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Rathenau erzählen Betrachtungen zum 90. Todestag

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Brust verschlungen, fast unbeweglich, an der Säule neben mir. Und da geschah das<br />

Unbegreifliche. Es geschah, während der Minister sprach von Führertum und<br />

Vertrauen, während seine Stimme sich bohrte in den totenstillen Raum, in den Dunst<br />

welterfahrener Behäbigkeit, der über der Versammlung lag. Sicherlich, es kann nicht<br />

anders sein, schlug jene eine tödliche Sekunde in jedes Herz. Es muß wie ein<br />

Pochen gewesen sein, zwei Pulsschläge lang, ein Pochen in jeder Brust,<br />

beklemmend, jäh, aufreißend ein Tor <strong>zum</strong> Tode, von einem Blitzschlag erhellt, und<br />

schon vorbei. Vorbei, wie weggewischt, unwirklich nun und doch geschehen. Ich sah,<br />

wie Kern, halb vorgebeugt, nicht ganz drei Schritt von <strong>Rathenau</strong> entfernt, ihn in den<br />

Bannkreis seiner Augen zwang. Ich sah in seinen dunklen Augen metallisch grünen<br />

Schein, ich sah die Bleiche seiner Stirn, die Starre seiner Kraft, ich sah den Raum<br />

sich schnell verflüchtigen, daß nichts mehr blieb von ihm als dieser eine arme Kreis<br />

und in dem Kreis zwei Menschen nur.<br />

Der Minister aber wandte sich zögernd, sah flüchtig erst, verwirrt sodann nach jener<br />

Säule, stockte, suchte mühsam, fand sich dann und wischte fahrig mit der Hand sich<br />

von der Stirn, was ihm angeflogen war. Doch sprach er nun fortan zu Kern allein.<br />

Beschwörend fast, so richtete er seine Worte zu dem Mann an jener Säule und<br />

wurde langsam müde, als der die Haltung nicht veränderte. Das Ende seiner Rede<br />

hörte ich nur unverstehend.“ 9<br />

Dasselbe Erzählmuster wahrte nach1945 auch die öffentliche Erinnerung im geteilten<br />

Deutschland. Besonders im Geschichtsbild der DDR figurierte <strong>Rathenau</strong> als „ein<br />

zwiespältiges Wesen, dessen Füße fest in der kapitalistischen Ordnung standen,<br />

dessen Kopf aber in die Sphäre einer besseren Gesellschaft ragte“, wie Albert<br />

Norden 1947 schrieb. 10 Der Rapallovertrag machte den ostdeutschen <strong>Rathenau</strong> zu<br />

einem Kronzeugen der propagierten deutsch-sowjetischen Freundschaft, <strong>zum</strong><br />

„rühmliche[n] Beispiel friedlicher Koexistenz zwischen Staaten unterschiedlicher<br />

Gesellschaftssysteme“. 11 Einen Schritt weiter in der Deutung der inneren<br />

Zerrissenheit <strong>Rathenau</strong>s ging noch das Parteischrifttum der „liberaldemokratischen“<br />

Blockpartei, die ihren Ahnherrn an der Prophezeiung des eigenen Untergangs<br />

sterben ließ: „Weil Walther <strong>Rathenau</strong> als einer der einflußreichsten Vertreter der<br />

9<br />

Ernst von Salomon, Die Geächteten, Berlin 1930, S. 267 ff.<br />

10<br />

Albert Norden, Der <strong>Rathenau</strong>-Mord und seine Lehren. Zum 25. Jahrestag der Ermordung des<br />

Außenministers der Republik, in: Die Einheit 2 (1947), S. 644.<br />

11<br />

Martin Richter, Damit die Völker sich die Hände reichen [...] Vor 120 Jahren wurde Walther<br />

<strong>Rathenau</strong> geboren, in: Neues Deutschland, 29.9.1987.<br />

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