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Veröffentlichungsreihe der Forschungsgruppe ... - WZB

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<strong>Veröffentlichungsreihe</strong> <strong>der</strong> <strong>Forschungsgruppe</strong><br />

Gesundheitsrisiken und Präventionspolitik<br />

Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung<br />

ISSN-0935-8137<br />

P93-206<br />

Gesundheit - ein Alltagsphänomen<br />

Konsequenzen für Theorie und<br />

Methodologie von Public Health<br />

von<br />

Uta Gerhardt<br />

Berlin, Juli 1993<br />

Publications series of the research group<br />

"Health Risks and Preventive Policy"<br />

Wissenschaftszentrum Berlin fur Sozialforschung<br />

D-10785 Berlin, Reichpietschufer 50<br />

Tel.: 030/25491-577


Hanns Gotthard Lasch<br />

gewidmet


ABSTRACT<br />

I<br />

Die Soziologie hat die Gesundheit im Kontext <strong>der</strong> Medizin<br />

mittels zweier systemtheoretischer Ansätze unterschiedlich analysiert.<br />

Erstens betrachtet Talcott Parsons das Zusammenspiel<br />

Arzt-Kranker unter dem Gesichtspunkt <strong>der</strong> Reziprozität in gesellschaftlichen<br />

Handlungssystemen (Teleonymie) mit Schwerpunkt<br />

Gesundheit. Zweitens betrachtet Niklas Luhmann die binäre Handlungslogik<br />

<strong>der</strong> Medizin als auf Krankheit als Positivwert gerichtet,<br />

so daß Gesundheit sekundär wird.<br />

Diese beiden Auffassungen werden miteinan<strong>der</strong> dadurch verglichen,<br />

daß ihnen zunächst <strong>der</strong> Gesundheitsbegriff <strong>der</strong> Medizinsoziologie<br />

gegenübergestellt wird, <strong>der</strong> während des letzten<br />

Jahrzehnts diskutiert wurde. Er unterscheidet zwischen professioneller<br />

und öffentlicher Gesundheit, kontrastiert also<br />

klinische (Wie<strong>der</strong>)herstellung <strong>der</strong> Gesundheit mit gesundheitspolitisch<br />

gewährleisteter Prävention. Das dabei verwandte Bild<br />

des sozial Handelnden entspricht dem Homo Sociologicus.<br />

Diesem medizinsoziologischen Gesundheitsbegriff wird das<br />

Gesundheitsphänomen entgegengehalten. Anknüpfend an die<br />

komplexe Variante <strong>der</strong> medizinsoziologischen Lebensweisenforschung<br />

wird ein Bild des gesellschaftlichen Phänomens<br />

Gesundheit entworfen, das dieses als Alltag zeigt. Im Sinne<br />

Alfred Schütz' wird argumentiert, daß Gesundheit fraglos gegeben<br />

ist, solange man sie "hat", also erst thematisiert wird,<br />

wenn sie problematisch ist, d.h. "fehlt". Dieser Alltagscharakter<br />

<strong>der</strong> Gesundheit wird alternativ zum medizinsoziologischen<br />

Begriff <strong>der</strong> "Lebensweisengesundheit" zunächst aufgezeigt.<br />

Die nächste Frage ist, in welchem Verhältnis die neuerdings<br />

entstehenden Gesundheitswissenschaften zu dem als Alltag erkannten<br />

Gesundheitsphänomenen stehen. Public-Health-Medizin<br />

("New Public-Health")' wird durch ihre drei Bereiche beschrieben,<br />

nämlich Epidemiologie, Gesundheitsför<strong>der</strong>ung und<br />

Gesundheitspolitik und -Verwaltung. Ihr Bild des sozial<br />

Handelnden ist <strong>der</strong> Homo Sociologicus bzw. die Sozialperson im<br />

Sinne Emile Dürkheims. Der Public-Health-Medizin muß man die<br />

klinische Medizin gegenüberstellen. Deren Handlungslogik<br />

konzentriert sich auf den Einzelfall, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Praxis<br />

diagnostisch-therapeutisch vorkommt. Die klinische Medizin<br />

unterscheidet sich also entscheidend von <strong>der</strong> Public-Health-<br />

Medizin; die zwei Formen <strong>der</strong> Medizin stehen neben- bzw. gegeneinan<strong>der</strong>.<br />

Für den Vergleich zwischen den beiden wird die Frage herangezogen,<br />

welche Medizinform dem Phänomencharakter <strong>der</strong> Gesundheit<br />

angemessen(er) ist. Gegen die Gesundheitswissenschaften - und<br />

auch Luhmann - wird argumentiert, daß die "Public-Health"-Maßnahmen<br />

Gesundheit als Alltagsphänomen weniger unberührt lassen<br />

und daher stärker zurückdrängen und beschränken als die<br />

klinische Medizin. Das heißt: Wenn die Gesundheit als das A l l ­<br />

tagsphänomen gewahrt werden soll, das sie "ist", ist die Ausdehnung<br />

des Gesundheitsdenkens in die Alltagsbereiche des gesellschaftlichen<br />

Lebens hinein problematisch. Vor diesem<br />

Hintergrund muß man die Medikalisierung <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

(Ausdehnung medizinischer Sichtweisen auf alle Lebensbereiche)


II<br />

nicht - wie vielfach geschieht - von <strong>der</strong> professionalisierten<br />

Medizin befürchten, son<strong>der</strong>n eher von ihrem Gegenpart, <strong>der</strong><br />

Public-Health-Medizin, erwarten.<br />

Allerdings gibt es eine "vergessene" Variante <strong>der</strong> Medikalisierungsthese,<br />

die keine ungerechte Kritik an <strong>der</strong> Medizinprofession<br />

enthält. Parsons beschreibt Medikalisierung als<br />

Fortschritt in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, wobei heute "Therapie statt Strafe"<br />

allgemeines Prinzip wird. Damit ist die politische Seite des<br />

soziologischen Gesundheitsinteresses angesprochen. Im abschließenden<br />

Teil diskutiert <strong>der</strong> Essay einige Anwendungsbereiche<br />

des Gedankens, daß Gesundheit ein Alltagsphänomen<br />

ist; sie verdeutlichen und bekräftigen das politische<br />

Bekenntnis <strong>der</strong> Soziologie (und <strong>der</strong> Medizin) zum Humanuni als dem<br />

Prinzip <strong>der</strong> wissenschaftlichen Verantwortung.<br />

Das vorliegende Paper geht zurück auf einen Vortrag, <strong>der</strong> am 10.<br />

Februar 1993 im Rahmen des <strong>WZB</strong>-Kolloquiums gehalten und für die<br />

schriftliche Fassung stark erweitert wurde.<br />

Für weiterführende Kommentare und anregende Hilfen bedanke ich<br />

mich bei Doris Schaeffer und Rolf Rosenbrock sowie den<br />

Teilnehmern des <strong>WZB</strong>-Kolloquiums.


INHALTSVERZEICHNIS<br />

Gesundheit im Kontext <strong>der</strong> Medizin:<br />

Zwei systemtheoretische Ansätze 1<br />

Der theoretische Gehalt des 7<br />

Phänomens Gesundheit<br />

Public Health als Gesundheitswissenschaft 2 0<br />

Zwei Auffassungen <strong>der</strong> Medizin 28<br />

Medizin und Gesundheit 32<br />

Die Hintergründe <strong>der</strong> Medikalisierung 3 6<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft<br />

Prolegomina zu einem soziologischen 44<br />

Gesundheitsverständnis<br />

ANMERKUNGEN 51<br />

LITERATUR 55<br />

Seite


Gesundheit im Kontext <strong>der</strong> Medizin:<br />

Zwei systemtheoretische Ansätze<br />

Eine soziologisch-theoretische Konzeptualisierung <strong>der</strong> Gesund­<br />

heit entwirft Talcott Parsons' Social System (1951). Er führt<br />

aus, daß Gesundheit eine funktionale Voraussetzung des sozialen<br />

Systems als solchem ist, d.h. daß für das geordnete Gesell­<br />

schaftsleben unerläßlich ist, daß die Bürger gesund sind. Dies,<br />

so Parsons, erlaubt allererst, daß Chancengleichheit, die<br />

Grundvoraussetzung demokratischen Zusammenlebens, grundsätzlich<br />

besteht; sie ist ihrerseits wie<strong>der</strong>um Bedingung dafür, daß die<br />

Systeme <strong>der</strong> Erziehung bzw. Ausbildung und <strong>der</strong> Wirtschaft bzw.<br />

beruflichen Leistung durch Auswahl <strong>der</strong> Besten dazu beitragen<br />

können, daß in Herrschaftspositionen möglichst keine Untaug­<br />

lichen sitzen. Er schreibt:<br />

"Die Produktivität <strong>der</strong> Wirtschaft ist die Grundlage dessen,<br />

welche leistungsbezogenen Fähigkeiten erworben werden<br />

können...Gleich wichtig ist, daß in <strong>der</strong> Gesellschaft Mitglie<strong>der</strong><br />

zur Verfügung stehen, die fähig sind, die positiv bewerteten<br />

Leistungen zu erbringen...In diesem Zusammenhang...kommt es zur<br />

Relevanz... <strong>der</strong> Gesundheit...Daß Leistung möglich ist,<br />

ist...eine Funktion <strong>der</strong> Chancen (opportunity) an jedem Punkt<br />

des Lebenszyklus, was wie<strong>der</strong>um eine Funktion <strong>der</strong> ökonomischen<br />

Verhältnisse des Gemeinwesens ist...Aber auf einer 'tieferen'<br />

und in gewissem Sinne allgemeineren Ebene hängt diese Leistung<br />

von...Ausbildung...und Gesundheit ab...Innerhalb des Problemfeldes<br />

<strong>der</strong> sozialen Kontrolle...bezeichnet das Gesundheitsproblem<br />

klar den "tiefsten Punkt" in <strong>der</strong> Reihe Gesundheit -<br />

Ausbildung - wirtschaftliche Chancen" (1958/1964:279).<br />

Das Beson<strong>der</strong>e an Parsons' Begriffsbestimmung <strong>der</strong> Gesundheit als<br />

Funktionsvoraussetzung des gesellschaftlichen Geschehens ist<br />

allerdings, daß er psychische Gesundheit meint. Er hält fest,<br />

daß eine Gesellschaft aus freiwillig normativ orientierten<br />

Individuen nur dann bestehen kann, wenn die einzelnen ver­<br />

stehen, daß die Grenze <strong>der</strong> Freiheit des einen jene <strong>der</strong> Freiheit<br />

des an<strong>der</strong>en ist - analog Rousseaus Prinzip <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Demo­<br />

kratie. Die Feinfühligkeit, sich auf an<strong>der</strong>e einzulassen, ist<br />

demgemäß die strukturbildende Tugend des Menschen in <strong>der</strong> nicht<br />

durch Zwang regierten Gesellschaft. Interaktionsintentionen bei<br />

an<strong>der</strong>en adäquat einzuschätzen und darauf mit entsprechen<strong>der</strong><br />

Gesellschaftsfähigkeit zu reagieren, so Parsons, kennzeichnet<br />

die geistige Gesundheit <strong>der</strong> Gesellschaftsmitglie<strong>der</strong>. Sie wird


2<br />

gestört, wenn die Individuen durch autoritär-totalitäre Regimes<br />

zu "kranker" Weltanschauung veranlaßt o<strong>der</strong> durch individuell­<br />

familiäre Fehlsozialisation geschädigt werden. Sie sind dann<br />

nicht voll im Besitz geistig-gesellschaftlicher Gesundheit,<br />

können allerdings - vor allem in einem nicht-demokratischen<br />

gesellschaftlichen System - in ihrem Verhalten unauffällig<br />

bleiben und sogar Einflußpositionen einnehmen. 1<br />

In einem späteren Text erfaßt Parsons die Gesundheit mit dem<br />

Begriff Teleonymie, • den er von dem Biologen Ernst Mayr über­<br />

nimmt (1978, Mayr 1974). Damit ist die Fähigkeit des Menschen<br />

bezeichnet, mit adversen Gegebenheiten sowohl des körperlichen<br />

Zustandes als auch <strong>der</strong> Umwelt f ertigzuwerden, so daß ein<br />

Gleichgewicht des Verhältnisses organischer o<strong>der</strong> gesellschaft­<br />

licher Kräfte für den einzelnen (wie<strong>der</strong>)hergestellt wird. Er<br />

schreibt:<br />

"Teleonymie...kann definiert werden als Fähigkeit des Organismus,<br />

o<strong>der</strong> seine Eignung, erfolgreich zielorientiertes Verhalten<br />

zu gestalten...Vor diesem Hintergrund... gebe ich eine tentative<br />

Definition <strong>der</strong> Gesundheit. Sie kann, in diesem breiteren Sinn,<br />

als teleonomische Fähigkeit des individuellen lebendigen<br />

Systems gelten...Von diesem Standpunkt ist die Krankheit eines<br />

Individuums eine Schädigung seiner/ihrer teleonomischen Fähigkeit<br />

.. .Gesundheit und Krankheit sind, als menschliche Phänomene,<br />

sowohl organisch als auch soziokulturell. Auf <strong>der</strong> organischen<br />

Ebene wird Gesundheit verstanden als eine hoch generalisierte<br />

grundlegende Fähigkeit, die etwas an<strong>der</strong>es ist als<br />

Kraft, Beweglichkeit o<strong>der</strong> Intelligenz. Ähnlich muß man die<br />

Bedeutung <strong>der</strong> Gesundheit auf <strong>der</strong> Handlungsebene deutlich unterscheiden<br />

von den relevanten Aspekten <strong>der</strong> Intelligenz, von<br />

Wissen, von ethischer Integrität und an<strong>der</strong>en Qualitäten des<br />

Individuums" (1978, 68-69,81). 2<br />

Parsons faßt dabei die Medizin als Ergänzung <strong>der</strong> teleonomischen<br />

Fähigkeit auf, die er vis medicatrix naturae nennt; die vis<br />

medicatrix - ganz im Sinne <strong>der</strong> hippokratischen Medizin - muß<br />

die teleonomischen Kräfte des einzelnen stärken, also "im Ein­<br />

klang mit solchen Kräften arbeiten, anstatt willkürlich zu<br />

intervenieren ohne Bezug auf solche Fähigkeiten" (1978:67).<br />

In diesem Sinne dient das Arzt-Patient-System dazu, die Gesund­<br />

heit - möglichst - wie<strong>der</strong>herzustellen. Die beiden Rollen des<br />

Systems folgen denselben Patterns <strong>der</strong> Orientierungs-Alter­<br />

nativen - Universalismus, Leistungsorientierung, affektive


3<br />

Neutralität, funktionale Spezifizität und Kollektivitäts­<br />

orientierung -, jeweils in arzt- und in krankenspezifischer<br />

Ausprägung (siehe dazu Gerhardt 1987, 1991). Die Stadienabfolge<br />

des Arzt-Patient-Geschehens folgt grundsätzlich <strong>der</strong> Phasierung<br />

wie bei psychotherapeutischer Arbeit, nämlich von Permissivität<br />

über Unterstützung und Verweigerung <strong>der</strong> Reziprozität zu Manipu­<br />

lation <strong>der</strong> Belohnungen. Letztere Phase ist normalitätsähnlich<br />

bzw. bezeichnet den Zustand, <strong>der</strong> bei Normalen im gesellschaft­<br />

lichen Alltag vorherrscht: - positive Sanktionen folgen bei<br />

gesellschaftlich angemessenem, negative Sanktionen bei nicht<br />

angemessenem Verhalten (siehe dazu Gerhardt 1989a:34-56). Die<br />

Krankenrolle, so Parsons, wird "im typischen Falle vorüber­<br />

gehend" eingenommen (1951:438). Dies hat zwei Gründe: Erstens<br />

wird nur <strong>der</strong> Gesunde von seinen Zeitgenossen ernstgenommen, so<br />

daß das, was er/sie sagt o<strong>der</strong> tut, nicht als Auswirkung einer<br />

Krankheit o<strong>der</strong> vermin<strong>der</strong>ten Zurechnungsfähigkeit, son<strong>der</strong>n als<br />

Ausdruck fester Vorstellungen o<strong>der</strong> Bedürfnisse gilt; diese<br />

Würde möchten die Individuen nicht auf Dauer einbüßen. Zweitens<br />

ist auch die Umwelt daran interessiert, einen Menschen nicht<br />

ohne Not dauerhaft von seinen/ihren beruflichen und familiären<br />

Aufgaben zu entbinden und statt dessen zu verschonen und zu<br />

versorgen; diese Bürde möchten sich Angehörige und Betreuer<br />

nicht grundlos aufladen.<br />

Parsons stellt im Social System.heraus, daß Wie<strong>der</strong>erlangung <strong>der</strong><br />

Gesundheit im Regelfall von den kranken Individuen gewollt<br />

wird. Sie sind selbst daran interessiert, den Funktionszustand<br />

gesellschaftlich von an<strong>der</strong>en ernstgenommener Normalität<br />

(wie<strong>der</strong>) einzunehmen. Daher bildet Gesundheit den Schlußpunkt<br />

des Krankseins, das vorübergehend für den einzelnen bedeutet,<br />

die Rechte und Pflichten des Krankenstatus zu haben. In einem<br />

Aufsatz <strong>der</strong> siebziger Jahre erweitert er das Theorem. Er er­<br />

kennt nun, daß Gesundheit - medizinisch betrachtet - approxi­<br />

mativ o<strong>der</strong> letztlich unerreichbar sein mag, obwohl - gesell­<br />

schaftlich betrachtet - ein Leben geführt wird, das alle Auf­<br />

gaben und Möglichkeiten des normalen Staatsbürgers enthält.<br />

Damit ist angesprochen, daß Gesundheit als gesellschaftlicher<br />

Tatbestand gleichzeitig mit Krankheit als medizinischem Befund<br />

vorhanden sein kann. Der chronisch Kranke - Parsons, ein


4<br />

Diabetiker, wählt sich selbst als Beispielfall - lebt oft über<br />

Jahrzehnte ein Leben als Gesellschaftsmitglied (fast) wie ein<br />

Gesun<strong>der</strong>; dies - wiewohl mit Einschränkungen -. ist möglich, ob­<br />

wohl eine medizinisch kontrollierte, behandelte Erkrankung vor­<br />

liegt (Parsons 1975). Da die im Alltag zwischen Gesellschafts­<br />

mitglie<strong>der</strong>n vorherrschende Zuschreibung von Gesundheit sich<br />

danach richtet, daß die Individuen ihre Berufs- und Familien­<br />

rollen befriedigend erfüllen, ist die "Gesundheit" dieser<br />

chronisch Kranken vorhanden als ein Zustand sozialer Teilnahme<br />

an reziproken Beziehungen. Infolgedessen kann - wenn Funktions­<br />

fähigkeit im normalen Berufs- und Familienleben möglich ist -<br />

Gesundheit im gesellschaftlichen Sinn mit organischen Erkran­<br />

kungen einhergehen. In diesem Sinne ist das Postulat gemeint,<br />

daß die vis medicatrix <strong>der</strong> medizinischen Behandlung im Einklang<br />

mit den Kräften des teleonomischen Könnens sein sollte, so daß<br />

sie die vis medicatrix naturae ergänzt.<br />

Dieser Gesundheitsbegriff unterscheidet sich von Niklas<br />

Luhmanns Darstellung. In "Der medizinische Code" wird Gesund­<br />

heit aus einer Perspektive beschrieben, die sich für die Funk­<br />

tionslogik differenzierter gesellschaftlicher (Sub-)Systeme<br />

unter dem Gesichtspunkt verbalisierbarer Handlungslogiken<br />

interessiert. Die Medizin, so Luhmann, ist ein gesellschaft­<br />

liches (Sub-)System, insofern sie die folgenden zwei Be­<br />

dingungen erfüllt. Erstens hat sie ihren eigenen Arbeits­<br />

bereich, den ihr kein an<strong>der</strong>es gesellschaftliches System<br />

streitig macht, nämlich die Krankenbehandlung. Zweitens verfügt<br />

sie über einen binären Code, nämlich" eine ihr eigentümliche<br />

Codierung krank-gesund; diese ist für alle Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Gesellschaft und <strong>der</strong>en Krankheits-Gesundheits-Wahrnehmung und<br />

-sorge verbindlich. Im Rahmen <strong>der</strong> Medizin - verstanden als<br />

Krankenbehandlung -, so Luhmann, ist <strong>der</strong>" Positivwert Krankheit<br />

und <strong>der</strong> Negativwert Gesundheit. Er schreibt dazu erläuternd:<br />

"Der Positivwert vermittelt die Anschlußfähigkeit <strong>der</strong> Operationen<br />

des Systems, <strong>der</strong> Negativwert vermittelt die Kontingenzreflexion,<br />

also die Vorstellung, es könnte auch an<strong>der</strong>s<br />

sein...Nur Krankheiten sind für den Arzt instruktiv, nur mit<br />

Krankheiten kann er etwas anfangen. Die Gesundheit gibt nichts<br />

zu tun, sie reflektiert allenfalls das, was fehlt, wenn jemand<br />

krank ist. Entsprechend gibt es viele Krankheiten und nur eine<br />

Gesundheit. Die Krankheitsterminologien wachsen mit <strong>der</strong>


5<br />

Medizin, und <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Gesundheit wird zugleich problematisch<br />

und inhaltsleer. Gesunde sind, medizinisch gesehen, nicht<br />

o<strong>der</strong> nicht mehr krank o<strong>der</strong> sie leiden an noch unentdeckten<br />

Krankheiten" (1990:186-187).<br />

Luhmann findet diese Codierung "abson<strong>der</strong>lich" (ibid.) und zur<br />

Begründung vergleicht er die Medizin mit an<strong>der</strong>en gesellschaft­<br />

lichen Systemen, beispielsweise dem Recht. Während es im<br />

Rechtssystem, so stellt er fest, stets darum gehe, daß man<br />

Recht zu bekommen sucht, den Positivwert, doch nicht etwa Un­<br />

recht, den Negativwert, gehe es im Medizinsystem darum, "daß im<br />

Code <strong>der</strong> Medizin die Krankheit, die man nicht will, als <strong>der</strong><br />

positive Wert fungiert und alle Detaillierung des Wissens und<br />

<strong>der</strong> Operationen über diesen Wert verläuft" (1990:192), Er führt<br />

aus:<br />

"Das Rechtssystem hat schon seit <strong>der</strong> Frühmo<strong>der</strong>ne seine Kompetenz<br />

über eine bloße Konfliktregulierung ausgedehnt und riesige<br />

Apparaturen zur Steuerung <strong>der</strong> rechtlichen Konditionierung des<br />

Verhaltens entwickelt, vor allem Gesetzgebung, aber auch<br />

kautelarjuristische Praktiken aller Art. Insofern ist die<br />

Gesamtgesellschaft auch rechtlich relevant..., und Rechtskonflikte<br />

müssen konsequent als Versagen des Rechtssystems aufgefaßt<br />

werden...Im System <strong>der</strong> Krankenbehandlung...(bringt <strong>der</strong>)<br />

Code ganz spezifische Selektionsgesichtspunkte zur Geltung.<br />

..und (ist) mit eigenen Programmen ausgestattet, die<br />

darüber instruieren, ob <strong>der</strong> Positivwert (zum Beispiel Krankheit)<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Negativwert (zum Beispiel Gesundheit) anzunehmen<br />

ist...Beson<strong>der</strong>heiten...gehen vor allem darauf zurück, daß<br />

Krankheiten an organisch individualisierten Körpern anfallen.<br />

Man kann sie zwar typisieren, Krankheitsbil<strong>der</strong> entwickeln und<br />

die Krankenbehandlung selbst entsprechend organisieren. Diese<br />

Organisation kann aber (und hier liegt <strong>der</strong> Fall des Rechtssystems<br />

ganz an<strong>der</strong>s) nicht in die vorbeugende Lebensführungsberatung<br />

übertragen werden" (1990:191-2).<br />

An dieser Stelle sei festgehalten, daß Luhmann die Medizin<br />

nicht nach denselben Gesichtspunkten wie das Recht beurteilt.<br />

Er unterstellt ihr von vornherein eine an<strong>der</strong>e Logik als den<br />

an<strong>der</strong>en gesellschaftlichen Systemen - also an<strong>der</strong>s als in Wirt­<br />

schaft, Religion, Wissenschaft. Hätte er Medizin genau analog<br />

zum Recht erfaßt, hätte er setzen müssen, daß es in <strong>der</strong> Medizin<br />

darum geht, Gesundheit (wie<strong>der</strong>)herzustellen. 3<br />

Diese Ziel­<br />

perspektive hätte dann dem Funktionszweck des Rechts ent­<br />

sprochen, daß je<strong>der</strong> Bürger die Möglichkeit haben muß, sein<br />

Recht zu erhalten. Daß das Rechtssystem grundsätzlich auch<br />

darauf ausgelegt ist, die Rechtsfindung nicht zu


6<br />

verunmöglichen, hätte parallel zur Zwecksetzung <strong>der</strong> Medizin ge­<br />

sehen werden können, daß für jeden Patienten gewährleistet sein<br />

muß, daß - je nach Krankheitslage - Gesundung, Besserung o<strong>der</strong><br />

Lebenserhaltung möglich werden.<br />

Luhmanns Setzung ist wi<strong>der</strong>sprüchlich. Er unterstellt <strong>der</strong> pro­<br />

fessionellen Praxis in <strong>der</strong> Medizin einen Negativwert, <strong>der</strong>­<br />

jenigen im Recht jedoch einen Positivwert, obwohl- beide Systeme<br />

damit befaßt sind, Abweichungen vom Typischen (Krankheit,<br />

Kriminalität) institutionell zu kontrollieren. In beiden<br />

Systemen, so mag eingeräumt werden, gelingt nicht immer im<br />

Einzelfall, den Zweck zu erreichen. Beim Recht kann dies zwei<br />

Gründe haben. "Herstellung" von Unrecht durch das Rechtssystem<br />

kann daraus entstehen, daß das gesellschaftliche Gesamtsystem<br />

seinerseits ein "Unrechtssystem" ist wie beispielsweise in<br />

totalitären Staaten; an<strong>der</strong>erseits kann Ungerechtigkeit o<strong>der</strong> Un­<br />

recht auch innerhalb <strong>der</strong> Rechtsfindung erwachsen, und zwar<br />

daraus, daß Fehler des Verfahrens in <strong>der</strong> Rechtssprechung vor­<br />

kommen. Entsprechendes gilt für die Medizin: Krankheit kann un-<br />

geheilt bleiben, weil die Interessenlagen des Arztes zu Maß­<br />

nahmen <strong>der</strong> Patientenbehandlung veranlassen, die klinisch mög­<br />

licherweise durch eine klare Indikation nicht begründet werden<br />

können; an<strong>der</strong>erseits können Fehler <strong>der</strong> Diagnostik und Therapie<br />

vorkommen, die im Einzelfall eine Besserung o<strong>der</strong> Heilung er­<br />

schweren o<strong>der</strong> verunmöglichen. Luhmann zieht daraus den weit­<br />

reichenden Schluß, daß - als bestünde Analogie zum<br />

"Unrechtsstaat" als Forum des Rechtssystems - die Medizin ein<br />

"Krankenbehandlungssystem" sei, dessen Logik in <strong>der</strong> mutmaßlich<br />

unbeschränkten Konstruktion <strong>der</strong> Krankheitskategorien liege.<br />

Diese Annahme wird nicht begründet. Man muß aber fragen, ob die<br />

Abweichungen vom Systemzweck Gesundheits(wie<strong>der</strong>)herstellung bei<br />

<strong>der</strong> Medizin, die empirisch vorkommen, zu <strong>der</strong> Denkvoraussetzung<br />

berechtigen, die Handlungslogik <strong>der</strong> Medizin bezwecke die Ver­<br />

vielfältigung konstruktiv entstehen<strong>der</strong> Krankheitsformen.


Der theoretische Gehalt des Phänomens Gesundheit<br />

7<br />

Parsons setzt voraus, daß Gesundheit - als wie<strong>der</strong>herzustellende<br />

Reziprozitätsfähigkeit <strong>der</strong> Gesellschaftsmitglie<strong>der</strong> für den A l l ­<br />

tag - Zweck <strong>der</strong> medizinischen Praxis ist; demgegenüber stellt<br />

Luhmann fest, daß Gesundheit in <strong>der</strong> Medizin nur ein letztlich<br />

irrelevanter Grenz- o<strong>der</strong> Negativwert ist, während die Krankheit<br />

Positivwert besitzt. Allerdings hält Luhmann für<br />

"alltagssprachlich...abson<strong>der</strong>lich, wenn Krankheit als positiver<br />

und Gesundheit als negativer Wert bezeichnet werden muß"<br />

(1990:187). Er macht also den Vorbehalt, daß <strong>der</strong> medizinische<br />

Code, den er analysiert, nicht dem gesunden Menschenverstand<br />

entspricht, d.h. nicht den Interessen <strong>der</strong> einzelnen Bürger in<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft, son<strong>der</strong>n denen <strong>der</strong> institutionell verselb­<br />

ständigten Medizin. Man kann daraus erschließen, daß Luhmann -<br />

wie Parsons - dazu neigt, einen Zustand für angemessener zu<br />

halten, <strong>der</strong> die "perverse Vertauschung <strong>der</strong> Werte" (ibid.) ver­<br />

meidet. Vom Odium <strong>der</strong> Wertvertauschung befreit wäre ein medizi­<br />

nisches Wissen und Handeln infolgedessen, wenn Gesundheit den<br />

Positivwert und Krankheit den Negativwert darstellt.<br />

Die medizinsoziologische Diskussion bemüht sich seit den sieb­<br />

ziger Jahren, diesen Positivwert Gesundheit durch Rückbezug auf<br />

die Gesundheitsdefinition <strong>der</strong> Weltgesundheitsorganisation zu<br />

konkretisieren. In <strong>der</strong> Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als<br />

nach dem Ende <strong>der</strong> Kampfhandlungen und des millionenfachen<br />

Leides Hoffnungen auf eine für alle Zukunft friedliche Welt<br />

allgemein waren, postulierte die WHO-Definition, daß Gesundheit<br />

für alle überall in <strong>der</strong> Welt erreichbar sei. Sie sollte sogar<br />

mehr sein als nur Abwesenheit von Krankheit, sie versprach<br />

vollständiges körperliches, geistiges und gesellschaftliches<br />

Wohlbefinden. Entsprechend lautete die Zielperspektive<br />

folgen<strong>der</strong>maßen:<br />

"Gesundheit ist ein Zustand völligen körperlichen, seelischen<br />

und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von<br />

Krankheit und Gebrechen."


8<br />

Seit den späten siebziger Jahren wurde diese Definition Grund­<br />

lage großer Programme. Als Auslöser für die expansiven Initia­<br />

tiven wirkte die bisher noch nicht überzeugend begründete Aus­<br />

sage, daß eine wissenschaftliche Revolution in <strong>der</strong> Medizin im<br />

Gange sei. 4<br />

Gemäß Thomas Kuhns These, daß ein herrschendes<br />

Paradigma jeweils durch ein neues und besseres abgelöst wird<br />

(Kuhn 1962), wird angenommen, das Handlungsmodell <strong>der</strong> kurativen<br />

werde durch jenes <strong>der</strong> präventiven Medizin abgelöst. Unter dem<br />

Titel "Lebensweisen und Gesundheit", heißt es dazu in einem<br />

Konferenzbericht des Europäischen Büros <strong>der</strong> Weltgesund­<br />

heitsorganisation :<br />

"Der Paradigma-Begriff...umschreibt...die Denk- und Wahrnehmungsmuster<br />

einer Wissenschaft. Eine wissenschaftliche Revolution<br />

und damit die Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Deutungsmuster erfolgt<br />

nicht aufgrund von 'Bestätigungen' o<strong>der</strong> 'Wi<strong>der</strong>legungen'<br />

einzelner Aussagen (obwohl sich im Prozeß des Nie<strong>der</strong>gangs eines<br />

Paradigmas immer mehr Phänomene als nicht 'lösbar' erweisen),<br />

son<strong>der</strong>n aufgrund des Wandels <strong>der</strong> 'geschichtlichen Perspektive'.<br />

Problemstruktur, Sprache, Regeln und Erfolgskriterien einer<br />

Wissenschaft än<strong>der</strong>n sich von Grund auf. Viele Kritiker <strong>der</strong><br />

Medizin und Gesundheitsversorgung sehen das traditionelle medizinische<br />

Paradigma <strong>der</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung durch neue Denkweisen<br />

und Lösungsmodelle ausgesetzt und in einem Ablösungsprozeß<br />

durch eine sozialmedizinisch-ökologische Denkweise begriffen"<br />

(Kickbusch 1983: IX).<br />

Die Soziologie greift diese Initiative auf. Raymond Illsley<br />

(1980) stellt die rhetorische Frage, ob professionelle o<strong>der</strong><br />

öffentliche Gesundheit ein angemessenerer Orientierungswert <strong>der</strong><br />

Soziologie sei. Er referiert zunächst die empirischen Befunde<br />

über gesellschaftliche Ungleichheit bei Morbidität und Mortali­<br />

tät. Sie zeigen weitgehende Benachteiligung <strong>der</strong> ärmeren<br />

Schichten <strong>der</strong> Bevölkerung, und er leitet daraus ab, daß es <strong>der</strong><br />

professionellen Medizin, zumal sie gegen diese Ungleichheit<br />

nicht kämpfe, eher um die Wahrung ihrer institutionellen Eigen­<br />

interessen als um das Wohl ihrer (zumal Unterschichts-)<br />

Patienten gehe. Unterschiedliche soziale Erfahrungen, stellt er<br />

dar, kovariieren mit den Unterschieden <strong>der</strong> Krankheits- und<br />

Sterbewahrscheinlichkeiten; bei den Unterschichten findet die<br />

Forschung, so zählt er auf:<br />

"(1) Defizite des Wachstums und <strong>der</strong> körperlichen Entwicklung in<br />

Kindheit und Jugendalter, die die Anfälligkeit für Krankheit<br />

während des späteren Lebens erhöhen;


9<br />

(2) stärkere Exposition für lebens- und gesundheitsbedrohliche<br />

Umweltbedingungen und Lebensstile;<br />

(3) ungleiche Inanspruchnahme von Präventivmaßnahmen und <strong>der</strong><br />

Gesundheitsversorgung;<br />

(4) ungleichen Zugang .zu den besten Einrichtungen und<br />

Leistungen <strong>der</strong> medizinischen Versorgung" (1980:85)."<br />

Illsley kommt zu dem Schluß, daß das professionelle Gesund­<br />

heitsdenken <strong>der</strong> Medizin nicht zu ihrem Auftrag paßt, alle<br />

Patienten optimal zu versorgen. Denn die Unterschiede etwa bei<br />

<strong>der</strong> Morbidität und Mortalität zwischen Ober- und Unterschichten<br />

belegen ausreichend, so erläutert er, daß die herrschende<br />

Medizin defizitär bleibt. Abhilfe kann - dies steht für ihn<br />

fest - eine Orientierung auf öffentliche Gesundheit leisten,<br />

die für alle Gesellschaftsmitglie<strong>der</strong> gleichermaßen geplant wird<br />

und erreichbar ist. Entsprechend schlägt er vor, die Soziologie<br />

<strong>der</strong> Medizin als eine Soziologie <strong>der</strong> Gesundheit zunächst durch<br />

Forschung zu etablieren. Im Laufe <strong>der</strong> Zeit sollen aus ihr<br />

brauchbare Konzepte <strong>der</strong> Gesundheitspolitik abgeleitet werden.<br />

Die schichtspezifischen Unterschiede des Gesundheitszustandes<br />

analysiert auch Richard G. Wilkinson (1986). Seine Unter­<br />

suchungen zeigen, daß ein einziger ökonomischer Parameter,<br />

nämlich das wöchentlich berechnete Bruttoeinkommen, die Unter­<br />

schiede in den Sterbeziffern <strong>der</strong> sozialen Schichten erklären<br />

kann. So gelingt ihm, den Beweis zu führen - über den soge­<br />

nannten Black-Report hinaus (Townsend und Davidson 1982) -, daß<br />

die Unterschiede <strong>der</strong> gesundheitlichen Lage zwischen gehobenen<br />

und unteren Schichtgruppen nicht auf eine Vielzahl lebensstil­<br />

spezifischer Einzelvariablen verweisen, son<strong>der</strong>n auf ein mehr<br />

o<strong>der</strong> min<strong>der</strong> eindimensionales Phänomen. Die Differenz <strong>der</strong><br />

Sterbewahrscheinlichkeiten zwischen den oberen und unteren<br />

Schichten in Großbritannien, die sich während <strong>der</strong> Zeit zwischen<br />

1951 und 1971 auf das doppelte verschlechterte (1986:14), be­<br />

zeichnet daher einen einheitlichen Phänomenbereich <strong>der</strong> gesund­<br />

heitlichen Ungleichheit.<br />

Das Schichtenmodell <strong>der</strong> sozialen Ungleichheit wird in<br />

Deutschland seit den achtziger Jahren indessen nicht mehr aner­<br />

kannt. Es wird durch ein analytisches Konzept ersetzt, das sub-<br />

gruppenspezifische Lebenslagen in den Vor<strong>der</strong>grund rückt.


10<br />

Dadurch soll <strong>der</strong> Individualisierung <strong>der</strong> Lebensgestaltung in <strong>der</strong><br />

entwickelten Wohlstandsgesellschaft entsprochen werden (Hradil<br />

1987, Krause und Schäuble 1988). Im Gesundheitsdiskurs werden<br />

dementsprechend Lebensweisen thematisch, die jeweils bei<br />

verschiedenen sozialen Gruppierungen vorherrschen. Dabei werden<br />

sowohl gesundheitsgefährliche Umwelteinflüsse, die z.B. berufs­<br />

bezogen auftreten, als auch schädliche Verhaltensweisen empi­<br />

risch untersucht.<br />

Die einfache Variante <strong>der</strong> Lebensweisenforschung betrifft ein­<br />

zelne Gewohnheiten wie Rauchen o<strong>der</strong> Alkoholkonsum; sie kommen<br />

bekanntlich alltäglich vor und können zugleich Suchtcharakter<br />

haben. Die Verbreitung ungesun<strong>der</strong> Verhaltensweisen wird er­<br />

mittelt; die Gesundheit ist gewissermaßen via negationis durch<br />

die Abwesenheit gesundheitsbeeinträchtigen<strong>der</strong> Verhaltens­<br />

gewohnheiten festzustellen. Das Soziologische dabei ist, daß<br />

sozialdemographische Merkmale wie Alter, Geschlecht, soziale<br />

Schicht, ethnische Zugehörigkeit etc. dazu dienen, die Unter­<br />

schiede hinsichtlich des Gesundheitszustandes zu erfassen.<br />

Prinzip ist also <strong>der</strong> homo sociologicus, d.h. <strong>der</strong> Mensch in<br />

seinen Gesellschafts-/Gruppenzugehörigkeiten. So entsteht ein<br />

Bild unterschiedlicher Risiken für Erkrankungen, das zugleich<br />

die Gegenseite <strong>der</strong> daraus erschlossenen gruppentypischen<br />

Gesundheit ist. Im Hintergrund steht das Denken <strong>der</strong> sogenannten<br />

Risikofaktorenmedizin (Abholz et al. 1982).<br />

Das Menschenbild <strong>der</strong> Risikofaktorenmedizin ist mechanistisch.<br />

Der einzelne wird als Konglomerat aus gesellschaftlichen Wirk­<br />

kräften gesehen, die wie in einem Kräfteparallelogramm vorge­<br />

stellt werden, so daß Verhalten als die Resultante aus den mul­<br />

tiplen Einflüssen erscheint (Mechanic 1970). Beispielsweise<br />

findet die Deutsche Herz-Kreislauf-Präventionsstudie, so Ulrike<br />

Maschewsky-Schnei<strong>der</strong> (1993), "mit . Hilfe einer Cluster-<br />

analyse. ..Gruppen von Frauen, die sich durch eine spezifische<br />

Kombination (von) Risikofaktoren beschreiben lassen"; ent­<br />

sprechend nennt sie die folgenden vier Gruppen, unter denen A<br />

den höchsten und D den niedrigsten Anteil <strong>der</strong> Ober- und Mittel­<br />

schichtangehörigen und umgekehrt D den höchsten und A den<br />

niedrigsten Anteil <strong>der</strong> Unterschichtfrauen enthält:


11<br />

"Gruppe A: In dieser Gruppe waren nur sehr wenige Frauen mit<br />

Risikofaktoren. Raucherinnen, Frauen mit Bluthochdruck o<strong>der</strong><br />

Übergewicht waren nur zu einem kleinen Anteil vertreten; es gab<br />

keine Frauen mit einer Hypercholesterinämie, also Frauen mit<br />

einem zu hohen Cholesterinspiegel.<br />

In <strong>der</strong> Gruppe B war ein sehr hoher Anteil von Raucherinnen,<br />

nämlich nahezu 85 Prozent, vertreten.<br />

In <strong>der</strong> Gruppe C gab es kaum Raucherinnen, dafür aber einen sehr<br />

hohen Anteil von Frauen mit einer Hypercholesterinämie und<br />

einem verhältnismäßig hohen Anteil von übergewichtigen Frauen<br />

mit einem zu hohen Blutdruck.<br />

In <strong>der</strong> Gruppe D kumulieren sich die Risiken. Hier fanden wir<br />

einen hohen Anteil von Raucherinnen und Frauen mit einer Hypercholesterinämie<br />

vor. Auch waren Frauen mit Bluthochdruck häufig<br />

vertreten" (1993:201).<br />

Zugleich werden die typischen Gesundheitsvorstellungen o<strong>der</strong><br />

"Laientheorien" ermittelt, die als Hintergrund des Gesundheits­<br />

und Krankheitsverhaltens gelten. Nach dem Muster homo<br />

sociologicus, also für die sozialen Gruppen und Rollen, sollen<br />

die'' Gesundheitsvorstellungen typischerweise dafür verantwort­<br />

lich sein, welche gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen in<br />

unterschiedlichen Sozial- und Lebenslagen vorherrschen und<br />

welche krankhaften Körperzustände ohne medizinische Versorgung<br />

ertragen werden (d'Houtaud und Field 1984, Calnan 1987). Die<br />

Denkmuster bezüglich Gesundheit und Krankheit sorgen also für<br />

die Motivation und Auslöser des Verhaltens, das mehr o<strong>der</strong><br />

min<strong>der</strong> Risiko für die Gesundheit enthält.<br />

Die komplexe Variante <strong>der</strong> Lebensweisenforschung geht über<br />

solchermaßen beschreibende Risikobestimmung hinaus. Die Studien<br />

des deutsch-amerikanischen Autorenteams Lüschen/Cockerham/Kunz<br />

(1989) und Mildred Blaxters (1990) sind die bisher fortge­<br />

schrittensten im Themengebiet. Luschen et al. suchen nach<br />

"Lebensstilen, die Gesundheit beför<strong>der</strong>n" (1989:114), und sie<br />

stellen die Hypothese auf, daß zwischen den USA und <strong>der</strong> Bundes­<br />

republik kein Unterschied bestehe, da in beiden Län<strong>der</strong>n<br />

Gesundheits-Lebensstile <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen westlichen Kultur einge­<br />

bürgert sind. Sie verwenden sechs Indizes für Gesundheits-<br />

Lebensstil und eine weitere Variable, um ihre Hypothese zu<br />

testen (Sport, Rauchen, Alkohol, bewußte Ernährung, Bewertung<br />

<strong>der</strong> äußeren Erscheinung und Entspannung sowie ferner subjektive


12<br />

Gesundheitswahrnehmung). Das Ergebnis ist, daß Ober- und Unter­<br />

schichten unterschiedliche Kombinationen <strong>der</strong> Parameter auf­<br />

weisen, wobei Sport, Entspannung und bewußte Ernährung eher für<br />

Oberschichten wichtig sind, während Alkohol und Rauchen mehr in<br />

den Unterschichten vorkommen. Für beide Län<strong>der</strong> gilt, daß besser<br />

Ausgebildete eher dem ersteren, weniger Ausgebildete eher dem<br />

letzteren Vefhaltensmuster zuneigen. An<strong>der</strong>erseits gilt, daß<br />

"die Deutschen eher Alkohol trinken, gesund essen wollen und<br />

auf Entspannung achten. Die Amerikaner demgegenüber legen mehr<br />

Wert auf ihre äußere Erscheinung und beurteilen ihre Gesundheit<br />

positiver" (1989:124). Das Fazit ist, daß die eher paterna-<br />

listische Gesundheitsversorgung in Deutschland offenbar das<br />

eigenständige Gesundheitsbewußtsein nicht beeinträchtigt, da<br />

Deutsche und Amerikaner gleichermaßen motiviert sind, für ihre<br />

Gesundheit etwas zu tun.<br />

Mildred Blaxters Studie Health and Lifestyles (1990) be­<br />

schäftigt sich mit gesundheitsrelevanten Lebensgewohnheiten bei<br />

einer nationalen Stichprobe in Großbritannien (England, Wales<br />

und Schottland) . Sie erfaßte in zwei Hausbesuchen den von den<br />

Betroffenen geschil<strong>der</strong>ten Lebensstil und physiologische Grund­<br />

daten wie Körpergröße, Gewicht, Blutdruck, Pulsrate, respira­<br />

torische Funktion und ein- und ausgeatmetes Kohlenmonoxyd etc.;<br />

ferner wurde durch einen von den Befragten auszufüllenden Bogen<br />

<strong>der</strong> psychiatrische Status bestimmt. Die Studie erbrachte u.a.<br />

folgende Ergebnisse:" Gesundheitsrelevante Verhaltensweisen<br />

(z.B. Sport in <strong>der</strong> Freizeit) variieren auch mit <strong>der</strong> psychischen<br />

Gesundheit; dabei ist die Umgebung wichtig, also ob <strong>der</strong><br />

Arbeitsplatz eine gehobene o<strong>der</strong> einfache Arbeit, stehende o<strong>der</strong><br />

sitzende Tätigkeit, und schließlich im industriellen Krisen­<br />

gebiet mit hoher Arbeitslosigkeit und Luftverschmutzung im<br />

Norden o<strong>der</strong> im wirtschaftlich prosperierenden Süden mit<br />

besserer Lebensqualität insgesamt ist (im Vergleich unter den<br />

Regionen Großbritanniens). Aber zugleich ist soziale Unter­<br />

stützung gesundheitsrelevant (Familienstand, Familienleben),<br />

wodurch "an sich" risikoreiche Verhaltensformen (beispielsweise<br />

Rauchen) "weniger" schädlich werden, d.h. mit weniger Krank­<br />

heitshäufigkeit korrelieren. Blaxter faßt ihre Ergebnisse<br />

folgen<strong>der</strong>maßen zusammen:


13<br />

"Bei einigen statistischen Assoziationen...ist offensichtlich,<br />

daß die Beziehung nicht kausal ist. Zum Beispiel kann gutes<br />

Eßverhalten nicht als Ursache größerer Erkrankungshäufigkeit<br />

gesehen werden bei Männern, die Raucher o<strong>der</strong> Trinker sind, noch<br />

sind die beson<strong>der</strong>s niedrigen Erkrankungsraten <strong>der</strong> Frauen über<br />

60 Jahren in manuellen Berufen, die ein ähnliches Verhaltensmuster<br />

haben, Ergebnis ihres Rauchens, Trinkens und ihrer Ernährungsgewohnheiten.<br />

Die letztere Gruppe <strong>der</strong> Frauen in manuellen<br />

Berufen sind untypisch für ihre Altersgruppe und soziale<br />

Schicht: sie haben höhere Einkommen als an<strong>der</strong>e ältere Frauen in<br />

manuellen Berufen. Die nicht-manuellen Männer, die Raucher<br />

und/o<strong>der</strong> Trinker sind und sich richtig ernähren, stammen zumeist<br />

aus bestimmten Berufen (z.B. Manager eher als freie<br />

Berufe o<strong>der</strong> Angestellte), aus bestimmten Wohngegenden<br />

(einschließlich Großstädten), und sie haben ein hohes Einkommen:<br />

ihre Gesundheit wurde dargestellt als relativ schlecht<br />

im Vergleich zu an<strong>der</strong>en Männern in nicht-manuellen Berufen. Mit<br />

an<strong>der</strong>en Worten: Verhaltensmuster unterscheiden sich zwischen<br />

Gruppen, die sich auch in vielen an<strong>der</strong>en Hinsichten unterscheiden.<br />

Dies ist vielleicht ein weiterer Beleg dafür, daß<br />

soziale Umstände, Berufe und 'Lebensstile' in einem breiteren<br />

Sinne als einfach durch Messung von Rauchen, Alkoholgenuß,<br />

Eßverhalten und Bewegungssport ein größeres Gewicht haben als<br />

diese beschränkte Definition des gesunden Verhaltens"<br />

(1990:231-232).<br />

Die bisherigen Forschungen zum Lebensweisen-Gesundheits-<br />

Zusammenhang - so kann man zusammenfassen - wählen zwei metho­<br />

dische Zugänge. Erstens wird nach Abwesenheit von Krankheit<br />

und/o<strong>der</strong> nach Verhaltensweisen gefragt, die relative Risiken<br />

verkörpern, und die ein Tun o<strong>der</strong> Unterlassen darstellen. Ferner<br />

werden die Handlungen ermittelt, die bereits als gesundheits­<br />

för<strong>der</strong>nd bekannt sind (z.B. Sport, Entspannung) o<strong>der</strong> die Ein­<br />

stellungen dazu; meistens werden Handlungen und Einstellungen<br />

durch Befragung <strong>der</strong> Betroffenen ermittelt, also als subjektive<br />

Wahrnehmung o<strong>der</strong> Selbsteinschätzung. Derartige Einstellungen<br />

und Verhaltensweisen - als Cluster, genannt "Lebensstil" -<br />

definieren eine typische Chance des Nichterkrankens. Sie kann<br />

vergleichend betrachtet werden, und zwar als Lebensstilchance<br />

des tatsächlichen Erkrankens bzw. Nichterkrankens an einer<br />

bestimmten Krankheit o<strong>der</strong> als Wahrscheinlichkeit <strong>der</strong> Ver-<br />

schonung hinsichtlich Krankheiten überhaupt. Operational ist<br />

die typische Chance des Nichterkrankens - für Gruppenkategorien<br />

wie Alter, Geschlecht, etc., sowie auch Nationalität - infolge­<br />

dessen die eine Seite <strong>der</strong> Gesundheit.


14<br />

Der zweite empirische Zugang zur Gesundheitsthematik ist sub­<br />

jektive Befindlichkeit.' Das Meinen o<strong>der</strong> Bewußtsein des ein­<br />

zelnen hinsichtlich dessen, wie krank er o<strong>der</strong> sie ist o<strong>der</strong><br />

nicht ist, wird mit Gesundheit gleichgesetzt. Derartige subjek­<br />

tive Einschätzungen stehen neben objektiven Messungen zu Krank­<br />

heitsrisiko bzw. Krankheitsinzidenz o<strong>der</strong> -prävalenz. Wenn be­<br />

stimmt wird, wie die gesundheitliche Lage einer Bevölkerung<br />

ist, stehen die statistischen Daten zur Krankheits- und Risiko­<br />

verbreitung neben den Krankheits- und Gesundheitskonzepten <strong>der</strong><br />

Individuen; letztere werden insbeson<strong>der</strong>e herangezogen, weil man<br />

davon ausgeht, daß die Vorstellungen sich in Gesundheits- und<br />

auch Krankheitsverhalten nie<strong>der</strong>schlagen. Subjektive Befind­<br />

lichkeit bzw. subjektive Angaben zum Gesundheitsbefinden und -<br />

zustand gelten als ebenso aussagekräftig wie die objektiven<br />

bzw. klinisch ermittelten Gesundheitswerte. 5<br />

Darin meldet sich<br />

<strong>der</strong> Anspruch <strong>der</strong> Soziologie zu Wort, den Bewertungen <strong>der</strong><br />

Patienten mindestens ebensoviel zu trauen wie den professionel­<br />

len Urteilen <strong>der</strong> Mediziner. Blaxter zeigt auf, daß aus beidem -<br />

dem subjektiven und dem objektiven Tatbestand - ein komplexer<br />

Begriff <strong>der</strong> Gesundheit gebildet werden kann, <strong>der</strong> sich zur<br />

Unterscheidung zwischen Typen <strong>der</strong> Lebenslage-Lebensweise<br />

eignet.<br />

Der komplexe Begriff, so argumentiert Thomas Abel (1991), ver­<br />

weist auf das Phänomen. Lebensweise - mit Bezug auf Gesundheit<br />

- ist kein additiv gegebener Sachverhalt aus nebeneinan<strong>der</strong>­<br />

stehenden Verhaltensformen, son<strong>der</strong>n ein ganzheitlicher Zu­<br />

sammenhang. Um dem Phänomen analytisch näherzukommen, so Abel,<br />

"müssen empirische Untersuchungen über das bloße Messen von<br />

einzelnen Gesundheitsverhaltensweisen und -einstellungen hin­<br />

ausgehen und zeigen, daß diese Merkmale untereinan<strong>der</strong> verbunden<br />

sind" (1991:901). Dies könne beispielsweise mit Bezug auf Über­<br />

legungen Max Webers erläutert werden, wobei allerdings Origi­<br />

naltexte anstatt <strong>der</strong> zuweilen verkürzenden und gelegentlich<br />

verzerrenden sekundäranalytischen Darstellungen herangezogen<br />

werden sollten (z.B. Lüdtke 1989).


15<br />

Insbeson<strong>der</strong>e geht es um den theoretischen Gehalt des Lebens­<br />

weisenthemas im Zusammenhang <strong>der</strong> Handlungstheorie. Webers Hand­<br />

lungstheorie fragt bekanntlich nach den Typen .verstehbarer - im<br />

besten Fall rationaler - Handlungsmuster in interaktionalen<br />

Reziprozitätszusammenhängen, die zugleich intentional und<br />

reflexiv sind (Girndt 1967). Es genügt nicht, beschreibend dis­<br />

parate Lebensweisenzusammenhänge wie soziale Milieus zu er­<br />

fassen. Der Lebensstil o<strong>der</strong> die Lebensweise ist nicht vor­<br />

wiegend ein kollektiver Wirkmechanismus, <strong>der</strong> das Tun o<strong>der</strong><br />

Leiden des einzelnen gestaltet o<strong>der</strong> prägt. Vielmehr geht es um<br />

Rationalität als Komponente vernünftigen verstehbaren sozialen<br />

Handelns. Damit wird Webers Konstrukt <strong>der</strong> Lebensführunq thema­<br />

tisch. Lebensführung bedeutet religiös bzw. weltanschaulich be­<br />

gründeten Stil alltäglicher wirtschaftlicher, privater etc.<br />

Lebensgestaltung im Sinne umfassen<strong>der</strong> Ideen o<strong>der</strong> Ideale (Weber<br />

1904, 1920; Schluchter 1981). Zugleich enthält die Lebens­<br />

führung ein Moment <strong>der</strong> aktiven Mitwirkung des einzelnen am Ver­<br />

lauf und den Einzelhandlungen seines o<strong>der</strong> ihres biographischen<br />

LebensZusammenhangs, wie Cockerham et al. betonen. Sie<br />

schreiben dazu:<br />

"Der Webersche Begriff <strong>der</strong> Lebensführung f <strong>der</strong> individuelle<br />

Wahlmöglichkeiten erfaßt, bleibt nicht gänzlich jenseits substantieller<br />

Werte. Vielmehr...wird...durch die Weber-Literatur<br />

(...) die Assoziation zwischen 'Verantwortungsethik' und<br />

Lebensführung erkannt. Wie Mommmsen (...) darstellt, veranlaßt<br />

solche Ethik das Individuum, die möglichen Konsequenzen seiner<br />

o<strong>der</strong> ihrer Handlungen mit einem Blick auf optimal mögliche<br />

Realisierung <strong>der</strong> idealen Werte 'abzuwägen'. Wenn daher gute<br />

Gesundheit ein hochbewerteter Zielzustand für ein Individuum<br />

ist, wird das Verhalten <strong>der</strong> Person (Lebensführung) von einem<br />

ethischen Zusammenhang geleitet, <strong>der</strong> die Wahlentscheidungen beeinflußt,<br />

die <strong>der</strong> Verwirklichung dieses Zweckes dienen. Daher<br />

sind Lebensstile (gesundheitliche und an<strong>der</strong>e) kein Zufallsverhalten,<br />

denen die strukturellen Verankerungen fehlen, son<strong>der</strong>n<br />

sind typischerweise bewußte (formale) Wahlentscheidungen, die<br />

durch Lebenschancen beeinflußt werden" (1993:12).<br />

An<strong>der</strong>erseits steht fest, daß gesundheitliche Praktiken nicht<br />

zum Repertoire <strong>der</strong> Tätigkeiten gehören, die von befragten<br />

Familien dargestellt werden, wenn sie ihren Tagesablauf im<br />

Interview in Einzelheiten schil<strong>der</strong>n. Michael Calnan und Simon<br />

Williams (1991) untersuchen vergleichend den Lebensstil bei<br />

sozioökonomisch privilegierten und benachteiligten Familien.<br />

Mit qualitativen Interviews prüfen sie, ob und als wie wichtig


16<br />

Gesundheitsprobleme erwähnt werden. Sie finden, daß gesund­<br />

heitsrelevante Seiten des Lebensstils überwiegend nicht bzw.<br />

allenfalls vor allem bei denen zur Sprache kommen, die nicht<br />

gesund sind. Bei Nichtkranken werden beispielsweise statt<br />

dessen Zigaretten vielfach als "Belohnung" erwähnt, Arbeit gilt<br />

auch als Bewegung und Ersatz für Sport, "ungesunde" Nahrungs­<br />

mittel gehören zu den Genüssen, die die Familie sich gewohn­<br />

heitsmäßig gönnt etc. Sie fassen zusammen:<br />

"Unsere Interpretation ist, daß Gesundheit für die meisten<br />

Menschen keine Priorität im Ablauf des täglichen Lebens hat und<br />

nur auftaucht, wenn gesundheitliche 'Probleme'' entstehen.. .Dies<br />

stützt die Argumente von...Autoren wie Dingwall (1976), <strong>der</strong><br />

darlegte, daß Gesundheit im Alltag selbstverständlich hingenommen<br />

wird und nur zur Sprache kommt, wenn Krankheit erfahren<br />

wird. Es stützt auch die breiteren ethnomethodologischen<br />

(Garfinkel 1967) und phänomenologischen (Schütz 1932/1967) Perspektiven<br />

auf die Organisation des Alltagslebens, die die<br />

zentrale Wichtigkeit <strong>der</strong> selbstverständlichen und unausgesprochenen<br />

Wissensbestände zeigen, die infragegestellt werden,<br />

wenn - um Gerhardt (1989a) zu zitieren - "Störungen überhandnehmen"<br />

(1991:526).<br />

Der Alltag <strong>der</strong> nichtkranken Bevölkerung, so dokumentieren<br />

Calnan und Williams, enthält wenig Handlungen <strong>der</strong> Gesundheits­<br />

sorge. Statt dessen haben die Familien ihren eigenen, auf<br />

Bedürfnisbefriedigung, Selbstbelohnung und gemeinsamen Res­<br />

sourcengenuß gerichteten Umgang mit den üblicherweise gesund­<br />

heitsbedeutsamen Tätigkeiten (Rauchen, Arbeiten, Essen etc) .<br />

Deren Gesundheitsaspekt bleibt unbeachtet bzw. wird durch<br />

an<strong>der</strong>e Relevanzgesichtspunkte ersetzt. Mit an<strong>der</strong>en Worten: Bei<br />

Nichtkranken, die ihren Tagesablauf in Einzelheiten be­<br />

schreiben, wird Gesundheitsrelevantes nur in nicht-gesundheits-<br />

bezogenen Zusammenhängen erwähnt, weil <strong>der</strong> Relevanzgesichts­<br />

punkt Gesundheit bei ihnen - denn sie sind nicht' krank - keine<br />

Rolle spielt. Das Phänomen Gesundheit fällt dabei durch<br />

Nichtthematisierung auf. Wenn o<strong>der</strong> weil Gesundheit bei den<br />

Betroffenen vorhanden ist, wird sie im Interview nicht erwähnt.<br />

Gesundheit als Phänomen des Lebens im Alltag ist nicht thema­<br />

tisch, insofern sie vorhanden ist und daher fraglos vor­<br />

ausgesetzt werden kann.


17<br />

Die Phänomenqualität des Fraglos-Gegebenseins ist durch Alfred<br />

Schütz in <strong>der</strong> Soziologie bekannt. Er weist nach, daß Alltag<br />

gesellschaftlich bedeutet, daß Lebensstrukturen verwirklicht<br />

werden, die den Beteiligten fraglos gegeben sind. Die Orientie­<br />

rungen des Alltags werden als <strong>der</strong>art selbstverständlich ange­<br />

sehen, daß ihr Vorhandensein reflexiv nicht bewußt wird.<br />

Interaktiv konstituieren fraglos gegebene Lebensbezüge den<br />

sinnhaften Aufbau <strong>der</strong> sozialen Welt (Schütz 1932).<br />

Dieser umfaßt zwei Vorgänge, die in bezug auf das Phänomen<br />

Gesundheit wichtig sind. Schütz bezeichnet sie als die atten-<br />

tionale Modifikation und als die Synthesis <strong>der</strong> Rekocmition.<br />

Mit "attentionaler Modifikation" meint er die Konkretisierung<br />

allgemeiner Vorstellungen eines Du in einer umweltlichen<br />

(interaktionalen) Beziehung, wenn zwei Menschen tatsächlich<br />

miteinan<strong>der</strong> kommunizieren. Er schreibt über die "attention ä la<br />

vie durch das jeweiligen Aufeinan<strong>der</strong>bezogensein":<br />

"Dann erfahren aber alle meine und auch alle deine Zuwendungen<br />

zum je eigenen Erleben und den je eigenen Erfahrungen aus <strong>der</strong><br />

umweltlichen Situation bestimmte attentionale Modifikationen.<br />

Diese spezifische attentionale Modifikation, in welcher je<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> Partner einer umweltlichen Beziehung dem An<strong>der</strong>en zugekehrt<br />

ist, wird von beson<strong>der</strong>er Wichtigkeit für die umweltliche<br />

Wirkensbeziehung. In je<strong>der</strong> Wirkensbeziehung setzt <strong>der</strong> Handelnde<br />

bei seinem Partner eine Anzahl echter Weil- o<strong>der</strong> Um-zu-Motive<br />

fraglos als konstant gegeben voraus und das aufgrund seiner Erfahrung<br />

vom Verhalten dieses beson<strong>der</strong>en Du, auf welches zu er<br />

handelt, und vom Verhalten eines Du überhaupt. An diesen fraglos<br />

als gegeben vorausgesetzten konstanten Motiven orientiert<br />

er zunächst sein Verhalten, gleichgültig ob diese supponierten<br />

Motive tatsächlich motivierende Sinnzusammenhänge im Bewußtseinsablauf<br />

des Partners sind" (1932:191). 6<br />

Die eigentümliche Sozialität des Handelns besteht also nicht<br />

darin, daß die Individuen die tatsächlichen Gegebenheiten bei<br />

ihrem Gegenüber realistisch wahrnehmen. Vielmehr setzen sie<br />

Motive o<strong>der</strong> Zustände als gegeben voraus, die empirisch mög­<br />

licherweise an<strong>der</strong>s sind o<strong>der</strong> sich an<strong>der</strong>s im Bewußtsein <strong>der</strong><br />

Betroffenen darstellen. Zugleich verän<strong>der</strong>t die interaktioneile<br />

Beziehung aktuell - zumindest ansatzweise - die fraglos voraus­<br />

gesetzten Vorstellungen über ein konkretes Du o<strong>der</strong> über das Du<br />

allgemein.


18<br />

Bei "Synthesis <strong>der</strong> Rekognition" spricht Schütz von Vorgängen,<br />

die nicht die einzelnen <strong>der</strong> unmittelbaren Umwelt betreffen,<br />

son<strong>der</strong>n die Menschen bzw. Personengruppen <strong>der</strong> weiteren Sozial­<br />

welt. Die dem einzelnen persönlich möglicherweise nicht o<strong>der</strong><br />

nur oberflächlich bekannten Interaktionspartner kommunizieren<br />

mit dem Handelnden entsprechend <strong>der</strong> Typik <strong>der</strong> mitweltlichen<br />

Vorgänge: "Das Wesen <strong>der</strong> mitweltlichen Situation besteht darin,'<br />

daß ein alter ego mir zwar nicht in Leibhaftigkeit, also in<br />

räumlicher und zeitlicher Unmittelbarkeit, gegeben ist, daß ich<br />

aber dennoch von seiner Koexistenz mit mir, von dem gleich­<br />

zeitigen Ablauf seiner Bewußtseinserlebnisse mit den meinen<br />

weiß. Dieses Wissen ist immer ein mittelbares, niemals habe ich<br />

das alter ego in <strong>der</strong> Mitwelt als ein Selbst gegeben"<br />

(1932:202). Die Konstitution <strong>der</strong> Mitwelt im Bewußtsein bringt<br />

zwei Idealitäten hervor, die Schütz als jene des "Immer Wie<strong>der</strong>"<br />

und des "Und So Weiter" beschreibt. 7<br />

folgen<strong>der</strong>maßen:<br />

Erstere charakterisiert er<br />

"Weil (die fremden Erlebnisse, von denen ich mitweltliche Erfahrung<br />

habe) losgelöst von dem subjektiven Sinnzusammenhang,<br />

in dem sie sich konstituierten, beträchtet werden, weisen sie<br />

die Idealität des 'Immer Wie<strong>der</strong>' auf. Sie werden als typische<br />

fremde Bewußtseinsinhalte erfaßt, und sind als solche prinzipiell<br />

homogen und iterierbar. Die Einheit des mitweltlichen<br />

alter ego konstituiert sich somit ursprünglich nicht in seinem<br />

Dauerablauf (...), son<strong>der</strong>n allein in einer Synthesis meiner<br />

Deutungsakte von ihm in <strong>der</strong> Einheit meines Dauerablaufes. Diese<br />

Synthesis ist eine Synthesis <strong>der</strong> Rekognition..." (1932:206).<br />

Die Idealität des "Immer Wie<strong>der</strong>", so zeigen die aus Schütz'<br />

Nachlaß herausgegebenen Strukturen <strong>der</strong> Lebenswelt (Schütz und<br />

Luckmann 1979), verbindet sich mit <strong>der</strong> Idealität des "Und So<br />

Weiter". Beide umschreiben "das fraglos Gegebene und das Pro­<br />

blematische" - ersteres mittels <strong>der</strong> Idealitäten den Alltag be­<br />

stimmend und letzteres als das, was tendentiell Alltags­<br />

störungen bedeutet. Gerade mit Hilfe <strong>der</strong> Idealitäten werden<br />

allerdings alltägliche Problemsituationen geglättet und solange<br />

"hinweginterpretiert", bis die Störwirkungen offensichtlich<br />

werden o<strong>der</strong> überhandnehmen. Die Idealitäten wirken also im<br />

Rahmen <strong>der</strong> Synthesis <strong>der</strong> Rekognition stabilisierend auf das<br />

Leben im normalen Alltag, so daß dieser trotz vielfältiger Pro­<br />

blemlagen sich immer wie<strong>der</strong> beim fraglos Gegebenen einpendelt.<br />

Das Eigentümliche dabei ist, so Hans-Georg Soeffner, daß das


19<br />

Wissen, das die normalen Alltagsbezüge ermöglicht, keiner be­<br />

son<strong>der</strong>en Rechtfertigungserwartung unterliegt. Das heißt, das im<br />

Alltag fraglos Gegebene wird von den Handelnden angenommen,<br />

ohne daß geprüft wird, ob es "stimmt"; aber zugleich wird ange­<br />

nommen, daß es je<strong>der</strong>zeit nachprüfbar wäre. Dadurch entsteht<br />

subjektiv die Überzeugung, daß das fraglos Gegebene zugleich<br />

das Richtige ist und daß <strong>der</strong>jenige auch rational handelt, <strong>der</strong><br />

sich am fraglos Gegebenen orientiert. Soeffner schreibt:<br />

"Die Routinisierung des Alltagswissens und Alltagshandelns beruht<br />

auf <strong>der</strong> Inexplizitheit, auf <strong>der</strong> Prämisse, daß nicht alles<br />

gesagt o<strong>der</strong> gefragt werden muß. Man setzt tacit knowledge voraus,<br />

das heißt, daß man etwas weiß, ohne daß man sagen muß o<strong>der</strong><br />

sagen könnte, was man weiß: Alltagswissen ist inexplizit, weil<br />

es in einer Welt <strong>der</strong> Selbstverständlichkeiten untergebracht<br />

ist. Diese Welt <strong>der</strong> Selbstverständlichkeiten funktioniert paradoxerweise<br />

nur auf <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> Unterstellung, alles sei ausdrückbar,<br />

falls die For<strong>der</strong>ung danach gestellt werde" (1989:19).<br />

Das Phänomen Gesundheit hat zwei Eigenschaften, die zu Schütz'<br />

Theorem <strong>der</strong> sozialen Tatbestände des Alltags passen. Erstens<br />

ist Gesundheit ganzheitlich als Zustand gegeben; zweitens wird<br />

sie fraglos hingenommen und folgt den Idealitäten des "Immer<br />

iWie<strong>der</strong>" und "Und So Weiter". Mit an<strong>der</strong>en Worten: Gesundheit hat<br />

"man, solange man an sie nicht denkt. Im Alltag handeln die<br />

Akteure - als Gesunde -, ohne sich zu jedem Zeitpunkt bewußt zu<br />

halten, daß sie gesund sind und an<strong>der</strong>e, mit denen sie umgehen,<br />

ebenfalls dafür halten. Sie halten sich auch nicht beständig<br />

bewußt, daß sie es bleiben wollen und daß sie an<strong>der</strong>en nichts<br />

antun möchten, das diesen verunmöglicht, es bleiben zu können.<br />

Natürlich setzen sie dieselbe Orientierung bei an<strong>der</strong>en fraglos<br />

voraus, so daß Reziprozität <strong>der</strong> Perspektiven besteht. Die<br />

theoretische Gestalt <strong>der</strong> Gesundheit bedeutet für die Medizin­<br />

soziologie, daß sie folgendes vergegenwärtigen sollte:<br />

"Handlungs- und gesellschaftstheoretisch bedeutet die Selbstverständlichkeit,<br />

daß Gesundheit im Alltag vorausgesetzt wird,<br />

daß man nur Krankheit explizit wahrnimmt. Man hat Gesundheit,<br />

so kann man sagen, immer dann, wenn ihr Fehlen nicht auffällt<br />

o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Alltagspraktiken nicht stört. Sie t r i t t erst ins<br />

Aufmerksamkeitsfeld, wenn sie brüchig wird o<strong>der</strong> in Krankheit<br />

umgeschlagen ist. Dann wird retrospektiv ein Zustand des<br />

Gewesenen als Gesundheit thematisch, <strong>der</strong> aber wie<strong>der</strong>herzustellen<br />

ist o<strong>der</strong> möglichst sein sollte. Soziologisch hat<br />

Gesundheit eine ähnliche Konstitution wie Raum und Zeit: man


20<br />

erfaßt sie metrisch nach kulturellen Konventionen, alltagspraktisch<br />

ist sie ganzheitlich gegeben" (Gerhardt 1993b:84).<br />

Die Eigenschaft, ganzheitlich gegeben zu sein und fraglos im<br />

Alltag vorausgesetzt zu werden, hat die Gesundheit mit an<strong>der</strong>en<br />

Phänomenen gemeinsam. Beispielsweise sind im Alltag die<br />

"Kollektivgüter" Luft o<strong>der</strong> Wasser, Rechtssicherheit o<strong>der</strong> ehe­<br />

liches Sich-Verstehen fraglos gegeben. Damit ist gesagt, daß<br />

erst ihre Beschaffenheit beim Zustand des Nicht-mehr-Vor-<br />

herrschens, d.h. zum Beispiel bei verunreinigter Luft o<strong>der</strong> ver­<br />

schmutztem Wasser, fehlen<strong>der</strong> Rechtssicherheit o<strong>der</strong> verlorenem<br />

ehelichen Einvernehmen dazu veranlaßt, überhaupt das Gut als<br />

ein - nunmehr per Verlustzustand - reales Phänomen wahrzu­<br />

nehmen. Das Gut wird thematisch via neaationis. nämlich indem<br />

sein Fehlen o<strong>der</strong> Verschwinden darauf aufmerksam macht, daß es<br />

einmal vorhanden war und überhaupt nicht fehlen sollte. Gesund­<br />

heit, so kann man soziologisch folgern, wird als Wert <strong>der</strong> Hand­<br />

lungsorientierung erst virulent, wenn sie nicht mehr vorhanden<br />

bzw. nicht mehr fraglos gegeben ist.<br />

Dieser Gesundheitsbegriff, dessen Wirklichkeitsverständnis<br />

soziologisch im Einklang mit den handlungstheoretischen Konzep­<br />

tionen Max Webers und Alfred Schütz' steht, legt nahe, die<br />

soziologischen Überlegungen zu Public Health, das als neue<br />

Gesundheitswissenschaft gilt, zu überdenken. Dies wie<strong>der</strong>um regt<br />

an, die Frage nach <strong>der</strong> Funktion <strong>der</strong> Medizin aus soziologischer<br />

Perspektive noch einmal zu stellen.<br />

Public Health als Gesundheitswissenschaft<br />

Die jüngere Medizinsoziologie, die "Gesundheit für alle im Jahr<br />

2 000" bejaht, sucht nach einer Neudefinition <strong>der</strong> Aufgaben <strong>der</strong><br />

Medizin. Die neue Richtung, in die das Gesundheits-Krankheits-<br />

Denken drängt, heißt Public Health. Seit dem Ende <strong>der</strong> achtziger<br />

Jahre werden an deutschen Universitäten Ausbildungsprogramme in<br />

Epidemiologie, Gesundheitswissenschaften und Bevölkerungs­<br />

medizin eingerichtet, um den neu definierten Bedarf nach Public<br />

Health durch Wissensvermittlung und Expertenqualifizierung zu<br />

befriedigen. 8


21<br />

Die "New Public Health"-Initiativen, die von <strong>der</strong> Weltgesund­<br />

heitsorganisation mitgetragen werden, machen sich zur Aufgabe,<br />

in fünf Bereichen <strong>der</strong> Gesundheitsför<strong>der</strong>ung zu wirken. Verbesse­<br />

rungen in diesen Bereichen sollen eine gesunde Lebensgestaltung<br />

ermöglichen, ohne daß die Medizin als Vermittler <strong>der</strong> Gesundheit<br />

auftritt. In <strong>der</strong>- "Ottowa-Charta für Gesundheitsför<strong>der</strong>ung" <strong>der</strong><br />

WHO werden folgende genannt:<br />

(1) Schaffung gesundheitsför<strong>der</strong>n<strong>der</strong> Lebens- und Arbeitswelten;<br />

(2) Befähigung <strong>der</strong> Individuen zu gesundheitsför<strong>der</strong>ndem Handeln;<br />

(3) Stützung gesundheitsbezogener Bemühungen auf Gemeindeebene;<br />

(4) Reorientierung <strong>der</strong> Gesundheitsdienste, mit beson<strong>der</strong>er<br />

Berücksichtigung <strong>der</strong> Bedürfnisse <strong>der</strong> chronisch Kranken und<br />

Pflegebedürftigen; und<br />

(5) Gesundheitsför<strong>der</strong>nde Gesamtpolitik.<br />

Als Problembereiche für Public-Health-Maßnahmen, die durch Er­<br />

forschung <strong>der</strong> Hintergründe und Auslösefaktoren gesellschaftlich<br />

mitbedingter Krankheitstatbestände abzuklären sind, gelten bei­<br />

spielsweise: HIV-Infektion und AIDS, Medikamenten- und Drogen­<br />

abusus, Alzheimer-Erkrankung, Schwangerschaften Min<strong>der</strong>jähriger,<br />

Unfälle, Rauchen und hoher Blutdruck (WHO 198 6). Sie bezeichnen<br />

Themen, die sowohl in <strong>der</strong> soziologisch orientierten Ursachen­<br />

forschung angegangen werden (sollen) als auch darauf hinweisen,<br />

daß geeignete Interventionsprogramme zur Vermin<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />

Erkrankungsinzidenz o<strong>der</strong> des Problemverhaltens beitragen<br />

(können). Dahinter steht auch ein praktisch-politisches Inter­<br />

esse, insofern die entsprechenden Gesundheitserziehungspro-<br />

gramme, die sich aus den Forschungen rechtfertigen (sollen),<br />

ihrerseits durch Public-Health-Stellen und -Teams durchgeführt<br />

und evaluiert werden. Das Gesundheits-Krankheits-Konzept, das<br />

in diesem Sinne den Arbeitsbereich <strong>der</strong> Gesundheitswissen­<br />

schaften definiert, wird bei Dietrich Milles und Rainer Müller<br />

in allgemeinen Formulierungen umschrieben; insgesamt kann man<br />

daran sehen, daß die public-health-bezogenen Überlegungen<br />

bisher zunächst eine Absichtserklärung bekunden, über<br />

Bestehendes hinauszugehen:


22<br />

"'Public Health' umfaßt mehr als <strong>der</strong> alte Begriff 'Öffentliche<br />

Gesundheitspflege'...Auch <strong>der</strong> Begriff 'Gesuhdheitswissenschaften'<br />

müßte ausgedeutet werden, damit die...Bereiche und<br />

Verflechtungen einer 'Public-Health-Forschung' erfaßt sind. Das<br />

zu bearbeitende Forschungsfeld reicht von <strong>der</strong>' deskriptiven und<br />

analytischen Epidemiologie über Forschungen zu Institutionen<br />

<strong>der</strong> Gesundheitssicherung, zur Gesundheitsökonomie, zur integrierten<br />

sozialen Psycho-Somatik, zur Gesundheitserziehung bis<br />

hin zu Forschungen über staatliche Maßnahmen <strong>der</strong> Gesundheitsför<strong>der</strong>ung<br />

und Prävention" (1991:7-8).<br />

In einem Überblick über die Kernfächer und Organisation <strong>der</strong><br />

Studiengänge "Public Health" in den USA und Großbritannien<br />

betonen Friedrich Wilhelm Schwartz und Bernhard Badura, wie<br />

bedeutsam die Epidemiologie ist. Durch ein Programmprojekt <strong>der</strong><br />

Robert-Bosch-Stiftung konnten Erfahrungen aus dem Ausland aus­<br />

gewertet werden, so daß die Aufbaustudiengänge in Deutschland,<br />

die vielerorts entstehen, in die richtigen Bahnen gelenkt<br />

werden können. Vor diesem Hintergrund nennen Schwartz und<br />

Badura drei Kernfächer <strong>der</strong> Public-Health-Ausbildung: Epidemio­<br />

logie, Gesundheitsför<strong>der</strong>ung sowie Gesundheitspolitik und -Ver­<br />

waltung.<br />

Die Epidemiologie erkennen sie als "'Schlüsseltechnologie', um<br />

hypothesengenerierende (deskriptive) o<strong>der</strong> hypothesengeleitete<br />

(analytische) Ursachenforschung in hochkomplexen, nur gering­<br />

gradig im Sinne von stringenten Ursache-Wirkungsketten durch­<br />

schauten o<strong>der</strong> durchschaubaren Anwendungsgebieten durchzuführen,<br />

in denen sich wegen <strong>der</strong> gewollten Offenheit <strong>der</strong> Beobachtungs­<br />

situation ('Feldforschung') o<strong>der</strong> aus praktischen o<strong>der</strong> aus<br />

normativ-ethischen Gründen (Auswirkung auf zum Teil sehr große,<br />

vor<strong>der</strong>gründig gesunde Bevölkerungsgruppen) streng kontrollierte<br />

experimentelle Studiendesigns verbieten o<strong>der</strong> allenfalls<br />

näherungsweise verwirklichen lassen" (Schwartz und Badura<br />

1991:16-17). Immerhin kann die Epidemiologie auf eine über<br />

fünfzigjährige Anerkennung in <strong>der</strong> Medizin und beeindruckende<br />

Ergebnisse in <strong>der</strong> Forschung verweisen. Im Zusammenhang <strong>der</strong><br />

Public-Health-Studiengänge stellt sie sich in den Dienst <strong>der</strong><br />

Gesundheits(vor)sorge vor dem Hintergrund <strong>der</strong> breitgefächerten<br />

Forschungsleistungen (Morris 1957).


23<br />

Mit Blick auf diese Forschung charakterisiert Robert An<strong>der</strong>son<br />

die Maxime, <strong>der</strong> die Public-Health-Praxis folgt, anhand <strong>der</strong><br />

Kurzformel, die Tuula Vaskilampi für das Nordkarelien-Projekt<br />

(Finnland) findet, nämlich: "Was gesund ist, ist gut, was unge­<br />

sund ist, ist schlecht" (Vaskilampi 1981:193, cit. An<strong>der</strong>son<br />

1988:30). Die Ergebnisse <strong>der</strong> großen epidemiologischen Risiko­<br />

studien, die im Public-Health-Denken weiterentwickelt werden,<br />

passen in diesen Rahmen. Die Framingham-Studie, durchgeführt in<br />

einem Suburb Bostons, erbrachte nach zwölfjähriger Auswertung<br />

bezüglich Herz-Kreislauf-Funktionsfähigkeit (als Gegenpol <strong>der</strong><br />

Mortalität aufgrund von Herz-Kreislauf-Leiden), daß folgende<br />

Risikofaktoren einen prädiktiven Wert haben: - erhöhte Blut-<br />

cholesterinwerte, Rauchen, Anormalitäten des Elektro­<br />

kardiogramms und hoher Blutdruck (Dawber et al. 1963). Die<br />

Tecumseh-Studie, durchgeführt in einer Kleinstadt Michigans,<br />

ermittelte für die Diagnosen Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkran­<br />

kungen, Gicht und rheumatische Arthritis, daß sowohl medizi­<br />

nische als auch soziale Risikofaktoren wirken. Erstere sind<br />

Rauchen, Bluthochdruck, Serumcholesterin und Harnsäurespiegel<br />

des Blutes; letztere sind Alter, Geschlecht und Familienstatus<br />

(Fox et al. 1970:290f.). Durchschlagendes Ergebnis hinsichtlich<br />

einer einzelnen Verhaltensweise ist <strong>der</strong> in den frühen fünfziger<br />

Jahren gesicherte Befund, daß Rauchen wesentlich zur Entstehung<br />

des Lungenkarzinoms beiträgt (Doli und Hill 1952). Viel­<br />

beachtetes Ergebnis hinsichtlich eines Gesamt-Lebenszuschnitts<br />

ist <strong>der</strong> gegen Ende <strong>der</strong> siebziger Jahre ermittelte Befund <strong>der</strong><br />

Alameda-County-Studie, daß Vereinsamte - auch wenn sie am<br />

öffentlichen Leben noch teilnehmen, beispielsweise als Publikum<br />

bei Vortragsveranstaltungen - in erhöhter Gefahr sind, im<br />

nächsten Jahrzehnt zu versterben (Berkman und Syme 1979) .<br />

Die Gesundheitsför<strong>der</strong>ung, die sich aus Überlegungen recht­<br />

fertigt, die aus solchen Forschungen abgeleitet werden, umfaßt<br />

vor allem Präventionsprogramme. Ziel ist, über die<br />

"Krankheitsverhütung (disease prevention) im herkömmlichen<br />

Sinne" hinauszugehen und statt dessen "Gesundheitsför<strong>der</strong>ung<br />

(health promotion), wie sie etwa von <strong>der</strong> WHO gefor<strong>der</strong>t und an­<br />

gestrebt wird" zu leisten (Schwartz und Badura 1991:18). Dabei<br />

wird an das 1984 erstellte Programmpapier <strong>der</strong> WHO "Concepts and


24<br />

Principles of Health Promotion" angeknüpft. Es schlägt vor,<br />

eine eigene Ausbildung in gemeindebezogener Gesundheitssorge<br />

einzurichten, die sich vorwiegend auf Gesundheitserziehung zur<br />

Prävention <strong>der</strong> oft beschworenen Massenerkrankungen des mo<strong>der</strong>nen<br />

Lebens festlegt (z.B. Bluthochdruck). David McQueen (1991)<br />

macht deutlich, daß dabei zwei sich stützende Zielperspektiven<br />

verfolgt werden: Einerseits soll die Forschung dazu dienen, den<br />

Leistungsbereich zu finden, in dem die praktische<br />

Gesundheitsför<strong>der</strong>ung am effektivsten tätig werden kann;<br />

an<strong>der</strong>erseits sollen praktische Programme <strong>der</strong> "New Public<br />

Health" dazu beitragen, den Leistungsbereich gemeindebezogener<br />

Gesundheitssorge abzustecken, so daß die Forschung imstande<br />

ist, dort die Erklärungsmodelle zu ermitteln, die dem Öffent­<br />

lichkeitscharakter <strong>der</strong> gesundheitspolitisch relevanten Lebens­<br />

bereiche entsprechen. Er überlegt, daß "die Sorge um die<br />

Public-Health-Praxis in <strong>der</strong> Gemeinde als eine Art 'Rückgabe <strong>der</strong><br />

Gesundheitssorge' an die Menschen in <strong>der</strong> Gemeinde gesehen<br />

werden kann", und er meint dazu: "Eine zentrale Frage ist, wie<br />

das Bewußtsein <strong>der</strong> 'neuen' Public Health in die Struktur einer<br />

Institution eingebaut werden kann; in welcher Weise wird dieses<br />

Bewußtsein durch Forschung, Lehre und Praxis entwickelt"<br />

(1991:162) .<br />

Der dritte Bereich ist Gesundheitspolitik und -Verwaltung.<br />

Selbst über die USA, in denen eine Ausbildung zum Doktor <strong>der</strong><br />

Öffentlichkeitsmedizin (D.P.H.) möglich ist, klagen Schwartz<br />

und Badura, wobei sie für Deutschland Programme empfehlen, in<br />

denen Ökonomie, Recht und Verwaltungswissenschaft enthalten<br />

sind: "Es scheint an den Schools of Public Health unbe­<br />

strittener Konsens zu sein, daß das gegenwärtige Ausbildungs­<br />

angebot auf keinen Fall diesen Anfor<strong>der</strong>ungen entspricht und daß<br />

darüber hinaus in naher Zukunft wachsen<strong>der</strong> Bedarf an einem ent­<br />

sprechenden Angebot besteht" (1991:29). Alf Trojan und Helmuth<br />

Hildebrandt stellen für das WHO-Programm "Gesün<strong>der</strong>e Städte"<br />

fest, daß zwar einige Anstöße bezüglich kommunaler Gesundheits­<br />

politik entstanden. Aber mit Blick auf das Beispiel <strong>der</strong> Groß­<br />

stadt Hamburg bemängeln sie, welche Schwierigkeiten einer Ver­<br />

lagerung <strong>der</strong> Gesundheitsför<strong>der</strong>ung auf die politische Ebene ent­<br />

gegenstehen:


25<br />

"Selbst wenn man anerkennt, daß die Einrichtung von Nichtraucherzonen<br />

und gesün<strong>der</strong>es Kantinenessen strukturelle Maßnahmen<br />

sind, lassen sie sich doch schwerlich als eigentliche<br />

Verhältnisprävention betrachten, wie es z.B. Eingriffe in die<br />

Verkehrspolitik und die Verringerung von Umweltbelastungen in<br />

<strong>der</strong> Arbeits- und Lebenswelt wären" (1991:111).<br />

Der Grund <strong>der</strong>art verengter Programmdefinition liegt, so Trojan<br />

und Hildebrandt, in den Köpfen <strong>der</strong>er, die in den politischen<br />

Entscheidungsgremien arbeiten und dort Vorstellungen ent­<br />

wickeln, die dann praktisch umgesetzt werden; diese Amtsträger<br />

und Experten könnten sich zwar Verhaltens-, doch nicht Verhält­<br />

nisprävention vorstellen, so daß sie zwar Individuair isiko<br />

bemerken und auch dessen Bekämpfung veranlassen, aber an<strong>der</strong>er­<br />

seits das eventuell viel gravieren<strong>der</strong>e Umweltrisiko<br />

"übersehen". Daraus leiten Trojan und Hildebrandt ab, daß<br />

Gesundheitsämter bzw. Öffentlicher Gesundheitsdienst (ÖGD) viel<br />

umfassen<strong>der</strong> als bisher in die politisch aufgelegten Programme<br />

<strong>der</strong> Gesundheitsför<strong>der</strong>ung einbezogen werden müßten. Die bis­<br />

herige "ungeklärte Rolle" des ÖGD, so stellen sie fest, habe<br />

beispielsweise zur Effektivitätsmin<strong>der</strong>ung des "Gesün<strong>der</strong>e-<br />

Städte"-Programms <strong>der</strong> WHO beigetragen: "Der verständliche<br />

Wunsch, jegliche Bürokratie zu vermeiden, darf u.E. nicht zu<br />

<strong>der</strong> Fehleinschätzung führen, daß ein solches anspruchsvolles<br />

Projekt auf Struktur und gekonntes Management verzichten<br />

könnte" (1991:115).<br />

Epidemiologie, Gesundheitsför<strong>der</strong>ung sowie Gesundheitspolitik<br />

und -Verwaltung - die drei Bereiche <strong>der</strong> "neuen Public-Health"-<br />

Konzeption - sind also unterschiedlich gut in <strong>der</strong> Forschung und<br />

in <strong>der</strong> Praxis verankert. Während die Epidemiologie bereits auf<br />

eine Entwicklung über ca. fünfzig Jahre zurückblicken kann,<br />

gibt es Gesundheitsför<strong>der</strong>ung mittels Gesundheitserziehungspro-<br />

grammen in <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland erst seit etwa zwei<br />

Jahrzehnten (z.B. durch die Bundeszentrale für gesundheitliche<br />

Aufklärung). Die Gesundheitspolitik und -Verwaltung erscheint<br />

allen Vertretern <strong>der</strong> Gesundheitswissenschaften, die sie an den<br />

Zielen <strong>der</strong> "neuen Public-Health"-Bewegung messen, defizient.<br />

Einerseits, so wird beklagt, fehlen Entscheidungs- und Hand­<br />

lungsbefugnisse für die Stellen und Gremien, die für die<br />

öffentliche Gesundheit zuständig sind. An<strong>der</strong>erseits mangelt es


26<br />

auf Landes- und Bundesebene, so wird gerügt, an Instanzen, die<br />

im Sinne öffentlichkeitsbezogener Gesundheitssicherung dafür<br />

verantwortlich sind, daß risikoträchtige Umwelten konsequent<br />

flächendeckend ermittelt und zu Nutzen <strong>der</strong> allgemeinen<br />

Schadensvermin<strong>der</strong>ung umgestaltet werden.<br />

Vor diesem Hintergrund stellt sich noch einmal die Frage, was<br />

das Gesundheitskonzept <strong>der</strong> "neuen Public-Health"-Debatte ist<br />

bzw. wie es sich soziologisch zuordnet. Das beson<strong>der</strong>e am "neuen<br />

Public-Health"-Gesündheitsbegriff, so David Armstrong, ist, daß<br />

er nicht mehr gegen den Krankheitsbegriff abgegrenzt ist.<br />

Son<strong>der</strong>n zwischen Gesundheit und Krankheit besteht ein Konti-<br />

nuum, so daß die Individuen - außer in Extremgruppen <strong>der</strong> Bevöl­<br />

kerung - stets beides haben. Er schreibt dazu:<br />

"Der Traum <strong>der</strong> neuen Medizin hat die Beziehung zwischen Gesundheit<br />

und Krankheit reformiert. Nun sind sie nicht mehr polare<br />

Gegensätze in einer binären Klassifikation, sie sind unausweichlich<br />

innerhalb eines Kontinuums <strong>der</strong> Gesundheit miteinan<strong>der</strong><br />

verwoben. Auf <strong>der</strong> einen Seite ist die Gesundheit in <strong>der</strong> Krankheit<br />

enthalten; die Behin<strong>der</strong>ten, die chronisch Kranken, die<br />

Sterbenden und die Erkrankten können ihre Gesundheit durch angemessenes<br />

Gesundheitsverhalten, fähigkeitsstärkende Reaktionen<br />

und erfolgreiches Coping för<strong>der</strong>n. Gleichermaßen ist <strong>der</strong> Keim<br />

<strong>der</strong> Krankheit jetzt in <strong>der</strong> Gesundheit enthalten. Gesundheit ist<br />

ein zeitlich befristeter Verlaufszustand geworden, <strong>der</strong> die<br />

Anfänge <strong>der</strong> Krankheit enthält, denen jedoch durch präventives<br />

Handeln, Gesundheitsför<strong>der</strong>ung und gesunde Lebensweise entgegengewirkt<br />

werden kann" (1988:18).<br />

Das Menschenbild, das dabei zugrundeliegt, ist an <strong>der</strong> Psycho­<br />

logie beziehungsweise <strong>der</strong>jenigen Soziologietradition orien­<br />

tiert, die den einzelnen im Schnittpunkt <strong>der</strong> Faktoren sieht,<br />

die auf sein o<strong>der</strong> ihr Leben gestaltend kausal einwirken. Dabei<br />

gilt <strong>der</strong> einzelne - im Sinne Emile Dürkheims These des Dualis­<br />

mus Soziales-Individuelles - als soziale Persönlichkeit. Das<br />

heißt, wichtig sind Unterschiede in den Bevölkerungen ent­<br />

sprechend Geschlecht, Alter, sozialer Schicht, ethnischer Her­<br />

kunft, kultureller Zugehörigkeit, Religion, Beruf, usw. Mit<br />

an<strong>der</strong>en Worten: Das zugrundeliegende Menschenbild entspricht<br />

dem homo socioloaicus; die Individuen werden vornehmlich als<br />

Träger ihrer Statusrollen, zuweilen vermittelt durch Positions­<br />

rollen, wichtig (z.B. hinsichtlich Streß im Beruf, etwa bei<br />

Arbeitern o<strong>der</strong> Müttern). Für jede Rolle ist ein Gefährdungsgrad


27<br />

als Erkrankungsrisiko bzw. eine Gesundheitschance - als<br />

Nichterkrankungswahrscheinlichkeit - feststellbar. Biomathe­<br />

matische Auswertung <strong>der</strong> offiziellen o<strong>der</strong> forschungsgenerierter<br />

Morbiditäts- und Mortalitätsdaten ermittelt das relative Risiko<br />

bei bestimmten Rollen bezüglich bestimmmter Erkrankungen etc.<br />

Die bevölkerungsmedizinischen Aussagen über Risiko sehen den<br />

einzelnen auf drei Ebenen <strong>der</strong> gesellschaftlichen Zusammenhänge;<br />

dort wird er o<strong>der</strong> sie als homo sociologicus untersucht. Erstens<br />

gibt es - auf niedrigster Abstraktionsebene - das Risikover­<br />

halten. Es betrifft nachweislich erkrankungsfor<strong>der</strong>nde<br />

Verhaltensweisen, grundsätzlich jeglicher Art, vornehmlich<br />

Rauchen, Alkoholabusus, Medikamentenabusus, sexuelle Praktiken<br />

und ähnliches mehr. Zweitens werden Personen identifiziert, die<br />

ein angebbar hohes Risiko - etwa hinsichtlich Herz-Kreislauf-<br />

Erkrankungen - haben; sie werden als Angehörige sogenannter<br />

Risikocrruppen wichtig, d.h. als Menschen aus Bevölkerungskate-<br />

gorien mit statistisch überdurchschnittlich hoher Gesundheits­<br />

gefährdung o<strong>der</strong> Erkrankungswahrscheinlichkeit. Drittens können<br />

Risikostrukturen festgestellt werden, die auf <strong>der</strong> Ebene gesell-<br />

; schaftlicher Großgebilde (z.B. Län<strong>der</strong>, Regionen) durch ver-<br />

gleichsweise hohe gesundheitliche Gefährdungslagen auffallen.<br />

Die Menschen, die auf den drei Ebenen des Verhaltens, <strong>der</strong><br />

Personeigenschaften (Gruppenzugehörigkeit, demographischen<br />

Merkmalen) und <strong>der</strong> Gesamtumwelt (Lebenslage, gesellschaftlichem<br />

Gesamtzusammenhang) jeweils eine gewisse Risikosituation ver­<br />

körpern, kommen dabei nicht als Individuen ins Blickfeld. Im<br />

Sinne Dürkheims, <strong>der</strong> zwischen <strong>der</strong> sozialen (Kollektiv-) und <strong>der</strong><br />

individuellen Persönlichkeit des einzelnen in den mo<strong>der</strong>nen<br />

Gesellschaften unterscheidet, sind die Menschen in den Gesund­<br />

heitswissenschaften als soziale Persönlichkeit (Sozialperson)<br />

thematisch.


Zwei Auffassungen <strong>der</strong> Medizin<br />

28<br />

Die Public-Health-Medizin vertritt eine nicht-klinische Vari­<br />

ante des Krankheits-Gesundheits-Denkens. Entsprechend den Vor­<br />

annahmen <strong>der</strong> schließenden Statistik sieht sie den Einzelfall<br />

als beliebig bzw. nicht aussagekräftig an. Dies entspricht <strong>der</strong><br />

Vorgabe, daß die Forschungsergebnisse für Bevölkerungen gelten,<br />

also Kollektive, wobei von dort aus auf Individuen rückge­<br />

schlossert wird. Mervyn Süsser (1973) sieht das Spezifikum <strong>der</strong><br />

Epidemiologie darin, daß sie sich am ökologischen Modell <strong>der</strong><br />

Lebenszusammenhänge orientiert. Dies begründet er mit dem - im<br />

Sinne <strong>der</strong> klassisch-griechischen Tradition genuinen - hippokra-<br />

tischen Prinzip, daß die Umgebung für die Entstehung und Hei­<br />

lung von Krankheiten bedeutsam ist. Vor diesem Hintergrund, so<br />

Süsser, sind die heute verwendeten Modelle des Verhältnisses<br />

von Träger und Immunität und des spezifischen Agens <strong>der</strong> Krank­<br />

heitsverursachung Fortentwicklungen des hippokratischen Ge­<br />

dankens .<br />

Die Logik <strong>der</strong> multivariaten Verursachung, so Süsser, erlaubt<br />

auch, komplexe Zusammenhänge <strong>der</strong> Krankheitsentstehung epidemio­<br />

logisch zu erfassen. Aber man muß stets bedenken, welche<br />

Faktoren individuell und welche kollektiv bedeutsam sind. Da<br />

sie diese Unterscheidung nicht treffen, so Süsser, erliegen<br />

viele empirische Studien dem ökologischen Fehlschluß, d.h. <strong>der</strong><br />

Benutzung individuell erhobener Merkmale zur Beweisführung auf<br />

Bevölkerungsebene o<strong>der</strong> umgekehrt kollektiver Merkmale auf Indi-<br />

vidualebene. Letzteres geschieht beispielsweise bei <strong>der</strong> Be­<br />

nutzung von Daten, die an <strong>der</strong> Gesamtheit beobachtbar sind - wie<br />

etwa Luftverschmutzung o<strong>der</strong> Arbeitszeitregelung -, zur<br />

Beweisführung auf <strong>der</strong> Ebene einzelner Bewohner o<strong>der</strong><br />

Erwerbstätiger. Verwechslungen bezüglich <strong>der</strong> Organisationsebene<br />

von Daten bezeichnet Süsser als aggregativen und als<br />

atomistischen Fehlschluß. Für den letzteren gibt er folgendes<br />

Beispiel: Bluthochdruck ist häufiger bei Schwarzen als bei<br />

Weißen in den USA, und es steht fest, daß bei Bluthochdruck oft<br />

koronare Herzkrankheit entsteht; aber daraus kann nicht<br />

gefolgert werden, daß koronare Herzkrankheit bei Schwarzen<br />

häufiger als bei Weißen wäre - was empirisch falsch ist. Denn


1<br />

:<br />

29<br />

erstere Daten gelten kollektiv, letztere individuell. "In<br />

diesem Fall", so Süsser, "liegt die Disparität zwischen <strong>der</strong><br />

Individual- und <strong>der</strong> Aggregationskorrelation darin, welcher Grad<br />

<strong>der</strong> Variation <strong>der</strong> abhängigen Variablen durch die unabhängige<br />

Variable erklärt wird" (1973:60).<br />

Derartige methodische Feinfühligkeit fehlt vielfach im bis­<br />

herigen deutschen und wohl auch amerikanischen Public-Health-<br />

Denken. Man wertet Daten auf <strong>der</strong> Individualebene als Ausdruck<br />

<strong>der</strong> parzellierten Lebensumstände gesamtgesellschaftlicher Um­<br />

welten o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Teilhabe an gemeinschaftlichen Kollektividenti­<br />

täten. Damit wird zwar das Problem gelöst, wie die in <strong>der</strong> offi­<br />

ziellen Statistik üblichen häufigkeitsstatistischen Angaben<br />

dazu dienen können, mittels schließen<strong>der</strong> Statistik zu um­<br />

fassenden bevölkerungsmedizinischen Aussagen zu gelangen. Aber<br />

das Feld <strong>der</strong> Anwendbarkeit <strong>der</strong> Befunde im Einzelfall wird durch<br />

einen methodologisch ungedeckten Sprung besetzt. Es steht bis­<br />

her nicht fest, ob die Vorgänge am Einzelleben erschöpfend<br />

durch die Gleichsetzung mit gleichartigen Merkmalsträgern<br />

beschrieben werden. Im Gegenteil: Man muß annehmen, daß wesent-<br />

liehe Aspekte <strong>der</strong> Lebenswelt <strong>der</strong> Menschen ausgeblendet bleiben,<br />

wenn die interpretierbaren Befunde nur jene Seiten <strong>der</strong> indivi­<br />

duellen Existenz betreffen, die als Wi<strong>der</strong>spiegelung kollektiver<br />

Zustände o<strong>der</strong> Bedingungskontexte gelten können. 9<br />

Dies leitet zur Frage des Medizinbildes über, das im Public-<br />

Health-Denken liegt. Es ist nicht das am Einzelfall <strong>der</strong> je­<br />

weiligen Erkrankung orientierte klinische Denken. Son<strong>der</strong>n an<br />

typischen Erkrankungsformen und -folgen ausgerichtete, durch<br />

Kosten-Nutzen-Kalkulation als Grundlage von Evaluationspro­<br />

grammen ausgewiesene diagnostisch-therapeutische o<strong>der</strong> - besser<br />

noch - präventive Maßnahmen werden zur Krankheitsbekämpfung<br />

favorisiert. Die traditionelle Standesmedizin wird demgegenüber<br />

eher mit Mißtrauen betrachtet.<br />

Somit steht nun das Wesen des medizinischen Geschehens selbst<br />

zur Debatte. Was ist das Wesen <strong>der</strong> Medizin? Alvan Feinsteins<br />

medizinphilosophische Analyse des klinischen Handelns stellt<br />

klar, daß dabei praktische Vernunft am Werk ist. Im Einzelfall


3 0<br />

je<strong>der</strong> Symptomkonstellation, die ' grundsätzlich einmalig ist,<br />

aber unter Typizitätsgesichtspunkten einem Krankheitsbild mit<br />

hypothetischer Genese und Prognose zugeordnet wird, so<br />

Feinstein, begleitet in je<strong>der</strong> Situation wie<strong>der</strong>holtes seriales<br />

klinisches Entscheiden den Vorgang <strong>der</strong> Diagnose und die auf<br />

Wie<strong>der</strong>herstellung des Patienten bedachte Therapie. Dabei dienen<br />

epidemiologische und an<strong>der</strong>e Forschungsdaten als Material, auf<br />

das sich die Entscheidung des Klinikers jeweils stützt. Die<br />

doppelte Individualität <strong>der</strong> klinischen Entscheidung - als<br />

Handeln am einzelnen und als prinzipiell einmaliges, i r ­<br />

reversibles situationales Tun - bleibt entscheidend. Feinstein<br />

schreibt über den Arzt, <strong>der</strong> im Einzelfall handelt:<br />

"Indem er die bestehenden Symptome und Zeichen identifiziert<br />

und indem er ihren Abweichungscharakter und ihre Dauer klassifiziert,<br />

stellt <strong>der</strong> Kliniker eine Liste <strong>der</strong> signifikanten<br />

Befunde zusammen, denen er seine vordringliche diagnostische<br />

und therapeutische Aufmerksamkeit widmet. Wenn er diese vorläufigen<br />

Bewertungen geleistet hat, ist er nun soweit, die<br />

hauptsächliche klinische Entscheidungsfindung vorzunehmen. Sein<br />

erster wichtiger Entscheidungsakt ist, die diagnostische Zuordnung<br />

<strong>der</strong> dauerhaften Befunde zu bestimmen. Je<strong>der</strong> Befund muß<br />

berücksichtigt werden und muß eine Diagnose erhalten, so daß<br />

<strong>der</strong> Befund einer bestimmten Erkrankung o<strong>der</strong> Kombination krankhafter<br />

Vorgänge zugerechnet wird...Nun kann die therapeutische<br />

Handlungsfindung (reasoning) beginnen" (1967:136).<br />

Klinisch-wissenschaftliche Praxis - nur sie genügt dem<br />

patientenbezogenen Orientierungsanspruch <strong>der</strong> Medizin - be­<br />

deutet, daß die Einmaligkeit des einzelnen Falls in <strong>der</strong> Nach­<br />

prüfbarkeit des Tuns aufgehoben ist; dabei ist jede Arzt-<br />

Patienten-Beziehung ein geson<strong>der</strong>ter Fall, den <strong>der</strong> Arzt ver­<br />

antwortet. "Wenn Wissenschaft von dimensionaler Messung ab­<br />

hinge", so Feinstein, "könnte ein Kliniker niemals Wissen­<br />

schaftler sein; er könnte nie mit <strong>der</strong> Schwierigkeit fertig­<br />

werden, daß er keine dimensionalen Ausdrücke für die vielen<br />

verschiedenartigen Phänomene am Krankenbett finden kann"<br />

(1967:61).' Der Ausweg, so Feinstein, ist Standardisierung des<br />

klinischen Handelns. Sie soll sich <strong>der</strong> Wissensbestände be­<br />

dienen, die im Arzt-Patient-Geschehen konkret gebraucht werden.<br />

Insbeson<strong>der</strong>e das Krankheitsgeschehen als Verlauf muß beachtet<br />

werden, wobei Genese und Prognose in <strong>der</strong> Krankengeschichte je­<br />

weils im Einzelfall zusammenfließen. Zielpunkt <strong>der</strong> Überlegungen<br />

Feinsteins ist eine Standardisierung des klinischen Handelns,


31<br />

weil nur sie allzu breitstreuende Vielfalt und Relativität be­<br />

grenzt und zudem unablässige Verständigung zwischen Ärzten vor­<br />

aussetzt. Immer wie<strong>der</strong> sollen die Wege und. Zwecke, die die<br />

ärztliche Arbeit in einem gegebenen Rahmen hat, miteinan<strong>der</strong> ab­<br />

geglichen werden. Der Stand <strong>der</strong> medizinischen Wissenschaft ins­<br />

gesamt soll dabei auf die Versorgungslage an einem Ort und in<br />

einer Zeitperiode bezogen werden. Diese Offenheit für den Fort­<br />

schritt, <strong>der</strong> jeweils orts- und zeitgebunden neue Entwicklungen<br />

bringt, ermöglicht stets für die Zukunft noch wirksamere Ab-<br />

gleichung <strong>der</strong> Vorgehensweisen.<br />

Hier berührt sich Feinsteins Aufriß <strong>der</strong> klinischen Entscheidung<br />

mit Wolfgang Wielands Erkenntnis, daß die Wissenschaftlichkeit<br />

<strong>der</strong> klinischen Medizin in ihrem Praxischarakter liegt (Wieland<br />

1975). Jenseits <strong>der</strong> Natur- und <strong>der</strong> Geistes- und Sozialwissen­<br />

schaften findet Wieland eine dritte Gruppe Wissenschaften, die<br />

zum Beispiel das Recht und die Medizin prägen. Bei diesen<br />

Praxiswissenschaften hat <strong>der</strong> singulare Akt <strong>der</strong> situations­<br />

gemäßen Entscheidung - in <strong>der</strong> Medizin ist es die Diagnose -<br />

wissenschaftlichen Wert. Wieland verweist darauf, daß "Medizin<br />

als praktische Wissenschaft" bedeutet:<br />

"Wenn praktische Wissenschaften primär nicht so sehr Erkenntnisse<br />

über das Handeln, son<strong>der</strong>n das Handeln selbst zum Ziel<br />

haben, so darf dies doch kein blindes Handeln sein. Es muß ein<br />

Handeln sein, das sich stets an Grundsätzen orientiert und das<br />

sich stets selbst muß darstellen, begründen und rechtfertigen<br />

können. Die praktischen Wissenschaften haben zu diesem Zweck<br />

beson<strong>der</strong>e Kategorien und Hilfsmittel entwickelt. In <strong>der</strong> Medizin<br />

gehört die Diagnose zu diesen Hilfsmitteln. Ihre Leistung besteht,<br />

unter diesen allgemeineren Gesichtspunkten betrachtet,<br />

vor allem darin, die Verbindung zwischen dem individuellen Fall<br />

und jenen allgemeinen Gesichtspunkten herzustellen, aus denen<br />

das Handeln gerechtfertigt werden kann" (1976:89).<br />

Ähnlich argumentiert Fritz Hartmann, <strong>der</strong> die klinische Aufgabe<br />

vor allem hinsichtlich chronischer Erkrankungen betrachtet. In<br />

Patient. Arzt und Medizin (1984) stellt er klar, daß ärztliche<br />

Anthropologie voraussetzt, nicht-epidemiologisch zu denken, er<br />

betont:<br />

"...daß es eine allgemeine, für jede Person, jede geschichtliche<br />

Zeit und jede soziale Lage gültige Aussage nicht geben<br />

kann. Es handelt sich um Handlungsbegriffe. In jedem Einzelfall<br />

wird nach Übereinstimmung zwischen Krankem, Arzt und Gemein-


32<br />

schaft gesucht. In <strong>der</strong> Regel vermittelt <strong>der</strong> Arzt zwischen<br />

Einzelnem, Gemeinschaft und Wissenschaft, die auch ein Teil von<br />

Gemeinschaft ist" (1984:15).<br />

Diese Bestimmung <strong>der</strong> Medizin paßt mit den Vorstellungen des<br />

Public-Health-Ansatzes nicht zusammen. Zwei Diskrepanzen seien<br />

hervorgehoben. Erstens steht für die klinische • Praxis im<br />

Mittelpunkt, daß <strong>der</strong> Einzelfall das Maß allen diagnostisch­<br />

therapeutischen Handelns ist. Demgegenüber sieht die Bevölke­<br />

rungsmedizin den Einzelfall methodisch als irrelevante Größe<br />

<strong>der</strong> biomathematisch exakten Messung und theoretisch als<br />

Konstrukt aus allgemeinen Sozialmerkmalen wie Geschlecht,<br />

Alter, Beruf usw. Mit an<strong>der</strong>en Worten: Während die klinische<br />

Praxis am Patienten das einmalige o<strong>der</strong> allenfalls typische<br />

diagnostisch-therapeutische Verlaufsgeschehen sieht, sieht die<br />

Bevölkerungsmedizin an ihm den homo sociologicus mit erwart­<br />

baren Erkrankungswahrscheinlichkeiten und berechenbaren Gesund­<br />

heitschancen. Zweitens ist die klinische Medizin darauf ange­<br />

wiesen, per Kasuistik zu beobachten; sie löst dabei am Einzel­<br />

fall das Problem, welche Symptomatik bei welchem Krankheitsbild<br />

durch welche biochemischen o<strong>der</strong> pathophysiologischen Mecha­<br />

nismen plausibel wird; erst darauf aufbauend und stets in Ver­<br />

bindung zur klinischen Variabilität <strong>der</strong> Verursachungsvorgänge<br />

führt die vergleichende Forschung einen systematischen Beweis<br />

über ätiologische Zusammenhänge. Demgegenüber ist die Bevölke­<br />

rungsmedizin kasuistisch blind und muß es sein; ihr Erklärungs­<br />

feld liegt bei den sozialen Gebilden, <strong>der</strong>en Risikostruktur und<br />

-Verteilung sie durch Forschung klärt und durch politisch­<br />

praktische Maßnahmenprogramme verbessern hilft.<br />

Medizin und Gesundheit<br />

Die Frage, die beim Vergleich <strong>der</strong> beiden Medizinformen einen<br />

Schritt weiterführt, richtet sich darauf, ob beide gleicher­<br />

maßen adäquat sind. Adäquat bezüglich was? Als Kriterium für<br />

Adäquanz verwende ich die Phänomenqualität <strong>der</strong> Gesundheit, die<br />

oben näher beschrieben wurde. Die Frage lautet dementsprechend:<br />

Ist die Bevölkerungsmedizin genauso wie die klinische Medizin<br />

fähig, <strong>der</strong> Alltagsgegebenheit <strong>der</strong> Gesundheit gerechtzuwerden?


33<br />

O<strong>der</strong> - so kann die Gegenfrage lauten - ist die Bevölkerungs­<br />

medizin besser o<strong>der</strong> schlechter als die klinische Medizin ge­<br />

eignet, <strong>der</strong> Gesundheit als einem Alltagsphänomen einen Verwirk­<br />

lichungsspielraum zu gewährleisten?<br />

Gesundheit als Alltagsphänomen bedeutet, daß man solange frag­<br />

los voraussetzt, daß man sie hat, als nicht durch Schmerzen<br />

o<strong>der</strong> merkliche Funktionseinschränkungen <strong>der</strong> Punkt erreicht<br />

wird, wo man feststellt, daß sie möglicherweise gefährdet o<strong>der</strong><br />

bereits verloren ist. Das heißt, als alltägliche Gegebenheit<br />

bringt die Gesundheit mit sich, keine dauernden Schutz- o<strong>der</strong><br />

Stützhandlungen zu erfor<strong>der</strong>n, die sie erhalten.<br />

Historisch war die Sozialmedizin, <strong>der</strong> es um Beeinflussung <strong>der</strong><br />

Gesundheit <strong>der</strong> Gesamtbevölkerung durch betriebliche, kommunale<br />

und landesweite Programme geht, höchst erfolgreich. Die<br />

Cholerabekämpfung gelang durch Kanalisation und Abwässerklär-<br />

wefke, die Pestausrottung durch Müllentsorgung, die Tuberku­<br />

losebekämpfung durch Einrichtung öffentlicher Parks, Verbesse­<br />

rung <strong>der</strong> Licht-Luftverhältnisse <strong>der</strong> privaten Wohnungen, Schul­<br />

speisung etc. - um nur einige Leistungen <strong>der</strong> Infrastruktur und<br />

Lebensgestaltung mittels öffentlicher Gesundheitspflege zu<br />

nennen. Im Rahmen <strong>der</strong> umweltmedizinisch begründeten Public-<br />

Health-Medizin des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts gelangen Verbesserungen des<br />

allgemeinen Gesundheitszustandes <strong>der</strong> Bevölkerung, und sie<br />

wurden in den folgenden Jahrzehnten durch Reihenuntersuchungen<br />

ganzer Bevölkerungsgruppen (in Schulen, Betrieben etc.) laufend<br />

1 0<br />

kontrolliert (Labisch 1992).<br />

Parallel verän<strong>der</strong>te sich zudem <strong>der</strong> Bereich Hygiene. Das in <strong>der</strong><br />

zweiten Hälfte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts gewonnene Wissen über die<br />

Bedeutung <strong>der</strong> Mikroben für Infektionen inspirierte die erfolg­<br />

reiche Aufklärung <strong>der</strong> Bevölkerung darüber, daß Körperhygiene<br />

Gesundheitsschutz gewährleistet. Die Medizin orientierte - nach<br />

jahrelanger Skepsis - ihre mo<strong>der</strong>nen Regeln <strong>der</strong> Sterilität im<br />

klinischen Arbeitsbereich an den Vorgaben mikrobentheoretisch<br />

begründeter Hygiene.


34<br />

George Rosen (1958) argumentiert, daß die Öffentlichkeits­<br />

medizin, <strong>der</strong>en große Erfolge im späten neunzehnten Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

unbestreitbar waren, für ihre Verdienste wenig Lob erhielt.<br />

Statt dessen erntete die neue naturwissenschaftlich begründete<br />

Labormedizin einen Teil <strong>der</strong> Lorbeeren, die <strong>der</strong> Public-Health-<br />

Medizin zugestanden hätten. Die Öffentlichkeitsmedizin, so<br />

stellt er dar, legte das Paradigma <strong>der</strong> Miasma-Verursachung von<br />

Erkrankungen zugrunde - daher war logisch und richtig, bei­<br />

spielsweise öffentliche Parks, Kanalisation etc. als krank-<br />

heitsverhin<strong>der</strong>nde Einrichtungen zu begreifen und zu finan­<br />

zieren. Die segensreiche Wirkung <strong>der</strong> seit den vierziger Jahren<br />

des vorigen Jahrhun<strong>der</strong>ts durchgesetzten Public-Health-Maßnahmen<br />

wurde allerdings erst nach 1880 fühlbar, und dann gerade in<br />

jenen Jahrzehnten, als das neue Erklärungsparadigma <strong>der</strong> Mikro­<br />

organismen rasant bekannt wurde. Das neue Denken baute auf <strong>der</strong><br />

Arbeit <strong>der</strong> Forschung auf, die das Miasma-Modell<br />

weiterentwickelt und schließlich überwunden hatte, schreibt<br />

Rosen, und zugleich verbuchte es die dankbare Bewun<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />

Allgemeinheit für die Verbesserung <strong>der</strong> Gesundheitslage allein<br />

für sich, obwohl diese auch die Erfolge <strong>der</strong> öffentlichen<br />

Maßnahmen spiegelte, die mit dem Miasma-Modell begründet worden<br />

waren. Die naturwissenschaftlich begründete Lehre heimste<br />

damals die Anerkennung ein, die teilweise auch <strong>der</strong> nunmehr<br />

obsoleten Miasma-Medizin und den Public-Health-Programmen<br />

gebührt hätte.<br />

Die Erfolgshoffnungen sozialmedizinisch begründeter Programme<br />

in <strong>der</strong> zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhun<strong>der</strong>ts können sich<br />

indessen nicht mehr auf dieselben Kriterien wie im 19. Jahr­<br />

hun<strong>der</strong>t stützen. Die vorrangigen Mortalitätsursachen liegen<br />

heute bei chronischen Erkrankungen; <strong>der</strong>en Ätiologie ist oft un­<br />

klar o<strong>der</strong> läßt mehrere Erklärungsmodelle zu. Die Genese<br />

chronischer Krankheiten, etwa des Krebses o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Herz-<br />

Kreislauf -Leiden, ist nur bedingt - und zudem vorwiegend zu­<br />

folge epidemiologischer Befunde anstatt auch durch klinische<br />

Forschung - auf die bekannten. Risikoverhaltensweisen und<br />

Risikolebensstile zurückzuführen. Diese sollen durch die<br />

Gesundheitserziehung nunmehr beeinflußt werden, aber es steht<br />

nicht fest, ob die wissenschaftliche Grundlage dafür überzeugt.


35<br />

Die Assoziation zwischen Krankheitsvermeidung und Verhaltens­<br />

än<strong>der</strong>ung in <strong>der</strong> heutigen Public-Health-Medizin ist nicht in<br />

<strong>der</strong>selben Weise naheliegend wie die Verzahnung zwischen <strong>der</strong><br />

Epidemienbekämpfung und <strong>der</strong> öffentlichen Gesundheitspflege im<br />

19. Jahrhun<strong>der</strong>t.<br />

Die Frage ist, ob die Bevölkerungsmedizin in ähnlicher Weise<br />

wie die klinische Praxis mit <strong>der</strong> Phänomenqualität <strong>der</strong> Gesund­<br />

heit zurechtkommt. Die klinische Medizin, so behauptet Luhmann<br />

bezüglich "medizinischem Code", interessiert sich zunächst<br />

überhaupt nicht für Gesundheit, im Gegenteil, son<strong>der</strong>n nur für<br />

Krankheitszustände und -tatbestände. Die Gesundheit ist ihr<br />

kein Thema: er nennt sie den Negativwert des ärztlich-medizi­<br />

nischen Denkens und Handelns.<br />

Gegen Luhmann ist allerdings klarzustellen, daß Gesundung stets<br />

das Ziel des klinischen Handelns ist. Grundsätzlich wird die<br />

Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> Gesundheit bzw. eines gesund­<br />

heitsäquivalenten Funktionszustandes angestrebt, in Grenzfällen<br />

Erhaltung des Lebens als des nächstmöglich gesundheitsoffenen<br />

Zustandes. Vor diesem Hintergrund ist die klinische Medizin<br />

nicht interessiert am einzelnen, solange er o<strong>der</strong> sie gesund<br />

ist. Beziehungsweise: Solange <strong>der</strong> einzelne sich gesund findet<br />

und daher voraussetzt, daß er o<strong>der</strong> sie nichts "hat", also keine<br />

Erkrankung besteht, ist auch kein Kontakt mit <strong>der</strong> Institution<br />

Medizin zu erwarten. Die klinische Medizin läßt somit die<br />

Phänomenqualität <strong>der</strong> Gesundheit unberührt. Weil und insofern<br />

sie sich für den einzelnen nur interessiert, <strong>der</strong> krank ist o<strong>der</strong><br />

sich krank fühlt, bleibt die Klinik - als allgemeines ärzt­<br />

liches Tätigkeitsfeld - unverbunden zur Gesundheit als A l l ­<br />

tagsphänomen. Ärztliches Tun und fraglos vorausgesetzter<br />

Funktionszustand Gesundheit im gesellschaftlichen Alltag<br />

ergänzen einan<strong>der</strong>, laufen parallel, überschneiden sich jedoch<br />

kaum. In diesem Sinne kann die Frage <strong>der</strong> Beziehung zwischen<br />

professioneller Medizin und Gesundheit folgen<strong>der</strong>maßen beant­<br />

wortet werden:<br />

"Was hat die Gesundheit mit <strong>der</strong> Medizin zu tun?... Erstens kann<br />

man sagen, Gesundheit hat mit Medizin sehr viel zu tun, solange<br />

die Medizin sich darauf richtet, Krankheiten, an denen Menschen<br />

leiden, soweit zu lin<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> zu heilen, daß ein optimal


36<br />

gesun<strong>der</strong> o<strong>der</strong> gesundheitsähnlicher Zustand (wie<strong>der</strong>-)hergestellt<br />

wird. Der hippokratische Eid, dem je<strong>der</strong> Arzt sich verpflichtet,<br />

faßt in diesem Sinne Gesundheit als das Wesen <strong>der</strong> Medizin auf.<br />

Zweitens kann man sagen, Gesundheit sollte mit <strong>der</strong> Medizin<br />

nichts zu tun haben, solange man sie - die Gesundheit - 'hat'"<br />

(Gerhardt 1993c:44).<br />

Demgegenüber ist die Gesundheit in <strong>der</strong> Bevölkerungs- o<strong>der</strong><br />

Public-Health-Medizin auch bei nicht vorhandener Erkrankung<br />

Thema <strong>der</strong> Gesundheitserziehung. Diese bemüht sich, den Indivi­<br />

duen bei ihren Alltagsverrichtungen des Essens o<strong>der</strong> Trinkens,<br />

<strong>der</strong> Arbeits- o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Freizeitgestaltung, ganz zu schweigen von<br />

Schlaf o<strong>der</strong> Sexualität, nahezulegen, den Gesichtspunkt zu be­<br />

rücksichtigen, Gesundes bewußt zu tun und Ungesundes möglichst<br />

zu unterlassen. Ein Ziel <strong>der</strong> Gesundheitswissenschaften ist, die<br />

Gesundheitserziehung sicherzustellen; <strong>der</strong>en unwillkürliche<br />

Begleiterscheinung ist wie<strong>der</strong>um, daß das Alltagsphänomen<br />

Gesundheit in Frage gestellt wird. Die Public-Health-Medizin<br />

versucht, beim einzelnen an die Stelle irrationaler Verhaltens­<br />

routinen eine bewußte und auch rationale Gestaltung seines<br />

Lebens im Dienste <strong>der</strong> Gesundheit zu setzen; dabei wendet sie<br />

sich gerade gegen jene selbstverständliche Nichtthematisierung<br />

des Gesundheitszustandes, <strong>der</strong> im Alltag allererst bedeutet, daß<br />

man Gesundheit "hat".<br />

Die Hintergründe <strong>der</strong> Medikalisierung <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

Irving Zola hat Anfang <strong>der</strong> siebziger Jahre auf die Gefahr hin­<br />

gewiesen, daß Medikalisierung <strong>der</strong> Gesellschaft droht. Er ver­<br />

weist auf die Verengung <strong>der</strong> Spielräume des Individuellen bei<br />

immer breiterer Ausweitung <strong>der</strong> Definitionsspielräume für<br />

gesundheitsrelevantes und daher durch bewußte Lebensführung zu<br />

kontrollierendes Verhalten. Insgesamt will er vor <strong>der</strong> Gefahr<br />

warnen, daß versicher'ungsrechtlich o<strong>der</strong> politisch Konsequenzen<br />

aus gesundheitsschädigendem Verhalten angedroht o<strong>der</strong> gezogen<br />

werden, was dazu führen könnte, daß "im Namen von Gesundheit<br />

und Krankheit" dem einzelnen Freiheitsspielräume <strong>der</strong><br />

Selbstverwirklichung entzogen o<strong>der</strong> zerstört werden (Zola 1972,<br />

1975) .


37<br />

Christian von Ferber identifiziert die Gefahren <strong>der</strong> Medikali-<br />

sierung mit <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen professionalisierten<br />

Medizin, die erst durch die sozialpolitischen Sicherungs­<br />

leistungen <strong>der</strong> Gesetzlichen Krankenversicherung voll ausgebaut<br />

wurde. Er erläutert: "Arztzentrierte und naturwissenschaftlich­<br />

technische Medizin und sozialstaatliche Finanzierung und Orga­<br />

nisation des Gesundheitswesens bedingen und verstärken einan<strong>der</strong><br />

in vielfältiger Weise" (1989:633), und er meint damit "im<br />

wesentlichen das Entstehen einer Dienstleistungswirtschaft<br />

'Gesundheitswesen' und die damit verbundene Berufsfeldsicherung<br />

für die Ärzte" (ibid) . Letztlich, so folgert er, sei die Medi-<br />

kalisierung <strong>der</strong> Gesellschaft die Folgeerscheinung <strong>der</strong> Ver­<br />

wissenschaftlichung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Medizin:<br />

"Der fortschreitenden Zweckrationalität, <strong>der</strong> Verwissenschaftlichung,<br />

Technisierung und Bürokratisierung verdanken schließlich<br />

auch die Systeme sozialer Sicherheit ihre Existenz. Dieser<br />

zivilisatorische Prozeß verbindet Medikalisierung und sozialstaatliche<br />

Gesundheitspolitik" (636).<br />

Der professionellen Machtfülle setzt er als Alternative ent­<br />

gegen: Naturheilkunde, "Wie<strong>der</strong>belebung und Reorganisation <strong>der</strong><br />

kommunalen Gesundheits- und Sozialpolitik" (641) und insbe­<br />

son<strong>der</strong>e die "Selbsthilfebewegung: Sie verfolgt eine doppelte<br />

Strategie: einmal die Wie<strong>der</strong>- und Neubelebung <strong>der</strong> Laienkultur<br />

in <strong>der</strong> Heilkunde...; auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite werden neue Chancen<br />

<strong>der</strong> Partizipation erschlossen" (642). Daß darin ein<br />

"kulturelles und politisches Gleichgewicht zur Medikalisierung"<br />

wirksam werden könne, setze allerdings voraus, daß die Reform­<br />

bestrebungen zur Stärkung <strong>der</strong> Laienkultur "das überkommene<br />

Bündnis von Medikalisierung und sozialpolitischer Gesundheits­<br />

politik lockern und z.T. lösen werden" (ibid.). Von Ferber<br />

führt die Medikalisierung <strong>der</strong> Gesellschaft auf die Verwissen­<br />

schaftlichung und Arztzentrierung <strong>der</strong> Medizin zurück, <strong>der</strong>en<br />

Privilegien durch den Sozialstaat verfestigt wurden. Zum Beleg<br />

verweist er auf die "sozialen Funktionen einer biomechanischen<br />

Medizin", insbeson<strong>der</strong>e dabei die ärztliche Begutachtung <strong>der</strong><br />

Arbeitsunfähigkeit sowie <strong>der</strong> Erwerbs- und Berufsunfähigkeit und<br />

weiterhin die Aufgaben bei <strong>der</strong> Feststellung von Rehabili­<br />

tationsaussichten und/o<strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung. Diese Funktionen sieht<br />

er als "Spitze des Eisbergs einer Medizin im Dienste <strong>der</strong>


38<br />

besseren Anpassung <strong>der</strong> Menschen an gesellschaftliche Anforde­<br />

rungen", wobei für <strong>der</strong>en Hilfeangebot beispielhaft seien:<br />

Schmerz- und Beruhigungsmittel, Mittel zur. Familienplanung,<br />

Aknemittel, kosmetische Chirurgie usw. (639).<br />

Treffen sich <strong>der</strong>artige Überlegungen mit Luhmanns Setzungen <strong>der</strong><br />

"abson<strong>der</strong>lichen" Negativ-Positiv-Spanne des "medizinischen<br />

Code"? Bei erstem Hinsehen scheint es, daß Luhmann, <strong>der</strong> bei <strong>der</strong><br />

Medizin ungelenkte Ausdifferenzierung von Krankheitskonstruk­<br />

tionen sieht, dasselbe sagt wie von Ferber, <strong>der</strong> die pro­<br />

fessionelle Autonomie <strong>der</strong> Medizin kritisiert. Von Ferber will<br />

die durch den Sozialstaat gestärkte Machtfülle <strong>der</strong> Ärzteschaft<br />

anprangern. Aber Luhmann richtet seine Analyse auf einen<br />

an<strong>der</strong>en Punkt. Ihm geht es um die Fokussierung <strong>der</strong> klinischen<br />

Medizin auf aktuelle Krankheiten, worin er eine rationale Stra­<br />

tegie <strong>der</strong> Reaktion auf die unzweifelhafte Unsicherheit aller<br />

Zukunft erkennt:<br />

"Die Verlagerung des Schwerpunkts von Infektionskrankheiten auf<br />

Zivilisationskrankheiten, also auf Krankheiten, die auf schwer<br />

zu kontrollierende Weise als Resultat <strong>der</strong> Lebensführung auftreten,<br />

erweitert den Relevanzbereich des Systems auf die<br />

gesamte Lebensführung...[So] verlagert sich über die zunehmende<br />

Bedeutung <strong>der</strong> Zivilisationskrankheiten die Ansprechbarkeit,<br />

fast müßte man sagen: die Reizbarkeit und die Resonanzfähigkeit<br />

des Systems <strong>der</strong> Krankenbehandlung in einer Weise, die wissensmäßige,<br />

kommunikationspraktische, organisatorische und nicht<br />

zuletzt finanzielle Folgen nach sich zieht. Und typisch ist die<br />

Konsequenz, daß die Aktivitäten des Systems zu spät einsetzen.<br />

Das hat gute rationale Gründe, wenn man die Ungewißheit <strong>der</strong> Zukunft<br />

bedenkt. Bei einer rationalen Einstellung zu Risiken ist<br />

es oft richtiger, den Schadenseintritt abzuwarten, als viel in<br />

(wahrscheinlich unnötige) Vorbeugung zu investieren. Ja, in dem<br />

Maße als ein System Schäden verkraften und ausgleichen kann,<br />

wird es rationaler, auf diese Fähigkeit zu setzen, statt zu<br />

versuchen,<br />

X 1<br />

192) .<br />

alles Denkbare zu verhin<strong>der</strong>n" (Luhmann 1990:191-<br />

Verhin<strong>der</strong>ung alles Denkbaren - auf diesen Begriff kann man die<br />

Initiativen des "neuen Public Health" bringen. Bereits im Vor­<br />

feld ihrer Entstehung sollen (tendentielle o<strong>der</strong> tatsächliche)<br />

Massenerkrankungen - so beispielsweise anerkanntermaßen Herz-<br />

Kreis lauf -Leiden o<strong>der</strong> neuerdings Hautkrebs - durch Prävention<br />

abgefangen werden, wobei Maßnahmen <strong>der</strong> öffentlichen Gesund­<br />

heitsför<strong>der</strong>ung eingesetzt werden. Diese Maßnahmen umfassen<br />

Interventionsprogramme, die die Individuen mit mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong>


39<br />

sanftem Zwang dazu veranlassen sollen, bei den Alltagsverrich­<br />

tungen des Essens, Trinkens, Sich-Bewegens, Liebens, Schlafens<br />

etc. jeweils das Gesunde zu tun und das Ungesunde zu lassen -<br />

analog <strong>der</strong> erwähnten Maxime <strong>der</strong> Nordkarelienstudie "Was gesund<br />

ist, ist gut, was ungesund ist, ist schlecht". *<br />

Wer bestimmt nun, so muß man weiter fragen, was gesund und<br />

daher gut und was ungesund und daher schlecht ist? Die wissen­<br />

schaftliche Begründung <strong>der</strong> gesundheitspolitischen Interven­<br />

tionsprogrammatik im "neuen Public Health" wird in denselben<br />

epidemiologischen Großstudien gesucht, <strong>der</strong>en "Moral" durch die<br />

Maxime <strong>der</strong> Nordkarelienstudie plastisch verdeutlicht wird. In<br />

den Studien und auch in <strong>der</strong> aus ihnen begründeten Interven­<br />

tionspolitik steckt offen o<strong>der</strong> implizit eine weltanschauliche<br />

Vordefinition dessen, was als gesund bzw. gesundheitsför<strong>der</strong>nd<br />

gelten soll.<br />

In einem geschichtlichen Aufriß <strong>der</strong> Konzeptionen des Public<br />

Health in Deutschland verweist Gunnar Stollberg darauf, daß<br />

dabei eine weltanschauliche Komponente vielfach nicht wahrge­<br />

nommen wird; daher bleibe die Public-Health-Debatte meist blind<br />

gegen die Zwangselemente, die in ihrem eigenen Konzept stecken.<br />

Stollberg zitiert zunächst folgende Definition Baduras:<br />

"'Public Health bemüht sich um wissenschaftliche und praktische<br />

Bewältigung von Problemen, die den Gesundheitszustand, ganzer<br />

Populationen betreffen; insbeson<strong>der</strong>e Entstehung und Verbreitung<br />

von Massenkrankheiten; Gesundheitsför<strong>der</strong>ung und Prävention;<br />

Planung, Organisation und Lenkung von Gesundheitseinrichtungen;<br />

Politik und Ökonomie des Gesundheitswesens'", und er fährt<br />

fort: "Historische Definitionen von medizinischer Polizei, von<br />

Sozialmedizin, Sozialhygiene, öffentlicher Gesundheitsfürsorge<br />

u.a. sind ähnlich gewesen" (Stollberg 1993:1). Er zeigt, daß<br />

Einschränkung <strong>der</strong> individuellen Handlungsfreiheit durch staat­<br />

liche Maßnahmen <strong>der</strong> Gesundheitskontrolle durchaus zum Arsenal<br />

präventiver Programmatik gehört: Seit dem fünfzehnten Jahr­<br />

hun<strong>der</strong>t gibt es Krankheitsbekämpfung und Vorbeugung durch<br />

Behörden mit Eingriffsrechten in die Bewegungs- und Handlungs­<br />

freiheit <strong>der</strong> einzelnen; während Gesundheit im liberalen Vormärz<br />

als soziales Recht galt, das den Schutz des Staates für die


40<br />

Armen erfor<strong>der</strong>te, wurde Gesundheit im späten 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

als Resultat städtischer Umwelthygiene erkannt. Daraus bildete<br />

sich eine Hygienebewegung, die unter <strong>der</strong> Thematik <strong>der</strong> Sozial­<br />

hygiene auch rassische Eugenik einbezog. Aus <strong>der</strong> Perspektive,<br />

daß die Rassenhygiene des Nationalsozialismus an die früheren<br />

Hygieneprogramme anknüpfte, was man heute nicht vergessen<br />

solle, warnt Stollberg vor den Implikationen <strong>der</strong> neuen gesund­<br />

heitspolitischen Kontrollprogramme:<br />

"Die Rassenhygiene hat sich um den Gesundheitszustand einer als<br />

Ganzheit begriffenen Population bemüht; um Prävention und<br />

Gesundheitsför<strong>der</strong>ung war es ihr in beson<strong>der</strong>er Weise zu tun. Die<br />

Lenkung von Gesundheitspolitik lag durchaus in ihrem Blickfeld.<br />

Insofern muß im Sinne von Baduras Definition auch die Rassenhygiene<br />

als eine Konzeption von Public Health begriffen werden.<br />

Überdies wurde sie von einer zeitgenössischen sozialen Bewegung<br />

aufgegriffen. Daß die Rassenhygiene insofern in die Ahnenreihe<br />

von Public Health-Konzeptionen gehört, sollte für die Gegenwart<br />

bedenklich stimmen" (1993:10-11).<br />

Hier wird die Interventionslogik <strong>der</strong> Präventionsprogramme des<br />

"neuen Public Health" problematisiert: Man kann also nicht<br />

davon ausgehen, daß die Public-Health-Stellen, die sich um die<br />

Verbesserung <strong>der</strong> gesundheitlichen Situation einer Bevölkerung<br />

bemühen, eo ipso das "bessere Wissen" haben und auch das<br />

Richtige tun. Es wäre ebensogut denkbar, daß hier ein neues<br />

Expertentum mit gesundheitswissenschaftlichem Selbstbewußtsein<br />

entsteht, das sich selbst als Gegenkraft gegen das Expertentum<br />

<strong>der</strong> Medizin setzt. Deren professionelle Kompetenz mag mit viel­<br />

fältigen Begründungen als inadäquat o<strong>der</strong> sogar gesundheitlich<br />

kontraproduktiv abgelehnt werden - siehe beispielsweise von<br />

Ferbers Kritik an <strong>der</strong> Medikalisierung durch die Medizin. Aber<br />

die weltanschauliche Einseitigkeit, die in den Argumentationen<br />

gegen das klinische Denken und Handeln steckt, ist unüberseh­<br />

bar. Am deutlichsten wurde sie in Ivan Illichs polemischem<br />

Essay Die Nemesis <strong>der</strong> Medizin (1975). Er bezweifelte die<br />

Leistungskompetenz <strong>der</strong> professionellen Medizin und propagierte<br />

eine Rückkehr zur Natur des "nichtentfremdeten" Lebens und<br />

Leidens. Dabei wurden <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Klinik Fehlentwicklungen zur<br />

Last gelegt, die die Kultur und selbst die Selbstbestimmung des<br />

Menschen zerstört hätten. Illichs Thesen waren mehr als ein<br />

Jahrzehnt bis in die zweite Hälfte <strong>der</strong> achtziger Jahre en<br />

yocrue, obwohl heute ihr Dilettantismus durchschaut wird. Aber


41<br />

die Kritik an <strong>der</strong> professionellen Medizin, die Iiiich mit<br />

Behauptungen und Pseudo-Daten stützte, wird heute in <strong>der</strong><br />

Begründung <strong>der</strong> Gesundheitswissenschaften mit an<strong>der</strong>en Mitteln<br />

vielfach weitergeführt.<br />

Das neue Expertentum, das sich aufgrund <strong>der</strong> Public-Health-<br />

Bestrebungen entwickeln dürfte, könnte zwar eine ähnlich<br />

klinikfeindliche Haltung wie Iiiich einnehmen, aber an<strong>der</strong>er­<br />

seits Kritik am eigenen Wissenbestand und den Grundlagen <strong>der</strong><br />

Präventionsprogramme nicht zulassen o<strong>der</strong> nicht ernst nehmen. In<br />

<strong>der</strong> Medizin werden heute rasante Fortschritte gemacht, die zur<br />

dauernden Fortentwicklung <strong>der</strong> Diagnose und Therapie veran­<br />

lassen. Es ist fraglich, ob die Public-Health-Medizin, die<br />

gerade dies an <strong>der</strong> klinischen Praxis als Technikorientierung<br />

kritisiert, ihrerseits selbst fortschrittsfreundlich wäre. Es<br />

wäre ebenso denkbar, daß die Öffentlichkeitsmedizin ihre Inter­<br />

ventionslogik absolut setzt und nicht auf die wohlmeinenden<br />

ernstzunehmenden Kritiker hört, die ihr dann aus den Reihen <strong>der</strong><br />

klinischen Profession sicherlich entgegentreten.<br />

Die Medikalisierung <strong>der</strong> Gesellschaft, die kritisiert wird von<br />

einem Standpunkt aus, <strong>der</strong> am Freiheitsspielraum des einzelnen<br />

- auch als Krankem - interessiert ist, entsteht einerseits<br />

aufgrund dessen, daß alltägliche Tätigkeiten und die<br />

Lebensweise in die Definition des Gesunden bzw. <strong>der</strong> Gesundheit<br />

einbezogen werden. Gesundes Leben, wie bekannt, ist explizit<br />

Ziel <strong>der</strong> Public-Health-Bemühungen. Da dies auf Umgestaltung <strong>der</strong><br />

Lebensgewohnheiten hinzielt, ist die Medikalisierung <strong>der</strong><br />

gesellschaftlichen Lebensaspekte eher eine Gefahr, die von <strong>der</strong><br />

Öffentlichkeitsmedizin ausgeht, und weniger eine, die durch die<br />

klinische Medizin vergrößert wird. Im allgemeinen interessieren<br />

sich Ärzte wenig für die Probleme <strong>der</strong> Lebensweise - man wirft<br />

ihnen deshalb sogar vielfach in <strong>der</strong> Literatur vor, sie achteten<br />

allzu wenig auf die aus Patienten- o<strong>der</strong> Laienperspektive<br />

wichtigen Fragen <strong>der</strong> Lebensweise.<br />

An<strong>der</strong>erseits ist nicht sicher, ob mehr Freiheit <strong>der</strong> einzelnen<br />

aus mehr Public Health resultiert. Die Gefahr einer Verbürokra­<br />

tisierung o<strong>der</strong> Semi-Professionalisierung des Public-Health-


42<br />

Sektors besteht, falls eines Tages entsprechende Berufsfel<strong>der</strong><br />

geschaffen werden, die für die Kommunen o<strong>der</strong> den Staat befrie­<br />

digend arbeiten.<br />

Medikalisierung kann indessen auch noch unter einem ganz<br />

an<strong>der</strong>en Gesichtspunkt betrachtet werden. Parsons sah in ihr in<br />

den späten fünfziger Jahren ein Anzeichen für gesellschaft­<br />

lichen Fortschritt zu mehr Humanität. Er führte an, daß Ab­<br />

weichungen von den Normen <strong>der</strong> Normalität bis in die erste<br />

Hälfte unseres Jahrhun<strong>der</strong>ts vornehmlich mit den Begriffen<br />

Kriminalität und Sünde belegt waren. Dementsprechend war - vor<br />

allem in <strong>der</strong> säkularisierten Industriegesellschaft - das<br />

Bestrafungsparadigma richtungweisend. Mehr und mehr wurde es<br />

durch ein therapeutisches Denken abgelöst, das nun bei Ab­<br />

weichungen, die früher kriminell gewesen waren, krankhafte Vor­<br />

gänge erkannte. Beispielsweise wurde Homosexualität bis in die<br />

jüngste Vergangenheit nach dem Strafgesetzbuch geahndet,<br />

gleichzeitig und danach wurde sie - unter dem Einfluß <strong>der</strong><br />

Psychoanalyse - ein Krankheitstatbestand, <strong>der</strong> medizinisch zu<br />

therapieren war. (Heute kündigt sich an, daß darin eine eigene<br />

Normalitätsform liegt). Zugleich wurden in den letzten Jahr­<br />

zehnten Alkohol- und Drogenabusus, Übergewicht, Hyperaktivität<br />

o<strong>der</strong> Aggressivität zu pathologischen Tatbeständen, jedenfalls<br />

insofern, als von ihnen angenommen wird, daß sie therapeutisch<br />

beeinflußbar sind. Derartige Störungen können also, so ist<br />

heute selbstverständlich, durch Behandlung gebessert werden -<br />

wobei die Medizin gleich o<strong>der</strong> mehr behandlungskompetent ist als<br />

die Sozialarbeit, Selbsthilfe etc.<br />

Aber Parsons geht noch einen Schritt weiter. Die heutige<br />

Gesellschaft, in <strong>der</strong> hoher Wert auf gute und genaue Verhaltens­<br />

gestaltung gelegt wird, so erläutert er, verlangt mehr Normen­<br />

treue als frühere Gesellschaften. Dabei ist Gesundheit<br />

beson<strong>der</strong>s geistige Zurechnungsfähigkeit, also psychische<br />

Gesundheit - wichtiger als in vergangenen Epochen. Er schreibt<br />

dazu:<br />

"Die amerikanische Gesellschaft ist...vielleicht so differenziert<br />

wie überhaupt irgend je eine, ganz sicher differenzierter<br />

als jene außerhalb <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen westlichen Welt. Aber unter den<br />

hochdifferenzierten Gesellschaften fällt sie auf, weil sie


43<br />

großen Nachdruck auf das Feld und die Probleme von Krankheit<br />

und Gesundheit legt im Verhältnis zu an<strong>der</strong>en Fel<strong>der</strong>n und Problemen,<br />

vielleicht mehr als irgendwo sonst. Es ist auch klar,<br />

daß unsere Sorge um Gesundheitsprobleme seit <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>twende<br />

stark gestiegen ist, und ferner, daß das Phänomen neu<br />

ist, daß das Problem <strong>der</strong> geistigen Gesundheit so herausragend<br />

wichtig ist...Tatsache ist, daß im Zuge <strong>der</strong> Industrialisierung,<br />

Urbanisierung, fortgeschrittenen Technisierung, Massenkommunikation<br />

und vielen an<strong>der</strong>en Seiten unserer Gesellschaft die Verantwortung,<br />

die <strong>der</strong> einzelne trägt, insgesamt auf eine an<strong>der</strong>e<br />

Ebene angehoben wurde. Das Leben ist notwendigerweise komplexer<br />

und stellt höhere Anfor<strong>der</strong>ungen an das typische Individuum, obwohl<br />

verschieden auf verschiedenen Ebenen. Bereits das Problem,<br />

wie die Anfor<strong>der</strong>ungen zu erfüllen sind, ist daher viel<br />

schwieriger geworden. Infolgedessen wächst die Motivation, sich<br />

in die Krankheit auf psychiatrische (mental) o<strong>der</strong> psychosomatische<br />

Weise zurückzuziehen. Entsprechend wächst die Bedeutung<br />

<strong>der</strong> wirksamen Mechanismen des Coping, mit denen diejenigen,<br />

die sich <strong>der</strong>art zurückziehen, behandelt werden"<br />

(1958/1964:273, 281).<br />

Damit ist ausgesagt, daß die therapeutische soziale Kontrolle,<br />

die den einzelnen zur Normalität des Alltags zurückführt,<br />

v humaner ist als die Bestrafung. Während in früheren Zeitaltern<br />

obrigkeitliche Gewalt gegen Leib und Leben <strong>der</strong> Betoffenen vor­<br />

herrschte, um Abweichungen vom Normalltag zu ahnden, ist heute<br />

die - sozusagen - sanftere Gewalt <strong>der</strong> Therapie mo<strong>der</strong>n. Sie will<br />

x den einzelnen nicht brandmarken, son<strong>der</strong>n durch Behandlung in<br />

seine Lebensumwelt re-integrieren. Diese Medikalisierung <strong>der</strong><br />

Gesellschaft ist, so Parsons, eine angemessene Antwort auf die<br />

Verän<strong>der</strong>ung des typischen Abweichungsmusters in unserem Jahr­<br />

hun<strong>der</strong>t. In <strong>der</strong> demokratischen Industriegesellschaft ist heute<br />

die typische Nichtnormalität eher Krankheit als Kriminalität,<br />

so Parsons, und dies wie<strong>der</strong>um eher als psychisch-<br />

psychosomatische denn als ("rein") körperliche Erkrankung.<br />

Diese psychische Seite bedeutet Rückzug aus dem sozialen<br />

Lebensgefüge als typischer Devianz vom Normalen, anstatt<br />

gewalttätiger Handlungen, die die Grenzen zur Lebenssphäre <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>en verletzen. Krankheit ist die mo<strong>der</strong>ne Form <strong>der</strong><br />

Abweichung vom Normalen, so Parsons, und die Medikalisierung<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft entspricht dieser "Wende zum eigenen Ich und<br />

Körper".<br />

Letzterer Gedanke, so kann man festhalten, ist dem<br />

Phänomencharakter <strong>der</strong> Gesundheit kommensurabel. Wenn sich<br />

therapeutische anstatt bestrafende Behandlungsmodelle auch für


44<br />

Abweichungen wie Alkoholabusus etc. durchsetzen konnten, wird<br />

damit nicht ausgeschlossen, daß sie-erst "greifen", wenn Kranke<br />

aus eigenem Entschluß einen Arzt aufsuchen - anstatt durch die<br />

Funktionspersonen o<strong>der</strong> Aspekte <strong>der</strong> Präventionsprogramme<br />

ihrerseits aufgesucht und zur "Selbstbehandlung" veranlaßt zu<br />

werden.<br />

Prolegomina zu einem soziologischen Gesundheitsverständnis<br />

Thema dieses Arbeitspapiers sind Konsequenzen für Theorie und<br />

Methodologie von Public Health, die sich daraus ergeben, daß<br />

Gesundheit ein Alltagsphänomen ist. Dabei erscheint ein Public-<br />

Health-Ansatz möglich, <strong>der</strong> grundsätzlich nicht im Wi<strong>der</strong>spruch<br />

zur Phänomenqualität <strong>der</strong> Gesundheit steht. Aber um ein Gesund­<br />

heitsverständnis zugrundezulegen, das den gesellschaftlichen<br />

Alltagscharakter ernst nimmt, muß die Medizinsoziologie und<br />

wohl auch die Sozialmedizin dazu bereit sein, ihren Gegen­<br />

standsbereich und ihr Forschungsinteresse teilweise neu zu<br />

überdenken.<br />

Hinsichtlich <strong>der</strong> Theorie des Gesundheitswesens hat die kri­<br />

tische Betrachtung folgendes ergeben: Unvermeidlich wird das<br />

Alltagsphänomen Gesundheit durch die Public-Health-Medizin ge­<br />

stört; im Bereich des Individuums werden Spielräume eigenver­<br />

antworteter Lebensgestaltung immer mehr kontrolliert, und im<br />

Bereich Gesellschaft nimmt die Medikalisierung von Lebens­<br />

routinen überhand. Die Einengung <strong>der</strong> subjektiven Handlungs­<br />

fel<strong>der</strong> durch Programme, die eigentlich das Gegenteil bezwecken,<br />

ist eine nicht-beabsichtigte Folgewirkung <strong>der</strong> Public-Health-<br />

Leistungen, nicht <strong>der</strong>en gewolltes Ergebnis. Aber die unvermerkt<br />

durch bevölkerungsmedizinische Gesundheitsför<strong>der</strong>ung ent­<br />

stehenden Herrschaftsmuster sind soziologisch beunruhigend. Für<br />

die künftige Gestaltung von Public Health erfor<strong>der</strong>n sie, den<br />

begrifflichen Ansatz noch einmal zu überdenken. Die Planung für<br />

Gesundheit muß, wenn sie ihr erklärtes Ziel im Auge behält, die<br />

Lebensqualität <strong>der</strong> Menschen zu bessern, auf das Alltagsphänomen<br />

abgestimmt werden.


45<br />

Hinsichtlich <strong>der</strong> Methodologie ist die Vernachlässigung des<br />

Einzelfalls und des empirisch Beson<strong>der</strong>en problematisch. Dadurch<br />

wird eine Anknüpfung des Public Health an das klinische Denken<br />

unmöglich. Dem klinischen Denken gelingt aber an<strong>der</strong>erseits,<br />

Gesundheit als Alltagsphänomen zu achten und zu beachten -<br />

allein bereits deshalb, weil die Medizin erst tätig wird, wenn<br />

für die Individuen ihr Gefühl des "Ich-habe-nichts" ("Ich-bin-<br />

nicht-krank") brüchig wird. Erst wenn sie finden, daß sie nicht<br />

(mehr) selbstverständlich am allgemeinen Leben teilnehmen<br />

(können), entsteht bei den einzelnen ein Impuls zur Inanspruch­<br />

nahme ärztlicher Leistungen - Soziologen finden darin ein<br />

eigenes Thema, nämlich Krankheitsverhalten, das als Kaskade<br />

vernetzter Entscheidungen die Grauzone zwischen Gesundheit im<br />

Alltag und Arztbesuch ausfüllt (Mechanic und Volkart 1960, Zola<br />

1973). Die Public-Health-Überlegungen übergehen diesen Bereich<br />

beziehungsweise ersetzen die Entscheidungen <strong>der</strong> einzelnen durch<br />

Programmvorgaben. Dann ist <strong>der</strong> einzelne zur Prävention ver­<br />

pflichtet und notfalls kann er o<strong>der</strong> sie zur Vorsorgeunter­<br />

suchung - sogar mit Einhaltepflicht - einbestellt werden (siehe<br />

dazu beispielsweise Programme in <strong>der</strong> ehemaligen DDR o<strong>der</strong> das<br />

Brustkrebs-Screening in Holland).<br />

Aber dies sollte in einem freiheitlich-demokratischen Gemein­<br />

wesen nicht geschehen. Der Staat - selbst in einer Demokratie -<br />

ist möglicherweise ein schlechter Garant <strong>der</strong> individuellen<br />

Lebenssphäre, wenn es um effektive Gesundheitssicherung geht.<br />

Auf den implizit bei staatlichen Eingriffen und Programmen un­<br />

vermeidlichen Dirigismus machte Stollberg (1993) aufmerksam,<br />

und er erwähnte warnend die Machtfülle <strong>der</strong> öffentlichen<br />

Instanzen <strong>der</strong> Gesundheitskontrolle im Nationalsozialismus. Man<br />

muß also einen Public-Health-Bereich herausfinden, in dem die<br />

Entscheidungsfreiheit <strong>der</strong> einzelnen grundsätzlich gewahrt wird;<br />

erst dies gewährleistet allererst, daß die Alltagsphänomen-<br />

qualität <strong>der</strong> Gesundheit unbeschadet bleibt.<br />

Methodologisch bedeutet dies für die Forschung, daß sie zwei<br />

Alternativen wählen und eine dritte vermeiden sollte. Entwe<strong>der</strong><br />

die Forschung betrifft Kollektivzusammenhänge und sucht nach<br />

Massenphänomenen - allerdings ohne atomistischen Fehlschluß.


46<br />

O<strong>der</strong> die Einzelfälle sind methodischer Ausgangspunkt <strong>der</strong> For­<br />

schung - dann möge allerdings nicht nur anekdotische Material­<br />

beschreibung von Einzelfallprotokollen herauskommen, son<strong>der</strong>n<br />

durch typologische Analyse auch eine Aussage über<br />

gesellschaftliche Kontexte. Die dritte Alternative, die nicht<br />

weiterhin fe<strong>der</strong>führend sein sollte, ist Forschung, die<br />

epidemiologisch verfährt, aber dann auf den Einzelfall<br />

rückschließt - wobei heute <strong>der</strong> ökologische Fehlschluß, <strong>der</strong><br />

vielfach vorkommt, meistens nicht einmal als problematisch<br />

empfunden wird.<br />

Der Phänomencharakter <strong>der</strong> Gesundheit im Alltag läßt sie fraglos<br />

gegeben sein. Diese Beson<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> Gesundheit, nicht themati­<br />

siert zu werden, obwohl je<strong>der</strong>zeitige Thematisierung möglich er­<br />

scheint, eröffnet neue Perspektiven auf die gesellschaftlichen<br />

Aspekte des Gesundheitswesens. Diese seien abschließend<br />

skizzenhaft näher bezeichnet.<br />

Seit den frühen siebziger Jahren ist bekannt, daß Gesundheits­<br />

und Krankheitsverhalten zwei Diskrepanzen zwischen subjektiven<br />

und objektiven Tatsachen umfaßt. Erstens führt lediglich etwa<br />

ein Fünftel <strong>der</strong> erlebten Krankheitsepisoden dazu, daß ein Arzt<br />

aufgesucht wird; die restlichen werden durch Medikamente aus<br />

<strong>der</strong> Apotheke, Selbstbehandlung mit Hausmitteln o<strong>der</strong> überhaupt<br />

nicht behandelt (Wadsworth et al. 1971, Hannay 1979). Zweitens<br />

sagen selbst zahlreiche chronisch Erkrankte im Interview, daß<br />

sie sich guter bis sehr guter Gesundheit erfreuen; zugleich<br />

sagen viele, bei denen pathologisch nichts zu finden ist, daß<br />

ihr Gesundheitszustand schlecht bis sehr schlecht ist. Blaxter<br />

(1990:42) zieht daraus den Schluß, daß Gesundheit vier Dimen­<br />

sionen hat, nämlich eine Fitness-, eine Behin<strong>der</strong>ungsfreiheits-,<br />

eine Nichtkrankheits- und eine psychosoziale Wohlbefindens­<br />

dimension.<br />

In unserem Zusammenhang sei festgehalten, daß die Viel­<br />

schichtigkeit <strong>der</strong> Gesundheit (und des Krankseins) offenbar mit<br />

ihrem Alltagscharakter zu tun hat. Scheinbar wi<strong>der</strong>sprüchliche<br />

Befunde o<strong>der</strong> gar <strong>der</strong> oft zitierte "klinische Eisberg" (wobei<br />

die Mehrzahl <strong>der</strong> behandlungsbedürftigen Symptome unter <strong>der</strong>


47<br />

Oberfläche allfälliger Verleugnung des eigenen Befindens ver­<br />

deckt liege) sollten nicht überinterpretiert werden. Ins­<br />

beson<strong>der</strong>e sollte man nicht darauf setzen, daß hier Aufklärung<br />

<strong>der</strong> Individuen weiterhelfen und daß durch "richtige" umfassende<br />

Maßnahmenprogramme erreicht werden könnte, daß die Diskrepanz<br />

zwischen den verschiedenen Ebenen und Parametern <strong>der</strong><br />

Gesundheit/Krankheit verschwindet. Diese Vielschichtigkeit ge­<br />

hört eo ipso zum Phänomen Gesundheit.<br />

Die Vielschichtigkeit hat zwei Auswirkungen, die man beachten<br />

muß o<strong>der</strong> bedenken sollte. So kann die Alltagshaftigkeit des<br />

Gesundheitstatbestandes ihrerseits "unterlaufen" werden. Werden<br />

beispielsweise beim Kin<strong>der</strong>gartenbau Materialien verwendet, die<br />

Formaldehyd o<strong>der</strong> Asbest enthalten, sind die dort betreuten<br />

Kin<strong>der</strong> nolens volens einer Schädigung ausgesetzt. Sie geschieht<br />

gewissermaßen hinter <strong>der</strong> Fassade des Alltagsphänomens Gesund­<br />

heit; es verdeckt in diesem Falle den wahren Tatbestand poten­<br />

tieller Erkrankung. Die einzig sinnvolle Lösung des Problems<br />

ist, die giftigen Materialien zu entfernen, also die Umgestal­<br />

tung <strong>der</strong> Schadstoffhaltigen Umwelt. Das Alltagsphänomen Gesund­<br />

heit wird durch diese Umweltmaßnahmen nicht Iii Frage gestellt,<br />

son<strong>der</strong>n allererst wie<strong>der</strong> voll hergestellt. Ähnlich wird das<br />

Alltagsphänomen erhalten o<strong>der</strong> wie<strong>der</strong>hergestellt, wenn toxische<br />

Emissionen in <strong>der</strong> chemischen Industrie, bei <strong>der</strong> Müllentsorgung<br />

etc. kontrolliert werden. Bei Kernkraftwerken bezwecken Sicher­<br />

heitsmaßstäbe und -kontrollen, daß die alltagsmäßig fraglose<br />

Gesundheitsvorgabe einer nicht-giftigen Lebensumwelt gelten<br />

darf. Dementsprechend sind "heimliche" Störfälle in Atomkraft­<br />

werken in den westlichen Industriestaaten kriminalisiert, weil<br />

es unrecht ist, die Gesundheit <strong>der</strong> Menschen, die die Schädigung<br />

nicht erkennen, zum Fassadenphänomen zu entwerten.<br />

Hier ist ein zweiter Aspekt angesprochen. In totalitären<br />

Län<strong>der</strong>n, wo An<strong>der</strong>sdenkende o<strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heitsethnien unterdrückt<br />

werden, kann <strong>der</strong>en Chance, bei Erkrankung einen Arzt zu finden<br />

und kompetent behandelt zu werden, grausam beschnitten werden.<br />

Bei ihnen wird die Gesundheit dann gewissermaßen erzwungen,<br />

denn ihre Lebensmöglichkeiten, falls sie nicht gesund "sind",<br />

können unmenschlich begrenzt sein. Beispielsweise wurde in


48<br />

Konzentrationslagern vielfach Gesundheit von den Häftlingen<br />

vorgetäuscht und von den Kapos ohne Umschweife zudiktiert, denn<br />

dies half, die verbleibenden Überlebenswege für sich selbst zu<br />

nutzen. In diesem Sinne kann zur Schau getragene o<strong>der</strong> unter­<br />

stellte Gesundheit durchaus politisch und auch ideologisch<br />

sein. Sie erfor<strong>der</strong>t also die Skepsis des Sozialwissenschaftlers<br />

o<strong>der</strong> Arztes, <strong>der</strong> ihre Vor<strong>der</strong>gründigkeit entlarvt. Man sollte<br />

dabei nicht nur die ideologische Doppelgestalt feststellen und<br />

daraufhin beispielsweise effektive Kontrollen <strong>der</strong> Individuen<br />

anraten o<strong>der</strong> einleiten. Son<strong>der</strong>n die Erkenntnis, daß ein Herr­<br />

schaftssystem sich des Gesundheitsphänomens zur Unterdrückung<br />

<strong>der</strong> Bürger bedienen kann, muß zu aktiven Schritten zugunsten<br />

<strong>der</strong> Bedrängten führen, die zunächst im Rahmen <strong>der</strong> institutio­<br />

nellen Medizin verbleiben. Gestörte Gesundheit muß zuvör<strong>der</strong>st<br />

medizinisch behandelt werden; daran kann sich - außerhalb <strong>der</strong><br />

ärztlichen Versorgung - Hilfe in <strong>der</strong> persönlichen Lebensführung<br />

anschließen (Nahrung, Wohnung, Arbeit etc.). Durch<br />

Zusammenarbeit zwischen Medizin und sozialen Diensten kann als<br />

politische Aufgabe das Alltagsphänomen Gesundheit allgemein und<br />

berechtigtermaßen im zwischenmenschlichen Geschehen (wie<strong>der</strong>)<br />

hergestellt werden, wenn eine Gesellschaft aus dem totalitären<br />

LebensZusammenhang herausfindet.<br />

Die politische Dimension hat eine weitere Seite. Man kann sie<br />

an zwei Beispielen erläutern. Erstens zeigt das, was nach dem<br />

Reaktorunglück in Tschernobyl geschah und nicht geschah, eine<br />

bemerkenswerte Beson<strong>der</strong>heit des Alltags. Die Sowjetbürger<br />

setzten zunächst offenbar fraglos voraus, daß ihre Regierung<br />

sie informieren und zur Räumung <strong>der</strong> verseuchten Umgebung auf­<br />

for<strong>der</strong>n würde, wenn die Gefahr bedrohlich wäre. Die regierungs­<br />

amtlichen Verlautbarungen verharmlosten indessen die<br />

Katastrophe, und heute leiden Hun<strong>der</strong>ttausende an Krebs und<br />

an<strong>der</strong>en Erkrankungen, wobei sie weiterhin in den verseuchten<br />

Gebieten leben und dort verseuchten Nahrungsmitteln, Häusern<br />

etc. ausgesetzt waren.<br />

Zweitens zeigt die Psychiatriepraxis in <strong>der</strong> ehemaligen<br />

Sowjetunion und auch DDR, daß Gesundheit bei politisch Ver­<br />

folgten negiert und zu Krankheit umgewandelt werden kann. Ab-


49<br />

weichende Überzeugungen erschienen tatsächlich den in diesen<br />

totalitären Län<strong>der</strong>n mit nicht (mehr) professioneller Medizin<br />

ausgebildeten und praktizierenden Psychiatern im Krankenhaus<br />

als Anzeichen geistiger Verwirrung bzw. als<br />

behandlungsbedürftige Krankheit.<br />

Fraglos vorausgesetzte Gesundheit und auch ihr Gegenpol -<br />

diagnostizierte Krankheit - besteht also unter<br />

Wahrnehmungsbedingungen, die durch Herrschaftsstrukturen<br />

vorgegeben werden. Dabei wird eine Grenze zur Krankheit<br />

gesetzt, die mit <strong>der</strong> Gesellschaft, in <strong>der</strong> dies geschieht,<br />

insofern variiert, als mehr o<strong>der</strong> weniger Alltagsphänomen und<br />

mehr o<strong>der</strong> weniger professionelle Medizin "zulässig" sind und<br />

praktiziert werden (können). Soziologisch bleibt also<br />

festzuhalten, daß eine auf die Gesundheit gerichtete<br />

Betrachtung <strong>der</strong> Gesellschaft gut daran tut, nicht allzu forsch<br />

über diese "gesamtgesellschaftliche", d.h. politische Seite des<br />

Gesundheits-/Krankheitszusammenhangs hinauszugehen. Hier liegt<br />

ein Bereich des Begreifens für die Soziologie als<br />

Gesellschaftswissenschaft, in dem sie mit <strong>der</strong> Medizin<br />

zusammenarbeiten kann - im Interesse <strong>der</strong> einzelnen und als<br />

Überlegung über demokratische Lebensverhältnisse.<br />

Allerdings mag man zusätzlich bedenken (insbeson<strong>der</strong>e bzgl. des<br />

zweiten <strong>der</strong> obengenannten Beispiele), daß psychiatrische<br />

Störungen dem Alltagscharakter <strong>der</strong> Gesundheit nicht<br />

grundsätzlich zuwi<strong>der</strong>laufen (worauf beispielsweise Parsons<br />

(1942) im politischen Zusammenhang hinweist). Denn psychische<br />

Aberrationen werden charakteristischerweise bei den Angehörigen<br />

und Außenstehenden, doch nicht zugleich bei den Betroffenen<br />

wahrgenommen; diese halten sich für gesund, während wie -<br />

selbst in Verantwortungspositionen - "krank" handeln (mögen).<br />

Die psychische Gesundheit, die wechselseitig fraglos gegeben<br />

ist, ist gewissermaßen nur mehr einseitig gegeben, wenn jemand<br />

an einer psychiatrischen Störungen erkrankt ist. Der politische<br />

Gefahrenwert <strong>der</strong> psychiatrischen Wirklichkeitsperspektive (z.B.<br />

Paranoia) und <strong>der</strong> Mißbrauch <strong>der</strong> Psychiatrie als<br />

Unterdrückungsinstrument - mit Konstruktion des<br />

Krankheitstatbestandes - scheinen durch diesen Umstand


50<br />

gleichermaßen begünstigt. Da die psychiatrische Gesundheit und<br />

ihr Verlust nicht immer klar voneinan<strong>der</strong> abzugrenzen sind, kann<br />

die offizielle Politik in totalitären Län<strong>der</strong>n das<br />

Alltagsphänomen manipulativ für Herrschaftszwecke nutzen (Wing<br />

1978) .<br />

Zwei Themen bieten sich für die Public-Health-Debatte an, die<br />

eine soziologische Sicht <strong>der</strong> Systemaspekte <strong>der</strong> Gesundheit<br />

sucht:<br />

(1) Daß Staaten mit totalitärem Regime eventuell von Kranken<br />

(d.h. psychiatrisch nicht normalen) Führern beherrscht<br />

werden, ist medizinisch auch relevant als Gefahr <strong>der</strong><br />

Folter, <strong>der</strong> "Rassenhygiene" etc.<br />

(2) Daß Staaten, die kein demokratisches Regime haben, eine<br />

medizinische Praxis dulden, die klinisch unhaltbar und<br />

professionell dilettantisch ist, ist soziologisch relevant<br />

für die angemessene Würdigung <strong>der</strong> Leistung, die es<br />

bedeutet, human zu handeln.


ANMERKUNGEN<br />

51<br />

1) Siehe dazu Parsons 1942. Dort führt er aus, daß<br />

faschistische - deviante - Gesellschaftssysteme ihrerseits<br />

(Geistes)Krankheit und Kriminalität för<strong>der</strong>n, indem sie sie<br />

belohnen bzw. explizit <strong>der</strong> Heilung o<strong>der</strong> Bestrafung ent­<br />

ziehen (z.B. die paranoide Weltsicht des manichäischen<br />

Antisemitismus). Vgl. dazu auch: Gerhardt 1990a.<br />

2) Parsons schließt daran die Bemerkung an, daß aufgrund <strong>der</strong><br />

dargelegten Unterschiede nicht - wie <strong>der</strong> berühmte Gesund­<br />

heitsbegriff <strong>der</strong> Weltgesundheitsorganisation voraussetzt -<br />

davon ausgegangen werden dürfe, daß menschliche Wohlfahrt<br />

und Gesundheit dasselbe seien. Statt dessen handele es sich<br />

um zwei unterschiedliche Dimensionen des optimalen Be­<br />

findens.<br />

3) Dieser Einwand gilt auch - siehe Parsons - mit Blick auf<br />

die chronischen Erkrankungen. Bei ihnen bewirkt die ärzt­<br />

liche Behandlung eine möglichst ausgedehnte Zeitphase <strong>der</strong><br />

approximativ gesundheitsähnlichen Performanz. Empirische<br />

Studien über chronische Krankheitsbil<strong>der</strong> zeigen, wie die<br />

Patienten über möglichst lange Lebensphasen ihren Arzt als<br />

Ressource für Medikamente und Krisenintervention nutzen, um<br />

ansonsten in Beruf und Familie möglichst wie ein Normaler<br />

leben zu können (Schnei<strong>der</strong> und Conrad 1983, Gerhardt 1990b,<br />

Charmaz 1992). Die soziologische Relevanz <strong>der</strong> Problematik -<br />

aus theoretischer Perspektive - diskutiert Gerhardt 1993a.<br />

4) An dieser Stelle ist David Armstrongs These zu bedenken,<br />

daß die Medizin in den letzten fünfzig Jahren biographische<br />

Aspekte in die klinische Sichtweise einbezogen hat und<br />

daher nicht etwa auf ein außerklinisches Denken hinaus­<br />

läuft, son<strong>der</strong>n nur neue Elemente in die klinische Sicht­<br />

weise einbindet. Die Soziologie steht demgemäß nicht gegen<br />

die Klinik, son<strong>der</strong>n ist ein Aspekt <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>der</strong><br />

klinischen Sichtweise selbst. Siehe Armstrong 1984 und<br />

unten S. 2 6f. dieser Abhandlung.


52<br />

5) Die Literatur zu diesem Zusammenhang ist übersichtlich und<br />

aufschlußreich dargestellt bei Noack 1993.<br />

6) Hervorhebungen des Originals weggelassen.<br />

7) Die Idealitäten des "Immer Wie<strong>der</strong>" und "Und So Weiter"<br />

wurden ursprünglich durch Edmund Husserl in die philo­<br />

sophische Phänomenologie eingebracht. Siehe dazu auch<br />

Schütz 1953.<br />

8) Dies bisher in Bielefeld (Zusatzstudiengang Gesund­<br />

heitswissenschaften und Öffentliche Gesundheitsför<strong>der</strong>ung),<br />

an <strong>der</strong> Medizinischen Hochschule Hannover (Studiengang zum<br />

Erwerb eines M.S.P. [Magister Sanitatis Publicae] sowie an<br />

den Universitäten Düsseldorf, Ulm und München - um nur<br />

einige zu nennen. Diese Studiengänge sind dazu ausersehen,<br />

das Berufsfeld <strong>der</strong> Gesundheitswissenschaften zu etablieren.<br />

Der Grundgedanke ist, daß durch die Tätigkeit beispiels­<br />

weise <strong>der</strong> Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in<br />

Gemeinden und Verbänden eine erhöhte Bereitschaft zu<br />

öffentlichkeits- bzw. allgemeinheitsorientierter Gesund­<br />

heitspflege geschaffen wurde; diese soll nun auch Nachfrage<br />

nach den dafür ausgebildeten Spezialisten erzeugen, die aus<br />

den Studiengängen für Public Health hervorgehen. Lang­<br />

fristig erhofft man sieh von <strong>der</strong> Tätigkeit <strong>der</strong> Gesundheits­<br />

wissenschaftler in Gemeinden und Verbänden, daß bessere<br />

Vorsorge für alle Schichten <strong>der</strong> Bevölkerung getroffen wird.<br />

Sie soll ihrerseits dazu beitragen, daß weniger Menschen<br />

erkranken, also die Hilfe <strong>der</strong> Medizin zur Gesundung o<strong>der</strong><br />

Lebenserhaltung seltener in Anspruch genommen wird.<br />

9) Beispielsweise hätte John Snow den Beweis <strong>der</strong> Cholera­<br />

infektion durch Wasserverunreinigung nicht führen können,<br />

hätte er nicht am Einzelfall eines Haushalts nachgewiesen,<br />

daß <strong>der</strong> Broadstreet-Brunnen, jedoch nicht <strong>der</strong> Hampstead-<br />

Brunnen verseucht war. Im mo<strong>der</strong>nen Epidemiologiedenken wäre<br />

sein Beweisfall für die Durchschnittsberechnung und Perzen-<br />

tildifferenzierung irrelevant gewesen. Seine 1854 bahn­<br />

brechende Evidenz ginge heute wohl in den auf Durch-


53<br />

schnittswerte hin interpretierten Massendaten spurlos<br />

unter.<br />

10) Bekanntlich argumentiert Thomas McKeown, daß die Verbesse­<br />

rung <strong>der</strong> allgemeinen Gesundheitssituation (weitgehende Aus­<br />

schaltung <strong>der</strong> Infektionskrankheiten als Todesursache) und<br />

die dramatische Verlängerung <strong>der</strong> Lebenserwartung seit dem<br />

18./19. Jahrhun<strong>der</strong>t nicht durch die mo<strong>der</strong>ne Medizin er­<br />

reicht wurde. Er führt an, daß statt dessen die Besserung<br />

<strong>der</strong> Ernährungslage sowie Programme <strong>der</strong> Stadthygiene usw.<br />

verantwortlich waren. Er übersieht dabei, daß im 19.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t umweltmedizinisches Denken zum Praxisbereich<br />

<strong>der</strong> damaligen Medizin gehörte - <strong>der</strong> "Medical Officer of<br />

Health" (ab den vierziger Jahren) war Vertreter <strong>der</strong> (noch<br />

vorherrschenden) Miasma-Lehre usw. McKeown geht von <strong>der</strong> un­<br />

richtigen Annahme aus, daß sich das Paradigma klinischer<br />

Arbeit seit dem 18. Jahrhun<strong>der</strong>t nicht gewandelt hätte. Nur<br />

mit dieser Annahme kann er seine Kritik an <strong>der</strong> anscheinend<br />

überschätzten Bedeutung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Medizin begründen. In<br />

den letzen zwei Jahrhun<strong>der</strong>ten ist jedoch zunächst die<br />

'Humorallehre durch die Miasma-Theorie (Umweltmedizin) und<br />

diese später durch die Mikroorganismen-Erklärung abgelöst<br />

worden, und diese hat sich heute zu biochemischen Modellen<br />

<strong>der</strong> Pathogenese fortentwickelt. McKeown 1979 und dazu<br />

Gerhardt 1989b.<br />

11) Luhmann beruft sich an dieser Stelle interessanterweise auf<br />

Aaron Wildawsky. Dieser argumentiert, daß es zwei Modelle<br />

<strong>der</strong> Risikobewältigung gibt. Bis vor einigen Jahrzehnten war<br />

das Versuch-und-Irrtum-Mode11 verbreitet, das zuließ, daß<br />

ein Störfall o<strong>der</strong> Krankheitsereignis eintrat, bevor man<br />

tätig wurde, um <strong>der</strong>artigen Fällen und Ereignissen auch für<br />

die Zukunft vorzubeugen. Heute hat sich demgegenüber einge­<br />

bürgert, bereits im Vorfeld denkbarer Risiken - also durch<br />

Versuch-ohne-Irrtum - Verhältnisse schaffen zu wollen, die<br />

keinerlei Störfälle o<strong>der</strong> Krankheitsereignisse mehr ent­<br />

halten sollen. Derartiges Sicherheitsdenken, so Wildawsky,<br />

ist selbst wie<strong>der</strong>um risikoreich, weil es offen für poli­<br />

tische Ideologiebildung ist. Da kein Programm alle noch so


54<br />

geringfügigen Risiken ausschließen kann, kann das Argument,<br />

ein Programm enthalte Risiken, immer zur Ablehnung von<br />

Initiativen verwendet werden, die man politisch nicht will.<br />

Für den Krankheitszusammenhang argumentiert Wildawsky, daß<br />

die Medizin heute gut genug ist, um immer noch beträcht­<br />

liche Heilungs- und Lebensverlängerungchancen zu eröffnen,<br />

wenn jemand erst dann zum Arzt geht, wenn er o<strong>der</strong> sie<br />

tatsächlich (ernstlich), erkrankt ist. Vgl. Wildawsky<br />

(1988).<br />

Siehe oben, S. 23


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<strong>Forschungsgruppe</strong> Gesundheitsrisiken und Präventionspolitik<br />

Das Krankheits- und Sterbegeschehen in industrialisierten Län<strong>der</strong>n wird hauptsächlich<br />

von chronischen Erkrankungen bestimmt, <strong>der</strong>en Verursachungen weitgehend in den Be­<br />

reichen Umwelt/Arbeit/Lebensweise liegen. Nach ihrer Manifestation sind sie medizi­<br />

nisch meist nicht mehr heilbar. Auf die Verhütung des Ausbruchs solcher Krankheiten<br />

richten sich konkurrierende Strategien. Sie unterscheiden sich hinsichtlich des Interven­<br />

tionsfelds, <strong>der</strong> wissenschaftlich-disziplinären Untermauerung und <strong>der</strong> Institutionalisie­<br />

rung. Die <strong>Forschungsgruppe</strong> untersucht und vergleicht Risikokonzepte, Wirkungen und<br />

Entwicklungsbedingungen unterschiedlicher präventiver Interventionen und Strategien.<br />

Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Forschungsgruppe</strong>:<br />

Dr. med. Thomas Elkeles, Dipl. Soz.<br />

Dipl.-Psych. Karin Frenzel<br />

Dipl.-Chem. Barbara Maria Köhler, Ph.D,<br />

Dr. rer.pol. Hagen Kühn<br />

Dipl.-Pol. Uwe Lenhardt<br />

Martin Moers, M.A. (Philosophie)<br />

Dr. phil. Doris Schaeffer<br />

Priv.-Doz. Dr. rer.pol. Rolf Rosenbrock (Leiter)<br />

Janos Wolf, Dipl.-Phil.

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