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Rathenau erzählen Betrachtungen zum 90. Todestag

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werden.“ Und wie um die Eigenart des ostdeutschen Sozialismus im Schatten<br />

Moskaus über dreißig Jahre hinweg vorherzusehen, drang <strong>Rathenau</strong> 1920 auf seine<br />

französischen Interviewer beschwörend ein: „Aber man kann eine Revolution<br />

konzipieren, die von oben geführt wird, und das wäre notwendigerweise der Fall bei<br />

uns. Der Bolschewismus wird bei uns methodisch und organisiert sein, wie es das<br />

Kaiserreich war. Jeder wird an seinem Platz sein. Die Intellektuellen werden die<br />

glühendsten Propagandisten sein und sie sind es, welche die Stadt der Zukunft<br />

bauen. Deshalb wird der preußische Bolschewismus in ganz anderer Weise<br />

fürchterlich sein als der russische.“ 39<br />

Bekannter noch als diese Vision ist ein Mitteleuropa-Konzept, das <strong>Rathenau</strong> im<br />

letzten Friedensjahr 1913 entwickelte und das in verblüffender Weise dem Weg zur<br />

Europäischen Union unserer Tage nahekommt: „Es bleibt eine letzte Möglichkeit: die<br />

Erstrebung eines mitteleuropäischen Zollvereins, dem sich wohl oder übel, über lang<br />

oder kurz die westlichen Staaten anschließen würden. [...] das Ziel würde eine<br />

wirtschaftliche Einheit schaffen, die der amerikanischen ebenbürtig, vielleicht<br />

überlegen wäre, und innerhalb des Bandes würde es zurückgebliebene, stockende<br />

und unproduktive Landesteile nicht mehr geben. Gleichzeitig aber wäre dem<br />

nationalistischen Haß der Nationen der schärfste Stachel genommen. [...]<br />

Verschmilzt die Wirtschaft Europas zur Gemeinschaft, und das wird früher<br />

geschehen als wir denken, so verschmilzt auch die Politik. Das ist nicht der<br />

Weltfriede, nicht die Abrüstung und nicht die Erschlaffung, aber es ist Milderung der<br />

Konflikte, Kräfteersparnis und solidarische Zivilisation.“ 40<br />

Es sind solche Äußerungen, in denen Opferschicksal und Vermächtnis verschmolzen<br />

und <strong>Rathenau</strong> zu einer historischen Figur stempelten, die den Satz zu bestätigen<br />

schien, dass die Geschichte zu wiederholen verdammt sei, wer nicht aus ihr lernen<br />

bereit wäre.<br />

Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht steckt in solchem Denken ein ganz irriger<br />

Glaube an historisches Lernen und geschichtliche Analogiebildung. Aber auch die<br />

Fachwissenschaft, die <strong>Rathenau</strong>s luziden Prophezeiungen unschwer nicht weniger<br />

39 Pierre Dolmet, in: Schulin (Hg.), Gespräche mit <strong>Rathenau</strong>, S. 285 f.<br />

40<br />

Walther <strong>Rathenau</strong>, Deutsche Gefahren und neue Ziele, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, S.<br />

265-278, hier S. 276 ff.<br />

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