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Rathenau erzählen Betrachtungen zum 90. Todestag

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Jude war. Selten in der Geschichte vielleicht ist ein Mann mit so viel Skepsis und so<br />

voll innerer Bedenken an eine Aufgabe herangetreten, von der er wußte, daß nicht<br />

er, sondern nur die Zeit sie lösen könnte, und er kannte ihre persönliche Gefahr. Seit<br />

der Ermordung Erzbergers [...] durfte er nicht zweifeln, daß auch ihn als Vorkämpfer<br />

der Verständigung ein ähnliches Schicksal erwartete.“ 24 Vor dem Auswärtigen Amt in<br />

Berlin-Mitte wollte Zweig schließlich Abschied von <strong>Rathenau</strong> genommen haben, ohne<br />

zu wissen, dass es für immer war, und hielt im englischen Exil die Erinnerung fest,<br />

wie er im besonnten Sommer von Sylt Zeuge geworden sei, dass das von <strong>Rathenau</strong><br />

vorgewusste Schicksal sich erfüllte: „Ich war an diesem Tage schon in Westerland,<br />

Hunderte und aber Hunderte Kurgäste badeten heiter am Strand. Wieder spielte eine<br />

Musikkapelle wie an jenem Tage, da Franz Ferdinands Ermordung gemeldet wurde,<br />

vor sorglos sommerlichen Menschen, als wie weiße Sturmvögel die<br />

Zeitungsausträger über die Promenade stürmten: ‚Walther <strong>Rathenau</strong> ermordet!‘ Eine<br />

Panik brach aus, und sie erschütterte das ganze Reich. Mit einem Ruck stürzte die<br />

Mark, und es gab kein Halten mehr, ehe nicht die phantastischen Irrsinnszahlen von<br />

Billionen erreicht waren.“ 25 Doch so bezwingend dieser Kontrast zwischen der<br />

sorglosen Leichtigkeit der vielen und opferschweren Last des sehenden<br />

Staatsmannes sein mochte, war er doch bloße Fiktion, die das Narrativ des<br />

versöhnenden Märtyrers dem Dichter Zweig eingegeben hatte: Denn im Juni hielt<br />

Zweig sich gar nicht auf Sylt auf. Erst in der Westerländer Fremdenliste für den 20.<br />

und 21. August 1922 findet sich der Eintrag: „Der Zweig, Stefan u. Frau, Schriftsteller<br />

– Salzburg – 2 Personen – Hotel <strong>zum</strong> Deutschen Kaiser“. 26<br />

III. <strong>Rathenau</strong> als historischer Lernort<br />

Nach der deutschen Katastrophe etablierte sich in Nachkriegsdeutschland ein<br />

Geschichtsdenken, das sich nicht mehr an den Helden ausrichtete, sondern an den<br />

Opfern, und das nicht mehr mimetisch die Kontinuität einer deutschen Sendung<br />

akzentuierte, sondern kathartisch auf reinigende Distanzierung von der<br />

Vergangenheit setzte. Auch das <strong>Rathenau</strong>bild unterlag diesem paradigmatischen<br />

Wandel und ergänzte die Erzählung vom innerlich Zerrissenen und vom tragischen<br />

24 Ebd.<br />

25<br />

Ebd., S. 341.<br />

26<br />

Westerländer Kurzeitung, 26.8.1922.<br />

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