso di Borso d'Este, Bari 1996, S. 152 Anm. 208.<br />
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Regierungsgeschäfte überließ der humanistisch gebildete Leonello jedoch seinem Bruder Borso,<br />
der auf diese Weise die städtischen Räte und Amtsinhaber kennenlernte und folglich ihre Gunst<br />
erwerben konnte. 8<br />
2.2. Des Rates Wahl<br />
Die Offerte des Stadtrates an Borso, Signore von Ferrara zu werden, war ein Angebot an einen<br />
Adligen, dessen politische Fähigkeiten und militärische Erfahrungen bekannt waren, so seine<br />
Teilnahme an den Kämpfen zwischen Venedig und Mailand (1431) 9 und seine Regentschaft in<br />
Cremona und Novara. 10 Die legitimen Nachfolger waren hingegen noch sehr jung und befanden<br />
sich zur Ausbildung an den verschiedensten Höfen Italiens. Der zwölfjährige Niccolo di Leonello<br />
weilte am Hofe der Gonzaga in Mantua, während die erst siebzehn- bzw. neunzehnjährigen Söhne<br />
Niccolos bei Alfons von Neapel das Kriegshandwerk erlernten und dort durch Bartolomeo Facio<br />
humanistisch erzogen wurden. Um einen ähnlichen Volksaufstand wie 1393, als der minderjährige<br />
Niccolo III. seinem Vater folgte, zu vermeiden, wählten die Stadträte und Vasallen Leonellos<br />
einstimmig den populären Borso und hofften, der neue Markgraf würde gleichfalls die Humanisten<br />
und Künstler des Hofes unterstützen, welche seit etwa 1430 in Ferrara lebten und die Stadt in<br />
Italien als Kulturzentrum bekannt gemacht hatten. Der berühmte Pädagoge Guarino Veronese<br />
weilte beispielsweise seit 1429 in der Stadt und hielt bis zu seinem Tode an der Universität<br />
Vorlesungen, der Maler Cosimo Tura war <strong>einer</strong> der ersten italienischen Maler, der die flämische<br />
Öltechnik beherrschte und den Gemälden mehr Leuchtkraft und Kunstfertigkeit verlieh, 11 und die<br />
Humanisten Flavio Biondo und Leon Battista Alberti standen in regem Briefwechsel mit den<br />
Markgrafen und berieten sie in Kunstfragen. Der zum Hofarzt berufene Ugo Benzi gründete mit<br />
der Accademia Benzia einen der ersten Humanistenkreise Ferraras, dem außerdem Michele<br />
Savonarola, der Großvater des berühmten Girolamo, und Niccolo Leoniceno, <strong>einer</strong> der ersten<br />
Kritiker des älteren Plinius, angehörten 12 . Einem weiteren Humanistenkreis stand der Markgraf<br />
Leonello vor, der seinen Mitstreitern Stellungen an der Universität Ferraras verschaffte oder ihre<br />
Traktate förderte, so Angelo Decembrios berühmten Dialog "De politia litteraria", in dem<br />
Leonello, Guarino, Feltrino Boiardo, Tito Strozzi und andere über lesenswerte Bücher diskutieren,<br />
Ludovico Carbone's Kommentar zu Albertis "De pictura", in dem Carbone Parallelen zwischen<br />
8 Vgl. Tristano, S. 53f.<br />
9 Vgl. Savonarola, S. 136.<br />
10 Vgl. Charles Rosenberg, 'Per il bene di ... nostra cipta': Borso d'Este and the Certosa of Ferrara. In: Renaissance<br />
Quarterly 29, New York 1976, S. 334.<br />
11 Vgl. Katja Conradi, Malerei am Hofe der d'Este, Cosmé Tura, Francesco del Cossa, Ercole de' Roberti, Hildesheim<br />
1997, S. 84f.<br />
12 Vgl. Sesto Prete, Humanismus und Humanisten am Fürstenhof der Este in Ferrara während des XV. Jahrhunderts.<br />
In: Arcadia 2, Berlin 1967, S. 129-137.<br />
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dem virtus eines Herrschers und Gemälden der zeitgenössischen Künstler zieht, 13 und Michele<br />
Savonarola's Schrift "Speculum phisionomie" über die Charaktere der Menschen. 14 Zudem ließ sich<br />
Leonello in der Villa Belfiore ein Studierzimmer einrichten, das als erstes s<strong>einer</strong> Art in Italien von<br />
vielen Fürsten bewundert wurde und manche zur Nachahmung anregte. Dieses Studiolo sollten die<br />
Maler Angelo da Siena und Cosimo Tura mit einem phantastischen Musenzyklus ausschmücken,<br />
doch unterbrach der frühe Tod des "principe filosofo" die Arbeiten an dem weithin bekannten<br />
Meisterwerk. Dessen Fertigstellung sollte Aufgabe des neuen Markgrafen werden, der sich nach<br />
Auffassung der Höflinge der Förderung der Humanisten und Künstler und der geschickten<br />
Vergabe von Benefizien widmen sollte.<br />
Borso d'Este vermochte den Ansprüchen der Vasallen und Stadträte bestens gerecht zu werden,<br />
doch da er in der Erbfolge nicht vorgesehen war, mussten seine Befürworter die Investitur<br />
rechtlich begründen und mittels theoretischer Traktate legitimieren. Sie griffen zu diesem Zweck<br />
auf verschiedene mittelalterliche Traditionen zurück und argumentierten, nicht die Geburt oder<br />
adliges Blut seien ausschlaggebend für das Recht zu Herrschen, sondern edle Tugenden und eine<br />
friedfertige Gesinnung. 15 Den Vorzug des Charakters vor der Abstammung hatten bereits Dante in<br />
s<strong>einer</strong> Abhandlung "De monarchia" und Brunetto Latini in dem Werk "Li Livres dou Tresor"<br />
(1266) niedergelegt; auch der große Jurist Bartolo di Sassoferrato erkannte neben der erblichen<br />
Nobilität Virtus und Charakter als Basis <strong>einer</strong> Herrschaft an. 16 Michele Savonarola, der in seinem<br />
Dialog "De felice..." die Stadträte über den gerechten Herrscher streiten lässt, führte insbesondere<br />
die Tugenden der giustitia (Gerechtigkeit), temperanza (Mäßigung), fortezza (Stärke), liberalitá<br />
(Freigebigkeit), magnificentia (Pracht), magnanimitá (Großmut) und der prudentia (Weisheit) als<br />
Vorzüge eines Herrschers an und versuchte zu zeigen, auf welche Weise Borso diese Tugenden<br />
erfüllte. 17 Entnommen hatte Savonarola diesen Tugendkatalog mittelalterlichen Fürstenspiegeln,<br />
die seit dem 13. Jahrhundert von verschiedenen Autoren studiert und in zeitgenössische politische<br />
Werke aufgenommen wurden, so in Aquinos "De regno" (um 1260) und Aegidius Romanus'<br />
Schrift "De regimine principum" 18 . Beide Autoren meinten, eine tugendhafte Monarchie sei die<br />
beste Form der Regierung, da sie Frieden, Gerechtigkeit und Reichtum gewährleisten kann.<br />
Hingegen bemerkten bereits im Verlauf des 13. Jahrhunderts andere Autoren, das Recht zu<br />
regieren sei dem Fürsten durch die Stadtgemeinde (universitas) übertragen und könne zu jeder Zeit<br />
wieder entzogen werden, wenn dieser gegen das Gemeinwohl (bonum commune) verstieße. Die<br />
13 Vgl. Stephen J. Campbell, Cosmé Tura of Ferrara, Style, Politics and the Renaissance City, 1450-1495, New Haven<br />
1997, S. 10.<br />
14 Vgl. Johannes Thomann, Studien zum "Speculum physionomie" des Michele Savonarola, Ph.D. diss.,<br />
Philosophische Fakultät, Universität Zürich 1997, S. 122ff.<br />
15 Vgl. Rosenberg (1997), S. 104f.<br />
16 Ebd., S. 105.<br />
17 Vgl. Savonarola, S. 137.<br />
18 Vgl. Quentin Skinner, Political Philosophy. In: Charles B. Schmitt (Hrsg), The Cambridge History of Renaissance<br />
Philosphy, Cambridge 1988, S. 395ff.<br />
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Macht zu herrschen, so Azo von Bologna (gestorben um 1230), sei folglich nur auf bestimmte Zeit<br />
gewährt, doch hat die Kommune nicht gänzlich auf dieses Recht verzichtet. 19 Mittels dieser<br />
Bemerkungen können auch die Befugnisse des Consiglio von Ferrara, Borso d'Este zum Signore<br />
auszurufen, erläutert werden. Im Jahr 1264 hatte der podestà von Ferrara, Pierconte da Carrara, auf<br />
<strong>einer</strong> Versammlung der Stadtbürger Obizzo II. d'Este das lebenslange Recht zu regieren und nach<br />
seinem Gutdünken Recht zu sprechen übertragen und bestimmt, seine Erben würden als legitime<br />
Nachfolger die gleichen Befugnisse erhalten. 20 Wenn jedoch die Erbfolge ungeklärt ist oder es<br />
durch Unruhen unmöglich ist, den rechtmäßigen Erben einzusetzen, dann fällt das Recht zu<br />
Regieren formell an das Stadtkonzil zurück, dessen Räte folglich berechtigt waren, Borso zum<br />
Signore zu ernennen.<br />
2.3. Die Tugenden Borsos<br />
Sowohl die Bemühungen des Stadtrates, die Erbfolge mittels mittelalterlicher Rechtstraditionen zu<br />
legitimieren, als auch die öffentliche Erklärung, der Consiglio hätte Borso wegen dessen Tugenden<br />
erwählt, bestimmten wesentlich das politische Handeln des neuen Markgrafen. Er musste sich der<br />
ihm übertragenden Regentschaft würdig erweisen, indem er seine edle Gesinnung und<br />
Rechtschaffenheit demonstriert, und wurde von seinen Zeitgenossen beständig an diesen<br />
Anspruch erinnert. So begrüßte ihn die Stadt Reggio 1453 mit <strong>einer</strong> triumphalen Prozession, auf<br />
der in Begleitung eines Cäsars sieben schöne Weiber erschienen, welche Borso als erstrebenswerte<br />
Tugenden vorgestellt wurden. 21 Auch die Chronisten Ferraras versuchten die Charakterzüge des<br />
Signore in ihren Annalen zu beschreiben oder in besonderen Traktaten zu verherrlichen, so Tito<br />
Strozzi in s<strong>einer</strong> "Borsias" und Savonarola in der Schrift "Del felice...". Letzterer stellte eine<br />
staatstheoretische Debatte der Stadträte dar und ließ zuerst einen Magister Nigrisolus die<br />
Eigenschaften eines guten Fürsten darlegen, bevor Antonius Gaius auftrat und die Tugenden<br />
Borsos beginnend mit der prudentia nachwies. 22 Die Weisheit hätte der Markgraf erworben, so<br />
Savonarola, weil er pietätvoll handelte und freigiebig Konvente und Klöster stiftete. 23 Tatsächlich<br />
wurde vor allem die Gründung des Kartäuserklosters (certosa) von den Zeitgenossen Savonarolas<br />
gerühmt, da dieser Klosterkomplex nach der im Frühjahr 1452 gefeierten Grundsteinlegung von<br />
Biagio Rossetti und anderen Architekten zu einem der prachtvollsten Gebäude Ferraras ausgebaut<br />
wurde. Zugleich wünschte Borso in der zum Kloster gehörenden Kirche San Christoforo begraben<br />
zu werden und stellte sich auf diese Weise in die Tradition Niccolos III., der 1403 das<br />
19 Ebd., S. 394.<br />
20 Vgl. Daniel Waley, The Italien City-Republics, London 1978, S. 137f.<br />
21 Vgl. Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Berlin o.J., S. 271.<br />
22 Vgl. Ludwig, S. 270.<br />
23 Vgl. Savonarola, S. 135f.<br />
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Dominikanerkloster Santa Maria degli Angeli gegründet und zur Grablegestätte der Este bestimmt<br />
hatte. Sowohl Niccolo, als auch Leonello und Ercole wurden hier bestattet.<br />
Ein weiteres Projekt zur Demonstration s<strong>einer</strong> Pietät startete Borso 1469 mit Grabungsarbeiten in<br />
der Nähe von Belriguardo. Hier wollte der Markgraf einen heiligen Berg (Monte Santo) mit<br />
Nachbildungen der christlichen Stätten von Jerusalem errichten lassen, dessen Rückeroberung seit<br />
dem Fall von Konstantinopel (1453) unerreichbar schien. Viele oberitalienische Herrscher des 15.<br />
Jahrhunderts ließen deshalb an Berghängen oder auf Hügelkuppen kleine Kirchen, Kapellen oder<br />
Schreine mit Darstellungen der Leidensgeschichte Christi erbauen und zeigten auf diese Weise ihre<br />
Frömmigkeit. Von dem Monte Santo Borsos gibt es jedoch keine Relikte, da der Markgraf vor der<br />
Fertigstellung starb und sein Nachfolger kein Interesse an der Vollendung hatte. 24 Hingegen<br />
übernahm Ercole I. (reg. 1471-1505) das Amt des päpstlichen Vikars von seinem Halbbruder,<br />
welchem zu Lebzeiten viel Vertrauen in kirchlichen Fragen entgegengebracht wurde. Borso<br />
schlichtete mehrmals Streitereien zwischen der Kurie und Städten s<strong>einer</strong> Herrschaft, unterstützte<br />
den Bischof von Ferrara in s<strong>einer</strong> Arbeit und förderte Reformen in den Klöstern. 25 Weiterhin gab<br />
er Gemälde und Werke religiösen Inhalts in Auftrag und berief zu diesem Zweck mit Taddeo<br />
Crivelli und Franco dei Russi die berühmtesten Miniaturmaler Italiens an seinen Hof. Neben<br />
verschiedenen Dekorationsaufträgen sollten sie vor allem die herzogliche Bibel mit prächtigen<br />
Ornamenten, biblischen Darstellungen und den Wappen der Este verzieren. Der Markgraf zeigte<br />
sich nach der Fertigstellung sehr stolz auf dieses Kunstwerk und ließ die Bibel zusammen mit<br />
anderen persönlichen Gegenständen während s<strong>einer</strong> Erhöhung zum Herzog von Ferrara (1471) in<br />
Rom ausstellen. Auf diese Weise konnte er sich sowohl der Kurie als auch der römischen<br />
Öffentlichkeit als prächtiger Mäzen und pietätvoller Regent präsentieren. 26<br />
Die heute in der in der Biblioteca Estense in Modena aufbewahrte Bibel ist jedoch nicht nur wegen<br />
ihrer Pracht und der Finesse der Miniaturen von Interesse, sondern ermöglicht auch Rückschlüsse<br />
auf das Selbstverständnis Borsos. Besonders bekannt wurde diesbezüglich die Miniatur Crivellis zu<br />
Beginn des Buches Levitikus, auf welcher der Maler die Tugend giustitia mit einem Wappen der<br />
Este darstellte und auf den Anspruch des Herzogs, ein gütiger und gerechter Herrscher zu sein,<br />
anspielte. In der Tat berichten die Chronisten Ferraras oft über die Rechtsprechung Borsos und<br />
seine täglichen Audienzen auf der Piazza del Duomo. Hier schenkte er jedem Einwohner Gehör,<br />
schlichtete kl<strong>einer</strong>e Streitereien sofort und vernahm die Klagen der Bürger. Berichtete ihm jemand<br />
von korrupten Beamten oder Personen, die gegen das Gemeinwohl handelten, so ging er den<br />
Vorwürfen nach und bestrafte die Übeltäter nach seinem Gutdünken. 27 In manchen Fällen zeigte<br />
er sich milde und gnädig, so gegen den ehemaligen Kanzler Pellegrino da Labolico und gegen einen<br />
24 Vgl. Rosenberg (1997), S. 86f.<br />
25 Vgl. Rosenberg (1976), S. 336f.<br />
26 Vgl. Lisa Jardine, Der Glanz der Renaissance, Ein Zeitalter wird entdeckt, München 1999, S. 207.<br />
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Ferrareser, der im Ausland schlecht über Borso gesprochen hatte, denunziert wurde und<br />
flehentlich mit einem Strick um dem Hals vor dem Herzog erschien, 28 während er gegen andere<br />
Verbrecher unerbittlich war. Den alten Kanzler Ugoccione della Badia, einen hochverdienten<br />
Berater Leonellos, ließ er wegen <strong>einer</strong> Konspiration ebenso köpfen, wie Angehörige der Pio aus<br />
Carpi, die eine Verschwörung planten und Borso durch seinen Halbbruder Ercole ersetzen wollten<br />
(1469). In seinen ersten Regierungsjahren vergrößerte Borso zudem seinen Einfluss auf das<br />
Gerichtswesen mit der Schaffung eines herzoglichen Justizrates (Consiglio di Giustitia) und eines<br />
Postens für Fragen des öffentlichen Rechts (Guidice de Commune), 29 während ihn unzählige<br />
Informanten über Geschehnisse in seinen Provinzen unterrichteten.<br />
Das Bemühen Borsos um das Justizwesen wurde von seinen Zeitgenossen bemerkt, in Lobreden<br />
verherrlicht und von Künstlern für die markgräfliche Ikonographie verwendet. So ist auf der<br />
Vorderseite <strong>einer</strong> nach 1452 geschlagenen Medaille ein Abbild des Herzogs zu sehen, während auf<br />
der Rückseite die Tugend der giustitia mit der Inschrift "Sie [beide] sind Eines" dargestellt wurde. 30<br />
Ebenso bemerkenswert ist die im Jahre 1454 auf der Piazza Maggiore aufgestellte Marmorsäule,<br />
welche eine Statue Borsos trug. Der Dichter Tito Strozzi lieferte die Inschrift zu dem Monument:<br />
"Ein dankbares Ferrara stiftet Dir diese Säule während Du lebst, gerechtester Borso, verdienter<br />
Herrscher dieser Stadt, der Du der erste deines Blutes warst, der den Titel Herzog vom Kaiser<br />
erlangte und der stets in Frieden regiert." 31 Neben der Wahrung des Friedens und der Erhöhung<br />
zum Herzog erwähnte Strozzi eindrücklich das Bemühen des Herrschers, gerecht zu regieren<br />
(iustissime Borsi), und stellte folglich die Verbindung zur Statue her, welche Borso in Recht<br />
sprechender Geste zeigte. Der Bildhauer Niccolo Baroncelli bildete ihn auf einem Faltstuhl sitzend<br />
ab, während er die Insignien s<strong>einer</strong> Herrschaft (bachetta und biretta) trug und gekleidet war, als<br />
würde er auf der Piazza del Duomo Audienzen geben. Mit den Armlehnen des Stuhles, in Holz<br />
geschnitzten Löwenköpfen, spielte Baroncelli möglicherweise auf den von Löwenköpfen<br />
flankierten Thron und die Weisheit König Salomos an (1. Könige 18ff.), während er für die<br />
auffällige Haltung des Herzogs auf die mittelalterliche Tradition zurückgriff, Macht mittels<br />
sitzender Herrscher darzustellen. 32 Kaiser Friedrich II. und Papst Bonifatius VIII. hatten sich auf<br />
die gleiche Weise abbilden lassen und ihre Oberhoheit über Justiz und Regierung demonstriert,<br />
und auch der Consiglio de XII Savi, der Auftraggeber der Säule, wird dieses Ziel verfolgt haben, da<br />
die Stadtväter die Säule vor dem Palazzo della Ragione aufstellen ließen. In diesem Palast hatte der<br />
27 Vgl. Ludwig, S. 271f. und Rosenberg, S. 101.<br />
28 Vgl. Burckhardt, S. 37.<br />
29 Vgl. Charles Rosenberg, The Iconography of the Sala degli Stucchi in the Palazzo Schifanoia in Ferrara. In: The Art<br />
Bulletin 61, 1979, S. 381.<br />
30 Haec Tu Unum. Vgl. Rosenberg (1997), S. 102.<br />
31 Hanc tibi viventi Ferraria grata columnam / ob merita in patriam, princeps iustissime Borsi / dedicat, Estensi qui<br />
dux a sanguine primus / excipis imperium et placida regis omnia pace. Vgl. Ludwig, S. 23.<br />
32 Vgl. Rosenberg (1997), S. 99f.<br />
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podesta seinen Amtssitz, hier urteilten die Richter über Straftaten und Streitfälle und versammelten<br />
sich die Savi, um die kommunalen Probleme zu diskutieren. Mit der Aufstellung der Säule zeigte<br />
der Consiglio seine Loyalität zum neuen Markgrafen und akzeptierte dessen juristische und<br />
administrative Autorität, während sich Borso mit dieser Säule in die Tradition s<strong>einer</strong> Ahnen stellen<br />
konnte. Denn gegenüber dem Palazzo della Ragione wurde nur ein Jahr zuvor am großen<br />
Torbogen des Palazzo Ducale eine Reiterstatue Niccolos III. aufgestellt und am Dom befand sich<br />
ein Monument für Alberto V. (1394). Von der Piazza del Duomo konnten die Bürger Ferraras<br />
diese drei Monumente betrachten, ohne einen Schritt gehen zu müssen, und sahen deshalb den<br />
illegitimen Bastard Borso in <strong>einer</strong> Reihe von anderen großen Markgrafen der Familie Este.<br />
Ein weitere Darstellung der Tugenden Borsos findet sich im Palazzo Schifanoia, einem schlichten,<br />
um 1385 eingeschossig errichteten Bau, den der Herzog seit 1466 durch Pietro Benvenuti<br />
aufstocken und von verschiedenen Künstlern ausschmücken ließ. Obwohl das ursprüngliche<br />
Gesamtkonzept des Palastes heute nicht mehr erkennbar ist und ein Großteil der Dekoration<br />
zerstört wurde, erhält der Besucher in einigen Räumen des Obergeschosses einen guten Einblick in<br />
die Kunst des Quattrocento, so in der die Sala degli Stemmi (Saal der Wappen), in der eine Serie<br />
von Medaillons mit dem Abbild Borsos besichtigt werden kann, und in der Sala degli Stucchi (Saal<br />
des Stucks). In diesem Raum blieb ein unmittelbar unter der Saaldecke angebrachter, etwa<br />
zweieinhalb Meter hoher Stuckfries von Domenico di Paris und Bongiovanni di Geminiano<br />
erhalten, der überwiegend aus großen Medaillons und Wappenschilden besteht. Im Abstand von<br />
etwa drei Metern werden diese schmückenden Passagen von kleinen Nischen durchbrochen, in<br />
denen jeweils eine Frauenfigur eine Tugend symbolisiert. Insgesamt gibt es sechs Figuren, drei<br />
repräsentieren die christlichen Tugenden Glaube (Fides), Hoffnung (spes) und Nächstenliebe<br />
(charitas), während die anderen drei Frauen Stärke (fortitudo), Mäßigkeit (temperantia) und<br />
Weisheit (prudentia) darstellen. 33<br />
In seinem Aufbau gleicht dieser Zyklus anderen<br />
Tugenddarstellungen des 15. Jahrhunderts, so der "Allegorie der guten Regierung" Ambrogio<br />
Lorenzettis im Sieneser Palazzo Pubblico oder Piero della Francesca's Gemälde zum Triumphzug<br />
des Federico da Montefeltro, doch fehlt in der Ferrareser Reihe die Tugend der giustitia. Bisher<br />
konnte noch nicht geklärt werden, ob diese Tugenddarstellung existierte und vielleicht zerstört<br />
oder entfernt wurde, 34 oder ob die Künstler der Sala degli Stucchi benachbarte Räume einbezogen.<br />
Beim Betreten der unmittelbar angrenzenden Sala dei Mesi (Saal der Monate) bemerkt der<br />
Besucher beispielsweise auf dem Fresko des Monats März eine Szene, auf welcher Herzog Borso<br />
unter der Inschrift "justicia" als Richter dargestellt wird, während er auf anderen Fresken einen<br />
Narren beschenkt, sich freigiebig zeigt (April) oder als Majestät einen Korb mit Kirschen<br />
entgegennimmt (Mai). In den verschiedenen Fresken der Monate erscheinen demzufolge<br />
33 Vgl. Rosenberg (1979), S. 380.<br />
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unterschiedliche Tugend- und Lasterallegorien, welche möglicherweise die Fortsetzung des<br />
Tugendkataloges aus der Sala degli Stucchi bildeten. 35 Dennoch diente der Monatssaal nicht nur<br />
der Verherrlichung des herzoglichen Charakters, sondern auch der Darstellung <strong>einer</strong> Weltsicht, da<br />
jedes Monatsfresko in drei Teile gegliedert ist und die Teile als Himmel, Zwischensphäre und Erde<br />
gedeutet werden können. Auf dem oberen Teil eines jeden Freskos erschien stets die jeweilige<br />
Monatsgottheit in einem Triumphwagen, so Venus auf dem Aprilfresko in Begleitung des vor ihr<br />
auf die Knie gesunkenen Mars und Vulkan auf dem Septemberfresko zusammen mit Schmieden,<br />
während der mittlere Teil den zugehörigen Tierkreiszeichen und Dekangöttern vorbehalten war.<br />
Auf dem großen unteren Segment des Freskos wurden schließlich höfische Szenen und die<br />
Tugenden Borsos abgebildet, dieser Teil symbolisierte die Erde. Das Gesamtkonzept glich, so<br />
meint Aby Warburg, einem "auf die Ebene übertragenden Sphärensystem" 36 und hatte als<br />
Vorbilder die Arbeiten von Manilius, Boccaccio und Pietro d'Abano. Letzterer entwarf um 1305<br />
das Ordnungssystem für die Fresken Giottos im Palazzo della Ragione in Padua, der ersten<br />
gänzlich unter astrologischen Aspekten realisierten Ausmalung eines Kommunalpalastes, und<br />
schrieb mehrere Werke zur Astrologie. Seine Ideen machte der Paduaner Bürger Michele<br />
Savonarola in Ferrara bekannt; in s<strong>einer</strong> Schrift "Libellus" von 1440 finden sich sowohl<br />
Beschreibungen der Fresken Giottos als auch Bemerkungen zur Nutzung des großen Saales im<br />
Palazzo della Ragione. 37 Insofern geht die Idee der Ausmalung der Sala dei Mesi vermutlich auf<br />
die Paduaner Fresken zurück, zumal Pellegrino Prisciani, welcher als Hofhistoriograph und<br />
Astrologe den Zyklus ersann und die Fertigstellung beaufsichtigte, in einem Brief Pietro d'Abano<br />
erwähnte. 38 Weiterhin gab Prisciani als Vorbild den römischen Autor Manilius an, aus dessen erst<br />
1417 wiederentdecktem Sternengedicht er die Zuordnungen von Göttern und Monaten (März und<br />
Minerva, April und Venus,...) entnahm, und nennt den großen arabischen Astrologen Abu Máschar<br />
(gest. 886), der in seinen Werken die Lehre von den Dekangöttern behandelte. Diesen Götter<br />
teilten die mittelalterlichen Astronomen jeweils ein Drittel eines Sternzeichens zu (also 10 Grad des<br />
Zodiakus) und meinten, gemeinsam mit den aufgehenden Aszendenten würden die Götter den<br />
Charakter eines Menschen bestimmen. Bildnerische Darstellungen der Dekane waren jedoch sehr<br />
selten und beschränkten sich überwiegend auf astrologische Bücher, so dem "Liber astrologiae"<br />
des Fendulus (um 1230), infolgedessen die Fresken im Palazzo Schifanoia auf einzigartige Weise<br />
eine frühneuzeitliche Weltsicht dokumentieren. In den zwischen 1467 und 1471 entstandenen<br />
Fresken verwoben die Künstler mittelalterliche Traditionen (Planeten- und Dekanastrologie) mit<br />
34 So vermutet Rosenberg (1979), S. 383f.<br />
35 So eine Hypothese von Ruhmer. Vgl. Eberhard Ruhmer, Francesco del Cossa, München 1959, S. 74.<br />
36 Vgl. Aby Warburg, Italienische Kunst und Internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara. In: Dieter<br />
Wuttke (Hrsg.), Aby Warburg, Ausgewählte Schriften und Würdigungen, Baden-Baden 1989, S. 183.<br />
37 Vgl. Dieter Blume, Regenten des Himmels, Astrologische Bilder in Mittelalter und Renaissance, Berlin 2000, S. 71-<br />
73.<br />
38 Abgedruckt in: Warburg, S. 186f.<br />
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antiken Überlieferungen (Manilius, römische Götter), doch zeigte sich in den Fresken bereits<br />
deutlich die starke Rezeption der Mythologie, während die astronomischen Beobachtungen nur in<br />
einem schmalen Streifen und die Sonne sogar nur als platte Lichtscheibe dargestellt wurden. 39<br />
2.4. Hof und Gesellschaft unter Borso d'Este<br />
Pellegrino Prisciani war der einflussreichste Astrologe am Hof der Este, da er eine Stelle an der<br />
renommierten Universität hatte und als markgräflicher Bibliothekar und Hofhistoriograph Einblick<br />
in die politischen Angelegenheiten des Staates gewinnen konnte. Er war jedoch nicht der einzige<br />
Sterndeuter in Ferrara, sondern stand in der Tradition verschiedener Astrologen, welche seit<br />
Niccolo III. für die Markgrafen arbeiteten. Von Leonello wird beispielsweise überliefert, er hätte<br />
sich über die Einflüsse der Planeten an den verschiedenen Wochentagen informiert und<br />
dementsprechend in Gewändern der Planetenfarben gekleidet. 40 Außerdem förderte er das<br />
physiognomische Werk des Savonarola ("speculum physionomie"), in welchem der Autor unter<br />
anderem versuchte, die unterschiedlichen Charaktere der Menschen auf stellare Einflüsse<br />
zurückzuführen, 41 und beauftragte den Gelehrten Giovanni Bianchini mit der Niederlegung von<br />
Planetentafeln. Obwohl Bianchini diese Tafeln (Tabulae astrologiae, um 1450) Leonello widmete,<br />
scheute sich Herzog Borso nicht, die Berechnungen prachtvoll einbinden zu lassen und sie<br />
zusammen mit dem Autor dem abergläubischen Kaiser Friedrich III. zu präsentieren, welcher sich<br />
sehr interessiert zeigte. 42 Somit stellte sich Borso wieder in die Tradition s<strong>einer</strong> Vorgänger und<br />
setzte deren Werke und Ideen fort, obgleich er einige astrologische Vorhersagen sehr zynisch<br />
kommentierte. 43 Pietro Bono Avogaro erstellte Horoskope für Borso, der Schreiber Carlo di San<br />
Giorgio nutzte die Punktierkunst, um Vorhersagen zu treffen, und auch der Hofmaler Cosimo<br />
Tura verwendete astrologische Elemente in seinen Werken. So griff er die Idee Abu Máschars auf,<br />
die Ankündigung der Geburt Christi wäre durch den ersten Dekangott des Sternzeichens Jungfrau<br />
geschehen, und bildete in seinem Gemälde "Madonna dello Zodiaco" die Gottesmutter als Virgo<br />
coelestis vor einem Goldornament mit Sternzeichen ab. Ähnlich gestaltete er auch die<br />
"Verkündigung Marias" auf den Diptychen des Rovarella-Altares. Im Vordergrund erscheinen hier<br />
der Erzengel Gabriel und Maria, im Hintergrund bildete Tura in <strong>einer</strong> ungewöhnlichen<br />
Reihenfolge Allegorien der acht ptolemäischen Planetensphären ab und versuchte mit dieser<br />
Darstellung, den heidnischen Sternenkult mit der christlichen Prophetie zu verknüpfen. 44<br />
39 Vgl. Blume, S. 195.<br />
40 Vgl. Warburg, S. 182.<br />
41 Vgl. Thomann, S. 96f.<br />
42 Le Muse e il Principe, Arte di corte nel Rinascimento padano (Ausstellungskatalog Museo Poldi Pezzoli, Mailand<br />
1991), Katalog, Modena 1991, S. 186.<br />
43 Vgl. Campbell, S. 145.<br />
44 Ebd., S. 145-151.<br />
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Die Gemälde Turas und die Fresken im Palazzo Schifanoia sind nur einige <strong>Beispiel</strong>e für das<br />
kosmologische Wissen der Ferrareser Künstler, doch hätten die Maler Tura und Cossa diese Werke<br />
nicht ohne die humanistischen Studien ihrer Zeit schaffen können. Das Sternengedicht des<br />
Manilius und das Handbuch der antiken Mythologie des Boccaccio (Genealogie Deorum<br />
Gentilium, um 1360) mussten erst gelesen und rezepiert werden, bevor ein Zyklus wie der in der<br />
Sala dei Mesi entworfen werden konnte, und auch Tura benutzte humanistische Studien für die<br />
bildnerische Gestaltung s<strong>einer</strong> Gemälde, so die wiederentdeckte Lehre des Hermes Trismegistos.<br />
Außerdem begeisterten sich die Ferrareser Künstler für das humanistische Ideal eines tugendhaften<br />
Menschen, welcher durch seine persönliche virtus dem Schicksal (fortuna) entsagt und allein durch<br />
eigene Arbeit höhere Ziele erreicht. Herzog Borso entsprach diesem Ideal, er wurde wegen seines<br />
Charakters zum Signore ernannt und erwählte seine Höflinge gleichermaßen nach deren<br />
Verdiensten. Personen, die seine Glorie erhöhten und seine Unsterblichkeit (immortalitas)<br />
ermöglichen konnten, wurden reich beschenkt, so der Hofmaler Cosimo Tura, der das Antlitz<br />
Borsos auf den Fresken im Sala dei Mesi verewigte, und der Dichter Tito Strozzi, welcher den<br />
Namen des Herzogs durch lateinische Verse in Europa bekannt gemacht hatte und als Dank mit<br />
dem in der Nähe von Belriguardo gelegenen Gut Quartisana bedacht wurde. 45 Andere Personen<br />
dienten dem Herzog als loyale Vasallen, sicherten seine Herrschaft in unruhigen Regionen oder<br />
bereicherten seinen Hof durch hervorragende Manieren. Der Diplomatensohn Teofilo Calcagnini<br />
erhielt 1464 drei befestigte Städte und zwei Güter als Lehen und kontrollierte von seinen neuen<br />
Festungen strategisch wichtige Gebiete im Reggiano und der Polesine. In die offizielle Urkunde<br />
ließ Borso schreiben, er hätte Calcagnini die Ländereien wegen der treuen Dienste übereignet, und<br />
erwähnte zugleich die liebenswerten Sitten (amabili costumi) des Begünstigten als Bereicherung für<br />
den estensischen Hof. 46 Tüchtigkeit und persönlicher Charakter waren für den gesellschaftlichen<br />
Aufstieg folglich wichtiger als Nobilität, doch konnte in Ferrara nur der ergeben Dienende Ehre<br />
erwerben. Angestammten Familien, welche Eigeninteressen verfolgten, widerrief Borso die<br />
gegebenen Privilegien und ließ deren Güter konfiszieren, um junge Männer meist ausländischer<br />
oder gem<strong>einer</strong> Herkunft mit den Ländereien zu belehnen. Insofern gab es zwar am Hofe des<br />
Herzogs eine soziale Mobilität, doch anders als in Florenz oder Venedig bedingte ein<br />
gesellschaftlicher Aufstieg stets der Fürsprache und Freigebigkeit des Herrschers.<br />
Die Humanisten Ferraras lobten in ihren Werken dennoch die herzogliche Politik der Vergabe<br />
herrschaftlicher Privilegien an nichtadlige Personen und griffen wieder auf die Tugenddiskussionen<br />
des Mittelalters zurück, um diese Politik zu erklären. Der Schreiber Carlo di San Giorgio fertigte<br />
1470 eine Übersetzung der "Disputatio de nobilitate" des Buonaccorso de Montemagno an, der<br />
Mönch Tommaso da Ferrara verfasste ein Traktat über die gute Regierung ("Trattato del modo di<br />
45 Vgl. Ludwig, S. 29.<br />
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en governare", 1469) und Ludovico Carbone, ein ebenfalls unter Borso zu Ansehen gelangter<br />
Humanist und Dichter, verknüpfte die Verdienste des Herrschers mit der Definition der Artes<br />
liberales. 47 Dem humanistischen Menschenideal zufolge konnte der einfache Bürger durch Fleiß<br />
und Talent seine persönliche Stellung in der Gesellschaft verbessern und durch virtus s<strong>einer</strong> Seele<br />
den Aufstieg in den Himmel ermöglichen. Die Ferrareser Humanisten stellten diese<br />
Aufstiegsmöglichkeiten des Menschen in einem einzigartigen Bilderzyklus dar, der als die<br />
Tarockkarten des Mantegna (Tarocchi del Mantegna) bekannt wurde. Diese Karten stammen<br />
jedoch nicht von Mantegna, sondern wurden um 1460 in Ferrara entworfen (möglicherweise von<br />
Francesco del Cossa 48 oder Angelo da Siena 49 ) und dienten auch nicht als Tarockspiel, sondern als<br />
didaktische Bilderfolge. Die Sammlung besteht aus fünf Gruppen zu zehn Karten, die stets ein<br />
bestimmtes Thema darstellen, 50 so in der ersten Gruppe die Rangstufen und Stände der<br />
menschlichen Gesellschaft (Bettler, Diener, Handwerker, Kaufmann, Adlige, Ritter, Doge, König,<br />
Kaiser, Papst) und in der zweiten die neun Musen mit ihrem Führer Apollo. In der dritten Gruppe<br />
wurden die artes liberales nach der Beschreibung des Martianus Capella zusammen mit Allegorien<br />
der Poesie, Philosophie und Theologie abgebildet, in der vierten Gruppe waren neben den sieben<br />
Kardinaltugenden drei kosmische Prinzipien (Licht, Zeit, Weltganzes) zu sehen und in der fünften<br />
die acht ptolemäischen Sphären zusammen mit dem Demiurgen (primo mobile) und dem<br />
Empyreum (prima causa). Die Karten wurden vermutlich für philosophische Diskussionen benutzt<br />
und dienten der Anregung der Diskutierenden, ähnlich wie Cusanus sein Globusspiel (De ludo<br />
globi, 1463) konzipierte, um aus der unregelmäßigen Wurfbahn der Kugel Rückschlüsse auf Gottes<br />
Willen zu ziehen. Bei Betrachtung der Tarocchi sollte der philosophisch interessierte Laie die<br />
verschiedenen Sphären der Welt in ihrer hierarchischen Ordnung erkennen und begreifen, wie<br />
unbedeutend die physische Existenz ist. Erst die Musen befähigen den Menschen, das Werk<br />
Gottes zu loben, mit den Wissenschaften kann er versuchen, den Kosmos zu verstehen, und der<br />
virtus ermöglicht ihm das Seelenheil. Petrarca schrieb: "Wohl aber liegt das Leben, das wir das<br />
selige nennen, auf hohem Gipfel, und ein schmaler Pfad, so sagt man, führt zu ihm empor. Es<br />
steigen auch viele Hügel zwischendurch auf, und von Tugend zu Tugend muss man weiter<br />
schreiten mit erhabenen Schritten." 51 Die Vorstellung der Humanisten, ein tüchtiges Leben würde<br />
der menschlichen Seele den Aufstieg in die himmlischen Sphären ermöglichen, wurde oft im<br />
Quattrocento rezepiert und verschiedenartig bildnerisch dargestellt, so auf Pinturicchios "Virtus<br />
und Fortuna" im Sieneser Dom und Baccio Baldinis Illustrationen zu Antonio Bettinis Werk<br />
46 Vgl. Tristano, S. 56.<br />
47 Vgl. Campbell, S. 11.<br />
48 Vgl. Ruhmer, S. 81f.<br />
49 Vgl. Uwe Westfehling, "Tarocchi": Menschenwelt und Kosmos, Ladenspelder, Dürer und die "Tarockkarten des<br />
Mantegna" (Ausstellungskatalog Wallraf-Richartz Museum Köln), Köln 1988, S. 50f.<br />
50 Ebd., S. 40ff.<br />
51 Francesco Petrarca, Die Besteigung des Mont Ventoux, Frankfurt/Main 1996, S. 19.<br />
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"Monte Sancto di Dio" (1477). 52 Auch die Ferrareser Künstler griffen auf diese Idee zurück und<br />
bildeten auf den letzten zehn Karten der Tarocchi die Himmelssphären ab. Insofern ist das auf<br />
diese Weise vollendete Kartenspiel ein großartiges Zeugnis des humanistischen Schaffens am Hofe<br />
Borsos d'Este und ermöglicht dem heutigen Betrachter einen Einblick in die Weltsicht des<br />
Quattrocento, welche durch antike Studien, mittelalterliche Astrologie und tradierte<br />
Tugendvorstellungen geprägt war.<br />
Das umfangreiche humanistische Schaffen am Ferrareser Hof ist vor allem deshalb<br />
bemerkenswert, weil sich Borso persönlich nicht für die klassischen Studien interessierte. Obwohl<br />
er durch Giacomo Bisi und Guglielmo Capello humanistisch erzogen wurde, sprach er kaum<br />
Latein 53 und nahm statt an den Gelehrtenkreisen seines Vorgängers an Jagdzügen und Ritterspielen<br />
teil. Im Jahr 1464 veranstaltete er ein großes Turnier, bei dem die teilnehmenden Ritter versuchen<br />
sollten, ein Schloss zu erobern, welches von anderen Rittern und einem Riesen mit dem<br />
phantastischen Namen Nabucharin de Raimin verteidigt wurde 54 . Außerdem legte Borso viel Wert<br />
auf ritterliche Traditionen, ernannte Knappen, welche im Schild- und Schwertkampf ausgebildet<br />
werden sollten, und vergrößerte die herzogliche Bibliothek mit Büchern der Artuslegende und des<br />
Rolandsliedes. Die Leidenschaft für mittelalterliche Hofkunst pflegte schon Borsos Vater Niccolo,<br />
der für seine Bibliothek verschiedene französische Romane erworben hatte und 1414, während<br />
<strong>einer</strong> Pilgerreise nach Jerusalem, am Heiligen Grabe zum Ritter geschlagen wurde. Diese Ehre gab<br />
er an seine Nachkommen weiter, indem er sie nach Gestalten der Artussagen benannte. Borso trug<br />
den Namen von Sir Bors, einem Ritter des Heiligen Grals, Leonello wurde benannt nach Sir<br />
Lionel, einem Pflegekind der Lady vom See, und Ginevra d'Este hatte den gleichen Namen wie die<br />
Gemahlin Arthurs 55 . Nachdem während der Regentschaft Leonellos die ritterliche Tradition nur<br />
gelegentlich gepflegt worden war, förderte Borso abermals die mittelalterliche Hofkunst und ließ<br />
sich auf Fresken und in Gedichten verherrlichen. Dennoch übten die Humanisten großen Einfluss<br />
auf die höfische Kultur aus und versuchten die humanistische Weltsicht, die uns durch die<br />
Tarocchi und die Ausschmückungen im Palazzo Schifanoia bekannt ist, mit der höfischen<br />
Tradition zu verknüpfen. Der Neffe Tito Strozzis und Enkel des Humanisten Feltrino Boiardo,<br />
Matteo Maria Boiardo, begann beispielsweise wenige Jahre nach dem Tode Borsos sein Epos<br />
Orlando innamorato (Der verliebte Roland), in welchem er Orlando, Angelica und Rinaldo<br />
verschiedene Abenteuer bestehen lässt, so ein Ritterturnier am Hofe Karls des Großen und einen<br />
Kriegszug des Sarazenenkönigs, welcher Rolands Schwert und Rinaldos Pferd besitzen wollte.<br />
Boiardo konstruierte jedoch nicht nur phantastische Ereignisse, sondern versuchte, durch<br />
52 Vgl. Westfehling, S. 43.<br />
53 Vgl. Ludwig, S. 20.<br />
54 Vgl. Tuohy, S. 251.<br />
55 Ebd., S. 249.<br />
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eingefügte Novellen und Parabeln seine Leser moralisch zu erziehen. 56 So zeigt sich das<br />
humanistische Thema vom Gegensatz zwischen virtus und fortuna deutlich in den Gesängen des<br />
orlando innamorato, da die Ritter <strong>einer</strong>seits ihre Tüchtigkeit bewiesen und sich durch Milde<br />
(clementia), Freigebigkeit (liberalitas) und Höflichkeit (cortesia) auszeichneten, andererseits jedoch<br />
fortuna als unberechenbare Beherrscherin der irdischen Existenz dargestellt wird. 57 Ähnlich wie die<br />
Meister der Tarocchi griff Boiardo demzufolge auf verschiedene geistige Traditionen zurück und<br />
belegt mit seinem Werk vortrefflich die vielfältigen Interessen des Ferrareser Hofes.<br />
3. Schluss<br />
In <strong>einer</strong> der umfangreichen Schriften über die italienischen Staaten s<strong>einer</strong> Zeit kritisierte<br />
Papst Pius II. das eifrige Bestreben Borsos nach Ruhm und Ehre und warf dem Herzog vor, er<br />
würde sich durch Schmeichelei und Komplimente in s<strong>einer</strong> Politik beeinflussen lassen. 58 In der Tat<br />
lebten am Hofe der Este viele Günstlinge, welche vom Herzog erwarteten, mit Ländereien belehnt<br />
oder für gewidmete Werke beschenkt zu werden. Frater Giovanni stellte beispielsweise seine<br />
Historie der Familie Este in die Tradition der Antike und beschrieb in der Einleitung seinen<br />
Wunsch, Borso möge ihm das Werk nach dem Vorbild der römischen Kaiser vergelten. Ähnlich<br />
handelten Battista Guarini und Maria Matteo Boiardo, welche in Eklogen das Gut Quartisana<br />
priesen, um ein ähnliches Geschenk zu erhalten 59 ; und auch der Dichter Tito Strozzi schmeichelte<br />
dem Herzog, indem er das Leben des Regenten in seinem großen Epos "Borsias" als ein von Gott<br />
gewolltes Ereignis beschrieb. Jupiter hatte, so Strozzi, Merkur den Auftrag gegeben, er solle der<br />
wunderschönen Stella Tolomei im Traum erscheinen und ihr empfehlen, die Liebe Niccolos III. zu<br />
erwidern. Dann werde sie zwei berühmte Söhne gebären, von denen der ältere seine Zeitgenossen<br />
an Geist und Intelligenz übertreffen und der zweite vom Volk wegen s<strong>einer</strong> Tugenden zum<br />
Signoren erwählt werde. 60 Diese Idee Strozzis, die Geschichte der Familie Este mit antiken Mythen<br />
zu verknüpfen, wurde im Cinquecento von anderen Autoren aufgegriffen, so von Ludovico Ariost<br />
und Torquato Tasso, welche in ihren Epen die Geschichte von Boiardos orlando innamorato<br />
fortführten und einen sagenhaften Mythos der Familie Este schufen. Seinen Ruhm verdankte<br />
Borso jedoch nicht nur den Dichtern, sondern auch den Malern und Humanisten des Hofes.<br />
Letztere widmeten ihm Übersetzungen antiker Werke, so die Komödien des Plautus 61 und die<br />
siebzehn Bücher der Geographie des Strabo (von Guarino übersetzt), und standen mit anderen<br />
Gelehrten Italiens in Verbindung, denen sie von den prächtigen Bauwerken und den gelungenen<br />
Gemälden der Ferrareser Künstler berichteten. Viele berühmte Maler kamen deshalb nach Ferrara<br />
56 Vgl. Jo Ann Cavallo, Boiardo's Orlando Innamorato, An Ethics of Desire, London, 1993, S. 156-160.<br />
57 Vgl. Ida Wyss, Virtu und Fortuna bei Boiardo und Ariost, Leipzig 1931, S. 46.<br />
58 Vgl. Ludwig, S. 25.<br />
59 Ebd., S. 27-32.<br />
60 Ebd., S. 243.<br />
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und wollten den Stil Turas oder Cossas studieren, so Dürer und Mantegna, oder mit Ludovico<br />
Carbone über die Stellung der Malerei innerhalb der freien (artes liberales) und der technischen<br />
Künste (artes mechanicae) diskutieren. Carbone reagierte mit seinen Traktaten auf Alberti's Schrift<br />
"De pictura" und die Überlegungen Guarinos, welcher die Kunst mit der Literatur verglichen hatte<br />
und ähnlich den Topoi in der Rhetorik einen Bildschmuck für die Malerei forderte. Im Gegensatz<br />
zu seinem Vorgänger Leonello hatte Borso kaum Einfluss auf diese Gespräche, da er sich nicht für<br />
die humanistischen Studien interessierte, sondern sich auf die Finanzierung der Werke<br />
beschränkte. Er wusste, Dichtungen, Bau- und Kunstwerke würden ihn und seinen Hof in Europa<br />
berühmt machen, und stellte des Ruhmes wegen seinen persönlichen Kunstgeschmack zugunsten<br />
der gestalterischen Freiheit der Maler zurück. Die astrologischen Komponenten auf den Gemälden<br />
Turas, die Darstellung des Herzogs innerhalb eines Sphärenmodells auf den Monatsfresken im<br />
Palazzo Schifanoia und die Illustration des humanistischen Weltbildes auf den Tarocchi del<br />
Mantegna zeugen von dieser gestalterischen Freiheit.<br />
Borso hatte mit seinen Bemühungen um den Ruf des Hofes Erfolg. Schon wenige Jahre nach<br />
s<strong>einer</strong> Wahl waren die Humanisten in Neapel und Florenz über die Regierungsweise und<br />
Kunstförderung in Ferrara informiert, und auch der Enkel des Königs von Portugal hatte von den<br />
prächtigen Bauwerken der Stadt gehört. Er verlangte während s<strong>einer</strong> Reise durch Italien (1469),<br />
Ferrara zu sehen und drei besonders beeindruckende Bauwerke zu besichtigen: die Villa Belfiore,<br />
die certosa und den Palazzo Schifanoia. 62 Diese drei Gebäude wurden während der Regentschaft<br />
Borsos entweder erbaut oder entscheidend erweitert und dokumentieren eindrücklich das<br />
Selbstverständnis des Herzogs. Mit dem Kartäuserkloster hatte Borso seine Pietät demonstriert, im<br />
Palazzo Schifanoia ließ er seine Tugenden darstellen und mit der Vollendung des Musenzyklus im<br />
Studiolo der Villa Belfiore stellte er sich in die Tradition s<strong>einer</strong> Vorgänger Niccolo und Leonello.<br />
Deren Werke und Ideen aufzugreifen, war ein wesentlicher Bestandteil der herzoglichen Politik. So<br />
beschäftigte Borso an seinem Hofe weiterhin Humanisten und Astrologen, ließ sich wie Leonello<br />
Medaillen prägen, gab eine Statue in Auftrag, welche er auf der Piazza del Duomo unweit der<br />
Monumente s<strong>einer</strong> Vorfahren aufstellen ließ, und gründete wie Niccolo III. ein Kloster, in dem er<br />
bestattet werden wollte. Zudem vergrößerte er die Familienbibliothek, veranlasste Chronisten, eine<br />
Geschichte der Familie Este zu schreiben, und gab seinen Hofmalern den Auftrag, auf Gemälden<br />
die Familienwappen neben s<strong>einer</strong> Person abzubilden, so im Palazzo Schifanoia und in der<br />
herzoglichen Bibel. Borso betonte folglich seine Herkunft und führte die höfischen Traditionen<br />
fort, um die Gunst der etablierten Familien zu erwerben und den Makel der illegitimen Erbfolge zu<br />
verbergen. Zugleich ließ er in s<strong>einer</strong> persönlichen Ikonographie die mittelalterlichen Tugenden<br />
darstellen und bemühte sich, nach diesen Tugenden zu handeln, um den Anforderungen des<br />
61 Auf dem Frontispiz erscheint ein Abbild des Herzogs. Vgl. Le muse e il principe, Catalogo, S. 147.<br />
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Stadtkonzils gerecht zu werden. Die Räte hatten seine Wahl schließlich durch die mittelalterliche<br />
Rechtstradition begründet, Tugenden und Charakter seien wichtiger als Nobilität, und Borso<br />
verpflichtet, nach diesem Grundsatz zu handeln. Folglich waren das Bemühen um auswärtigen<br />
Ruhm und um die Anerkennung als legitimer Erbe die wesentlichen Ziele der herzoglichen Politik,<br />
und wie oben beschrieben hatte Borso diese Ziele während s<strong>einer</strong> Regentschaft erreicht.<br />
62 Vgl. Rosenberg (1976), S. 340.<br />
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Literatur<br />
Quellen<br />
Ä Francesco Petrarca, Die Besteigung des Mont Ventoux, Frankfurt/Main 1996.<br />
Ä Michele Savonarola, Del felice progresso di Borso d'Este, Bari 1996.<br />
Darstellungen<br />
Ä Dieter Blume, Regenten des Himmels, Astrologische Bilder in Mittelalter und Renaissance,<br />
Berlin 2000.<br />
Ä Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Berlin 1917.<br />
Ä Stephen J. Campbell, Cosmé Tura of Ferrara, Style, Politics and the Renaissance City, 1450-<br />
1495, New Haven, 1997.<br />
Ä Jo Ann Cavallo, Boiardo's Orlando Innamorato, An Ethics of Desire, London, 1993.<br />
Ä Katja Conradi, Malerei am Hofe der d'Este, Cosmé Tura, Francesco del Cossa, Ercole de'<br />
Roberti, Hildesheim 1997.<br />
Ä Trevor Dean, Land and power in late medieval Ferrara, Cambridge 1988.<br />
Ä Werner Gundersheimer, Art and Life at the Court of Ercole I. d'Este, The "De triumphis<br />
religionis" of Giovanni Sabadino degli Arienti, Genf 1972.<br />
Ä Lisa Jardine, Der Glanz der Renaissance, Ein Zeitalter wird entdeckt, München 1999.<br />
Ä Le Muse e il Principe, Arte di corte nel Rinascimento padano (Ausstellungskatalog Museo<br />
Poldi Pezzoli, Mailand 1991), Katalog, Modena 1991.<br />
Ä Walther Ludwig, Die Borsias des Tito Strozzi, Ein lateinisches Epos der Renaissance,<br />
München 1977.<br />
Ä Adolf Phillipi, Die Kunst der Renaissance in Italien, Band 3: Italien bis auf Tizian, Leipzig<br />
1897.<br />
Ä Leo Pollmann, Das Renaissanceepos. In: Klaus von See (Hrsg.), August Buck, Neues<br />
Handbuch der Literaturwissenschaft, Band 9: Renaissance und Barock, Frankfurt/Main 1972.<br />
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