Veröffentlichungsreihe der Forschungsgruppe ... - WZB
Veröffentlichungsreihe der Forschungsgruppe ... - WZB
Veröffentlichungsreihe der Forschungsgruppe ... - WZB
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
<strong>Veröffentlichungsreihe</strong> <strong>der</strong> <strong>Forschungsgruppe</strong><br />
Gesundheitsrisiken und Präventionspolitik<br />
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung<br />
ISSN-0935-8137<br />
P93-206<br />
Gesundheit - ein Alltagsphänomen<br />
Konsequenzen für Theorie und<br />
Methodologie von Public Health<br />
von<br />
Uta Gerhardt<br />
Berlin, Juli 1993<br />
Publications series of the research group<br />
"Health Risks and Preventive Policy"<br />
Wissenschaftszentrum Berlin fur Sozialforschung<br />
D-10785 Berlin, Reichpietschufer 50<br />
Tel.: 030/25491-577
Hanns Gotthard Lasch<br />
gewidmet
ABSTRACT<br />
I<br />
Die Soziologie hat die Gesundheit im Kontext <strong>der</strong> Medizin<br />
mittels zweier systemtheoretischer Ansätze unterschiedlich analysiert.<br />
Erstens betrachtet Talcott Parsons das Zusammenspiel<br />
Arzt-Kranker unter dem Gesichtspunkt <strong>der</strong> Reziprozität in gesellschaftlichen<br />
Handlungssystemen (Teleonymie) mit Schwerpunkt<br />
Gesundheit. Zweitens betrachtet Niklas Luhmann die binäre Handlungslogik<br />
<strong>der</strong> Medizin als auf Krankheit als Positivwert gerichtet,<br />
so daß Gesundheit sekundär wird.<br />
Diese beiden Auffassungen werden miteinan<strong>der</strong> dadurch verglichen,<br />
daß ihnen zunächst <strong>der</strong> Gesundheitsbegriff <strong>der</strong> Medizinsoziologie<br />
gegenübergestellt wird, <strong>der</strong> während des letzten<br />
Jahrzehnts diskutiert wurde. Er unterscheidet zwischen professioneller<br />
und öffentlicher Gesundheit, kontrastiert also<br />
klinische (Wie<strong>der</strong>)herstellung <strong>der</strong> Gesundheit mit gesundheitspolitisch<br />
gewährleisteter Prävention. Das dabei verwandte Bild<br />
des sozial Handelnden entspricht dem Homo Sociologicus.<br />
Diesem medizinsoziologischen Gesundheitsbegriff wird das<br />
Gesundheitsphänomen entgegengehalten. Anknüpfend an die<br />
komplexe Variante <strong>der</strong> medizinsoziologischen Lebensweisenforschung<br />
wird ein Bild des gesellschaftlichen Phänomens<br />
Gesundheit entworfen, das dieses als Alltag zeigt. Im Sinne<br />
Alfred Schütz' wird argumentiert, daß Gesundheit fraglos gegeben<br />
ist, solange man sie "hat", also erst thematisiert wird,<br />
wenn sie problematisch ist, d.h. "fehlt". Dieser Alltagscharakter<br />
<strong>der</strong> Gesundheit wird alternativ zum medizinsoziologischen<br />
Begriff <strong>der</strong> "Lebensweisengesundheit" zunächst aufgezeigt.<br />
Die nächste Frage ist, in welchem Verhältnis die neuerdings<br />
entstehenden Gesundheitswissenschaften zu dem als Alltag erkannten<br />
Gesundheitsphänomenen stehen. Public-Health-Medizin<br />
("New Public-Health")' wird durch ihre drei Bereiche beschrieben,<br />
nämlich Epidemiologie, Gesundheitsför<strong>der</strong>ung und<br />
Gesundheitspolitik und -Verwaltung. Ihr Bild des sozial<br />
Handelnden ist <strong>der</strong> Homo Sociologicus bzw. die Sozialperson im<br />
Sinne Emile Dürkheims. Der Public-Health-Medizin muß man die<br />
klinische Medizin gegenüberstellen. Deren Handlungslogik<br />
konzentriert sich auf den Einzelfall, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Praxis<br />
diagnostisch-therapeutisch vorkommt. Die klinische Medizin<br />
unterscheidet sich also entscheidend von <strong>der</strong> Public-Health-<br />
Medizin; die zwei Formen <strong>der</strong> Medizin stehen neben- bzw. gegeneinan<strong>der</strong>.<br />
Für den Vergleich zwischen den beiden wird die Frage herangezogen,<br />
welche Medizinform dem Phänomencharakter <strong>der</strong> Gesundheit<br />
angemessen(er) ist. Gegen die Gesundheitswissenschaften - und<br />
auch Luhmann - wird argumentiert, daß die "Public-Health"-Maßnahmen<br />
Gesundheit als Alltagsphänomen weniger unberührt lassen<br />
und daher stärker zurückdrängen und beschränken als die<br />
klinische Medizin. Das heißt: Wenn die Gesundheit als das A l l <br />
tagsphänomen gewahrt werden soll, das sie "ist", ist die Ausdehnung<br />
des Gesundheitsdenkens in die Alltagsbereiche des gesellschaftlichen<br />
Lebens hinein problematisch. Vor diesem<br />
Hintergrund muß man die Medikalisierung <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
(Ausdehnung medizinischer Sichtweisen auf alle Lebensbereiche)
II<br />
nicht - wie vielfach geschieht - von <strong>der</strong> professionalisierten<br />
Medizin befürchten, son<strong>der</strong>n eher von ihrem Gegenpart, <strong>der</strong><br />
Public-Health-Medizin, erwarten.<br />
Allerdings gibt es eine "vergessene" Variante <strong>der</strong> Medikalisierungsthese,<br />
die keine ungerechte Kritik an <strong>der</strong> Medizinprofession<br />
enthält. Parsons beschreibt Medikalisierung als<br />
Fortschritt in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, wobei heute "Therapie statt Strafe"<br />
allgemeines Prinzip wird. Damit ist die politische Seite des<br />
soziologischen Gesundheitsinteresses angesprochen. Im abschließenden<br />
Teil diskutiert <strong>der</strong> Essay einige Anwendungsbereiche<br />
des Gedankens, daß Gesundheit ein Alltagsphänomen<br />
ist; sie verdeutlichen und bekräftigen das politische<br />
Bekenntnis <strong>der</strong> Soziologie (und <strong>der</strong> Medizin) zum Humanuni als dem<br />
Prinzip <strong>der</strong> wissenschaftlichen Verantwortung.<br />
Das vorliegende Paper geht zurück auf einen Vortrag, <strong>der</strong> am 10.<br />
Februar 1993 im Rahmen des <strong>WZB</strong>-Kolloquiums gehalten und für die<br />
schriftliche Fassung stark erweitert wurde.<br />
Für weiterführende Kommentare und anregende Hilfen bedanke ich<br />
mich bei Doris Schaeffer und Rolf Rosenbrock sowie den<br />
Teilnehmern des <strong>WZB</strong>-Kolloquiums.
INHALTSVERZEICHNIS<br />
Gesundheit im Kontext <strong>der</strong> Medizin:<br />
Zwei systemtheoretische Ansätze 1<br />
Der theoretische Gehalt des 7<br />
Phänomens Gesundheit<br />
Public Health als Gesundheitswissenschaft 2 0<br />
Zwei Auffassungen <strong>der</strong> Medizin 28<br />
Medizin und Gesundheit 32<br />
Die Hintergründe <strong>der</strong> Medikalisierung 3 6<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft<br />
Prolegomina zu einem soziologischen 44<br />
Gesundheitsverständnis<br />
ANMERKUNGEN 51<br />
LITERATUR 55<br />
Seite
Gesundheit im Kontext <strong>der</strong> Medizin:<br />
Zwei systemtheoretische Ansätze<br />
Eine soziologisch-theoretische Konzeptualisierung <strong>der</strong> Gesund<br />
heit entwirft Talcott Parsons' Social System (1951). Er führt<br />
aus, daß Gesundheit eine funktionale Voraussetzung des sozialen<br />
Systems als solchem ist, d.h. daß für das geordnete Gesell<br />
schaftsleben unerläßlich ist, daß die Bürger gesund sind. Dies,<br />
so Parsons, erlaubt allererst, daß Chancengleichheit, die<br />
Grundvoraussetzung demokratischen Zusammenlebens, grundsätzlich<br />
besteht; sie ist ihrerseits wie<strong>der</strong>um Bedingung dafür, daß die<br />
Systeme <strong>der</strong> Erziehung bzw. Ausbildung und <strong>der</strong> Wirtschaft bzw.<br />
beruflichen Leistung durch Auswahl <strong>der</strong> Besten dazu beitragen<br />
können, daß in Herrschaftspositionen möglichst keine Untaug<br />
lichen sitzen. Er schreibt:<br />
"Die Produktivität <strong>der</strong> Wirtschaft ist die Grundlage dessen,<br />
welche leistungsbezogenen Fähigkeiten erworben werden<br />
können...Gleich wichtig ist, daß in <strong>der</strong> Gesellschaft Mitglie<strong>der</strong><br />
zur Verfügung stehen, die fähig sind, die positiv bewerteten<br />
Leistungen zu erbringen...In diesem Zusammenhang...kommt es zur<br />
Relevanz... <strong>der</strong> Gesundheit...Daß Leistung möglich ist,<br />
ist...eine Funktion <strong>der</strong> Chancen (opportunity) an jedem Punkt<br />
des Lebenszyklus, was wie<strong>der</strong>um eine Funktion <strong>der</strong> ökonomischen<br />
Verhältnisse des Gemeinwesens ist...Aber auf einer 'tieferen'<br />
und in gewissem Sinne allgemeineren Ebene hängt diese Leistung<br />
von...Ausbildung...und Gesundheit ab...Innerhalb des Problemfeldes<br />
<strong>der</strong> sozialen Kontrolle...bezeichnet das Gesundheitsproblem<br />
klar den "tiefsten Punkt" in <strong>der</strong> Reihe Gesundheit -<br />
Ausbildung - wirtschaftliche Chancen" (1958/1964:279).<br />
Das Beson<strong>der</strong>e an Parsons' Begriffsbestimmung <strong>der</strong> Gesundheit als<br />
Funktionsvoraussetzung des gesellschaftlichen Geschehens ist<br />
allerdings, daß er psychische Gesundheit meint. Er hält fest,<br />
daß eine Gesellschaft aus freiwillig normativ orientierten<br />
Individuen nur dann bestehen kann, wenn die einzelnen ver<br />
stehen, daß die Grenze <strong>der</strong> Freiheit des einen jene <strong>der</strong> Freiheit<br />
des an<strong>der</strong>en ist - analog Rousseaus Prinzip <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Demo<br />
kratie. Die Feinfühligkeit, sich auf an<strong>der</strong>e einzulassen, ist<br />
demgemäß die strukturbildende Tugend des Menschen in <strong>der</strong> nicht<br />
durch Zwang regierten Gesellschaft. Interaktionsintentionen bei<br />
an<strong>der</strong>en adäquat einzuschätzen und darauf mit entsprechen<strong>der</strong><br />
Gesellschaftsfähigkeit zu reagieren, so Parsons, kennzeichnet<br />
die geistige Gesundheit <strong>der</strong> Gesellschaftsmitglie<strong>der</strong>. Sie wird
2<br />
gestört, wenn die Individuen durch autoritär-totalitäre Regimes<br />
zu "kranker" Weltanschauung veranlaßt o<strong>der</strong> durch individuell<br />
familiäre Fehlsozialisation geschädigt werden. Sie sind dann<br />
nicht voll im Besitz geistig-gesellschaftlicher Gesundheit,<br />
können allerdings - vor allem in einem nicht-demokratischen<br />
gesellschaftlichen System - in ihrem Verhalten unauffällig<br />
bleiben und sogar Einflußpositionen einnehmen. 1<br />
In einem späteren Text erfaßt Parsons die Gesundheit mit dem<br />
Begriff Teleonymie, • den er von dem Biologen Ernst Mayr über<br />
nimmt (1978, Mayr 1974). Damit ist die Fähigkeit des Menschen<br />
bezeichnet, mit adversen Gegebenheiten sowohl des körperlichen<br />
Zustandes als auch <strong>der</strong> Umwelt f ertigzuwerden, so daß ein<br />
Gleichgewicht des Verhältnisses organischer o<strong>der</strong> gesellschaft<br />
licher Kräfte für den einzelnen (wie<strong>der</strong>)hergestellt wird. Er<br />
schreibt:<br />
"Teleonymie...kann definiert werden als Fähigkeit des Organismus,<br />
o<strong>der</strong> seine Eignung, erfolgreich zielorientiertes Verhalten<br />
zu gestalten...Vor diesem Hintergrund... gebe ich eine tentative<br />
Definition <strong>der</strong> Gesundheit. Sie kann, in diesem breiteren Sinn,<br />
als teleonomische Fähigkeit des individuellen lebendigen<br />
Systems gelten...Von diesem Standpunkt ist die Krankheit eines<br />
Individuums eine Schädigung seiner/ihrer teleonomischen Fähigkeit<br />
.. .Gesundheit und Krankheit sind, als menschliche Phänomene,<br />
sowohl organisch als auch soziokulturell. Auf <strong>der</strong> organischen<br />
Ebene wird Gesundheit verstanden als eine hoch generalisierte<br />
grundlegende Fähigkeit, die etwas an<strong>der</strong>es ist als<br />
Kraft, Beweglichkeit o<strong>der</strong> Intelligenz. Ähnlich muß man die<br />
Bedeutung <strong>der</strong> Gesundheit auf <strong>der</strong> Handlungsebene deutlich unterscheiden<br />
von den relevanten Aspekten <strong>der</strong> Intelligenz, von<br />
Wissen, von ethischer Integrität und an<strong>der</strong>en Qualitäten des<br />
Individuums" (1978, 68-69,81). 2<br />
Parsons faßt dabei die Medizin als Ergänzung <strong>der</strong> teleonomischen<br />
Fähigkeit auf, die er vis medicatrix naturae nennt; die vis<br />
medicatrix - ganz im Sinne <strong>der</strong> hippokratischen Medizin - muß<br />
die teleonomischen Kräfte des einzelnen stärken, also "im Ein<br />
klang mit solchen Kräften arbeiten, anstatt willkürlich zu<br />
intervenieren ohne Bezug auf solche Fähigkeiten" (1978:67).<br />
In diesem Sinne dient das Arzt-Patient-System dazu, die Gesund<br />
heit - möglichst - wie<strong>der</strong>herzustellen. Die beiden Rollen des<br />
Systems folgen denselben Patterns <strong>der</strong> Orientierungs-Alter<br />
nativen - Universalismus, Leistungsorientierung, affektive
3<br />
Neutralität, funktionale Spezifizität und Kollektivitäts<br />
orientierung -, jeweils in arzt- und in krankenspezifischer<br />
Ausprägung (siehe dazu Gerhardt 1987, 1991). Die Stadienabfolge<br />
des Arzt-Patient-Geschehens folgt grundsätzlich <strong>der</strong> Phasierung<br />
wie bei psychotherapeutischer Arbeit, nämlich von Permissivität<br />
über Unterstützung und Verweigerung <strong>der</strong> Reziprozität zu Manipu<br />
lation <strong>der</strong> Belohnungen. Letztere Phase ist normalitätsähnlich<br />
bzw. bezeichnet den Zustand, <strong>der</strong> bei Normalen im gesellschaft<br />
lichen Alltag vorherrscht: - positive Sanktionen folgen bei<br />
gesellschaftlich angemessenem, negative Sanktionen bei nicht<br />
angemessenem Verhalten (siehe dazu Gerhardt 1989a:34-56). Die<br />
Krankenrolle, so Parsons, wird "im typischen Falle vorüber<br />
gehend" eingenommen (1951:438). Dies hat zwei Gründe: Erstens<br />
wird nur <strong>der</strong> Gesunde von seinen Zeitgenossen ernstgenommen, so<br />
daß das, was er/sie sagt o<strong>der</strong> tut, nicht als Auswirkung einer<br />
Krankheit o<strong>der</strong> vermin<strong>der</strong>ten Zurechnungsfähigkeit, son<strong>der</strong>n als<br />
Ausdruck fester Vorstellungen o<strong>der</strong> Bedürfnisse gilt; diese<br />
Würde möchten die Individuen nicht auf Dauer einbüßen. Zweitens<br />
ist auch die Umwelt daran interessiert, einen Menschen nicht<br />
ohne Not dauerhaft von seinen/ihren beruflichen und familiären<br />
Aufgaben zu entbinden und statt dessen zu verschonen und zu<br />
versorgen; diese Bürde möchten sich Angehörige und Betreuer<br />
nicht grundlos aufladen.<br />
Parsons stellt im Social System.heraus, daß Wie<strong>der</strong>erlangung <strong>der</strong><br />
Gesundheit im Regelfall von den kranken Individuen gewollt<br />
wird. Sie sind selbst daran interessiert, den Funktionszustand<br />
gesellschaftlich von an<strong>der</strong>en ernstgenommener Normalität<br />
(wie<strong>der</strong>) einzunehmen. Daher bildet Gesundheit den Schlußpunkt<br />
des Krankseins, das vorübergehend für den einzelnen bedeutet,<br />
die Rechte und Pflichten des Krankenstatus zu haben. In einem<br />
Aufsatz <strong>der</strong> siebziger Jahre erweitert er das Theorem. Er er<br />
kennt nun, daß Gesundheit - medizinisch betrachtet - approxi<br />
mativ o<strong>der</strong> letztlich unerreichbar sein mag, obwohl - gesell<br />
schaftlich betrachtet - ein Leben geführt wird, das alle Auf<br />
gaben und Möglichkeiten des normalen Staatsbürgers enthält.<br />
Damit ist angesprochen, daß Gesundheit als gesellschaftlicher<br />
Tatbestand gleichzeitig mit Krankheit als medizinischem Befund<br />
vorhanden sein kann. Der chronisch Kranke - Parsons, ein
4<br />
Diabetiker, wählt sich selbst als Beispielfall - lebt oft über<br />
Jahrzehnte ein Leben als Gesellschaftsmitglied (fast) wie ein<br />
Gesun<strong>der</strong>; dies - wiewohl mit Einschränkungen -. ist möglich, ob<br />
wohl eine medizinisch kontrollierte, behandelte Erkrankung vor<br />
liegt (Parsons 1975). Da die im Alltag zwischen Gesellschafts<br />
mitglie<strong>der</strong>n vorherrschende Zuschreibung von Gesundheit sich<br />
danach richtet, daß die Individuen ihre Berufs- und Familien<br />
rollen befriedigend erfüllen, ist die "Gesundheit" dieser<br />
chronisch Kranken vorhanden als ein Zustand sozialer Teilnahme<br />
an reziproken Beziehungen. Infolgedessen kann - wenn Funktions<br />
fähigkeit im normalen Berufs- und Familienleben möglich ist -<br />
Gesundheit im gesellschaftlichen Sinn mit organischen Erkran<br />
kungen einhergehen. In diesem Sinne ist das Postulat gemeint,<br />
daß die vis medicatrix <strong>der</strong> medizinischen Behandlung im Einklang<br />
mit den Kräften des teleonomischen Könnens sein sollte, so daß<br />
sie die vis medicatrix naturae ergänzt.<br />
Dieser Gesundheitsbegriff unterscheidet sich von Niklas<br />
Luhmanns Darstellung. In "Der medizinische Code" wird Gesund<br />
heit aus einer Perspektive beschrieben, die sich für die Funk<br />
tionslogik differenzierter gesellschaftlicher (Sub-)Systeme<br />
unter dem Gesichtspunkt verbalisierbarer Handlungslogiken<br />
interessiert. Die Medizin, so Luhmann, ist ein gesellschaft<br />
liches (Sub-)System, insofern sie die folgenden zwei Be<br />
dingungen erfüllt. Erstens hat sie ihren eigenen Arbeits<br />
bereich, den ihr kein an<strong>der</strong>es gesellschaftliches System<br />
streitig macht, nämlich die Krankenbehandlung. Zweitens verfügt<br />
sie über einen binären Code, nämlich" eine ihr eigentümliche<br />
Codierung krank-gesund; diese ist für alle Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Gesellschaft und <strong>der</strong>en Krankheits-Gesundheits-Wahrnehmung und<br />
-sorge verbindlich. Im Rahmen <strong>der</strong> Medizin - verstanden als<br />
Krankenbehandlung -, so Luhmann, ist <strong>der</strong>" Positivwert Krankheit<br />
und <strong>der</strong> Negativwert Gesundheit. Er schreibt dazu erläuternd:<br />
"Der Positivwert vermittelt die Anschlußfähigkeit <strong>der</strong> Operationen<br />
des Systems, <strong>der</strong> Negativwert vermittelt die Kontingenzreflexion,<br />
also die Vorstellung, es könnte auch an<strong>der</strong>s<br />
sein...Nur Krankheiten sind für den Arzt instruktiv, nur mit<br />
Krankheiten kann er etwas anfangen. Die Gesundheit gibt nichts<br />
zu tun, sie reflektiert allenfalls das, was fehlt, wenn jemand<br />
krank ist. Entsprechend gibt es viele Krankheiten und nur eine<br />
Gesundheit. Die Krankheitsterminologien wachsen mit <strong>der</strong>
5<br />
Medizin, und <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Gesundheit wird zugleich problematisch<br />
und inhaltsleer. Gesunde sind, medizinisch gesehen, nicht<br />
o<strong>der</strong> nicht mehr krank o<strong>der</strong> sie leiden an noch unentdeckten<br />
Krankheiten" (1990:186-187).<br />
Luhmann findet diese Codierung "abson<strong>der</strong>lich" (ibid.) und zur<br />
Begründung vergleicht er die Medizin mit an<strong>der</strong>en gesellschaft<br />
lichen Systemen, beispielsweise dem Recht. Während es im<br />
Rechtssystem, so stellt er fest, stets darum gehe, daß man<br />
Recht zu bekommen sucht, den Positivwert, doch nicht etwa Un<br />
recht, den Negativwert, gehe es im Medizinsystem darum, "daß im<br />
Code <strong>der</strong> Medizin die Krankheit, die man nicht will, als <strong>der</strong><br />
positive Wert fungiert und alle Detaillierung des Wissens und<br />
<strong>der</strong> Operationen über diesen Wert verläuft" (1990:192), Er führt<br />
aus:<br />
"Das Rechtssystem hat schon seit <strong>der</strong> Frühmo<strong>der</strong>ne seine Kompetenz<br />
über eine bloße Konfliktregulierung ausgedehnt und riesige<br />
Apparaturen zur Steuerung <strong>der</strong> rechtlichen Konditionierung des<br />
Verhaltens entwickelt, vor allem Gesetzgebung, aber auch<br />
kautelarjuristische Praktiken aller Art. Insofern ist die<br />
Gesamtgesellschaft auch rechtlich relevant..., und Rechtskonflikte<br />
müssen konsequent als Versagen des Rechtssystems aufgefaßt<br />
werden...Im System <strong>der</strong> Krankenbehandlung...(bringt <strong>der</strong>)<br />
Code ganz spezifische Selektionsgesichtspunkte zur Geltung.<br />
..und (ist) mit eigenen Programmen ausgestattet, die<br />
darüber instruieren, ob <strong>der</strong> Positivwert (zum Beispiel Krankheit)<br />
o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Negativwert (zum Beispiel Gesundheit) anzunehmen<br />
ist...Beson<strong>der</strong>heiten...gehen vor allem darauf zurück, daß<br />
Krankheiten an organisch individualisierten Körpern anfallen.<br />
Man kann sie zwar typisieren, Krankheitsbil<strong>der</strong> entwickeln und<br />
die Krankenbehandlung selbst entsprechend organisieren. Diese<br />
Organisation kann aber (und hier liegt <strong>der</strong> Fall des Rechtssystems<br />
ganz an<strong>der</strong>s) nicht in die vorbeugende Lebensführungsberatung<br />
übertragen werden" (1990:191-2).<br />
An dieser Stelle sei festgehalten, daß Luhmann die Medizin<br />
nicht nach denselben Gesichtspunkten wie das Recht beurteilt.<br />
Er unterstellt ihr von vornherein eine an<strong>der</strong>e Logik als den<br />
an<strong>der</strong>en gesellschaftlichen Systemen - also an<strong>der</strong>s als in Wirt<br />
schaft, Religion, Wissenschaft. Hätte er Medizin genau analog<br />
zum Recht erfaßt, hätte er setzen müssen, daß es in <strong>der</strong> Medizin<br />
darum geht, Gesundheit (wie<strong>der</strong>)herzustellen. 3<br />
Diese Ziel<br />
perspektive hätte dann dem Funktionszweck des Rechts ent<br />
sprochen, daß je<strong>der</strong> Bürger die Möglichkeit haben muß, sein<br />
Recht zu erhalten. Daß das Rechtssystem grundsätzlich auch<br />
darauf ausgelegt ist, die Rechtsfindung nicht zu
6<br />
verunmöglichen, hätte parallel zur Zwecksetzung <strong>der</strong> Medizin ge<br />
sehen werden können, daß für jeden Patienten gewährleistet sein<br />
muß, daß - je nach Krankheitslage - Gesundung, Besserung o<strong>der</strong><br />
Lebenserhaltung möglich werden.<br />
Luhmanns Setzung ist wi<strong>der</strong>sprüchlich. Er unterstellt <strong>der</strong> pro<br />
fessionellen Praxis in <strong>der</strong> Medizin einen Negativwert, <strong>der</strong><br />
jenigen im Recht jedoch einen Positivwert, obwohl- beide Systeme<br />
damit befaßt sind, Abweichungen vom Typischen (Krankheit,<br />
Kriminalität) institutionell zu kontrollieren. In beiden<br />
Systemen, so mag eingeräumt werden, gelingt nicht immer im<br />
Einzelfall, den Zweck zu erreichen. Beim Recht kann dies zwei<br />
Gründe haben. "Herstellung" von Unrecht durch das Rechtssystem<br />
kann daraus entstehen, daß das gesellschaftliche Gesamtsystem<br />
seinerseits ein "Unrechtssystem" ist wie beispielsweise in<br />
totalitären Staaten; an<strong>der</strong>erseits kann Ungerechtigkeit o<strong>der</strong> Un<br />
recht auch innerhalb <strong>der</strong> Rechtsfindung erwachsen, und zwar<br />
daraus, daß Fehler des Verfahrens in <strong>der</strong> Rechtssprechung vor<br />
kommen. Entsprechendes gilt für die Medizin: Krankheit kann un-<br />
geheilt bleiben, weil die Interessenlagen des Arztes zu Maß<br />
nahmen <strong>der</strong> Patientenbehandlung veranlassen, die klinisch mög<br />
licherweise durch eine klare Indikation nicht begründet werden<br />
können; an<strong>der</strong>erseits können Fehler <strong>der</strong> Diagnostik und Therapie<br />
vorkommen, die im Einzelfall eine Besserung o<strong>der</strong> Heilung er<br />
schweren o<strong>der</strong> verunmöglichen. Luhmann zieht daraus den weit<br />
reichenden Schluß, daß - als bestünde Analogie zum<br />
"Unrechtsstaat" als Forum des Rechtssystems - die Medizin ein<br />
"Krankenbehandlungssystem" sei, dessen Logik in <strong>der</strong> mutmaßlich<br />
unbeschränkten Konstruktion <strong>der</strong> Krankheitskategorien liege.<br />
Diese Annahme wird nicht begründet. Man muß aber fragen, ob die<br />
Abweichungen vom Systemzweck Gesundheits(wie<strong>der</strong>)herstellung bei<br />
<strong>der</strong> Medizin, die empirisch vorkommen, zu <strong>der</strong> Denkvoraussetzung<br />
berechtigen, die Handlungslogik <strong>der</strong> Medizin bezwecke die Ver<br />
vielfältigung konstruktiv entstehen<strong>der</strong> Krankheitsformen.
Der theoretische Gehalt des Phänomens Gesundheit<br />
7<br />
Parsons setzt voraus, daß Gesundheit - als wie<strong>der</strong>herzustellende<br />
Reziprozitätsfähigkeit <strong>der</strong> Gesellschaftsmitglie<strong>der</strong> für den A l l <br />
tag - Zweck <strong>der</strong> medizinischen Praxis ist; demgegenüber stellt<br />
Luhmann fest, daß Gesundheit in <strong>der</strong> Medizin nur ein letztlich<br />
irrelevanter Grenz- o<strong>der</strong> Negativwert ist, während die Krankheit<br />
Positivwert besitzt. Allerdings hält Luhmann für<br />
"alltagssprachlich...abson<strong>der</strong>lich, wenn Krankheit als positiver<br />
und Gesundheit als negativer Wert bezeichnet werden muß"<br />
(1990:187). Er macht also den Vorbehalt, daß <strong>der</strong> medizinische<br />
Code, den er analysiert, nicht dem gesunden Menschenverstand<br />
entspricht, d.h. nicht den Interessen <strong>der</strong> einzelnen Bürger in<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft, son<strong>der</strong>n denen <strong>der</strong> institutionell verselb<br />
ständigten Medizin. Man kann daraus erschließen, daß Luhmann -<br />
wie Parsons - dazu neigt, einen Zustand für angemessener zu<br />
halten, <strong>der</strong> die "perverse Vertauschung <strong>der</strong> Werte" (ibid.) ver<br />
meidet. Vom Odium <strong>der</strong> Wertvertauschung befreit wäre ein medizi<br />
nisches Wissen und Handeln infolgedessen, wenn Gesundheit den<br />
Positivwert und Krankheit den Negativwert darstellt.<br />
Die medizinsoziologische Diskussion bemüht sich seit den sieb<br />
ziger Jahren, diesen Positivwert Gesundheit durch Rückbezug auf<br />
die Gesundheitsdefinition <strong>der</strong> Weltgesundheitsorganisation zu<br />
konkretisieren. In <strong>der</strong> Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als<br />
nach dem Ende <strong>der</strong> Kampfhandlungen und des millionenfachen<br />
Leides Hoffnungen auf eine für alle Zukunft friedliche Welt<br />
allgemein waren, postulierte die WHO-Definition, daß Gesundheit<br />
für alle überall in <strong>der</strong> Welt erreichbar sei. Sie sollte sogar<br />
mehr sein als nur Abwesenheit von Krankheit, sie versprach<br />
vollständiges körperliches, geistiges und gesellschaftliches<br />
Wohlbefinden. Entsprechend lautete die Zielperspektive<br />
folgen<strong>der</strong>maßen:<br />
"Gesundheit ist ein Zustand völligen körperlichen, seelischen<br />
und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von<br />
Krankheit und Gebrechen."
8<br />
Seit den späten siebziger Jahren wurde diese Definition Grund<br />
lage großer Programme. Als Auslöser für die expansiven Initia<br />
tiven wirkte die bisher noch nicht überzeugend begründete Aus<br />
sage, daß eine wissenschaftliche Revolution in <strong>der</strong> Medizin im<br />
Gange sei. 4<br />
Gemäß Thomas Kuhns These, daß ein herrschendes<br />
Paradigma jeweils durch ein neues und besseres abgelöst wird<br />
(Kuhn 1962), wird angenommen, das Handlungsmodell <strong>der</strong> kurativen<br />
werde durch jenes <strong>der</strong> präventiven Medizin abgelöst. Unter dem<br />
Titel "Lebensweisen und Gesundheit", heißt es dazu in einem<br />
Konferenzbericht des Europäischen Büros <strong>der</strong> Weltgesund<br />
heitsorganisation :<br />
"Der Paradigma-Begriff...umschreibt...die Denk- und Wahrnehmungsmuster<br />
einer Wissenschaft. Eine wissenschaftliche Revolution<br />
und damit die Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Deutungsmuster erfolgt<br />
nicht aufgrund von 'Bestätigungen' o<strong>der</strong> 'Wi<strong>der</strong>legungen'<br />
einzelner Aussagen (obwohl sich im Prozeß des Nie<strong>der</strong>gangs eines<br />
Paradigmas immer mehr Phänomene als nicht 'lösbar' erweisen),<br />
son<strong>der</strong>n aufgrund des Wandels <strong>der</strong> 'geschichtlichen Perspektive'.<br />
Problemstruktur, Sprache, Regeln und Erfolgskriterien einer<br />
Wissenschaft än<strong>der</strong>n sich von Grund auf. Viele Kritiker <strong>der</strong><br />
Medizin und Gesundheitsversorgung sehen das traditionelle medizinische<br />
Paradigma <strong>der</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung durch neue Denkweisen<br />
und Lösungsmodelle ausgesetzt und in einem Ablösungsprozeß<br />
durch eine sozialmedizinisch-ökologische Denkweise begriffen"<br />
(Kickbusch 1983: IX).<br />
Die Soziologie greift diese Initiative auf. Raymond Illsley<br />
(1980) stellt die rhetorische Frage, ob professionelle o<strong>der</strong><br />
öffentliche Gesundheit ein angemessenerer Orientierungswert <strong>der</strong><br />
Soziologie sei. Er referiert zunächst die empirischen Befunde<br />
über gesellschaftliche Ungleichheit bei Morbidität und Mortali<br />
tät. Sie zeigen weitgehende Benachteiligung <strong>der</strong> ärmeren<br />
Schichten <strong>der</strong> Bevölkerung, und er leitet daraus ab, daß es <strong>der</strong><br />
professionellen Medizin, zumal sie gegen diese Ungleichheit<br />
nicht kämpfe, eher um die Wahrung ihrer institutionellen Eigen<br />
interessen als um das Wohl ihrer (zumal Unterschichts-)<br />
Patienten gehe. Unterschiedliche soziale Erfahrungen, stellt er<br />
dar, kovariieren mit den Unterschieden <strong>der</strong> Krankheits- und<br />
Sterbewahrscheinlichkeiten; bei den Unterschichten findet die<br />
Forschung, so zählt er auf:<br />
"(1) Defizite des Wachstums und <strong>der</strong> körperlichen Entwicklung in<br />
Kindheit und Jugendalter, die die Anfälligkeit für Krankheit<br />
während des späteren Lebens erhöhen;
9<br />
(2) stärkere Exposition für lebens- und gesundheitsbedrohliche<br />
Umweltbedingungen und Lebensstile;<br />
(3) ungleiche Inanspruchnahme von Präventivmaßnahmen und <strong>der</strong><br />
Gesundheitsversorgung;<br />
(4) ungleichen Zugang .zu den besten Einrichtungen und<br />
Leistungen <strong>der</strong> medizinischen Versorgung" (1980:85)."<br />
Illsley kommt zu dem Schluß, daß das professionelle Gesund<br />
heitsdenken <strong>der</strong> Medizin nicht zu ihrem Auftrag paßt, alle<br />
Patienten optimal zu versorgen. Denn die Unterschiede etwa bei<br />
<strong>der</strong> Morbidität und Mortalität zwischen Ober- und Unterschichten<br />
belegen ausreichend, so erläutert er, daß die herrschende<br />
Medizin defizitär bleibt. Abhilfe kann - dies steht für ihn<br />
fest - eine Orientierung auf öffentliche Gesundheit leisten,<br />
die für alle Gesellschaftsmitglie<strong>der</strong> gleichermaßen geplant wird<br />
und erreichbar ist. Entsprechend schlägt er vor, die Soziologie<br />
<strong>der</strong> Medizin als eine Soziologie <strong>der</strong> Gesundheit zunächst durch<br />
Forschung zu etablieren. Im Laufe <strong>der</strong> Zeit sollen aus ihr<br />
brauchbare Konzepte <strong>der</strong> Gesundheitspolitik abgeleitet werden.<br />
Die schichtspezifischen Unterschiede des Gesundheitszustandes<br />
analysiert auch Richard G. Wilkinson (1986). Seine Unter<br />
suchungen zeigen, daß ein einziger ökonomischer Parameter,<br />
nämlich das wöchentlich berechnete Bruttoeinkommen, die Unter<br />
schiede in den Sterbeziffern <strong>der</strong> sozialen Schichten erklären<br />
kann. So gelingt ihm, den Beweis zu führen - über den soge<br />
nannten Black-Report hinaus (Townsend und Davidson 1982) -, daß<br />
die Unterschiede <strong>der</strong> gesundheitlichen Lage zwischen gehobenen<br />
und unteren Schichtgruppen nicht auf eine Vielzahl lebensstil<br />
spezifischer Einzelvariablen verweisen, son<strong>der</strong>n auf ein mehr<br />
o<strong>der</strong> min<strong>der</strong> eindimensionales Phänomen. Die Differenz <strong>der</strong><br />
Sterbewahrscheinlichkeiten zwischen den oberen und unteren<br />
Schichten in Großbritannien, die sich während <strong>der</strong> Zeit zwischen<br />
1951 und 1971 auf das doppelte verschlechterte (1986:14), be<br />
zeichnet daher einen einheitlichen Phänomenbereich <strong>der</strong> gesund<br />
heitlichen Ungleichheit.<br />
Das Schichtenmodell <strong>der</strong> sozialen Ungleichheit wird in<br />
Deutschland seit den achtziger Jahren indessen nicht mehr aner<br />
kannt. Es wird durch ein analytisches Konzept ersetzt, das sub-<br />
gruppenspezifische Lebenslagen in den Vor<strong>der</strong>grund rückt.
10<br />
Dadurch soll <strong>der</strong> Individualisierung <strong>der</strong> Lebensgestaltung in <strong>der</strong><br />
entwickelten Wohlstandsgesellschaft entsprochen werden (Hradil<br />
1987, Krause und Schäuble 1988). Im Gesundheitsdiskurs werden<br />
dementsprechend Lebensweisen thematisch, die jeweils bei<br />
verschiedenen sozialen Gruppierungen vorherrschen. Dabei werden<br />
sowohl gesundheitsgefährliche Umwelteinflüsse, die z.B. berufs<br />
bezogen auftreten, als auch schädliche Verhaltensweisen empi<br />
risch untersucht.<br />
Die einfache Variante <strong>der</strong> Lebensweisenforschung betrifft ein<br />
zelne Gewohnheiten wie Rauchen o<strong>der</strong> Alkoholkonsum; sie kommen<br />
bekanntlich alltäglich vor und können zugleich Suchtcharakter<br />
haben. Die Verbreitung ungesun<strong>der</strong> Verhaltensweisen wird er<br />
mittelt; die Gesundheit ist gewissermaßen via negationis durch<br />
die Abwesenheit gesundheitsbeeinträchtigen<strong>der</strong> Verhaltens<br />
gewohnheiten festzustellen. Das Soziologische dabei ist, daß<br />
sozialdemographische Merkmale wie Alter, Geschlecht, soziale<br />
Schicht, ethnische Zugehörigkeit etc. dazu dienen, die Unter<br />
schiede hinsichtlich des Gesundheitszustandes zu erfassen.<br />
Prinzip ist also <strong>der</strong> homo sociologicus, d.h. <strong>der</strong> Mensch in<br />
seinen Gesellschafts-/Gruppenzugehörigkeiten. So entsteht ein<br />
Bild unterschiedlicher Risiken für Erkrankungen, das zugleich<br />
die Gegenseite <strong>der</strong> daraus erschlossenen gruppentypischen<br />
Gesundheit ist. Im Hintergrund steht das Denken <strong>der</strong> sogenannten<br />
Risikofaktorenmedizin (Abholz et al. 1982).<br />
Das Menschenbild <strong>der</strong> Risikofaktorenmedizin ist mechanistisch.<br />
Der einzelne wird als Konglomerat aus gesellschaftlichen Wirk<br />
kräften gesehen, die wie in einem Kräfteparallelogramm vorge<br />
stellt werden, so daß Verhalten als die Resultante aus den mul<br />
tiplen Einflüssen erscheint (Mechanic 1970). Beispielsweise<br />
findet die Deutsche Herz-Kreislauf-Präventionsstudie, so Ulrike<br />
Maschewsky-Schnei<strong>der</strong> (1993), "mit . Hilfe einer Cluster-<br />
analyse. ..Gruppen von Frauen, die sich durch eine spezifische<br />
Kombination (von) Risikofaktoren beschreiben lassen"; ent<br />
sprechend nennt sie die folgenden vier Gruppen, unter denen A<br />
den höchsten und D den niedrigsten Anteil <strong>der</strong> Ober- und Mittel<br />
schichtangehörigen und umgekehrt D den höchsten und A den<br />
niedrigsten Anteil <strong>der</strong> Unterschichtfrauen enthält:
11<br />
"Gruppe A: In dieser Gruppe waren nur sehr wenige Frauen mit<br />
Risikofaktoren. Raucherinnen, Frauen mit Bluthochdruck o<strong>der</strong><br />
Übergewicht waren nur zu einem kleinen Anteil vertreten; es gab<br />
keine Frauen mit einer Hypercholesterinämie, also Frauen mit<br />
einem zu hohen Cholesterinspiegel.<br />
In <strong>der</strong> Gruppe B war ein sehr hoher Anteil von Raucherinnen,<br />
nämlich nahezu 85 Prozent, vertreten.<br />
In <strong>der</strong> Gruppe C gab es kaum Raucherinnen, dafür aber einen sehr<br />
hohen Anteil von Frauen mit einer Hypercholesterinämie und<br />
einem verhältnismäßig hohen Anteil von übergewichtigen Frauen<br />
mit einem zu hohen Blutdruck.<br />
In <strong>der</strong> Gruppe D kumulieren sich die Risiken. Hier fanden wir<br />
einen hohen Anteil von Raucherinnen und Frauen mit einer Hypercholesterinämie<br />
vor. Auch waren Frauen mit Bluthochdruck häufig<br />
vertreten" (1993:201).<br />
Zugleich werden die typischen Gesundheitsvorstellungen o<strong>der</strong><br />
"Laientheorien" ermittelt, die als Hintergrund des Gesundheits<br />
und Krankheitsverhaltens gelten. Nach dem Muster homo<br />
sociologicus, also für die sozialen Gruppen und Rollen, sollen<br />
die'' Gesundheitsvorstellungen typischerweise dafür verantwort<br />
lich sein, welche gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen in<br />
unterschiedlichen Sozial- und Lebenslagen vorherrschen und<br />
welche krankhaften Körperzustände ohne medizinische Versorgung<br />
ertragen werden (d'Houtaud und Field 1984, Calnan 1987). Die<br />
Denkmuster bezüglich Gesundheit und Krankheit sorgen also für<br />
die Motivation und Auslöser des Verhaltens, das mehr o<strong>der</strong><br />
min<strong>der</strong> Risiko für die Gesundheit enthält.<br />
Die komplexe Variante <strong>der</strong> Lebensweisenforschung geht über<br />
solchermaßen beschreibende Risikobestimmung hinaus. Die Studien<br />
des deutsch-amerikanischen Autorenteams Lüschen/Cockerham/Kunz<br />
(1989) und Mildred Blaxters (1990) sind die bisher fortge<br />
schrittensten im Themengebiet. Luschen et al. suchen nach<br />
"Lebensstilen, die Gesundheit beför<strong>der</strong>n" (1989:114), und sie<br />
stellen die Hypothese auf, daß zwischen den USA und <strong>der</strong> Bundes<br />
republik kein Unterschied bestehe, da in beiden Län<strong>der</strong>n<br />
Gesundheits-Lebensstile <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen westlichen Kultur einge<br />
bürgert sind. Sie verwenden sechs Indizes für Gesundheits-<br />
Lebensstil und eine weitere Variable, um ihre Hypothese zu<br />
testen (Sport, Rauchen, Alkohol, bewußte Ernährung, Bewertung<br />
<strong>der</strong> äußeren Erscheinung und Entspannung sowie ferner subjektive
12<br />
Gesundheitswahrnehmung). Das Ergebnis ist, daß Ober- und Unter<br />
schichten unterschiedliche Kombinationen <strong>der</strong> Parameter auf<br />
weisen, wobei Sport, Entspannung und bewußte Ernährung eher für<br />
Oberschichten wichtig sind, während Alkohol und Rauchen mehr in<br />
den Unterschichten vorkommen. Für beide Län<strong>der</strong> gilt, daß besser<br />
Ausgebildete eher dem ersteren, weniger Ausgebildete eher dem<br />
letzteren Vefhaltensmuster zuneigen. An<strong>der</strong>erseits gilt, daß<br />
"die Deutschen eher Alkohol trinken, gesund essen wollen und<br />
auf Entspannung achten. Die Amerikaner demgegenüber legen mehr<br />
Wert auf ihre äußere Erscheinung und beurteilen ihre Gesundheit<br />
positiver" (1989:124). Das Fazit ist, daß die eher paterna-<br />
listische Gesundheitsversorgung in Deutschland offenbar das<br />
eigenständige Gesundheitsbewußtsein nicht beeinträchtigt, da<br />
Deutsche und Amerikaner gleichermaßen motiviert sind, für ihre<br />
Gesundheit etwas zu tun.<br />
Mildred Blaxters Studie Health and Lifestyles (1990) be<br />
schäftigt sich mit gesundheitsrelevanten Lebensgewohnheiten bei<br />
einer nationalen Stichprobe in Großbritannien (England, Wales<br />
und Schottland) . Sie erfaßte in zwei Hausbesuchen den von den<br />
Betroffenen geschil<strong>der</strong>ten Lebensstil und physiologische Grund<br />
daten wie Körpergröße, Gewicht, Blutdruck, Pulsrate, respira<br />
torische Funktion und ein- und ausgeatmetes Kohlenmonoxyd etc.;<br />
ferner wurde durch einen von den Befragten auszufüllenden Bogen<br />
<strong>der</strong> psychiatrische Status bestimmt. Die Studie erbrachte u.a.<br />
folgende Ergebnisse:" Gesundheitsrelevante Verhaltensweisen<br />
(z.B. Sport in <strong>der</strong> Freizeit) variieren auch mit <strong>der</strong> psychischen<br />
Gesundheit; dabei ist die Umgebung wichtig, also ob <strong>der</strong><br />
Arbeitsplatz eine gehobene o<strong>der</strong> einfache Arbeit, stehende o<strong>der</strong><br />
sitzende Tätigkeit, und schließlich im industriellen Krisen<br />
gebiet mit hoher Arbeitslosigkeit und Luftverschmutzung im<br />
Norden o<strong>der</strong> im wirtschaftlich prosperierenden Süden mit<br />
besserer Lebensqualität insgesamt ist (im Vergleich unter den<br />
Regionen Großbritanniens). Aber zugleich ist soziale Unter<br />
stützung gesundheitsrelevant (Familienstand, Familienleben),<br />
wodurch "an sich" risikoreiche Verhaltensformen (beispielsweise<br />
Rauchen) "weniger" schädlich werden, d.h. mit weniger Krank<br />
heitshäufigkeit korrelieren. Blaxter faßt ihre Ergebnisse<br />
folgen<strong>der</strong>maßen zusammen:
13<br />
"Bei einigen statistischen Assoziationen...ist offensichtlich,<br />
daß die Beziehung nicht kausal ist. Zum Beispiel kann gutes<br />
Eßverhalten nicht als Ursache größerer Erkrankungshäufigkeit<br />
gesehen werden bei Männern, die Raucher o<strong>der</strong> Trinker sind, noch<br />
sind die beson<strong>der</strong>s niedrigen Erkrankungsraten <strong>der</strong> Frauen über<br />
60 Jahren in manuellen Berufen, die ein ähnliches Verhaltensmuster<br />
haben, Ergebnis ihres Rauchens, Trinkens und ihrer Ernährungsgewohnheiten.<br />
Die letztere Gruppe <strong>der</strong> Frauen in manuellen<br />
Berufen sind untypisch für ihre Altersgruppe und soziale<br />
Schicht: sie haben höhere Einkommen als an<strong>der</strong>e ältere Frauen in<br />
manuellen Berufen. Die nicht-manuellen Männer, die Raucher<br />
und/o<strong>der</strong> Trinker sind und sich richtig ernähren, stammen zumeist<br />
aus bestimmten Berufen (z.B. Manager eher als freie<br />
Berufe o<strong>der</strong> Angestellte), aus bestimmten Wohngegenden<br />
(einschließlich Großstädten), und sie haben ein hohes Einkommen:<br />
ihre Gesundheit wurde dargestellt als relativ schlecht<br />
im Vergleich zu an<strong>der</strong>en Männern in nicht-manuellen Berufen. Mit<br />
an<strong>der</strong>en Worten: Verhaltensmuster unterscheiden sich zwischen<br />
Gruppen, die sich auch in vielen an<strong>der</strong>en Hinsichten unterscheiden.<br />
Dies ist vielleicht ein weiterer Beleg dafür, daß<br />
soziale Umstände, Berufe und 'Lebensstile' in einem breiteren<br />
Sinne als einfach durch Messung von Rauchen, Alkoholgenuß,<br />
Eßverhalten und Bewegungssport ein größeres Gewicht haben als<br />
diese beschränkte Definition des gesunden Verhaltens"<br />
(1990:231-232).<br />
Die bisherigen Forschungen zum Lebensweisen-Gesundheits-<br />
Zusammenhang - so kann man zusammenfassen - wählen zwei metho<br />
dische Zugänge. Erstens wird nach Abwesenheit von Krankheit<br />
und/o<strong>der</strong> nach Verhaltensweisen gefragt, die relative Risiken<br />
verkörpern, und die ein Tun o<strong>der</strong> Unterlassen darstellen. Ferner<br />
werden die Handlungen ermittelt, die bereits als gesundheits<br />
för<strong>der</strong>nd bekannt sind (z.B. Sport, Entspannung) o<strong>der</strong> die Ein<br />
stellungen dazu; meistens werden Handlungen und Einstellungen<br />
durch Befragung <strong>der</strong> Betroffenen ermittelt, also als subjektive<br />
Wahrnehmung o<strong>der</strong> Selbsteinschätzung. Derartige Einstellungen<br />
und Verhaltensweisen - als Cluster, genannt "Lebensstil" -<br />
definieren eine typische Chance des Nichterkrankens. Sie kann<br />
vergleichend betrachtet werden, und zwar als Lebensstilchance<br />
des tatsächlichen Erkrankens bzw. Nichterkrankens an einer<br />
bestimmten Krankheit o<strong>der</strong> als Wahrscheinlichkeit <strong>der</strong> Ver-<br />
schonung hinsichtlich Krankheiten überhaupt. Operational ist<br />
die typische Chance des Nichterkrankens - für Gruppenkategorien<br />
wie Alter, Geschlecht, etc., sowie auch Nationalität - infolge<br />
dessen die eine Seite <strong>der</strong> Gesundheit.
14<br />
Der zweite empirische Zugang zur Gesundheitsthematik ist sub<br />
jektive Befindlichkeit.' Das Meinen o<strong>der</strong> Bewußtsein des ein<br />
zelnen hinsichtlich dessen, wie krank er o<strong>der</strong> sie ist o<strong>der</strong><br />
nicht ist, wird mit Gesundheit gleichgesetzt. Derartige subjek<br />
tive Einschätzungen stehen neben objektiven Messungen zu Krank<br />
heitsrisiko bzw. Krankheitsinzidenz o<strong>der</strong> -prävalenz. Wenn be<br />
stimmt wird, wie die gesundheitliche Lage einer Bevölkerung<br />
ist, stehen die statistischen Daten zur Krankheits- und Risiko<br />
verbreitung neben den Krankheits- und Gesundheitskonzepten <strong>der</strong><br />
Individuen; letztere werden insbeson<strong>der</strong>e herangezogen, weil man<br />
davon ausgeht, daß die Vorstellungen sich in Gesundheits- und<br />
auch Krankheitsverhalten nie<strong>der</strong>schlagen. Subjektive Befind<br />
lichkeit bzw. subjektive Angaben zum Gesundheitsbefinden und -<br />
zustand gelten als ebenso aussagekräftig wie die objektiven<br />
bzw. klinisch ermittelten Gesundheitswerte. 5<br />
Darin meldet sich<br />
<strong>der</strong> Anspruch <strong>der</strong> Soziologie zu Wort, den Bewertungen <strong>der</strong><br />
Patienten mindestens ebensoviel zu trauen wie den professionel<br />
len Urteilen <strong>der</strong> Mediziner. Blaxter zeigt auf, daß aus beidem -<br />
dem subjektiven und dem objektiven Tatbestand - ein komplexer<br />
Begriff <strong>der</strong> Gesundheit gebildet werden kann, <strong>der</strong> sich zur<br />
Unterscheidung zwischen Typen <strong>der</strong> Lebenslage-Lebensweise<br />
eignet.<br />
Der komplexe Begriff, so argumentiert Thomas Abel (1991), ver<br />
weist auf das Phänomen. Lebensweise - mit Bezug auf Gesundheit<br />
- ist kein additiv gegebener Sachverhalt aus nebeneinan<strong>der</strong><br />
stehenden Verhaltensformen, son<strong>der</strong>n ein ganzheitlicher Zu<br />
sammenhang. Um dem Phänomen analytisch näherzukommen, so Abel,<br />
"müssen empirische Untersuchungen über das bloße Messen von<br />
einzelnen Gesundheitsverhaltensweisen und -einstellungen hin<br />
ausgehen und zeigen, daß diese Merkmale untereinan<strong>der</strong> verbunden<br />
sind" (1991:901). Dies könne beispielsweise mit Bezug auf Über<br />
legungen Max Webers erläutert werden, wobei allerdings Origi<br />
naltexte anstatt <strong>der</strong> zuweilen verkürzenden und gelegentlich<br />
verzerrenden sekundäranalytischen Darstellungen herangezogen<br />
werden sollten (z.B. Lüdtke 1989).
15<br />
Insbeson<strong>der</strong>e geht es um den theoretischen Gehalt des Lebens<br />
weisenthemas im Zusammenhang <strong>der</strong> Handlungstheorie. Webers Hand<br />
lungstheorie fragt bekanntlich nach den Typen .verstehbarer - im<br />
besten Fall rationaler - Handlungsmuster in interaktionalen<br />
Reziprozitätszusammenhängen, die zugleich intentional und<br />
reflexiv sind (Girndt 1967). Es genügt nicht, beschreibend dis<br />
parate Lebensweisenzusammenhänge wie soziale Milieus zu er<br />
fassen. Der Lebensstil o<strong>der</strong> die Lebensweise ist nicht vor<br />
wiegend ein kollektiver Wirkmechanismus, <strong>der</strong> das Tun o<strong>der</strong><br />
Leiden des einzelnen gestaltet o<strong>der</strong> prägt. Vielmehr geht es um<br />
Rationalität als Komponente vernünftigen verstehbaren sozialen<br />
Handelns. Damit wird Webers Konstrukt <strong>der</strong> Lebensführunq thema<br />
tisch. Lebensführung bedeutet religiös bzw. weltanschaulich be<br />
gründeten Stil alltäglicher wirtschaftlicher, privater etc.<br />
Lebensgestaltung im Sinne umfassen<strong>der</strong> Ideen o<strong>der</strong> Ideale (Weber<br />
1904, 1920; Schluchter 1981). Zugleich enthält die Lebens<br />
führung ein Moment <strong>der</strong> aktiven Mitwirkung des einzelnen am Ver<br />
lauf und den Einzelhandlungen seines o<strong>der</strong> ihres biographischen<br />
LebensZusammenhangs, wie Cockerham et al. betonen. Sie<br />
schreiben dazu:<br />
"Der Webersche Begriff <strong>der</strong> Lebensführung f <strong>der</strong> individuelle<br />
Wahlmöglichkeiten erfaßt, bleibt nicht gänzlich jenseits substantieller<br />
Werte. Vielmehr...wird...durch die Weber-Literatur<br />
(...) die Assoziation zwischen 'Verantwortungsethik' und<br />
Lebensführung erkannt. Wie Mommmsen (...) darstellt, veranlaßt<br />
solche Ethik das Individuum, die möglichen Konsequenzen seiner<br />
o<strong>der</strong> ihrer Handlungen mit einem Blick auf optimal mögliche<br />
Realisierung <strong>der</strong> idealen Werte 'abzuwägen'. Wenn daher gute<br />
Gesundheit ein hochbewerteter Zielzustand für ein Individuum<br />
ist, wird das Verhalten <strong>der</strong> Person (Lebensführung) von einem<br />
ethischen Zusammenhang geleitet, <strong>der</strong> die Wahlentscheidungen beeinflußt,<br />
die <strong>der</strong> Verwirklichung dieses Zweckes dienen. Daher<br />
sind Lebensstile (gesundheitliche und an<strong>der</strong>e) kein Zufallsverhalten,<br />
denen die strukturellen Verankerungen fehlen, son<strong>der</strong>n<br />
sind typischerweise bewußte (formale) Wahlentscheidungen, die<br />
durch Lebenschancen beeinflußt werden" (1993:12).<br />
An<strong>der</strong>erseits steht fest, daß gesundheitliche Praktiken nicht<br />
zum Repertoire <strong>der</strong> Tätigkeiten gehören, die von befragten<br />
Familien dargestellt werden, wenn sie ihren Tagesablauf im<br />
Interview in Einzelheiten schil<strong>der</strong>n. Michael Calnan und Simon<br />
Williams (1991) untersuchen vergleichend den Lebensstil bei<br />
sozioökonomisch privilegierten und benachteiligten Familien.<br />
Mit qualitativen Interviews prüfen sie, ob und als wie wichtig
16<br />
Gesundheitsprobleme erwähnt werden. Sie finden, daß gesund<br />
heitsrelevante Seiten des Lebensstils überwiegend nicht bzw.<br />
allenfalls vor allem bei denen zur Sprache kommen, die nicht<br />
gesund sind. Bei Nichtkranken werden beispielsweise statt<br />
dessen Zigaretten vielfach als "Belohnung" erwähnt, Arbeit gilt<br />
auch als Bewegung und Ersatz für Sport, "ungesunde" Nahrungs<br />
mittel gehören zu den Genüssen, die die Familie sich gewohn<br />
heitsmäßig gönnt etc. Sie fassen zusammen:<br />
"Unsere Interpretation ist, daß Gesundheit für die meisten<br />
Menschen keine Priorität im Ablauf des täglichen Lebens hat und<br />
nur auftaucht, wenn gesundheitliche 'Probleme'' entstehen.. .Dies<br />
stützt die Argumente von...Autoren wie Dingwall (1976), <strong>der</strong><br />
darlegte, daß Gesundheit im Alltag selbstverständlich hingenommen<br />
wird und nur zur Sprache kommt, wenn Krankheit erfahren<br />
wird. Es stützt auch die breiteren ethnomethodologischen<br />
(Garfinkel 1967) und phänomenologischen (Schütz 1932/1967) Perspektiven<br />
auf die Organisation des Alltagslebens, die die<br />
zentrale Wichtigkeit <strong>der</strong> selbstverständlichen und unausgesprochenen<br />
Wissensbestände zeigen, die infragegestellt werden,<br />
wenn - um Gerhardt (1989a) zu zitieren - "Störungen überhandnehmen"<br />
(1991:526).<br />
Der Alltag <strong>der</strong> nichtkranken Bevölkerung, so dokumentieren<br />
Calnan und Williams, enthält wenig Handlungen <strong>der</strong> Gesundheits<br />
sorge. Statt dessen haben die Familien ihren eigenen, auf<br />
Bedürfnisbefriedigung, Selbstbelohnung und gemeinsamen Res<br />
sourcengenuß gerichteten Umgang mit den üblicherweise gesund<br />
heitsbedeutsamen Tätigkeiten (Rauchen, Arbeiten, Essen etc) .<br />
Deren Gesundheitsaspekt bleibt unbeachtet bzw. wird durch<br />
an<strong>der</strong>e Relevanzgesichtspunkte ersetzt. Mit an<strong>der</strong>en Worten: Bei<br />
Nichtkranken, die ihren Tagesablauf in Einzelheiten be<br />
schreiben, wird Gesundheitsrelevantes nur in nicht-gesundheits-<br />
bezogenen Zusammenhängen erwähnt, weil <strong>der</strong> Relevanzgesichts<br />
punkt Gesundheit bei ihnen - denn sie sind nicht' krank - keine<br />
Rolle spielt. Das Phänomen Gesundheit fällt dabei durch<br />
Nichtthematisierung auf. Wenn o<strong>der</strong> weil Gesundheit bei den<br />
Betroffenen vorhanden ist, wird sie im Interview nicht erwähnt.<br />
Gesundheit als Phänomen des Lebens im Alltag ist nicht thema<br />
tisch, insofern sie vorhanden ist und daher fraglos vor<br />
ausgesetzt werden kann.
17<br />
Die Phänomenqualität des Fraglos-Gegebenseins ist durch Alfred<br />
Schütz in <strong>der</strong> Soziologie bekannt. Er weist nach, daß Alltag<br />
gesellschaftlich bedeutet, daß Lebensstrukturen verwirklicht<br />
werden, die den Beteiligten fraglos gegeben sind. Die Orientie<br />
rungen des Alltags werden als <strong>der</strong>art selbstverständlich ange<br />
sehen, daß ihr Vorhandensein reflexiv nicht bewußt wird.<br />
Interaktiv konstituieren fraglos gegebene Lebensbezüge den<br />
sinnhaften Aufbau <strong>der</strong> sozialen Welt (Schütz 1932).<br />
Dieser umfaßt zwei Vorgänge, die in bezug auf das Phänomen<br />
Gesundheit wichtig sind. Schütz bezeichnet sie als die atten-<br />
tionale Modifikation und als die Synthesis <strong>der</strong> Rekocmition.<br />
Mit "attentionaler Modifikation" meint er die Konkretisierung<br />
allgemeiner Vorstellungen eines Du in einer umweltlichen<br />
(interaktionalen) Beziehung, wenn zwei Menschen tatsächlich<br />
miteinan<strong>der</strong> kommunizieren. Er schreibt über die "attention ä la<br />
vie durch das jeweiligen Aufeinan<strong>der</strong>bezogensein":<br />
"Dann erfahren aber alle meine und auch alle deine Zuwendungen<br />
zum je eigenen Erleben und den je eigenen Erfahrungen aus <strong>der</strong><br />
umweltlichen Situation bestimmte attentionale Modifikationen.<br />
Diese spezifische attentionale Modifikation, in welcher je<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> Partner einer umweltlichen Beziehung dem An<strong>der</strong>en zugekehrt<br />
ist, wird von beson<strong>der</strong>er Wichtigkeit für die umweltliche<br />
Wirkensbeziehung. In je<strong>der</strong> Wirkensbeziehung setzt <strong>der</strong> Handelnde<br />
bei seinem Partner eine Anzahl echter Weil- o<strong>der</strong> Um-zu-Motive<br />
fraglos als konstant gegeben voraus und das aufgrund seiner Erfahrung<br />
vom Verhalten dieses beson<strong>der</strong>en Du, auf welches zu er<br />
handelt, und vom Verhalten eines Du überhaupt. An diesen fraglos<br />
als gegeben vorausgesetzten konstanten Motiven orientiert<br />
er zunächst sein Verhalten, gleichgültig ob diese supponierten<br />
Motive tatsächlich motivierende Sinnzusammenhänge im Bewußtseinsablauf<br />
des Partners sind" (1932:191). 6<br />
Die eigentümliche Sozialität des Handelns besteht also nicht<br />
darin, daß die Individuen die tatsächlichen Gegebenheiten bei<br />
ihrem Gegenüber realistisch wahrnehmen. Vielmehr setzen sie<br />
Motive o<strong>der</strong> Zustände als gegeben voraus, die empirisch mög<br />
licherweise an<strong>der</strong>s sind o<strong>der</strong> sich an<strong>der</strong>s im Bewußtsein <strong>der</strong><br />
Betroffenen darstellen. Zugleich verän<strong>der</strong>t die interaktioneile<br />
Beziehung aktuell - zumindest ansatzweise - die fraglos voraus<br />
gesetzten Vorstellungen über ein konkretes Du o<strong>der</strong> über das Du<br />
allgemein.
18<br />
Bei "Synthesis <strong>der</strong> Rekognition" spricht Schütz von Vorgängen,<br />
die nicht die einzelnen <strong>der</strong> unmittelbaren Umwelt betreffen,<br />
son<strong>der</strong>n die Menschen bzw. Personengruppen <strong>der</strong> weiteren Sozial<br />
welt. Die dem einzelnen persönlich möglicherweise nicht o<strong>der</strong><br />
nur oberflächlich bekannten Interaktionspartner kommunizieren<br />
mit dem Handelnden entsprechend <strong>der</strong> Typik <strong>der</strong> mitweltlichen<br />
Vorgänge: "Das Wesen <strong>der</strong> mitweltlichen Situation besteht darin,'<br />
daß ein alter ego mir zwar nicht in Leibhaftigkeit, also in<br />
räumlicher und zeitlicher Unmittelbarkeit, gegeben ist, daß ich<br />
aber dennoch von seiner Koexistenz mit mir, von dem gleich<br />
zeitigen Ablauf seiner Bewußtseinserlebnisse mit den meinen<br />
weiß. Dieses Wissen ist immer ein mittelbares, niemals habe ich<br />
das alter ego in <strong>der</strong> Mitwelt als ein Selbst gegeben"<br />
(1932:202). Die Konstitution <strong>der</strong> Mitwelt im Bewußtsein bringt<br />
zwei Idealitäten hervor, die Schütz als jene des "Immer Wie<strong>der</strong>"<br />
und des "Und So Weiter" beschreibt. 7<br />
folgen<strong>der</strong>maßen:<br />
Erstere charakterisiert er<br />
"Weil (die fremden Erlebnisse, von denen ich mitweltliche Erfahrung<br />
habe) losgelöst von dem subjektiven Sinnzusammenhang,<br />
in dem sie sich konstituierten, beträchtet werden, weisen sie<br />
die Idealität des 'Immer Wie<strong>der</strong>' auf. Sie werden als typische<br />
fremde Bewußtseinsinhalte erfaßt, und sind als solche prinzipiell<br />
homogen und iterierbar. Die Einheit des mitweltlichen<br />
alter ego konstituiert sich somit ursprünglich nicht in seinem<br />
Dauerablauf (...), son<strong>der</strong>n allein in einer Synthesis meiner<br />
Deutungsakte von ihm in <strong>der</strong> Einheit meines Dauerablaufes. Diese<br />
Synthesis ist eine Synthesis <strong>der</strong> Rekognition..." (1932:206).<br />
Die Idealität des "Immer Wie<strong>der</strong>", so zeigen die aus Schütz'<br />
Nachlaß herausgegebenen Strukturen <strong>der</strong> Lebenswelt (Schütz und<br />
Luckmann 1979), verbindet sich mit <strong>der</strong> Idealität des "Und So<br />
Weiter". Beide umschreiben "das fraglos Gegebene und das Pro<br />
blematische" - ersteres mittels <strong>der</strong> Idealitäten den Alltag be<br />
stimmend und letzteres als das, was tendentiell Alltags<br />
störungen bedeutet. Gerade mit Hilfe <strong>der</strong> Idealitäten werden<br />
allerdings alltägliche Problemsituationen geglättet und solange<br />
"hinweginterpretiert", bis die Störwirkungen offensichtlich<br />
werden o<strong>der</strong> überhandnehmen. Die Idealitäten wirken also im<br />
Rahmen <strong>der</strong> Synthesis <strong>der</strong> Rekognition stabilisierend auf das<br />
Leben im normalen Alltag, so daß dieser trotz vielfältiger Pro<br />
blemlagen sich immer wie<strong>der</strong> beim fraglos Gegebenen einpendelt.<br />
Das Eigentümliche dabei ist, so Hans-Georg Soeffner, daß das
19<br />
Wissen, das die normalen Alltagsbezüge ermöglicht, keiner be<br />
son<strong>der</strong>en Rechtfertigungserwartung unterliegt. Das heißt, das im<br />
Alltag fraglos Gegebene wird von den Handelnden angenommen,<br />
ohne daß geprüft wird, ob es "stimmt"; aber zugleich wird ange<br />
nommen, daß es je<strong>der</strong>zeit nachprüfbar wäre. Dadurch entsteht<br />
subjektiv die Überzeugung, daß das fraglos Gegebene zugleich<br />
das Richtige ist und daß <strong>der</strong>jenige auch rational handelt, <strong>der</strong><br />
sich am fraglos Gegebenen orientiert. Soeffner schreibt:<br />
"Die Routinisierung des Alltagswissens und Alltagshandelns beruht<br />
auf <strong>der</strong> Inexplizitheit, auf <strong>der</strong> Prämisse, daß nicht alles<br />
gesagt o<strong>der</strong> gefragt werden muß. Man setzt tacit knowledge voraus,<br />
das heißt, daß man etwas weiß, ohne daß man sagen muß o<strong>der</strong><br />
sagen könnte, was man weiß: Alltagswissen ist inexplizit, weil<br />
es in einer Welt <strong>der</strong> Selbstverständlichkeiten untergebracht<br />
ist. Diese Welt <strong>der</strong> Selbstverständlichkeiten funktioniert paradoxerweise<br />
nur auf <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> Unterstellung, alles sei ausdrückbar,<br />
falls die For<strong>der</strong>ung danach gestellt werde" (1989:19).<br />
Das Phänomen Gesundheit hat zwei Eigenschaften, die zu Schütz'<br />
Theorem <strong>der</strong> sozialen Tatbestände des Alltags passen. Erstens<br />
ist Gesundheit ganzheitlich als Zustand gegeben; zweitens wird<br />
sie fraglos hingenommen und folgt den Idealitäten des "Immer<br />
iWie<strong>der</strong>" und "Und So Weiter". Mit an<strong>der</strong>en Worten: Gesundheit hat<br />
"man, solange man an sie nicht denkt. Im Alltag handeln die<br />
Akteure - als Gesunde -, ohne sich zu jedem Zeitpunkt bewußt zu<br />
halten, daß sie gesund sind und an<strong>der</strong>e, mit denen sie umgehen,<br />
ebenfalls dafür halten. Sie halten sich auch nicht beständig<br />
bewußt, daß sie es bleiben wollen und daß sie an<strong>der</strong>en nichts<br />
antun möchten, das diesen verunmöglicht, es bleiben zu können.<br />
Natürlich setzen sie dieselbe Orientierung bei an<strong>der</strong>en fraglos<br />
voraus, so daß Reziprozität <strong>der</strong> Perspektiven besteht. Die<br />
theoretische Gestalt <strong>der</strong> Gesundheit bedeutet für die Medizin<br />
soziologie, daß sie folgendes vergegenwärtigen sollte:<br />
"Handlungs- und gesellschaftstheoretisch bedeutet die Selbstverständlichkeit,<br />
daß Gesundheit im Alltag vorausgesetzt wird,<br />
daß man nur Krankheit explizit wahrnimmt. Man hat Gesundheit,<br />
so kann man sagen, immer dann, wenn ihr Fehlen nicht auffällt<br />
o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Alltagspraktiken nicht stört. Sie t r i t t erst ins<br />
Aufmerksamkeitsfeld, wenn sie brüchig wird o<strong>der</strong> in Krankheit<br />
umgeschlagen ist. Dann wird retrospektiv ein Zustand des<br />
Gewesenen als Gesundheit thematisch, <strong>der</strong> aber wie<strong>der</strong>herzustellen<br />
ist o<strong>der</strong> möglichst sein sollte. Soziologisch hat<br />
Gesundheit eine ähnliche Konstitution wie Raum und Zeit: man
20<br />
erfaßt sie metrisch nach kulturellen Konventionen, alltagspraktisch<br />
ist sie ganzheitlich gegeben" (Gerhardt 1993b:84).<br />
Die Eigenschaft, ganzheitlich gegeben zu sein und fraglos im<br />
Alltag vorausgesetzt zu werden, hat die Gesundheit mit an<strong>der</strong>en<br />
Phänomenen gemeinsam. Beispielsweise sind im Alltag die<br />
"Kollektivgüter" Luft o<strong>der</strong> Wasser, Rechtssicherheit o<strong>der</strong> ehe<br />
liches Sich-Verstehen fraglos gegeben. Damit ist gesagt, daß<br />
erst ihre Beschaffenheit beim Zustand des Nicht-mehr-Vor-<br />
herrschens, d.h. zum Beispiel bei verunreinigter Luft o<strong>der</strong> ver<br />
schmutztem Wasser, fehlen<strong>der</strong> Rechtssicherheit o<strong>der</strong> verlorenem<br />
ehelichen Einvernehmen dazu veranlaßt, überhaupt das Gut als<br />
ein - nunmehr per Verlustzustand - reales Phänomen wahrzu<br />
nehmen. Das Gut wird thematisch via neaationis. nämlich indem<br />
sein Fehlen o<strong>der</strong> Verschwinden darauf aufmerksam macht, daß es<br />
einmal vorhanden war und überhaupt nicht fehlen sollte. Gesund<br />
heit, so kann man soziologisch folgern, wird als Wert <strong>der</strong> Hand<br />
lungsorientierung erst virulent, wenn sie nicht mehr vorhanden<br />
bzw. nicht mehr fraglos gegeben ist.<br />
Dieser Gesundheitsbegriff, dessen Wirklichkeitsverständnis<br />
soziologisch im Einklang mit den handlungstheoretischen Konzep<br />
tionen Max Webers und Alfred Schütz' steht, legt nahe, die<br />
soziologischen Überlegungen zu Public Health, das als neue<br />
Gesundheitswissenschaft gilt, zu überdenken. Dies wie<strong>der</strong>um regt<br />
an, die Frage nach <strong>der</strong> Funktion <strong>der</strong> Medizin aus soziologischer<br />
Perspektive noch einmal zu stellen.<br />
Public Health als Gesundheitswissenschaft<br />
Die jüngere Medizinsoziologie, die "Gesundheit für alle im Jahr<br />
2 000" bejaht, sucht nach einer Neudefinition <strong>der</strong> Aufgaben <strong>der</strong><br />
Medizin. Die neue Richtung, in die das Gesundheits-Krankheits-<br />
Denken drängt, heißt Public Health. Seit dem Ende <strong>der</strong> achtziger<br />
Jahre werden an deutschen Universitäten Ausbildungsprogramme in<br />
Epidemiologie, Gesundheitswissenschaften und Bevölkerungs<br />
medizin eingerichtet, um den neu definierten Bedarf nach Public<br />
Health durch Wissensvermittlung und Expertenqualifizierung zu<br />
befriedigen. 8
21<br />
Die "New Public Health"-Initiativen, die von <strong>der</strong> Weltgesund<br />
heitsorganisation mitgetragen werden, machen sich zur Aufgabe,<br />
in fünf Bereichen <strong>der</strong> Gesundheitsför<strong>der</strong>ung zu wirken. Verbesse<br />
rungen in diesen Bereichen sollen eine gesunde Lebensgestaltung<br />
ermöglichen, ohne daß die Medizin als Vermittler <strong>der</strong> Gesundheit<br />
auftritt. In <strong>der</strong>- "Ottowa-Charta für Gesundheitsför<strong>der</strong>ung" <strong>der</strong><br />
WHO werden folgende genannt:<br />
(1) Schaffung gesundheitsför<strong>der</strong>n<strong>der</strong> Lebens- und Arbeitswelten;<br />
(2) Befähigung <strong>der</strong> Individuen zu gesundheitsför<strong>der</strong>ndem Handeln;<br />
(3) Stützung gesundheitsbezogener Bemühungen auf Gemeindeebene;<br />
(4) Reorientierung <strong>der</strong> Gesundheitsdienste, mit beson<strong>der</strong>er<br />
Berücksichtigung <strong>der</strong> Bedürfnisse <strong>der</strong> chronisch Kranken und<br />
Pflegebedürftigen; und<br />
(5) Gesundheitsför<strong>der</strong>nde Gesamtpolitik.<br />
Als Problembereiche für Public-Health-Maßnahmen, die durch Er<br />
forschung <strong>der</strong> Hintergründe und Auslösefaktoren gesellschaftlich<br />
mitbedingter Krankheitstatbestände abzuklären sind, gelten bei<br />
spielsweise: HIV-Infektion und AIDS, Medikamenten- und Drogen<br />
abusus, Alzheimer-Erkrankung, Schwangerschaften Min<strong>der</strong>jähriger,<br />
Unfälle, Rauchen und hoher Blutdruck (WHO 198 6). Sie bezeichnen<br />
Themen, die sowohl in <strong>der</strong> soziologisch orientierten Ursachen<br />
forschung angegangen werden (sollen) als auch darauf hinweisen,<br />
daß geeignete Interventionsprogramme zur Vermin<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />
Erkrankungsinzidenz o<strong>der</strong> des Problemverhaltens beitragen<br />
(können). Dahinter steht auch ein praktisch-politisches Inter<br />
esse, insofern die entsprechenden Gesundheitserziehungspro-<br />
gramme, die sich aus den Forschungen rechtfertigen (sollen),<br />
ihrerseits durch Public-Health-Stellen und -Teams durchgeführt<br />
und evaluiert werden. Das Gesundheits-Krankheits-Konzept, das<br />
in diesem Sinne den Arbeitsbereich <strong>der</strong> Gesundheitswissen<br />
schaften definiert, wird bei Dietrich Milles und Rainer Müller<br />
in allgemeinen Formulierungen umschrieben; insgesamt kann man<br />
daran sehen, daß die public-health-bezogenen Überlegungen<br />
bisher zunächst eine Absichtserklärung bekunden, über<br />
Bestehendes hinauszugehen:
22<br />
"'Public Health' umfaßt mehr als <strong>der</strong> alte Begriff 'Öffentliche<br />
Gesundheitspflege'...Auch <strong>der</strong> Begriff 'Gesuhdheitswissenschaften'<br />
müßte ausgedeutet werden, damit die...Bereiche und<br />
Verflechtungen einer 'Public-Health-Forschung' erfaßt sind. Das<br />
zu bearbeitende Forschungsfeld reicht von <strong>der</strong>' deskriptiven und<br />
analytischen Epidemiologie über Forschungen zu Institutionen<br />
<strong>der</strong> Gesundheitssicherung, zur Gesundheitsökonomie, zur integrierten<br />
sozialen Psycho-Somatik, zur Gesundheitserziehung bis<br />
hin zu Forschungen über staatliche Maßnahmen <strong>der</strong> Gesundheitsför<strong>der</strong>ung<br />
und Prävention" (1991:7-8).<br />
In einem Überblick über die Kernfächer und Organisation <strong>der</strong><br />
Studiengänge "Public Health" in den USA und Großbritannien<br />
betonen Friedrich Wilhelm Schwartz und Bernhard Badura, wie<br />
bedeutsam die Epidemiologie ist. Durch ein Programmprojekt <strong>der</strong><br />
Robert-Bosch-Stiftung konnten Erfahrungen aus dem Ausland aus<br />
gewertet werden, so daß die Aufbaustudiengänge in Deutschland,<br />
die vielerorts entstehen, in die richtigen Bahnen gelenkt<br />
werden können. Vor diesem Hintergrund nennen Schwartz und<br />
Badura drei Kernfächer <strong>der</strong> Public-Health-Ausbildung: Epidemio<br />
logie, Gesundheitsför<strong>der</strong>ung sowie Gesundheitspolitik und -Ver<br />
waltung.<br />
Die Epidemiologie erkennen sie als "'Schlüsseltechnologie', um<br />
hypothesengenerierende (deskriptive) o<strong>der</strong> hypothesengeleitete<br />
(analytische) Ursachenforschung in hochkomplexen, nur gering<br />
gradig im Sinne von stringenten Ursache-Wirkungsketten durch<br />
schauten o<strong>der</strong> durchschaubaren Anwendungsgebieten durchzuführen,<br />
in denen sich wegen <strong>der</strong> gewollten Offenheit <strong>der</strong> Beobachtungs<br />
situation ('Feldforschung') o<strong>der</strong> aus praktischen o<strong>der</strong> aus<br />
normativ-ethischen Gründen (Auswirkung auf zum Teil sehr große,<br />
vor<strong>der</strong>gründig gesunde Bevölkerungsgruppen) streng kontrollierte<br />
experimentelle Studiendesigns verbieten o<strong>der</strong> allenfalls<br />
näherungsweise verwirklichen lassen" (Schwartz und Badura<br />
1991:16-17). Immerhin kann die Epidemiologie auf eine über<br />
fünfzigjährige Anerkennung in <strong>der</strong> Medizin und beeindruckende<br />
Ergebnisse in <strong>der</strong> Forschung verweisen. Im Zusammenhang <strong>der</strong><br />
Public-Health-Studiengänge stellt sie sich in den Dienst <strong>der</strong><br />
Gesundheits(vor)sorge vor dem Hintergrund <strong>der</strong> breitgefächerten<br />
Forschungsleistungen (Morris 1957).
23<br />
Mit Blick auf diese Forschung charakterisiert Robert An<strong>der</strong>son<br />
die Maxime, <strong>der</strong> die Public-Health-Praxis folgt, anhand <strong>der</strong><br />
Kurzformel, die Tuula Vaskilampi für das Nordkarelien-Projekt<br />
(Finnland) findet, nämlich: "Was gesund ist, ist gut, was unge<br />
sund ist, ist schlecht" (Vaskilampi 1981:193, cit. An<strong>der</strong>son<br />
1988:30). Die Ergebnisse <strong>der</strong> großen epidemiologischen Risiko<br />
studien, die im Public-Health-Denken weiterentwickelt werden,<br />
passen in diesen Rahmen. Die Framingham-Studie, durchgeführt in<br />
einem Suburb Bostons, erbrachte nach zwölfjähriger Auswertung<br />
bezüglich Herz-Kreislauf-Funktionsfähigkeit (als Gegenpol <strong>der</strong><br />
Mortalität aufgrund von Herz-Kreislauf-Leiden), daß folgende<br />
Risikofaktoren einen prädiktiven Wert haben: - erhöhte Blut-<br />
cholesterinwerte, Rauchen, Anormalitäten des Elektro<br />
kardiogramms und hoher Blutdruck (Dawber et al. 1963). Die<br />
Tecumseh-Studie, durchgeführt in einer Kleinstadt Michigans,<br />
ermittelte für die Diagnosen Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkran<br />
kungen, Gicht und rheumatische Arthritis, daß sowohl medizi<br />
nische als auch soziale Risikofaktoren wirken. Erstere sind<br />
Rauchen, Bluthochdruck, Serumcholesterin und Harnsäurespiegel<br />
des Blutes; letztere sind Alter, Geschlecht und Familienstatus<br />
(Fox et al. 1970:290f.). Durchschlagendes Ergebnis hinsichtlich<br />
einer einzelnen Verhaltensweise ist <strong>der</strong> in den frühen fünfziger<br />
Jahren gesicherte Befund, daß Rauchen wesentlich zur Entstehung<br />
des Lungenkarzinoms beiträgt (Doli und Hill 1952). Viel<br />
beachtetes Ergebnis hinsichtlich eines Gesamt-Lebenszuschnitts<br />
ist <strong>der</strong> gegen Ende <strong>der</strong> siebziger Jahre ermittelte Befund <strong>der</strong><br />
Alameda-County-Studie, daß Vereinsamte - auch wenn sie am<br />
öffentlichen Leben noch teilnehmen, beispielsweise als Publikum<br />
bei Vortragsveranstaltungen - in erhöhter Gefahr sind, im<br />
nächsten Jahrzehnt zu versterben (Berkman und Syme 1979) .<br />
Die Gesundheitsför<strong>der</strong>ung, die sich aus Überlegungen recht<br />
fertigt, die aus solchen Forschungen abgeleitet werden, umfaßt<br />
vor allem Präventionsprogramme. Ziel ist, über die<br />
"Krankheitsverhütung (disease prevention) im herkömmlichen<br />
Sinne" hinauszugehen und statt dessen "Gesundheitsför<strong>der</strong>ung<br />
(health promotion), wie sie etwa von <strong>der</strong> WHO gefor<strong>der</strong>t und an<br />
gestrebt wird" zu leisten (Schwartz und Badura 1991:18). Dabei<br />
wird an das 1984 erstellte Programmpapier <strong>der</strong> WHO "Concepts and
24<br />
Principles of Health Promotion" angeknüpft. Es schlägt vor,<br />
eine eigene Ausbildung in gemeindebezogener Gesundheitssorge<br />
einzurichten, die sich vorwiegend auf Gesundheitserziehung zur<br />
Prävention <strong>der</strong> oft beschworenen Massenerkrankungen des mo<strong>der</strong>nen<br />
Lebens festlegt (z.B. Bluthochdruck). David McQueen (1991)<br />
macht deutlich, daß dabei zwei sich stützende Zielperspektiven<br />
verfolgt werden: Einerseits soll die Forschung dazu dienen, den<br />
Leistungsbereich zu finden, in dem die praktische<br />
Gesundheitsför<strong>der</strong>ung am effektivsten tätig werden kann;<br />
an<strong>der</strong>erseits sollen praktische Programme <strong>der</strong> "New Public<br />
Health" dazu beitragen, den Leistungsbereich gemeindebezogener<br />
Gesundheitssorge abzustecken, so daß die Forschung imstande<br />
ist, dort die Erklärungsmodelle zu ermitteln, die dem Öffent<br />
lichkeitscharakter <strong>der</strong> gesundheitspolitisch relevanten Lebens<br />
bereiche entsprechen. Er überlegt, daß "die Sorge um die<br />
Public-Health-Praxis in <strong>der</strong> Gemeinde als eine Art 'Rückgabe <strong>der</strong><br />
Gesundheitssorge' an die Menschen in <strong>der</strong> Gemeinde gesehen<br />
werden kann", und er meint dazu: "Eine zentrale Frage ist, wie<br />
das Bewußtsein <strong>der</strong> 'neuen' Public Health in die Struktur einer<br />
Institution eingebaut werden kann; in welcher Weise wird dieses<br />
Bewußtsein durch Forschung, Lehre und Praxis entwickelt"<br />
(1991:162) .<br />
Der dritte Bereich ist Gesundheitspolitik und -Verwaltung.<br />
Selbst über die USA, in denen eine Ausbildung zum Doktor <strong>der</strong><br />
Öffentlichkeitsmedizin (D.P.H.) möglich ist, klagen Schwartz<br />
und Badura, wobei sie für Deutschland Programme empfehlen, in<br />
denen Ökonomie, Recht und Verwaltungswissenschaft enthalten<br />
sind: "Es scheint an den Schools of Public Health unbe<br />
strittener Konsens zu sein, daß das gegenwärtige Ausbildungs<br />
angebot auf keinen Fall diesen Anfor<strong>der</strong>ungen entspricht und daß<br />
darüber hinaus in naher Zukunft wachsen<strong>der</strong> Bedarf an einem ent<br />
sprechenden Angebot besteht" (1991:29). Alf Trojan und Helmuth<br />
Hildebrandt stellen für das WHO-Programm "Gesün<strong>der</strong>e Städte"<br />
fest, daß zwar einige Anstöße bezüglich kommunaler Gesundheits<br />
politik entstanden. Aber mit Blick auf das Beispiel <strong>der</strong> Groß<br />
stadt Hamburg bemängeln sie, welche Schwierigkeiten einer Ver<br />
lagerung <strong>der</strong> Gesundheitsför<strong>der</strong>ung auf die politische Ebene ent<br />
gegenstehen:
25<br />
"Selbst wenn man anerkennt, daß die Einrichtung von Nichtraucherzonen<br />
und gesün<strong>der</strong>es Kantinenessen strukturelle Maßnahmen<br />
sind, lassen sie sich doch schwerlich als eigentliche<br />
Verhältnisprävention betrachten, wie es z.B. Eingriffe in die<br />
Verkehrspolitik und die Verringerung von Umweltbelastungen in<br />
<strong>der</strong> Arbeits- und Lebenswelt wären" (1991:111).<br />
Der Grund <strong>der</strong>art verengter Programmdefinition liegt, so Trojan<br />
und Hildebrandt, in den Köpfen <strong>der</strong>er, die in den politischen<br />
Entscheidungsgremien arbeiten und dort Vorstellungen ent<br />
wickeln, die dann praktisch umgesetzt werden; diese Amtsträger<br />
und Experten könnten sich zwar Verhaltens-, doch nicht Verhält<br />
nisprävention vorstellen, so daß sie zwar Individuair isiko<br />
bemerken und auch dessen Bekämpfung veranlassen, aber an<strong>der</strong>er<br />
seits das eventuell viel gravieren<strong>der</strong>e Umweltrisiko<br />
"übersehen". Daraus leiten Trojan und Hildebrandt ab, daß<br />
Gesundheitsämter bzw. Öffentlicher Gesundheitsdienst (ÖGD) viel<br />
umfassen<strong>der</strong> als bisher in die politisch aufgelegten Programme<br />
<strong>der</strong> Gesundheitsför<strong>der</strong>ung einbezogen werden müßten. Die bis<br />
herige "ungeklärte Rolle" des ÖGD, so stellen sie fest, habe<br />
beispielsweise zur Effektivitätsmin<strong>der</strong>ung des "Gesün<strong>der</strong>e-<br />
Städte"-Programms <strong>der</strong> WHO beigetragen: "Der verständliche<br />
Wunsch, jegliche Bürokratie zu vermeiden, darf u.E. nicht zu<br />
<strong>der</strong> Fehleinschätzung führen, daß ein solches anspruchsvolles<br />
Projekt auf Struktur und gekonntes Management verzichten<br />
könnte" (1991:115).<br />
Epidemiologie, Gesundheitsför<strong>der</strong>ung sowie Gesundheitspolitik<br />
und -Verwaltung - die drei Bereiche <strong>der</strong> "neuen Public-Health"-<br />
Konzeption - sind also unterschiedlich gut in <strong>der</strong> Forschung und<br />
in <strong>der</strong> Praxis verankert. Während die Epidemiologie bereits auf<br />
eine Entwicklung über ca. fünfzig Jahre zurückblicken kann,<br />
gibt es Gesundheitsför<strong>der</strong>ung mittels Gesundheitserziehungspro-<br />
grammen in <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland erst seit etwa zwei<br />
Jahrzehnten (z.B. durch die Bundeszentrale für gesundheitliche<br />
Aufklärung). Die Gesundheitspolitik und -Verwaltung erscheint<br />
allen Vertretern <strong>der</strong> Gesundheitswissenschaften, die sie an den<br />
Zielen <strong>der</strong> "neuen Public-Health"-Bewegung messen, defizient.<br />
Einerseits, so wird beklagt, fehlen Entscheidungs- und Hand<br />
lungsbefugnisse für die Stellen und Gremien, die für die<br />
öffentliche Gesundheit zuständig sind. An<strong>der</strong>erseits mangelt es
26<br />
auf Landes- und Bundesebene, so wird gerügt, an Instanzen, die<br />
im Sinne öffentlichkeitsbezogener Gesundheitssicherung dafür<br />
verantwortlich sind, daß risikoträchtige Umwelten konsequent<br />
flächendeckend ermittelt und zu Nutzen <strong>der</strong> allgemeinen<br />
Schadensvermin<strong>der</strong>ung umgestaltet werden.<br />
Vor diesem Hintergrund stellt sich noch einmal die Frage, was<br />
das Gesundheitskonzept <strong>der</strong> "neuen Public-Health"-Debatte ist<br />
bzw. wie es sich soziologisch zuordnet. Das beson<strong>der</strong>e am "neuen<br />
Public-Health"-Gesündheitsbegriff, so David Armstrong, ist, daß<br />
er nicht mehr gegen den Krankheitsbegriff abgegrenzt ist.<br />
Son<strong>der</strong>n zwischen Gesundheit und Krankheit besteht ein Konti-<br />
nuum, so daß die Individuen - außer in Extremgruppen <strong>der</strong> Bevöl<br />
kerung - stets beides haben. Er schreibt dazu:<br />
"Der Traum <strong>der</strong> neuen Medizin hat die Beziehung zwischen Gesundheit<br />
und Krankheit reformiert. Nun sind sie nicht mehr polare<br />
Gegensätze in einer binären Klassifikation, sie sind unausweichlich<br />
innerhalb eines Kontinuums <strong>der</strong> Gesundheit miteinan<strong>der</strong><br />
verwoben. Auf <strong>der</strong> einen Seite ist die Gesundheit in <strong>der</strong> Krankheit<br />
enthalten; die Behin<strong>der</strong>ten, die chronisch Kranken, die<br />
Sterbenden und die Erkrankten können ihre Gesundheit durch angemessenes<br />
Gesundheitsverhalten, fähigkeitsstärkende Reaktionen<br />
und erfolgreiches Coping för<strong>der</strong>n. Gleichermaßen ist <strong>der</strong> Keim<br />
<strong>der</strong> Krankheit jetzt in <strong>der</strong> Gesundheit enthalten. Gesundheit ist<br />
ein zeitlich befristeter Verlaufszustand geworden, <strong>der</strong> die<br />
Anfänge <strong>der</strong> Krankheit enthält, denen jedoch durch präventives<br />
Handeln, Gesundheitsför<strong>der</strong>ung und gesunde Lebensweise entgegengewirkt<br />
werden kann" (1988:18).<br />
Das Menschenbild, das dabei zugrundeliegt, ist an <strong>der</strong> Psycho<br />
logie beziehungsweise <strong>der</strong>jenigen Soziologietradition orien<br />
tiert, die den einzelnen im Schnittpunkt <strong>der</strong> Faktoren sieht,<br />
die auf sein o<strong>der</strong> ihr Leben gestaltend kausal einwirken. Dabei<br />
gilt <strong>der</strong> einzelne - im Sinne Emile Dürkheims These des Dualis<br />
mus Soziales-Individuelles - als soziale Persönlichkeit. Das<br />
heißt, wichtig sind Unterschiede in den Bevölkerungen ent<br />
sprechend Geschlecht, Alter, sozialer Schicht, ethnischer Her<br />
kunft, kultureller Zugehörigkeit, Religion, Beruf, usw. Mit<br />
an<strong>der</strong>en Worten: Das zugrundeliegende Menschenbild entspricht<br />
dem homo socioloaicus; die Individuen werden vornehmlich als<br />
Träger ihrer Statusrollen, zuweilen vermittelt durch Positions<br />
rollen, wichtig (z.B. hinsichtlich Streß im Beruf, etwa bei<br />
Arbeitern o<strong>der</strong> Müttern). Für jede Rolle ist ein Gefährdungsgrad
27<br />
als Erkrankungsrisiko bzw. eine Gesundheitschance - als<br />
Nichterkrankungswahrscheinlichkeit - feststellbar. Biomathe<br />
matische Auswertung <strong>der</strong> offiziellen o<strong>der</strong> forschungsgenerierter<br />
Morbiditäts- und Mortalitätsdaten ermittelt das relative Risiko<br />
bei bestimmten Rollen bezüglich bestimmmter Erkrankungen etc.<br />
Die bevölkerungsmedizinischen Aussagen über Risiko sehen den<br />
einzelnen auf drei Ebenen <strong>der</strong> gesellschaftlichen Zusammenhänge;<br />
dort wird er o<strong>der</strong> sie als homo sociologicus untersucht. Erstens<br />
gibt es - auf niedrigster Abstraktionsebene - das Risikover<br />
halten. Es betrifft nachweislich erkrankungsfor<strong>der</strong>nde<br />
Verhaltensweisen, grundsätzlich jeglicher Art, vornehmlich<br />
Rauchen, Alkoholabusus, Medikamentenabusus, sexuelle Praktiken<br />
und ähnliches mehr. Zweitens werden Personen identifiziert, die<br />
ein angebbar hohes Risiko - etwa hinsichtlich Herz-Kreislauf-<br />
Erkrankungen - haben; sie werden als Angehörige sogenannter<br />
Risikocrruppen wichtig, d.h. als Menschen aus Bevölkerungskate-<br />
gorien mit statistisch überdurchschnittlich hoher Gesundheits<br />
gefährdung o<strong>der</strong> Erkrankungswahrscheinlichkeit. Drittens können<br />
Risikostrukturen festgestellt werden, die auf <strong>der</strong> Ebene gesell-<br />
; schaftlicher Großgebilde (z.B. Län<strong>der</strong>, Regionen) durch ver-<br />
gleichsweise hohe gesundheitliche Gefährdungslagen auffallen.<br />
Die Menschen, die auf den drei Ebenen des Verhaltens, <strong>der</strong><br />
Personeigenschaften (Gruppenzugehörigkeit, demographischen<br />
Merkmalen) und <strong>der</strong> Gesamtumwelt (Lebenslage, gesellschaftlichem<br />
Gesamtzusammenhang) jeweils eine gewisse Risikosituation ver<br />
körpern, kommen dabei nicht als Individuen ins Blickfeld. Im<br />
Sinne Dürkheims, <strong>der</strong> zwischen <strong>der</strong> sozialen (Kollektiv-) und <strong>der</strong><br />
individuellen Persönlichkeit des einzelnen in den mo<strong>der</strong>nen<br />
Gesellschaften unterscheidet, sind die Menschen in den Gesund<br />
heitswissenschaften als soziale Persönlichkeit (Sozialperson)<br />
thematisch.
Zwei Auffassungen <strong>der</strong> Medizin<br />
28<br />
Die Public-Health-Medizin vertritt eine nicht-klinische Vari<br />
ante des Krankheits-Gesundheits-Denkens. Entsprechend den Vor<br />
annahmen <strong>der</strong> schließenden Statistik sieht sie den Einzelfall<br />
als beliebig bzw. nicht aussagekräftig an. Dies entspricht <strong>der</strong><br />
Vorgabe, daß die Forschungsergebnisse für Bevölkerungen gelten,<br />
also Kollektive, wobei von dort aus auf Individuen rückge<br />
schlossert wird. Mervyn Süsser (1973) sieht das Spezifikum <strong>der</strong><br />
Epidemiologie darin, daß sie sich am ökologischen Modell <strong>der</strong><br />
Lebenszusammenhänge orientiert. Dies begründet er mit dem - im<br />
Sinne <strong>der</strong> klassisch-griechischen Tradition genuinen - hippokra-<br />
tischen Prinzip, daß die Umgebung für die Entstehung und Hei<br />
lung von Krankheiten bedeutsam ist. Vor diesem Hintergrund, so<br />
Süsser, sind die heute verwendeten Modelle des Verhältnisses<br />
von Träger und Immunität und des spezifischen Agens <strong>der</strong> Krank<br />
heitsverursachung Fortentwicklungen des hippokratischen Ge<br />
dankens .<br />
Die Logik <strong>der</strong> multivariaten Verursachung, so Süsser, erlaubt<br />
auch, komplexe Zusammenhänge <strong>der</strong> Krankheitsentstehung epidemio<br />
logisch zu erfassen. Aber man muß stets bedenken, welche<br />
Faktoren individuell und welche kollektiv bedeutsam sind. Da<br />
sie diese Unterscheidung nicht treffen, so Süsser, erliegen<br />
viele empirische Studien dem ökologischen Fehlschluß, d.h. <strong>der</strong><br />
Benutzung individuell erhobener Merkmale zur Beweisführung auf<br />
Bevölkerungsebene o<strong>der</strong> umgekehrt kollektiver Merkmale auf Indi-<br />
vidualebene. Letzteres geschieht beispielsweise bei <strong>der</strong> Be<br />
nutzung von Daten, die an <strong>der</strong> Gesamtheit beobachtbar sind - wie<br />
etwa Luftverschmutzung o<strong>der</strong> Arbeitszeitregelung -, zur<br />
Beweisführung auf <strong>der</strong> Ebene einzelner Bewohner o<strong>der</strong><br />
Erwerbstätiger. Verwechslungen bezüglich <strong>der</strong> Organisationsebene<br />
von Daten bezeichnet Süsser als aggregativen und als<br />
atomistischen Fehlschluß. Für den letzteren gibt er folgendes<br />
Beispiel: Bluthochdruck ist häufiger bei Schwarzen als bei<br />
Weißen in den USA, und es steht fest, daß bei Bluthochdruck oft<br />
koronare Herzkrankheit entsteht; aber daraus kann nicht<br />
gefolgert werden, daß koronare Herzkrankheit bei Schwarzen<br />
häufiger als bei Weißen wäre - was empirisch falsch ist. Denn
1<br />
:<br />
29<br />
erstere Daten gelten kollektiv, letztere individuell. "In<br />
diesem Fall", so Süsser, "liegt die Disparität zwischen <strong>der</strong><br />
Individual- und <strong>der</strong> Aggregationskorrelation darin, welcher Grad<br />
<strong>der</strong> Variation <strong>der</strong> abhängigen Variablen durch die unabhängige<br />
Variable erklärt wird" (1973:60).<br />
Derartige methodische Feinfühligkeit fehlt vielfach im bis<br />
herigen deutschen und wohl auch amerikanischen Public-Health-<br />
Denken. Man wertet Daten auf <strong>der</strong> Individualebene als Ausdruck<br />
<strong>der</strong> parzellierten Lebensumstände gesamtgesellschaftlicher Um<br />
welten o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Teilhabe an gemeinschaftlichen Kollektividenti<br />
täten. Damit wird zwar das Problem gelöst, wie die in <strong>der</strong> offi<br />
ziellen Statistik üblichen häufigkeitsstatistischen Angaben<br />
dazu dienen können, mittels schließen<strong>der</strong> Statistik zu um<br />
fassenden bevölkerungsmedizinischen Aussagen zu gelangen. Aber<br />
das Feld <strong>der</strong> Anwendbarkeit <strong>der</strong> Befunde im Einzelfall wird durch<br />
einen methodologisch ungedeckten Sprung besetzt. Es steht bis<br />
her nicht fest, ob die Vorgänge am Einzelleben erschöpfend<br />
durch die Gleichsetzung mit gleichartigen Merkmalsträgern<br />
beschrieben werden. Im Gegenteil: Man muß annehmen, daß wesent-<br />
liehe Aspekte <strong>der</strong> Lebenswelt <strong>der</strong> Menschen ausgeblendet bleiben,<br />
wenn die interpretierbaren Befunde nur jene Seiten <strong>der</strong> indivi<br />
duellen Existenz betreffen, die als Wi<strong>der</strong>spiegelung kollektiver<br />
Zustände o<strong>der</strong> Bedingungskontexte gelten können. 9<br />
Dies leitet zur Frage des Medizinbildes über, das im Public-<br />
Health-Denken liegt. Es ist nicht das am Einzelfall <strong>der</strong> je<br />
weiligen Erkrankung orientierte klinische Denken. Son<strong>der</strong>n an<br />
typischen Erkrankungsformen und -folgen ausgerichtete, durch<br />
Kosten-Nutzen-Kalkulation als Grundlage von Evaluationspro<br />
grammen ausgewiesene diagnostisch-therapeutische o<strong>der</strong> - besser<br />
noch - präventive Maßnahmen werden zur Krankheitsbekämpfung<br />
favorisiert. Die traditionelle Standesmedizin wird demgegenüber<br />
eher mit Mißtrauen betrachtet.<br />
Somit steht nun das Wesen des medizinischen Geschehens selbst<br />
zur Debatte. Was ist das Wesen <strong>der</strong> Medizin? Alvan Feinsteins<br />
medizinphilosophische Analyse des klinischen Handelns stellt<br />
klar, daß dabei praktische Vernunft am Werk ist. Im Einzelfall
3 0<br />
je<strong>der</strong> Symptomkonstellation, die ' grundsätzlich einmalig ist,<br />
aber unter Typizitätsgesichtspunkten einem Krankheitsbild mit<br />
hypothetischer Genese und Prognose zugeordnet wird, so<br />
Feinstein, begleitet in je<strong>der</strong> Situation wie<strong>der</strong>holtes seriales<br />
klinisches Entscheiden den Vorgang <strong>der</strong> Diagnose und die auf<br />
Wie<strong>der</strong>herstellung des Patienten bedachte Therapie. Dabei dienen<br />
epidemiologische und an<strong>der</strong>e Forschungsdaten als Material, auf<br />
das sich die Entscheidung des Klinikers jeweils stützt. Die<br />
doppelte Individualität <strong>der</strong> klinischen Entscheidung - als<br />
Handeln am einzelnen und als prinzipiell einmaliges, i r <br />
reversibles situationales Tun - bleibt entscheidend. Feinstein<br />
schreibt über den Arzt, <strong>der</strong> im Einzelfall handelt:<br />
"Indem er die bestehenden Symptome und Zeichen identifiziert<br />
und indem er ihren Abweichungscharakter und ihre Dauer klassifiziert,<br />
stellt <strong>der</strong> Kliniker eine Liste <strong>der</strong> signifikanten<br />
Befunde zusammen, denen er seine vordringliche diagnostische<br />
und therapeutische Aufmerksamkeit widmet. Wenn er diese vorläufigen<br />
Bewertungen geleistet hat, ist er nun soweit, die<br />
hauptsächliche klinische Entscheidungsfindung vorzunehmen. Sein<br />
erster wichtiger Entscheidungsakt ist, die diagnostische Zuordnung<br />
<strong>der</strong> dauerhaften Befunde zu bestimmen. Je<strong>der</strong> Befund muß<br />
berücksichtigt werden und muß eine Diagnose erhalten, so daß<br />
<strong>der</strong> Befund einer bestimmten Erkrankung o<strong>der</strong> Kombination krankhafter<br />
Vorgänge zugerechnet wird...Nun kann die therapeutische<br />
Handlungsfindung (reasoning) beginnen" (1967:136).<br />
Klinisch-wissenschaftliche Praxis - nur sie genügt dem<br />
patientenbezogenen Orientierungsanspruch <strong>der</strong> Medizin - be<br />
deutet, daß die Einmaligkeit des einzelnen Falls in <strong>der</strong> Nach<br />
prüfbarkeit des Tuns aufgehoben ist; dabei ist jede Arzt-<br />
Patienten-Beziehung ein geson<strong>der</strong>ter Fall, den <strong>der</strong> Arzt ver<br />
antwortet. "Wenn Wissenschaft von dimensionaler Messung ab<br />
hinge", so Feinstein, "könnte ein Kliniker niemals Wissen<br />
schaftler sein; er könnte nie mit <strong>der</strong> Schwierigkeit fertig<br />
werden, daß er keine dimensionalen Ausdrücke für die vielen<br />
verschiedenartigen Phänomene am Krankenbett finden kann"<br />
(1967:61).' Der Ausweg, so Feinstein, ist Standardisierung des<br />
klinischen Handelns. Sie soll sich <strong>der</strong> Wissensbestände be<br />
dienen, die im Arzt-Patient-Geschehen konkret gebraucht werden.<br />
Insbeson<strong>der</strong>e das Krankheitsgeschehen als Verlauf muß beachtet<br />
werden, wobei Genese und Prognose in <strong>der</strong> Krankengeschichte je<br />
weils im Einzelfall zusammenfließen. Zielpunkt <strong>der</strong> Überlegungen<br />
Feinsteins ist eine Standardisierung des klinischen Handelns,
31<br />
weil nur sie allzu breitstreuende Vielfalt und Relativität be<br />
grenzt und zudem unablässige Verständigung zwischen Ärzten vor<br />
aussetzt. Immer wie<strong>der</strong> sollen die Wege und. Zwecke, die die<br />
ärztliche Arbeit in einem gegebenen Rahmen hat, miteinan<strong>der</strong> ab<br />
geglichen werden. Der Stand <strong>der</strong> medizinischen Wissenschaft ins<br />
gesamt soll dabei auf die Versorgungslage an einem Ort und in<br />
einer Zeitperiode bezogen werden. Diese Offenheit für den Fort<br />
schritt, <strong>der</strong> jeweils orts- und zeitgebunden neue Entwicklungen<br />
bringt, ermöglicht stets für die Zukunft noch wirksamere Ab-<br />
gleichung <strong>der</strong> Vorgehensweisen.<br />
Hier berührt sich Feinsteins Aufriß <strong>der</strong> klinischen Entscheidung<br />
mit Wolfgang Wielands Erkenntnis, daß die Wissenschaftlichkeit<br />
<strong>der</strong> klinischen Medizin in ihrem Praxischarakter liegt (Wieland<br />
1975). Jenseits <strong>der</strong> Natur- und <strong>der</strong> Geistes- und Sozialwissen<br />
schaften findet Wieland eine dritte Gruppe Wissenschaften, die<br />
zum Beispiel das Recht und die Medizin prägen. Bei diesen<br />
Praxiswissenschaften hat <strong>der</strong> singulare Akt <strong>der</strong> situations<br />
gemäßen Entscheidung - in <strong>der</strong> Medizin ist es die Diagnose -<br />
wissenschaftlichen Wert. Wieland verweist darauf, daß "Medizin<br />
als praktische Wissenschaft" bedeutet:<br />
"Wenn praktische Wissenschaften primär nicht so sehr Erkenntnisse<br />
über das Handeln, son<strong>der</strong>n das Handeln selbst zum Ziel<br />
haben, so darf dies doch kein blindes Handeln sein. Es muß ein<br />
Handeln sein, das sich stets an Grundsätzen orientiert und das<br />
sich stets selbst muß darstellen, begründen und rechtfertigen<br />
können. Die praktischen Wissenschaften haben zu diesem Zweck<br />
beson<strong>der</strong>e Kategorien und Hilfsmittel entwickelt. In <strong>der</strong> Medizin<br />
gehört die Diagnose zu diesen Hilfsmitteln. Ihre Leistung besteht,<br />
unter diesen allgemeineren Gesichtspunkten betrachtet,<br />
vor allem darin, die Verbindung zwischen dem individuellen Fall<br />
und jenen allgemeinen Gesichtspunkten herzustellen, aus denen<br />
das Handeln gerechtfertigt werden kann" (1976:89).<br />
Ähnlich argumentiert Fritz Hartmann, <strong>der</strong> die klinische Aufgabe<br />
vor allem hinsichtlich chronischer Erkrankungen betrachtet. In<br />
Patient. Arzt und Medizin (1984) stellt er klar, daß ärztliche<br />
Anthropologie voraussetzt, nicht-epidemiologisch zu denken, er<br />
betont:<br />
"...daß es eine allgemeine, für jede Person, jede geschichtliche<br />
Zeit und jede soziale Lage gültige Aussage nicht geben<br />
kann. Es handelt sich um Handlungsbegriffe. In jedem Einzelfall<br />
wird nach Übereinstimmung zwischen Krankem, Arzt und Gemein-
32<br />
schaft gesucht. In <strong>der</strong> Regel vermittelt <strong>der</strong> Arzt zwischen<br />
Einzelnem, Gemeinschaft und Wissenschaft, die auch ein Teil von<br />
Gemeinschaft ist" (1984:15).<br />
Diese Bestimmung <strong>der</strong> Medizin paßt mit den Vorstellungen des<br />
Public-Health-Ansatzes nicht zusammen. Zwei Diskrepanzen seien<br />
hervorgehoben. Erstens steht für die klinische • Praxis im<br />
Mittelpunkt, daß <strong>der</strong> Einzelfall das Maß allen diagnostisch<br />
therapeutischen Handelns ist. Demgegenüber sieht die Bevölke<br />
rungsmedizin den Einzelfall methodisch als irrelevante Größe<br />
<strong>der</strong> biomathematisch exakten Messung und theoretisch als<br />
Konstrukt aus allgemeinen Sozialmerkmalen wie Geschlecht,<br />
Alter, Beruf usw. Mit an<strong>der</strong>en Worten: Während die klinische<br />
Praxis am Patienten das einmalige o<strong>der</strong> allenfalls typische<br />
diagnostisch-therapeutische Verlaufsgeschehen sieht, sieht die<br />
Bevölkerungsmedizin an ihm den homo sociologicus mit erwart<br />
baren Erkrankungswahrscheinlichkeiten und berechenbaren Gesund<br />
heitschancen. Zweitens ist die klinische Medizin darauf ange<br />
wiesen, per Kasuistik zu beobachten; sie löst dabei am Einzel<br />
fall das Problem, welche Symptomatik bei welchem Krankheitsbild<br />
durch welche biochemischen o<strong>der</strong> pathophysiologischen Mecha<br />
nismen plausibel wird; erst darauf aufbauend und stets in Ver<br />
bindung zur klinischen Variabilität <strong>der</strong> Verursachungsvorgänge<br />
führt die vergleichende Forschung einen systematischen Beweis<br />
über ätiologische Zusammenhänge. Demgegenüber ist die Bevölke<br />
rungsmedizin kasuistisch blind und muß es sein; ihr Erklärungs<br />
feld liegt bei den sozialen Gebilden, <strong>der</strong>en Risikostruktur und<br />
-Verteilung sie durch Forschung klärt und durch politisch<br />
praktische Maßnahmenprogramme verbessern hilft.<br />
Medizin und Gesundheit<br />
Die Frage, die beim Vergleich <strong>der</strong> beiden Medizinformen einen<br />
Schritt weiterführt, richtet sich darauf, ob beide gleicher<br />
maßen adäquat sind. Adäquat bezüglich was? Als Kriterium für<br />
Adäquanz verwende ich die Phänomenqualität <strong>der</strong> Gesundheit, die<br />
oben näher beschrieben wurde. Die Frage lautet dementsprechend:<br />
Ist die Bevölkerungsmedizin genauso wie die klinische Medizin<br />
fähig, <strong>der</strong> Alltagsgegebenheit <strong>der</strong> Gesundheit gerechtzuwerden?
33<br />
O<strong>der</strong> - so kann die Gegenfrage lauten - ist die Bevölkerungs<br />
medizin besser o<strong>der</strong> schlechter als die klinische Medizin ge<br />
eignet, <strong>der</strong> Gesundheit als einem Alltagsphänomen einen Verwirk<br />
lichungsspielraum zu gewährleisten?<br />
Gesundheit als Alltagsphänomen bedeutet, daß man solange frag<br />
los voraussetzt, daß man sie hat, als nicht durch Schmerzen<br />
o<strong>der</strong> merkliche Funktionseinschränkungen <strong>der</strong> Punkt erreicht<br />
wird, wo man feststellt, daß sie möglicherweise gefährdet o<strong>der</strong><br />
bereits verloren ist. Das heißt, als alltägliche Gegebenheit<br />
bringt die Gesundheit mit sich, keine dauernden Schutz- o<strong>der</strong><br />
Stützhandlungen zu erfor<strong>der</strong>n, die sie erhalten.<br />
Historisch war die Sozialmedizin, <strong>der</strong> es um Beeinflussung <strong>der</strong><br />
Gesundheit <strong>der</strong> Gesamtbevölkerung durch betriebliche, kommunale<br />
und landesweite Programme geht, höchst erfolgreich. Die<br />
Cholerabekämpfung gelang durch Kanalisation und Abwässerklär-<br />
wefke, die Pestausrottung durch Müllentsorgung, die Tuberku<br />
losebekämpfung durch Einrichtung öffentlicher Parks, Verbesse<br />
rung <strong>der</strong> Licht-Luftverhältnisse <strong>der</strong> privaten Wohnungen, Schul<br />
speisung etc. - um nur einige Leistungen <strong>der</strong> Infrastruktur und<br />
Lebensgestaltung mittels öffentlicher Gesundheitspflege zu<br />
nennen. Im Rahmen <strong>der</strong> umweltmedizinisch begründeten Public-<br />
Health-Medizin des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts gelangen Verbesserungen des<br />
allgemeinen Gesundheitszustandes <strong>der</strong> Bevölkerung, und sie<br />
wurden in den folgenden Jahrzehnten durch Reihenuntersuchungen<br />
ganzer Bevölkerungsgruppen (in Schulen, Betrieben etc.) laufend<br />
1 0<br />
kontrolliert (Labisch 1992).<br />
Parallel verän<strong>der</strong>te sich zudem <strong>der</strong> Bereich Hygiene. Das in <strong>der</strong><br />
zweiten Hälfte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts gewonnene Wissen über die<br />
Bedeutung <strong>der</strong> Mikroben für Infektionen inspirierte die erfolg<br />
reiche Aufklärung <strong>der</strong> Bevölkerung darüber, daß Körperhygiene<br />
Gesundheitsschutz gewährleistet. Die Medizin orientierte - nach<br />
jahrelanger Skepsis - ihre mo<strong>der</strong>nen Regeln <strong>der</strong> Sterilität im<br />
klinischen Arbeitsbereich an den Vorgaben mikrobentheoretisch<br />
begründeter Hygiene.
34<br />
George Rosen (1958) argumentiert, daß die Öffentlichkeits<br />
medizin, <strong>der</strong>en große Erfolge im späten neunzehnten Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
unbestreitbar waren, für ihre Verdienste wenig Lob erhielt.<br />
Statt dessen erntete die neue naturwissenschaftlich begründete<br />
Labormedizin einen Teil <strong>der</strong> Lorbeeren, die <strong>der</strong> Public-Health-<br />
Medizin zugestanden hätten. Die Öffentlichkeitsmedizin, so<br />
stellt er dar, legte das Paradigma <strong>der</strong> Miasma-Verursachung von<br />
Erkrankungen zugrunde - daher war logisch und richtig, bei<br />
spielsweise öffentliche Parks, Kanalisation etc. als krank-<br />
heitsverhin<strong>der</strong>nde Einrichtungen zu begreifen und zu finan<br />
zieren. Die segensreiche Wirkung <strong>der</strong> seit den vierziger Jahren<br />
des vorigen Jahrhun<strong>der</strong>ts durchgesetzten Public-Health-Maßnahmen<br />
wurde allerdings erst nach 1880 fühlbar, und dann gerade in<br />
jenen Jahrzehnten, als das neue Erklärungsparadigma <strong>der</strong> Mikro<br />
organismen rasant bekannt wurde. Das neue Denken baute auf <strong>der</strong><br />
Arbeit <strong>der</strong> Forschung auf, die das Miasma-Modell<br />
weiterentwickelt und schließlich überwunden hatte, schreibt<br />
Rosen, und zugleich verbuchte es die dankbare Bewun<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />
Allgemeinheit für die Verbesserung <strong>der</strong> Gesundheitslage allein<br />
für sich, obwohl diese auch die Erfolge <strong>der</strong> öffentlichen<br />
Maßnahmen spiegelte, die mit dem Miasma-Modell begründet worden<br />
waren. Die naturwissenschaftlich begründete Lehre heimste<br />
damals die Anerkennung ein, die teilweise auch <strong>der</strong> nunmehr<br />
obsoleten Miasma-Medizin und den Public-Health-Programmen<br />
gebührt hätte.<br />
Die Erfolgshoffnungen sozialmedizinisch begründeter Programme<br />
in <strong>der</strong> zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhun<strong>der</strong>ts können sich<br />
indessen nicht mehr auf dieselben Kriterien wie im 19. Jahr<br />
hun<strong>der</strong>t stützen. Die vorrangigen Mortalitätsursachen liegen<br />
heute bei chronischen Erkrankungen; <strong>der</strong>en Ätiologie ist oft un<br />
klar o<strong>der</strong> läßt mehrere Erklärungsmodelle zu. Die Genese<br />
chronischer Krankheiten, etwa des Krebses o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Herz-<br />
Kreislauf -Leiden, ist nur bedingt - und zudem vorwiegend zu<br />
folge epidemiologischer Befunde anstatt auch durch klinische<br />
Forschung - auf die bekannten. Risikoverhaltensweisen und<br />
Risikolebensstile zurückzuführen. Diese sollen durch die<br />
Gesundheitserziehung nunmehr beeinflußt werden, aber es steht<br />
nicht fest, ob die wissenschaftliche Grundlage dafür überzeugt.
35<br />
Die Assoziation zwischen Krankheitsvermeidung und Verhaltens<br />
än<strong>der</strong>ung in <strong>der</strong> heutigen Public-Health-Medizin ist nicht in<br />
<strong>der</strong>selben Weise naheliegend wie die Verzahnung zwischen <strong>der</strong><br />
Epidemienbekämpfung und <strong>der</strong> öffentlichen Gesundheitspflege im<br />
19. Jahrhun<strong>der</strong>t.<br />
Die Frage ist, ob die Bevölkerungsmedizin in ähnlicher Weise<br />
wie die klinische Praxis mit <strong>der</strong> Phänomenqualität <strong>der</strong> Gesund<br />
heit zurechtkommt. Die klinische Medizin, so behauptet Luhmann<br />
bezüglich "medizinischem Code", interessiert sich zunächst<br />
überhaupt nicht für Gesundheit, im Gegenteil, son<strong>der</strong>n nur für<br />
Krankheitszustände und -tatbestände. Die Gesundheit ist ihr<br />
kein Thema: er nennt sie den Negativwert des ärztlich-medizi<br />
nischen Denkens und Handelns.<br />
Gegen Luhmann ist allerdings klarzustellen, daß Gesundung stets<br />
das Ziel des klinischen Handelns ist. Grundsätzlich wird die<br />
Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> Gesundheit bzw. eines gesund<br />
heitsäquivalenten Funktionszustandes angestrebt, in Grenzfällen<br />
Erhaltung des Lebens als des nächstmöglich gesundheitsoffenen<br />
Zustandes. Vor diesem Hintergrund ist die klinische Medizin<br />
nicht interessiert am einzelnen, solange er o<strong>der</strong> sie gesund<br />
ist. Beziehungsweise: Solange <strong>der</strong> einzelne sich gesund findet<br />
und daher voraussetzt, daß er o<strong>der</strong> sie nichts "hat", also keine<br />
Erkrankung besteht, ist auch kein Kontakt mit <strong>der</strong> Institution<br />
Medizin zu erwarten. Die klinische Medizin läßt somit die<br />
Phänomenqualität <strong>der</strong> Gesundheit unberührt. Weil und insofern<br />
sie sich für den einzelnen nur interessiert, <strong>der</strong> krank ist o<strong>der</strong><br />
sich krank fühlt, bleibt die Klinik - als allgemeines ärzt<br />
liches Tätigkeitsfeld - unverbunden zur Gesundheit als A l l <br />
tagsphänomen. Ärztliches Tun und fraglos vorausgesetzter<br />
Funktionszustand Gesundheit im gesellschaftlichen Alltag<br />
ergänzen einan<strong>der</strong>, laufen parallel, überschneiden sich jedoch<br />
kaum. In diesem Sinne kann die Frage <strong>der</strong> Beziehung zwischen<br />
professioneller Medizin und Gesundheit folgen<strong>der</strong>maßen beant<br />
wortet werden:<br />
"Was hat die Gesundheit mit <strong>der</strong> Medizin zu tun?... Erstens kann<br />
man sagen, Gesundheit hat mit Medizin sehr viel zu tun, solange<br />
die Medizin sich darauf richtet, Krankheiten, an denen Menschen<br />
leiden, soweit zu lin<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> zu heilen, daß ein optimal
36<br />
gesun<strong>der</strong> o<strong>der</strong> gesundheitsähnlicher Zustand (wie<strong>der</strong>-)hergestellt<br />
wird. Der hippokratische Eid, dem je<strong>der</strong> Arzt sich verpflichtet,<br />
faßt in diesem Sinne Gesundheit als das Wesen <strong>der</strong> Medizin auf.<br />
Zweitens kann man sagen, Gesundheit sollte mit <strong>der</strong> Medizin<br />
nichts zu tun haben, solange man sie - die Gesundheit - 'hat'"<br />
(Gerhardt 1993c:44).<br />
Demgegenüber ist die Gesundheit in <strong>der</strong> Bevölkerungs- o<strong>der</strong><br />
Public-Health-Medizin auch bei nicht vorhandener Erkrankung<br />
Thema <strong>der</strong> Gesundheitserziehung. Diese bemüht sich, den Indivi<br />
duen bei ihren Alltagsverrichtungen des Essens o<strong>der</strong> Trinkens,<br />
<strong>der</strong> Arbeits- o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Freizeitgestaltung, ganz zu schweigen von<br />
Schlaf o<strong>der</strong> Sexualität, nahezulegen, den Gesichtspunkt zu be<br />
rücksichtigen, Gesundes bewußt zu tun und Ungesundes möglichst<br />
zu unterlassen. Ein Ziel <strong>der</strong> Gesundheitswissenschaften ist, die<br />
Gesundheitserziehung sicherzustellen; <strong>der</strong>en unwillkürliche<br />
Begleiterscheinung ist wie<strong>der</strong>um, daß das Alltagsphänomen<br />
Gesundheit in Frage gestellt wird. Die Public-Health-Medizin<br />
versucht, beim einzelnen an die Stelle irrationaler Verhaltens<br />
routinen eine bewußte und auch rationale Gestaltung seines<br />
Lebens im Dienste <strong>der</strong> Gesundheit zu setzen; dabei wendet sie<br />
sich gerade gegen jene selbstverständliche Nichtthematisierung<br />
des Gesundheitszustandes, <strong>der</strong> im Alltag allererst bedeutet, daß<br />
man Gesundheit "hat".<br />
Die Hintergründe <strong>der</strong> Medikalisierung <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
Irving Zola hat Anfang <strong>der</strong> siebziger Jahre auf die Gefahr hin<br />
gewiesen, daß Medikalisierung <strong>der</strong> Gesellschaft droht. Er ver<br />
weist auf die Verengung <strong>der</strong> Spielräume des Individuellen bei<br />
immer breiterer Ausweitung <strong>der</strong> Definitionsspielräume für<br />
gesundheitsrelevantes und daher durch bewußte Lebensführung zu<br />
kontrollierendes Verhalten. Insgesamt will er vor <strong>der</strong> Gefahr<br />
warnen, daß versicher'ungsrechtlich o<strong>der</strong> politisch Konsequenzen<br />
aus gesundheitsschädigendem Verhalten angedroht o<strong>der</strong> gezogen<br />
werden, was dazu führen könnte, daß "im Namen von Gesundheit<br />
und Krankheit" dem einzelnen Freiheitsspielräume <strong>der</strong><br />
Selbstverwirklichung entzogen o<strong>der</strong> zerstört werden (Zola 1972,<br />
1975) .
37<br />
Christian von Ferber identifiziert die Gefahren <strong>der</strong> Medikali-<br />
sierung mit <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen professionalisierten<br />
Medizin, die erst durch die sozialpolitischen Sicherungs<br />
leistungen <strong>der</strong> Gesetzlichen Krankenversicherung voll ausgebaut<br />
wurde. Er erläutert: "Arztzentrierte und naturwissenschaftlich<br />
technische Medizin und sozialstaatliche Finanzierung und Orga<br />
nisation des Gesundheitswesens bedingen und verstärken einan<strong>der</strong><br />
in vielfältiger Weise" (1989:633), und er meint damit "im<br />
wesentlichen das Entstehen einer Dienstleistungswirtschaft<br />
'Gesundheitswesen' und die damit verbundene Berufsfeldsicherung<br />
für die Ärzte" (ibid) . Letztlich, so folgert er, sei die Medi-<br />
kalisierung <strong>der</strong> Gesellschaft die Folgeerscheinung <strong>der</strong> Ver<br />
wissenschaftlichung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Medizin:<br />
"Der fortschreitenden Zweckrationalität, <strong>der</strong> Verwissenschaftlichung,<br />
Technisierung und Bürokratisierung verdanken schließlich<br />
auch die Systeme sozialer Sicherheit ihre Existenz. Dieser<br />
zivilisatorische Prozeß verbindet Medikalisierung und sozialstaatliche<br />
Gesundheitspolitik" (636).<br />
Der professionellen Machtfülle setzt er als Alternative ent<br />
gegen: Naturheilkunde, "Wie<strong>der</strong>belebung und Reorganisation <strong>der</strong><br />
kommunalen Gesundheits- und Sozialpolitik" (641) und insbe<br />
son<strong>der</strong>e die "Selbsthilfebewegung: Sie verfolgt eine doppelte<br />
Strategie: einmal die Wie<strong>der</strong>- und Neubelebung <strong>der</strong> Laienkultur<br />
in <strong>der</strong> Heilkunde...; auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite werden neue Chancen<br />
<strong>der</strong> Partizipation erschlossen" (642). Daß darin ein<br />
"kulturelles und politisches Gleichgewicht zur Medikalisierung"<br />
wirksam werden könne, setze allerdings voraus, daß die Reform<br />
bestrebungen zur Stärkung <strong>der</strong> Laienkultur "das überkommene<br />
Bündnis von Medikalisierung und sozialpolitischer Gesundheits<br />
politik lockern und z.T. lösen werden" (ibid.). Von Ferber<br />
führt die Medikalisierung <strong>der</strong> Gesellschaft auf die Verwissen<br />
schaftlichung und Arztzentrierung <strong>der</strong> Medizin zurück, <strong>der</strong>en<br />
Privilegien durch den Sozialstaat verfestigt wurden. Zum Beleg<br />
verweist er auf die "sozialen Funktionen einer biomechanischen<br />
Medizin", insbeson<strong>der</strong>e dabei die ärztliche Begutachtung <strong>der</strong><br />
Arbeitsunfähigkeit sowie <strong>der</strong> Erwerbs- und Berufsunfähigkeit und<br />
weiterhin die Aufgaben bei <strong>der</strong> Feststellung von Rehabili<br />
tationsaussichten und/o<strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung. Diese Funktionen sieht<br />
er als "Spitze des Eisbergs einer Medizin im Dienste <strong>der</strong>
38<br />
besseren Anpassung <strong>der</strong> Menschen an gesellschaftliche Anforde<br />
rungen", wobei für <strong>der</strong>en Hilfeangebot beispielhaft seien:<br />
Schmerz- und Beruhigungsmittel, Mittel zur. Familienplanung,<br />
Aknemittel, kosmetische Chirurgie usw. (639).<br />
Treffen sich <strong>der</strong>artige Überlegungen mit Luhmanns Setzungen <strong>der</strong><br />
"abson<strong>der</strong>lichen" Negativ-Positiv-Spanne des "medizinischen<br />
Code"? Bei erstem Hinsehen scheint es, daß Luhmann, <strong>der</strong> bei <strong>der</strong><br />
Medizin ungelenkte Ausdifferenzierung von Krankheitskonstruk<br />
tionen sieht, dasselbe sagt wie von Ferber, <strong>der</strong> die pro<br />
fessionelle Autonomie <strong>der</strong> Medizin kritisiert. Von Ferber will<br />
die durch den Sozialstaat gestärkte Machtfülle <strong>der</strong> Ärzteschaft<br />
anprangern. Aber Luhmann richtet seine Analyse auf einen<br />
an<strong>der</strong>en Punkt. Ihm geht es um die Fokussierung <strong>der</strong> klinischen<br />
Medizin auf aktuelle Krankheiten, worin er eine rationale Stra<br />
tegie <strong>der</strong> Reaktion auf die unzweifelhafte Unsicherheit aller<br />
Zukunft erkennt:<br />
"Die Verlagerung des Schwerpunkts von Infektionskrankheiten auf<br />
Zivilisationskrankheiten, also auf Krankheiten, die auf schwer<br />
zu kontrollierende Weise als Resultat <strong>der</strong> Lebensführung auftreten,<br />
erweitert den Relevanzbereich des Systems auf die<br />
gesamte Lebensführung...[So] verlagert sich über die zunehmende<br />
Bedeutung <strong>der</strong> Zivilisationskrankheiten die Ansprechbarkeit,<br />
fast müßte man sagen: die Reizbarkeit und die Resonanzfähigkeit<br />
des Systems <strong>der</strong> Krankenbehandlung in einer Weise, die wissensmäßige,<br />
kommunikationspraktische, organisatorische und nicht<br />
zuletzt finanzielle Folgen nach sich zieht. Und typisch ist die<br />
Konsequenz, daß die Aktivitäten des Systems zu spät einsetzen.<br />
Das hat gute rationale Gründe, wenn man die Ungewißheit <strong>der</strong> Zukunft<br />
bedenkt. Bei einer rationalen Einstellung zu Risiken ist<br />
es oft richtiger, den Schadenseintritt abzuwarten, als viel in<br />
(wahrscheinlich unnötige) Vorbeugung zu investieren. Ja, in dem<br />
Maße als ein System Schäden verkraften und ausgleichen kann,<br />
wird es rationaler, auf diese Fähigkeit zu setzen, statt zu<br />
versuchen,<br />
X 1<br />
192) .<br />
alles Denkbare zu verhin<strong>der</strong>n" (Luhmann 1990:191-<br />
Verhin<strong>der</strong>ung alles Denkbaren - auf diesen Begriff kann man die<br />
Initiativen des "neuen Public Health" bringen. Bereits im Vor<br />
feld ihrer Entstehung sollen (tendentielle o<strong>der</strong> tatsächliche)<br />
Massenerkrankungen - so beispielsweise anerkanntermaßen Herz-<br />
Kreis lauf -Leiden o<strong>der</strong> neuerdings Hautkrebs - durch Prävention<br />
abgefangen werden, wobei Maßnahmen <strong>der</strong> öffentlichen Gesund<br />
heitsför<strong>der</strong>ung eingesetzt werden. Diese Maßnahmen umfassen<br />
Interventionsprogramme, die die Individuen mit mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong>
39<br />
sanftem Zwang dazu veranlassen sollen, bei den Alltagsverrich<br />
tungen des Essens, Trinkens, Sich-Bewegens, Liebens, Schlafens<br />
etc. jeweils das Gesunde zu tun und das Ungesunde zu lassen -<br />
analog <strong>der</strong> erwähnten Maxime <strong>der</strong> Nordkarelienstudie "Was gesund<br />
ist, ist gut, was ungesund ist, ist schlecht". *<br />
Wer bestimmt nun, so muß man weiter fragen, was gesund und<br />
daher gut und was ungesund und daher schlecht ist? Die wissen<br />
schaftliche Begründung <strong>der</strong> gesundheitspolitischen Interven<br />
tionsprogrammatik im "neuen Public Health" wird in denselben<br />
epidemiologischen Großstudien gesucht, <strong>der</strong>en "Moral" durch die<br />
Maxime <strong>der</strong> Nordkarelienstudie plastisch verdeutlicht wird. In<br />
den Studien und auch in <strong>der</strong> aus ihnen begründeten Interven<br />
tionspolitik steckt offen o<strong>der</strong> implizit eine weltanschauliche<br />
Vordefinition dessen, was als gesund bzw. gesundheitsför<strong>der</strong>nd<br />
gelten soll.<br />
In einem geschichtlichen Aufriß <strong>der</strong> Konzeptionen des Public<br />
Health in Deutschland verweist Gunnar Stollberg darauf, daß<br />
dabei eine weltanschauliche Komponente vielfach nicht wahrge<br />
nommen wird; daher bleibe die Public-Health-Debatte meist blind<br />
gegen die Zwangselemente, die in ihrem eigenen Konzept stecken.<br />
Stollberg zitiert zunächst folgende Definition Baduras:<br />
"'Public Health bemüht sich um wissenschaftliche und praktische<br />
Bewältigung von Problemen, die den Gesundheitszustand, ganzer<br />
Populationen betreffen; insbeson<strong>der</strong>e Entstehung und Verbreitung<br />
von Massenkrankheiten; Gesundheitsför<strong>der</strong>ung und Prävention;<br />
Planung, Organisation und Lenkung von Gesundheitseinrichtungen;<br />
Politik und Ökonomie des Gesundheitswesens'", und er fährt<br />
fort: "Historische Definitionen von medizinischer Polizei, von<br />
Sozialmedizin, Sozialhygiene, öffentlicher Gesundheitsfürsorge<br />
u.a. sind ähnlich gewesen" (Stollberg 1993:1). Er zeigt, daß<br />
Einschränkung <strong>der</strong> individuellen Handlungsfreiheit durch staat<br />
liche Maßnahmen <strong>der</strong> Gesundheitskontrolle durchaus zum Arsenal<br />
präventiver Programmatik gehört: Seit dem fünfzehnten Jahr<br />
hun<strong>der</strong>t gibt es Krankheitsbekämpfung und Vorbeugung durch<br />
Behörden mit Eingriffsrechten in die Bewegungs- und Handlungs<br />
freiheit <strong>der</strong> einzelnen; während Gesundheit im liberalen Vormärz<br />
als soziales Recht galt, das den Schutz des Staates für die
40<br />
Armen erfor<strong>der</strong>te, wurde Gesundheit im späten 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
als Resultat städtischer Umwelthygiene erkannt. Daraus bildete<br />
sich eine Hygienebewegung, die unter <strong>der</strong> Thematik <strong>der</strong> Sozial<br />
hygiene auch rassische Eugenik einbezog. Aus <strong>der</strong> Perspektive,<br />
daß die Rassenhygiene des Nationalsozialismus an die früheren<br />
Hygieneprogramme anknüpfte, was man heute nicht vergessen<br />
solle, warnt Stollberg vor den Implikationen <strong>der</strong> neuen gesund<br />
heitspolitischen Kontrollprogramme:<br />
"Die Rassenhygiene hat sich um den Gesundheitszustand einer als<br />
Ganzheit begriffenen Population bemüht; um Prävention und<br />
Gesundheitsför<strong>der</strong>ung war es ihr in beson<strong>der</strong>er Weise zu tun. Die<br />
Lenkung von Gesundheitspolitik lag durchaus in ihrem Blickfeld.<br />
Insofern muß im Sinne von Baduras Definition auch die Rassenhygiene<br />
als eine Konzeption von Public Health begriffen werden.<br />
Überdies wurde sie von einer zeitgenössischen sozialen Bewegung<br />
aufgegriffen. Daß die Rassenhygiene insofern in die Ahnenreihe<br />
von Public Health-Konzeptionen gehört, sollte für die Gegenwart<br />
bedenklich stimmen" (1993:10-11).<br />
Hier wird die Interventionslogik <strong>der</strong> Präventionsprogramme des<br />
"neuen Public Health" problematisiert: Man kann also nicht<br />
davon ausgehen, daß die Public-Health-Stellen, die sich um die<br />
Verbesserung <strong>der</strong> gesundheitlichen Situation einer Bevölkerung<br />
bemühen, eo ipso das "bessere Wissen" haben und auch das<br />
Richtige tun. Es wäre ebensogut denkbar, daß hier ein neues<br />
Expertentum mit gesundheitswissenschaftlichem Selbstbewußtsein<br />
entsteht, das sich selbst als Gegenkraft gegen das Expertentum<br />
<strong>der</strong> Medizin setzt. Deren professionelle Kompetenz mag mit viel<br />
fältigen Begründungen als inadäquat o<strong>der</strong> sogar gesundheitlich<br />
kontraproduktiv abgelehnt werden - siehe beispielsweise von<br />
Ferbers Kritik an <strong>der</strong> Medikalisierung durch die Medizin. Aber<br />
die weltanschauliche Einseitigkeit, die in den Argumentationen<br />
gegen das klinische Denken und Handeln steckt, ist unüberseh<br />
bar. Am deutlichsten wurde sie in Ivan Illichs polemischem<br />
Essay Die Nemesis <strong>der</strong> Medizin (1975). Er bezweifelte die<br />
Leistungskompetenz <strong>der</strong> professionellen Medizin und propagierte<br />
eine Rückkehr zur Natur des "nichtentfremdeten" Lebens und<br />
Leidens. Dabei wurden <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Klinik Fehlentwicklungen zur<br />
Last gelegt, die die Kultur und selbst die Selbstbestimmung des<br />
Menschen zerstört hätten. Illichs Thesen waren mehr als ein<br />
Jahrzehnt bis in die zweite Hälfte <strong>der</strong> achtziger Jahre en<br />
yocrue, obwohl heute ihr Dilettantismus durchschaut wird. Aber
41<br />
die Kritik an <strong>der</strong> professionellen Medizin, die Iiiich mit<br />
Behauptungen und Pseudo-Daten stützte, wird heute in <strong>der</strong><br />
Begründung <strong>der</strong> Gesundheitswissenschaften mit an<strong>der</strong>en Mitteln<br />
vielfach weitergeführt.<br />
Das neue Expertentum, das sich aufgrund <strong>der</strong> Public-Health-<br />
Bestrebungen entwickeln dürfte, könnte zwar eine ähnlich<br />
klinikfeindliche Haltung wie Iiiich einnehmen, aber an<strong>der</strong>er<br />
seits Kritik am eigenen Wissenbestand und den Grundlagen <strong>der</strong><br />
Präventionsprogramme nicht zulassen o<strong>der</strong> nicht ernst nehmen. In<br />
<strong>der</strong> Medizin werden heute rasante Fortschritte gemacht, die zur<br />
dauernden Fortentwicklung <strong>der</strong> Diagnose und Therapie veran<br />
lassen. Es ist fraglich, ob die Public-Health-Medizin, die<br />
gerade dies an <strong>der</strong> klinischen Praxis als Technikorientierung<br />
kritisiert, ihrerseits selbst fortschrittsfreundlich wäre. Es<br />
wäre ebenso denkbar, daß die Öffentlichkeitsmedizin ihre Inter<br />
ventionslogik absolut setzt und nicht auf die wohlmeinenden<br />
ernstzunehmenden Kritiker hört, die ihr dann aus den Reihen <strong>der</strong><br />
klinischen Profession sicherlich entgegentreten.<br />
Die Medikalisierung <strong>der</strong> Gesellschaft, die kritisiert wird von<br />
einem Standpunkt aus, <strong>der</strong> am Freiheitsspielraum des einzelnen<br />
- auch als Krankem - interessiert ist, entsteht einerseits<br />
aufgrund dessen, daß alltägliche Tätigkeiten und die<br />
Lebensweise in die Definition des Gesunden bzw. <strong>der</strong> Gesundheit<br />
einbezogen werden. Gesundes Leben, wie bekannt, ist explizit<br />
Ziel <strong>der</strong> Public-Health-Bemühungen. Da dies auf Umgestaltung <strong>der</strong><br />
Lebensgewohnheiten hinzielt, ist die Medikalisierung <strong>der</strong><br />
gesellschaftlichen Lebensaspekte eher eine Gefahr, die von <strong>der</strong><br />
Öffentlichkeitsmedizin ausgeht, und weniger eine, die durch die<br />
klinische Medizin vergrößert wird. Im allgemeinen interessieren<br />
sich Ärzte wenig für die Probleme <strong>der</strong> Lebensweise - man wirft<br />
ihnen deshalb sogar vielfach in <strong>der</strong> Literatur vor, sie achteten<br />
allzu wenig auf die aus Patienten- o<strong>der</strong> Laienperspektive<br />
wichtigen Fragen <strong>der</strong> Lebensweise.<br />
An<strong>der</strong>erseits ist nicht sicher, ob mehr Freiheit <strong>der</strong> einzelnen<br />
aus mehr Public Health resultiert. Die Gefahr einer Verbürokra<br />
tisierung o<strong>der</strong> Semi-Professionalisierung des Public-Health-
42<br />
Sektors besteht, falls eines Tages entsprechende Berufsfel<strong>der</strong><br />
geschaffen werden, die für die Kommunen o<strong>der</strong> den Staat befrie<br />
digend arbeiten.<br />
Medikalisierung kann indessen auch noch unter einem ganz<br />
an<strong>der</strong>en Gesichtspunkt betrachtet werden. Parsons sah in ihr in<br />
den späten fünfziger Jahren ein Anzeichen für gesellschaft<br />
lichen Fortschritt zu mehr Humanität. Er führte an, daß Ab<br />
weichungen von den Normen <strong>der</strong> Normalität bis in die erste<br />
Hälfte unseres Jahrhun<strong>der</strong>ts vornehmlich mit den Begriffen<br />
Kriminalität und Sünde belegt waren. Dementsprechend war - vor<br />
allem in <strong>der</strong> säkularisierten Industriegesellschaft - das<br />
Bestrafungsparadigma richtungweisend. Mehr und mehr wurde es<br />
durch ein therapeutisches Denken abgelöst, das nun bei Ab<br />
weichungen, die früher kriminell gewesen waren, krankhafte Vor<br />
gänge erkannte. Beispielsweise wurde Homosexualität bis in die<br />
jüngste Vergangenheit nach dem Strafgesetzbuch geahndet,<br />
gleichzeitig und danach wurde sie - unter dem Einfluß <strong>der</strong><br />
Psychoanalyse - ein Krankheitstatbestand, <strong>der</strong> medizinisch zu<br />
therapieren war. (Heute kündigt sich an, daß darin eine eigene<br />
Normalitätsform liegt). Zugleich wurden in den letzten Jahr<br />
zehnten Alkohol- und Drogenabusus, Übergewicht, Hyperaktivität<br />
o<strong>der</strong> Aggressivität zu pathologischen Tatbeständen, jedenfalls<br />
insofern, als von ihnen angenommen wird, daß sie therapeutisch<br />
beeinflußbar sind. Derartige Störungen können also, so ist<br />
heute selbstverständlich, durch Behandlung gebessert werden -<br />
wobei die Medizin gleich o<strong>der</strong> mehr behandlungskompetent ist als<br />
die Sozialarbeit, Selbsthilfe etc.<br />
Aber Parsons geht noch einen Schritt weiter. Die heutige<br />
Gesellschaft, in <strong>der</strong> hoher Wert auf gute und genaue Verhaltens<br />
gestaltung gelegt wird, so erläutert er, verlangt mehr Normen<br />
treue als frühere Gesellschaften. Dabei ist Gesundheit<br />
beson<strong>der</strong>s geistige Zurechnungsfähigkeit, also psychische<br />
Gesundheit - wichtiger als in vergangenen Epochen. Er schreibt<br />
dazu:<br />
"Die amerikanische Gesellschaft ist...vielleicht so differenziert<br />
wie überhaupt irgend je eine, ganz sicher differenzierter<br />
als jene außerhalb <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen westlichen Welt. Aber unter den<br />
hochdifferenzierten Gesellschaften fällt sie auf, weil sie
43<br />
großen Nachdruck auf das Feld und die Probleme von Krankheit<br />
und Gesundheit legt im Verhältnis zu an<strong>der</strong>en Fel<strong>der</strong>n und Problemen,<br />
vielleicht mehr als irgendwo sonst. Es ist auch klar,<br />
daß unsere Sorge um Gesundheitsprobleme seit <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>twende<br />
stark gestiegen ist, und ferner, daß das Phänomen neu<br />
ist, daß das Problem <strong>der</strong> geistigen Gesundheit so herausragend<br />
wichtig ist...Tatsache ist, daß im Zuge <strong>der</strong> Industrialisierung,<br />
Urbanisierung, fortgeschrittenen Technisierung, Massenkommunikation<br />
und vielen an<strong>der</strong>en Seiten unserer Gesellschaft die Verantwortung,<br />
die <strong>der</strong> einzelne trägt, insgesamt auf eine an<strong>der</strong>e<br />
Ebene angehoben wurde. Das Leben ist notwendigerweise komplexer<br />
und stellt höhere Anfor<strong>der</strong>ungen an das typische Individuum, obwohl<br />
verschieden auf verschiedenen Ebenen. Bereits das Problem,<br />
wie die Anfor<strong>der</strong>ungen zu erfüllen sind, ist daher viel<br />
schwieriger geworden. Infolgedessen wächst die Motivation, sich<br />
in die Krankheit auf psychiatrische (mental) o<strong>der</strong> psychosomatische<br />
Weise zurückzuziehen. Entsprechend wächst die Bedeutung<br />
<strong>der</strong> wirksamen Mechanismen des Coping, mit denen diejenigen,<br />
die sich <strong>der</strong>art zurückziehen, behandelt werden"<br />
(1958/1964:273, 281).<br />
Damit ist ausgesagt, daß die therapeutische soziale Kontrolle,<br />
die den einzelnen zur Normalität des Alltags zurückführt,<br />
v humaner ist als die Bestrafung. Während in früheren Zeitaltern<br />
obrigkeitliche Gewalt gegen Leib und Leben <strong>der</strong> Betoffenen vor<br />
herrschte, um Abweichungen vom Normalltag zu ahnden, ist heute<br />
die - sozusagen - sanftere Gewalt <strong>der</strong> Therapie mo<strong>der</strong>n. Sie will<br />
x den einzelnen nicht brandmarken, son<strong>der</strong>n durch Behandlung in<br />
seine Lebensumwelt re-integrieren. Diese Medikalisierung <strong>der</strong><br />
Gesellschaft ist, so Parsons, eine angemessene Antwort auf die<br />
Verän<strong>der</strong>ung des typischen Abweichungsmusters in unserem Jahr<br />
hun<strong>der</strong>t. In <strong>der</strong> demokratischen Industriegesellschaft ist heute<br />
die typische Nichtnormalität eher Krankheit als Kriminalität,<br />
so Parsons, und dies wie<strong>der</strong>um eher als psychisch-<br />
psychosomatische denn als ("rein") körperliche Erkrankung.<br />
Diese psychische Seite bedeutet Rückzug aus dem sozialen<br />
Lebensgefüge als typischer Devianz vom Normalen, anstatt<br />
gewalttätiger Handlungen, die die Grenzen zur Lebenssphäre <strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>en verletzen. Krankheit ist die mo<strong>der</strong>ne Form <strong>der</strong><br />
Abweichung vom Normalen, so Parsons, und die Medikalisierung<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft entspricht dieser "Wende zum eigenen Ich und<br />
Körper".<br />
Letzterer Gedanke, so kann man festhalten, ist dem<br />
Phänomencharakter <strong>der</strong> Gesundheit kommensurabel. Wenn sich<br />
therapeutische anstatt bestrafende Behandlungsmodelle auch für
44<br />
Abweichungen wie Alkoholabusus etc. durchsetzen konnten, wird<br />
damit nicht ausgeschlossen, daß sie-erst "greifen", wenn Kranke<br />
aus eigenem Entschluß einen Arzt aufsuchen - anstatt durch die<br />
Funktionspersonen o<strong>der</strong> Aspekte <strong>der</strong> Präventionsprogramme<br />
ihrerseits aufgesucht und zur "Selbstbehandlung" veranlaßt zu<br />
werden.<br />
Prolegomina zu einem soziologischen Gesundheitsverständnis<br />
Thema dieses Arbeitspapiers sind Konsequenzen für Theorie und<br />
Methodologie von Public Health, die sich daraus ergeben, daß<br />
Gesundheit ein Alltagsphänomen ist. Dabei erscheint ein Public-<br />
Health-Ansatz möglich, <strong>der</strong> grundsätzlich nicht im Wi<strong>der</strong>spruch<br />
zur Phänomenqualität <strong>der</strong> Gesundheit steht. Aber um ein Gesund<br />
heitsverständnis zugrundezulegen, das den gesellschaftlichen<br />
Alltagscharakter ernst nimmt, muß die Medizinsoziologie und<br />
wohl auch die Sozialmedizin dazu bereit sein, ihren Gegen<br />
standsbereich und ihr Forschungsinteresse teilweise neu zu<br />
überdenken.<br />
Hinsichtlich <strong>der</strong> Theorie des Gesundheitswesens hat die kri<br />
tische Betrachtung folgendes ergeben: Unvermeidlich wird das<br />
Alltagsphänomen Gesundheit durch die Public-Health-Medizin ge<br />
stört; im Bereich des Individuums werden Spielräume eigenver<br />
antworteter Lebensgestaltung immer mehr kontrolliert, und im<br />
Bereich Gesellschaft nimmt die Medikalisierung von Lebens<br />
routinen überhand. Die Einengung <strong>der</strong> subjektiven Handlungs<br />
fel<strong>der</strong> durch Programme, die eigentlich das Gegenteil bezwecken,<br />
ist eine nicht-beabsichtigte Folgewirkung <strong>der</strong> Public-Health-<br />
Leistungen, nicht <strong>der</strong>en gewolltes Ergebnis. Aber die unvermerkt<br />
durch bevölkerungsmedizinische Gesundheitsför<strong>der</strong>ung ent<br />
stehenden Herrschaftsmuster sind soziologisch beunruhigend. Für<br />
die künftige Gestaltung von Public Health erfor<strong>der</strong>n sie, den<br />
begrifflichen Ansatz noch einmal zu überdenken. Die Planung für<br />
Gesundheit muß, wenn sie ihr erklärtes Ziel im Auge behält, die<br />
Lebensqualität <strong>der</strong> Menschen zu bessern, auf das Alltagsphänomen<br />
abgestimmt werden.
45<br />
Hinsichtlich <strong>der</strong> Methodologie ist die Vernachlässigung des<br />
Einzelfalls und des empirisch Beson<strong>der</strong>en problematisch. Dadurch<br />
wird eine Anknüpfung des Public Health an das klinische Denken<br />
unmöglich. Dem klinischen Denken gelingt aber an<strong>der</strong>erseits,<br />
Gesundheit als Alltagsphänomen zu achten und zu beachten -<br />
allein bereits deshalb, weil die Medizin erst tätig wird, wenn<br />
für die Individuen ihr Gefühl des "Ich-habe-nichts" ("Ich-bin-<br />
nicht-krank") brüchig wird. Erst wenn sie finden, daß sie nicht<br />
(mehr) selbstverständlich am allgemeinen Leben teilnehmen<br />
(können), entsteht bei den einzelnen ein Impuls zur Inanspruch<br />
nahme ärztlicher Leistungen - Soziologen finden darin ein<br />
eigenes Thema, nämlich Krankheitsverhalten, das als Kaskade<br />
vernetzter Entscheidungen die Grauzone zwischen Gesundheit im<br />
Alltag und Arztbesuch ausfüllt (Mechanic und Volkart 1960, Zola<br />
1973). Die Public-Health-Überlegungen übergehen diesen Bereich<br />
beziehungsweise ersetzen die Entscheidungen <strong>der</strong> einzelnen durch<br />
Programmvorgaben. Dann ist <strong>der</strong> einzelne zur Prävention ver<br />
pflichtet und notfalls kann er o<strong>der</strong> sie zur Vorsorgeunter<br />
suchung - sogar mit Einhaltepflicht - einbestellt werden (siehe<br />
dazu beispielsweise Programme in <strong>der</strong> ehemaligen DDR o<strong>der</strong> das<br />
Brustkrebs-Screening in Holland).<br />
Aber dies sollte in einem freiheitlich-demokratischen Gemein<br />
wesen nicht geschehen. Der Staat - selbst in einer Demokratie -<br />
ist möglicherweise ein schlechter Garant <strong>der</strong> individuellen<br />
Lebenssphäre, wenn es um effektive Gesundheitssicherung geht.<br />
Auf den implizit bei staatlichen Eingriffen und Programmen un<br />
vermeidlichen Dirigismus machte Stollberg (1993) aufmerksam,<br />
und er erwähnte warnend die Machtfülle <strong>der</strong> öffentlichen<br />
Instanzen <strong>der</strong> Gesundheitskontrolle im Nationalsozialismus. Man<br />
muß also einen Public-Health-Bereich herausfinden, in dem die<br />
Entscheidungsfreiheit <strong>der</strong> einzelnen grundsätzlich gewahrt wird;<br />
erst dies gewährleistet allererst, daß die Alltagsphänomen-<br />
qualität <strong>der</strong> Gesundheit unbeschadet bleibt.<br />
Methodologisch bedeutet dies für die Forschung, daß sie zwei<br />
Alternativen wählen und eine dritte vermeiden sollte. Entwe<strong>der</strong><br />
die Forschung betrifft Kollektivzusammenhänge und sucht nach<br />
Massenphänomenen - allerdings ohne atomistischen Fehlschluß.
46<br />
O<strong>der</strong> die Einzelfälle sind methodischer Ausgangspunkt <strong>der</strong> For<br />
schung - dann möge allerdings nicht nur anekdotische Material<br />
beschreibung von Einzelfallprotokollen herauskommen, son<strong>der</strong>n<br />
durch typologische Analyse auch eine Aussage über<br />
gesellschaftliche Kontexte. Die dritte Alternative, die nicht<br />
weiterhin fe<strong>der</strong>führend sein sollte, ist Forschung, die<br />
epidemiologisch verfährt, aber dann auf den Einzelfall<br />
rückschließt - wobei heute <strong>der</strong> ökologische Fehlschluß, <strong>der</strong><br />
vielfach vorkommt, meistens nicht einmal als problematisch<br />
empfunden wird.<br />
Der Phänomencharakter <strong>der</strong> Gesundheit im Alltag läßt sie fraglos<br />
gegeben sein. Diese Beson<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> Gesundheit, nicht themati<br />
siert zu werden, obwohl je<strong>der</strong>zeitige Thematisierung möglich er<br />
scheint, eröffnet neue Perspektiven auf die gesellschaftlichen<br />
Aspekte des Gesundheitswesens. Diese seien abschließend<br />
skizzenhaft näher bezeichnet.<br />
Seit den frühen siebziger Jahren ist bekannt, daß Gesundheits<br />
und Krankheitsverhalten zwei Diskrepanzen zwischen subjektiven<br />
und objektiven Tatsachen umfaßt. Erstens führt lediglich etwa<br />
ein Fünftel <strong>der</strong> erlebten Krankheitsepisoden dazu, daß ein Arzt<br />
aufgesucht wird; die restlichen werden durch Medikamente aus<br />
<strong>der</strong> Apotheke, Selbstbehandlung mit Hausmitteln o<strong>der</strong> überhaupt<br />
nicht behandelt (Wadsworth et al. 1971, Hannay 1979). Zweitens<br />
sagen selbst zahlreiche chronisch Erkrankte im Interview, daß<br />
sie sich guter bis sehr guter Gesundheit erfreuen; zugleich<br />
sagen viele, bei denen pathologisch nichts zu finden ist, daß<br />
ihr Gesundheitszustand schlecht bis sehr schlecht ist. Blaxter<br />
(1990:42) zieht daraus den Schluß, daß Gesundheit vier Dimen<br />
sionen hat, nämlich eine Fitness-, eine Behin<strong>der</strong>ungsfreiheits-,<br />
eine Nichtkrankheits- und eine psychosoziale Wohlbefindens<br />
dimension.<br />
In unserem Zusammenhang sei festgehalten, daß die Viel<br />
schichtigkeit <strong>der</strong> Gesundheit (und des Krankseins) offenbar mit<br />
ihrem Alltagscharakter zu tun hat. Scheinbar wi<strong>der</strong>sprüchliche<br />
Befunde o<strong>der</strong> gar <strong>der</strong> oft zitierte "klinische Eisberg" (wobei<br />
die Mehrzahl <strong>der</strong> behandlungsbedürftigen Symptome unter <strong>der</strong>
47<br />
Oberfläche allfälliger Verleugnung des eigenen Befindens ver<br />
deckt liege) sollten nicht überinterpretiert werden. Ins<br />
beson<strong>der</strong>e sollte man nicht darauf setzen, daß hier Aufklärung<br />
<strong>der</strong> Individuen weiterhelfen und daß durch "richtige" umfassende<br />
Maßnahmenprogramme erreicht werden könnte, daß die Diskrepanz<br />
zwischen den verschiedenen Ebenen und Parametern <strong>der</strong><br />
Gesundheit/Krankheit verschwindet. Diese Vielschichtigkeit ge<br />
hört eo ipso zum Phänomen Gesundheit.<br />
Die Vielschichtigkeit hat zwei Auswirkungen, die man beachten<br />
muß o<strong>der</strong> bedenken sollte. So kann die Alltagshaftigkeit des<br />
Gesundheitstatbestandes ihrerseits "unterlaufen" werden. Werden<br />
beispielsweise beim Kin<strong>der</strong>gartenbau Materialien verwendet, die<br />
Formaldehyd o<strong>der</strong> Asbest enthalten, sind die dort betreuten<br />
Kin<strong>der</strong> nolens volens einer Schädigung ausgesetzt. Sie geschieht<br />
gewissermaßen hinter <strong>der</strong> Fassade des Alltagsphänomens Gesund<br />
heit; es verdeckt in diesem Falle den wahren Tatbestand poten<br />
tieller Erkrankung. Die einzig sinnvolle Lösung des Problems<br />
ist, die giftigen Materialien zu entfernen, also die Umgestal<br />
tung <strong>der</strong> Schadstoffhaltigen Umwelt. Das Alltagsphänomen Gesund<br />
heit wird durch diese Umweltmaßnahmen nicht Iii Frage gestellt,<br />
son<strong>der</strong>n allererst wie<strong>der</strong> voll hergestellt. Ähnlich wird das<br />
Alltagsphänomen erhalten o<strong>der</strong> wie<strong>der</strong>hergestellt, wenn toxische<br />
Emissionen in <strong>der</strong> chemischen Industrie, bei <strong>der</strong> Müllentsorgung<br />
etc. kontrolliert werden. Bei Kernkraftwerken bezwecken Sicher<br />
heitsmaßstäbe und -kontrollen, daß die alltagsmäßig fraglose<br />
Gesundheitsvorgabe einer nicht-giftigen Lebensumwelt gelten<br />
darf. Dementsprechend sind "heimliche" Störfälle in Atomkraft<br />
werken in den westlichen Industriestaaten kriminalisiert, weil<br />
es unrecht ist, die Gesundheit <strong>der</strong> Menschen, die die Schädigung<br />
nicht erkennen, zum Fassadenphänomen zu entwerten.<br />
Hier ist ein zweiter Aspekt angesprochen. In totalitären<br />
Län<strong>der</strong>n, wo An<strong>der</strong>sdenkende o<strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heitsethnien unterdrückt<br />
werden, kann <strong>der</strong>en Chance, bei Erkrankung einen Arzt zu finden<br />
und kompetent behandelt zu werden, grausam beschnitten werden.<br />
Bei ihnen wird die Gesundheit dann gewissermaßen erzwungen,<br />
denn ihre Lebensmöglichkeiten, falls sie nicht gesund "sind",<br />
können unmenschlich begrenzt sein. Beispielsweise wurde in
48<br />
Konzentrationslagern vielfach Gesundheit von den Häftlingen<br />
vorgetäuscht und von den Kapos ohne Umschweife zudiktiert, denn<br />
dies half, die verbleibenden Überlebenswege für sich selbst zu<br />
nutzen. In diesem Sinne kann zur Schau getragene o<strong>der</strong> unter<br />
stellte Gesundheit durchaus politisch und auch ideologisch<br />
sein. Sie erfor<strong>der</strong>t also die Skepsis des Sozialwissenschaftlers<br />
o<strong>der</strong> Arztes, <strong>der</strong> ihre Vor<strong>der</strong>gründigkeit entlarvt. Man sollte<br />
dabei nicht nur die ideologische Doppelgestalt feststellen und<br />
daraufhin beispielsweise effektive Kontrollen <strong>der</strong> Individuen<br />
anraten o<strong>der</strong> einleiten. Son<strong>der</strong>n die Erkenntnis, daß ein Herr<br />
schaftssystem sich des Gesundheitsphänomens zur Unterdrückung<br />
<strong>der</strong> Bürger bedienen kann, muß zu aktiven Schritten zugunsten<br />
<strong>der</strong> Bedrängten führen, die zunächst im Rahmen <strong>der</strong> institutio<br />
nellen Medizin verbleiben. Gestörte Gesundheit muß zuvör<strong>der</strong>st<br />
medizinisch behandelt werden; daran kann sich - außerhalb <strong>der</strong><br />
ärztlichen Versorgung - Hilfe in <strong>der</strong> persönlichen Lebensführung<br />
anschließen (Nahrung, Wohnung, Arbeit etc.). Durch<br />
Zusammenarbeit zwischen Medizin und sozialen Diensten kann als<br />
politische Aufgabe das Alltagsphänomen Gesundheit allgemein und<br />
berechtigtermaßen im zwischenmenschlichen Geschehen (wie<strong>der</strong>)<br />
hergestellt werden, wenn eine Gesellschaft aus dem totalitären<br />
LebensZusammenhang herausfindet.<br />
Die politische Dimension hat eine weitere Seite. Man kann sie<br />
an zwei Beispielen erläutern. Erstens zeigt das, was nach dem<br />
Reaktorunglück in Tschernobyl geschah und nicht geschah, eine<br />
bemerkenswerte Beson<strong>der</strong>heit des Alltags. Die Sowjetbürger<br />
setzten zunächst offenbar fraglos voraus, daß ihre Regierung<br />
sie informieren und zur Räumung <strong>der</strong> verseuchten Umgebung auf<br />
for<strong>der</strong>n würde, wenn die Gefahr bedrohlich wäre. Die regierungs<br />
amtlichen Verlautbarungen verharmlosten indessen die<br />
Katastrophe, und heute leiden Hun<strong>der</strong>ttausende an Krebs und<br />
an<strong>der</strong>en Erkrankungen, wobei sie weiterhin in den verseuchten<br />
Gebieten leben und dort verseuchten Nahrungsmitteln, Häusern<br />
etc. ausgesetzt waren.<br />
Zweitens zeigt die Psychiatriepraxis in <strong>der</strong> ehemaligen<br />
Sowjetunion und auch DDR, daß Gesundheit bei politisch Ver<br />
folgten negiert und zu Krankheit umgewandelt werden kann. Ab-
49<br />
weichende Überzeugungen erschienen tatsächlich den in diesen<br />
totalitären Län<strong>der</strong>n mit nicht (mehr) professioneller Medizin<br />
ausgebildeten und praktizierenden Psychiatern im Krankenhaus<br />
als Anzeichen geistiger Verwirrung bzw. als<br />
behandlungsbedürftige Krankheit.<br />
Fraglos vorausgesetzte Gesundheit und auch ihr Gegenpol -<br />
diagnostizierte Krankheit - besteht also unter<br />
Wahrnehmungsbedingungen, die durch Herrschaftsstrukturen<br />
vorgegeben werden. Dabei wird eine Grenze zur Krankheit<br />
gesetzt, die mit <strong>der</strong> Gesellschaft, in <strong>der</strong> dies geschieht,<br />
insofern variiert, als mehr o<strong>der</strong> weniger Alltagsphänomen und<br />
mehr o<strong>der</strong> weniger professionelle Medizin "zulässig" sind und<br />
praktiziert werden (können). Soziologisch bleibt also<br />
festzuhalten, daß eine auf die Gesundheit gerichtete<br />
Betrachtung <strong>der</strong> Gesellschaft gut daran tut, nicht allzu forsch<br />
über diese "gesamtgesellschaftliche", d.h. politische Seite des<br />
Gesundheits-/Krankheitszusammenhangs hinauszugehen. Hier liegt<br />
ein Bereich des Begreifens für die Soziologie als<br />
Gesellschaftswissenschaft, in dem sie mit <strong>der</strong> Medizin<br />
zusammenarbeiten kann - im Interesse <strong>der</strong> einzelnen und als<br />
Überlegung über demokratische Lebensverhältnisse.<br />
Allerdings mag man zusätzlich bedenken (insbeson<strong>der</strong>e bzgl. des<br />
zweiten <strong>der</strong> obengenannten Beispiele), daß psychiatrische<br />
Störungen dem Alltagscharakter <strong>der</strong> Gesundheit nicht<br />
grundsätzlich zuwi<strong>der</strong>laufen (worauf beispielsweise Parsons<br />
(1942) im politischen Zusammenhang hinweist). Denn psychische<br />
Aberrationen werden charakteristischerweise bei den Angehörigen<br />
und Außenstehenden, doch nicht zugleich bei den Betroffenen<br />
wahrgenommen; diese halten sich für gesund, während wie -<br />
selbst in Verantwortungspositionen - "krank" handeln (mögen).<br />
Die psychische Gesundheit, die wechselseitig fraglos gegeben<br />
ist, ist gewissermaßen nur mehr einseitig gegeben, wenn jemand<br />
an einer psychiatrischen Störungen erkrankt ist. Der politische<br />
Gefahrenwert <strong>der</strong> psychiatrischen Wirklichkeitsperspektive (z.B.<br />
Paranoia) und <strong>der</strong> Mißbrauch <strong>der</strong> Psychiatrie als<br />
Unterdrückungsinstrument - mit Konstruktion des<br />
Krankheitstatbestandes - scheinen durch diesen Umstand
50<br />
gleichermaßen begünstigt. Da die psychiatrische Gesundheit und<br />
ihr Verlust nicht immer klar voneinan<strong>der</strong> abzugrenzen sind, kann<br />
die offizielle Politik in totalitären Län<strong>der</strong>n das<br />
Alltagsphänomen manipulativ für Herrschaftszwecke nutzen (Wing<br />
1978) .<br />
Zwei Themen bieten sich für die Public-Health-Debatte an, die<br />
eine soziologische Sicht <strong>der</strong> Systemaspekte <strong>der</strong> Gesundheit<br />
sucht:<br />
(1) Daß Staaten mit totalitärem Regime eventuell von Kranken<br />
(d.h. psychiatrisch nicht normalen) Führern beherrscht<br />
werden, ist medizinisch auch relevant als Gefahr <strong>der</strong><br />
Folter, <strong>der</strong> "Rassenhygiene" etc.<br />
(2) Daß Staaten, die kein demokratisches Regime haben, eine<br />
medizinische Praxis dulden, die klinisch unhaltbar und<br />
professionell dilettantisch ist, ist soziologisch relevant<br />
für die angemessene Würdigung <strong>der</strong> Leistung, die es<br />
bedeutet, human zu handeln.
ANMERKUNGEN<br />
51<br />
1) Siehe dazu Parsons 1942. Dort führt er aus, daß<br />
faschistische - deviante - Gesellschaftssysteme ihrerseits<br />
(Geistes)Krankheit und Kriminalität för<strong>der</strong>n, indem sie sie<br />
belohnen bzw. explizit <strong>der</strong> Heilung o<strong>der</strong> Bestrafung ent<br />
ziehen (z.B. die paranoide Weltsicht des manichäischen<br />
Antisemitismus). Vgl. dazu auch: Gerhardt 1990a.<br />
2) Parsons schließt daran die Bemerkung an, daß aufgrund <strong>der</strong><br />
dargelegten Unterschiede nicht - wie <strong>der</strong> berühmte Gesund<br />
heitsbegriff <strong>der</strong> Weltgesundheitsorganisation voraussetzt -<br />
davon ausgegangen werden dürfe, daß menschliche Wohlfahrt<br />
und Gesundheit dasselbe seien. Statt dessen handele es sich<br />
um zwei unterschiedliche Dimensionen des optimalen Be<br />
findens.<br />
3) Dieser Einwand gilt auch - siehe Parsons - mit Blick auf<br />
die chronischen Erkrankungen. Bei ihnen bewirkt die ärzt<br />
liche Behandlung eine möglichst ausgedehnte Zeitphase <strong>der</strong><br />
approximativ gesundheitsähnlichen Performanz. Empirische<br />
Studien über chronische Krankheitsbil<strong>der</strong> zeigen, wie die<br />
Patienten über möglichst lange Lebensphasen ihren Arzt als<br />
Ressource für Medikamente und Krisenintervention nutzen, um<br />
ansonsten in Beruf und Familie möglichst wie ein Normaler<br />
leben zu können (Schnei<strong>der</strong> und Conrad 1983, Gerhardt 1990b,<br />
Charmaz 1992). Die soziologische Relevanz <strong>der</strong> Problematik -<br />
aus theoretischer Perspektive - diskutiert Gerhardt 1993a.<br />
4) An dieser Stelle ist David Armstrongs These zu bedenken,<br />
daß die Medizin in den letzten fünfzig Jahren biographische<br />
Aspekte in die klinische Sichtweise einbezogen hat und<br />
daher nicht etwa auf ein außerklinisches Denken hinaus<br />
läuft, son<strong>der</strong>n nur neue Elemente in die klinische Sicht<br />
weise einbindet. Die Soziologie steht demgemäß nicht gegen<br />
die Klinik, son<strong>der</strong>n ist ein Aspekt <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>der</strong><br />
klinischen Sichtweise selbst. Siehe Armstrong 1984 und<br />
unten S. 2 6f. dieser Abhandlung.
52<br />
5) Die Literatur zu diesem Zusammenhang ist übersichtlich und<br />
aufschlußreich dargestellt bei Noack 1993.<br />
6) Hervorhebungen des Originals weggelassen.<br />
7) Die Idealitäten des "Immer Wie<strong>der</strong>" und "Und So Weiter"<br />
wurden ursprünglich durch Edmund Husserl in die philo<br />
sophische Phänomenologie eingebracht. Siehe dazu auch<br />
Schütz 1953.<br />
8) Dies bisher in Bielefeld (Zusatzstudiengang Gesund<br />
heitswissenschaften und Öffentliche Gesundheitsför<strong>der</strong>ung),<br />
an <strong>der</strong> Medizinischen Hochschule Hannover (Studiengang zum<br />
Erwerb eines M.S.P. [Magister Sanitatis Publicae] sowie an<br />
den Universitäten Düsseldorf, Ulm und München - um nur<br />
einige zu nennen. Diese Studiengänge sind dazu ausersehen,<br />
das Berufsfeld <strong>der</strong> Gesundheitswissenschaften zu etablieren.<br />
Der Grundgedanke ist, daß durch die Tätigkeit beispiels<br />
weise <strong>der</strong> Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in<br />
Gemeinden und Verbänden eine erhöhte Bereitschaft zu<br />
öffentlichkeits- bzw. allgemeinheitsorientierter Gesund<br />
heitspflege geschaffen wurde; diese soll nun auch Nachfrage<br />
nach den dafür ausgebildeten Spezialisten erzeugen, die aus<br />
den Studiengängen für Public Health hervorgehen. Lang<br />
fristig erhofft man sieh von <strong>der</strong> Tätigkeit <strong>der</strong> Gesundheits<br />
wissenschaftler in Gemeinden und Verbänden, daß bessere<br />
Vorsorge für alle Schichten <strong>der</strong> Bevölkerung getroffen wird.<br />
Sie soll ihrerseits dazu beitragen, daß weniger Menschen<br />
erkranken, also die Hilfe <strong>der</strong> Medizin zur Gesundung o<strong>der</strong><br />
Lebenserhaltung seltener in Anspruch genommen wird.<br />
9) Beispielsweise hätte John Snow den Beweis <strong>der</strong> Cholera<br />
infektion durch Wasserverunreinigung nicht führen können,<br />
hätte er nicht am Einzelfall eines Haushalts nachgewiesen,<br />
daß <strong>der</strong> Broadstreet-Brunnen, jedoch nicht <strong>der</strong> Hampstead-<br />
Brunnen verseucht war. Im mo<strong>der</strong>nen Epidemiologiedenken wäre<br />
sein Beweisfall für die Durchschnittsberechnung und Perzen-<br />
tildifferenzierung irrelevant gewesen. Seine 1854 bahn<br />
brechende Evidenz ginge heute wohl in den auf Durch-
53<br />
schnittswerte hin interpretierten Massendaten spurlos<br />
unter.<br />
10) Bekanntlich argumentiert Thomas McKeown, daß die Verbesse<br />
rung <strong>der</strong> allgemeinen Gesundheitssituation (weitgehende Aus<br />
schaltung <strong>der</strong> Infektionskrankheiten als Todesursache) und<br />
die dramatische Verlängerung <strong>der</strong> Lebenserwartung seit dem<br />
18./19. Jahrhun<strong>der</strong>t nicht durch die mo<strong>der</strong>ne Medizin er<br />
reicht wurde. Er führt an, daß statt dessen die Besserung<br />
<strong>der</strong> Ernährungslage sowie Programme <strong>der</strong> Stadthygiene usw.<br />
verantwortlich waren. Er übersieht dabei, daß im 19.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t umweltmedizinisches Denken zum Praxisbereich<br />
<strong>der</strong> damaligen Medizin gehörte - <strong>der</strong> "Medical Officer of<br />
Health" (ab den vierziger Jahren) war Vertreter <strong>der</strong> (noch<br />
vorherrschenden) Miasma-Lehre usw. McKeown geht von <strong>der</strong> un<br />
richtigen Annahme aus, daß sich das Paradigma klinischer<br />
Arbeit seit dem 18. Jahrhun<strong>der</strong>t nicht gewandelt hätte. Nur<br />
mit dieser Annahme kann er seine Kritik an <strong>der</strong> anscheinend<br />
überschätzten Bedeutung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Medizin begründen. In<br />
den letzen zwei Jahrhun<strong>der</strong>ten ist jedoch zunächst die<br />
'Humorallehre durch die Miasma-Theorie (Umweltmedizin) und<br />
diese später durch die Mikroorganismen-Erklärung abgelöst<br />
worden, und diese hat sich heute zu biochemischen Modellen<br />
<strong>der</strong> Pathogenese fortentwickelt. McKeown 1979 und dazu<br />
Gerhardt 1989b.<br />
11) Luhmann beruft sich an dieser Stelle interessanterweise auf<br />
Aaron Wildawsky. Dieser argumentiert, daß es zwei Modelle<br />
<strong>der</strong> Risikobewältigung gibt. Bis vor einigen Jahrzehnten war<br />
das Versuch-und-Irrtum-Mode11 verbreitet, das zuließ, daß<br />
ein Störfall o<strong>der</strong> Krankheitsereignis eintrat, bevor man<br />
tätig wurde, um <strong>der</strong>artigen Fällen und Ereignissen auch für<br />
die Zukunft vorzubeugen. Heute hat sich demgegenüber einge<br />
bürgert, bereits im Vorfeld denkbarer Risiken - also durch<br />
Versuch-ohne-Irrtum - Verhältnisse schaffen zu wollen, die<br />
keinerlei Störfälle o<strong>der</strong> Krankheitsereignisse mehr ent<br />
halten sollen. Derartiges Sicherheitsdenken, so Wildawsky,<br />
ist selbst wie<strong>der</strong>um risikoreich, weil es offen für poli<br />
tische Ideologiebildung ist. Da kein Programm alle noch so
54<br />
geringfügigen Risiken ausschließen kann, kann das Argument,<br />
ein Programm enthalte Risiken, immer zur Ablehnung von<br />
Initiativen verwendet werden, die man politisch nicht will.<br />
Für den Krankheitszusammenhang argumentiert Wildawsky, daß<br />
die Medizin heute gut genug ist, um immer noch beträcht<br />
liche Heilungs- und Lebensverlängerungchancen zu eröffnen,<br />
wenn jemand erst dann zum Arzt geht, wenn er o<strong>der</strong> sie<br />
tatsächlich (ernstlich), erkrankt ist. Vgl. Wildawsky<br />
(1988).<br />
Siehe oben, S. 23
LITERATUR<br />
55<br />
Thomas Abel: Measuring Health. Lifestyles in a Comparative<br />
Analysis: Theoretical Issues and Empirical Findings. Social<br />
Science and Medicine. Vol. 32, 1991, 899-908<br />
Heinz-Harald Abholz. Dieter Boraers. Wilfried Karmaus und<br />
Johannes Korporal (Hrgr): Risikofaktorenmedizin.<br />
Berlin: Aldine de Gruyter 1982<br />
David Armstrong: The Patient's View. Social Science and<br />
Medicine. Bd. 18, 1984, 737-744<br />
David Armstrong: Historical Origins of Health Behaviour. In:<br />
Robert An<strong>der</strong>son, John K. Davies, Ilona Kickbusch, David McQueen<br />
und J i l l Turner (Hrgr): Health Behaviour Research and Health<br />
Promotion. Oxford: Oxford University Press 1988, 8-21<br />
Robert An<strong>der</strong>son: The Development of the Concept of Health<br />
Behaviour. In: Robert An<strong>der</strong>son, John K. Davies, Ilona<br />
Kickbusch, David McQueen und J i l l Turner (Hrgr): Health<br />
Behaviour and Health Promotion. Oxford: Oxford University Press<br />
1988, 22-35<br />
Bernhard Badura. Thomas Elkeles, Bernd Grieger und Wolfgang<br />
Kammerer (Hrgr): Zukunftsaufgabe Gesundheitsfor<strong>der</strong>ung.<br />
Stuttgart: Kohlhammer 1989<br />
Petra Bergerhoff, Dieter Lehmann und Peter Novak (Hrgr):<br />
Primary Health Care. Public Involvement, Family Medicine,<br />
Epidemiology, and Health Economics. Berlin etc.: Springer<br />
Verlag 1990<br />
Lisa F. Berkman und Leonard S. Syme: Social Network, Host<br />
Resistance, and Mortality: A Nine-Year Follow-up of Alameda<br />
County Residents. American Journal of Epidemiology, Bd. 190,<br />
1979, 186-204
56<br />
Mildred Blaxter: Health and Lifestyles. London:<br />
Tavistock/Routledge 1990<br />
Michael Calnan: Health and Illness. The Lay Perspective.<br />
London: Tavistock 1987<br />
Michael Calnan und Simon Williams: Style of Life and the<br />
Salience of Health. Sociology of Health and Illness. Vol. 13,<br />
1991, 506-529<br />
Kathy Charmaz: Good Days. Bad Days. The Self in Chronic Illness<br />
and Time. New Brunswick: Rutgers University Press 1992<br />
William C. Cockerham. Gerhard Kunz und Günter Luschen: Social<br />
Stratification and Health Lifestyles in Two Systems of Health<br />
Care Delivery: A Comparison of the United States and West<br />
Germany. Journal of Health and Social Behavior. Vol. 29, 1988,<br />
113-126<br />
William C. Cockerham, Thomas Abel und Günter Luschen: Max<br />
Weber, Formal Rationality, and Health Lifestyles. Sociological<br />
Quarterly (im Erscheinen 1993)<br />
Robert Dingwall: Aspects of Illness. London: Croom Helm 1976<br />
Thomas R. Dawber, William B. Kanneil und Lorna P. Lyell: An<br />
Approach to Longitudinal Studies in the Community: The<br />
Framingham Study. Annals of the American Academy of Science,<br />
Vol. 107, 1963, 539-556<br />
Richard Doll und Bradford A. Hill: A Study of the Aetiology of<br />
Carcinoma of the Lung. British Medical Journal. 1952, i i ,<br />
1271-1286<br />
Emile Dürkheim: Der Selbstmord. Neuwied und Berlin: Luchterhand<br />
1973 (ursprünglich 1897)<br />
Alvan Feinstein: Clinical Judgment. Malabar FL: Krieger 1967
57<br />
John P. Fox, Carrie E. Hall und Lila R. Elveback: Epidemiology.<br />
Man and Disease. London: Collier Macmillan 1970.<br />
Christian von Ferber: Medikalisierung - ein zivilisatorischer<br />
Prozeß o<strong>der</strong> eine sozialpolitische Fehlleistung. Zeitschrift für<br />
Sozialreform. Bd. 35, 1989, 632-642<br />
Eliot Freidson: The Profession of Medicine. A Sociology of<br />
Applied Knowledge. New York: Dodd, Mead 1970.<br />
Harold Garfinkel: Studies in Ethnomethodology. Englewood<br />
Cliffs: Prentice Hall 1967<br />
Uta Gerhardt: Parsons, Role Theory and Health Interaction. In:<br />
Graham Scambler (Hrgr): Sociological Theory and Medical<br />
Sociology. London: Tavistock 1987, 110-133<br />
Uta Gerhardt: Ideas About Illness. An Intellectual and<br />
Political History of Medical Sociology. London: Macmillan 1989a<br />
Uta"Gerhardt: Probleme <strong>der</strong> Medizinkritik. In: F. Wagner (Hrgr):<br />
Medizin - Momente ihrer Verän<strong>der</strong>ung. Heidelberg etc.: Springer<br />
1989b, 23-31<br />
Uta Gerhardt: Models of Illness and the Theory of Society:<br />
Parsons' Contribution to the Early History of Medical<br />
Sociology. International Sociology. Bd. 5, 1990a, 337-355<br />
Uta Gerhardt: Patient Careers in End-Stage Renal Failure.<br />
Social Science and Medicine, Bd. 30, 1990b, 1211-1224<br />
Uta Gerhardt: Rollentheorie und gesundheitsbezogene Interaktion<br />
in <strong>der</strong> Medizinsoziologie Talcott Parsons. In: Gesellschaft und<br />
Gesundheit. Frankfurt: Suhrkamp 1991, 162-202
58<br />
Uta Gerhardt: The Sociological Relevance of Chronic Illness.<br />
In: Thomas Abel, Siegfried Geyer, Uta Gerhardt, Johannes<br />
Siegrist, Wim van <strong>der</strong> Heuvel (Hrgr): Medical Sociology:<br />
Research in Chronic Illness. Bonn: InformationsZentrum Sozial<br />
wissenschaften (1993a, im Erscheinen)<br />
Uta Gerhardt: Lebensweisen und Gesundheitsorientierungen:<br />
Methodologische Überlegungen. In: Reinhard Gawatz, Peter Novak<br />
(Hrgr): Soziale Konstruktionen von Gesundheit. Wissenschaft<br />
liche und alltagspraktische Gesundheitskonzepte. Ulm:<br />
Universitätsverlag 1993b, 73-95<br />
Uta Gerhardt: Gesundheit - Was hat sie mit Medizin zu tun? In:<br />
Reinhard Gawatz und Peter Novak: Soziale Konstruktionen von<br />
Gesundheit. Ulm: Ulmer Universitätsverlag 1993c, 33-46<br />
Helmut Girndt: Das soziale Handeln als Grundkategorie er<br />
fahrungswissenschaftlicher Soziologie. Tübingen: Mohr (Siebeck)<br />
1967<br />
Fritz Hartmann: Patient. Arzt und Medizin. Beiträge zur<br />
ärztlichen Anthropologie. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht<br />
1984<br />
Antoine d'Houtaud und Mark Field: The Image of Health:<br />
Variations in Perceptions by Social Class in a French<br />
Population. Sociology of Health and Illness, Bd. 6, 1984, 30-60<br />
David R. Hannay: The Symptom Iceberg. A Study of Community<br />
Health. London: Routledge and Kegan Paul 1979<br />
Stefan Hradil: Sozialstrukturanalyse in einer fortgeschrittenen<br />
Gesellschaft. Opladen: Leske & Budrich 1987<br />
Ivan Illich: Die Nemesis <strong>der</strong> Medizin. Reinbek: Rowohlt 1975<br />
(ursprünglich Medical Nemesis. 1975)<br />
Raymond Illsley: Professional or Public Health? Sociology in<br />
Health and Medicine. London: Nuffield Provincial Trust 1980
59<br />
Ilona Kickbusch: Lebensweisen und Gesundheit. Einführende<br />
Betrachtungen. In: Europäische Monographien zur Gesundheitser<br />
ziehung, Bd. 5. Köln: Bundeszentrale für. gesundheitliche<br />
Aufklärung 1983, IX-XI<br />
Detlef Krause und Gerhard Schäuble: Jenseits von Klasse und<br />
Schicht. Verteilung <strong>der</strong> Lebenschancen zwischen ' traditionellem<br />
Reduktionismus und aktueller Formenvielfalt. Stuttgart: Enke<br />
1988<br />
Thomas Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen.<br />
Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt 1973 (ursprünglich The<br />
Structure of Scientific Revolutions, 1962)<br />
Alphons Labisch: Homo Hvgienicus. Gesundheit und Medizin in <strong>der</strong><br />
Neuzeit. Frankfurt: Campus 1992<br />
Hartmut Lüdtke: Expressive Ungleichheit. Zur Soziologie <strong>der</strong><br />
Lebensstile. Opladen: Westdeutscher Verlag 1989<br />
Niklas Luhmann: Der medizinische Code. In: Soziologische Auf<br />
klärung 5. Opladen: Westdeutscher Verlag 1990, 183-195<br />
Ulrike Maschewskv-Schnei<strong>der</strong>: Gesundheitskonzepte und Gesund<br />
heitshandeln von Frauen. In: Reinhard Gawatz und Peter Novak<br />
(Hrgr): Soziale Konstruktionen von Gesundheit. Ulm: Ulmer<br />
Universitätsverlag 1993, 195-213<br />
Ernst Mayr: Teleologic and Teleonomic: A New Analysis. In: Max<br />
Wartovsky (Hrgr): Method and Metaphysics: Methodological and<br />
Historical Essays in the Natural and Social Sciences.<br />
Proceedings of the Boston Colloquium for the Philosophy of<br />
Science, Bd. 6, 1974, 78-104<br />
Thomas McKeown: The Role of Medicine. Dream, Mirage or Nemesis?<br />
Oxford: Basil Blackwell 1979 (dt. Die Bedeutung <strong>der</strong> Medizin,<br />
1982)
60<br />
David V. McQueen: "Study of Research and Training in Public<br />
Health" - Zusammenfassung eines Gutachtens für die Robert-<br />
Bosch-Stiftung. In: Friedrich Wilhelm Schwartz und Bernhard<br />
Badura (Hrgr): Public Health. Gerlingen: Bleicher 1991, 28-33<br />
David Mechanic: Some Problems in Developing a Social Psychology<br />
of Adaptation to Stress. In: Joseph E. McGrath (Hrgr): Social<br />
and Psychological Factors in Stress. New York: Holt, Rinehart &<br />
Winston 1970, 104-123<br />
David Mechanic und Edmund H. Volkart: Illness Behavior and<br />
Medical Diagnosis. Journal of Health and Human Behavior. Bd. 1,<br />
1960, 36-94<br />
Dietrich Milles und Rainer Müller: Public Health-Forschung und<br />
Gesundheitswissenschaften. In: Hans-Ulrich Deppe, Hannes<br />
Friedrich, Rainer Müller (Hrgr): Öffentliche Gesundheit<br />
Public Health. Frankfurt: Campus 1991, 7-14<br />
Jeremy Morris: Uses of Epidemiology. Edinburgh: Churchill<br />
Livingstone 1957 (3. Auflage 1975)<br />
Horst Noack: Gesundheit: Medizinische, psychologische und<br />
soziologische Konzepte. In: Reinhard Gawatz und Peter Novak<br />
(Hrgr): Soziale Konstruktionen von Gesundheit. Ulm: Ulmer<br />
Universitätsverlag 1993, 13-32<br />
Talcott Parsons: Propaganda and Social Control. Psychiatry.<br />
Vol. 5, 1942, 551-572; abgedruckt in: Talcott Parsons on<br />
National Socialism. Edited and with an introduction by Uta<br />
Gerhardt. New York: Aldine de Gruyter 1993, 243-274<br />
Talcott Parsons: The Social System.<br />
Glencoe IL: The Free Press 1951<br />
Talcott Parsons: Definitions of Health and Illness in the Light<br />
of American Values and Social Structure. In: Social Structure<br />
and Personality. London: Collier Macmillan 1964, 257-291<br />
(ursprünglich 1958)
61<br />
Talcott Parsons: The Sick Role and the Role of the Physician<br />
Reconsi<strong>der</strong>ed. Milbank Memorial Fund - Health and Society, Bd.<br />
53, 1975, 257-278<br />
Talcott Parsons: Health and Disease: A Sociological and Action<br />
Perspective. In: Action Theory and the Human Condition. New<br />
York: Free Press 1978, 66-81<br />
George Rosen: A History of Public Health. New York. MD<br />
Publications 1958<br />
Henri Rousseau: Du contrat social, ou principes de droit<br />
politique. Paris: Gamier 1875 (ursprüngl. 1762)<br />
Wolfgang Schluchter: The Rise of Western Rationalism. Berkeley:<br />
University of California Press 1981<br />
Joseph W. Schnei<strong>der</strong> und Peter Conrad: Having; Epilepsy: The<br />
Experience and Social Control of Illness. Philadelphia: Temple<br />
University Press 1983<br />
Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau <strong>der</strong> sozialen Welt. Eine.<br />
Einleitung in die verstehende Soziologie.<br />
Wien: Julius Springer 1932<br />
Alfred Schütz: Phänomenologie und die Grundlegung <strong>der</strong> Sozial<br />
wissenschaften. In: Gesammelte Aufsätze, Bd. 3: Studien zur<br />
phänomenologischen Philosophie. Den Haag: Nijhoff 1971,<br />
pp. 74-85 (ursprünglich in englischer Sprache in Philosophy and<br />
Phenomenological Research, Bd. 13, 1953)<br />
Alfred Schütz und Thomas Luckmann: Strukturen <strong>der</strong> Lebenswelt,<br />
Bd. I, Frankfurt: Suhrkamp 1979<br />
Friedrich Wilhelm Schwartz und Bernhard Badura (unter Mitarbeit<br />
von Werner Hofmann) (Hrgr): Public Health. Aufsätze zu<br />
Aufbaustudiengängen in Deutschland und Erfahrungen aus dem<br />
Ausland. Gerlingen: Bleicher 1991
62<br />
Hans-Georg Soeffner: Auslegung des Alltags ' - Der Alltag <strong>der</strong><br />
Auslegung. Zur wissenssoziologischen Konzeption einer<br />
sozialwissenschaftlichen Hermeneutik. Frankfurt: Suhrkamp 1989<br />
Gunnar Stollberg: Aspekte einer Geschichte von Public-Health-<br />
Konzeptionen in Deutschland. Unveröffentlichtes Manuskript:<br />
Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie<br />
Mervyn Süsser: Causal Thinking in the Health Sciences. Concepts<br />
and Strategies in Epidemiology. New York: Oxford University<br />
Press 1973<br />
Peter Townsend und Nick Davidson: Inequalities in Health. The<br />
Black Report. Harmondsworth: Penguin 1982<br />
Alf Trojan und Helmut Hildebrandt: Kommunale Politik und<br />
öffentliche Gesundheit: Programm und Probleme des "Gesün<strong>der</strong>e-<br />
Städte" Projekts <strong>der</strong> Weltgesundheitsorganisation. In: Hans-<br />
Ullrich Deppe, Hannes Friedrich und Rainer Müller: Öffentliche<br />
Gesundheit - Public Health. Frankfurt Campus 1991, 103-123<br />
Tuula Vaskilampi: Sociological Aspects of Community Based<br />
Health Intervention Programmes: The North Karelia Project as an<br />
Example. Revue d'Epidemiologie et Sante Publique. Bd. 29, 1981,<br />
187-197<br />
Michael E.J. Wadsworth, W.J.H. Butterfield, and R. Blanev:<br />
Health and Sickness: The Choice of Treatment. Perceptions of<br />
Illness and Use of Services in an Urban Community. London:<br />
Tavistock 1971<br />
Max Weber: Die protestantische Ethik und <strong>der</strong> Geist des<br />
Kapitalismus. Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik,<br />
Bd. 20, 1904<br />
Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 1.<br />
Tübingen: J.L.B. Mohr (W. Siebeck) 1920
63<br />
Weltgesundheitsorganisation Regionalbüro für Europa:<br />
Evaluierung <strong>der</strong> Strategie "Gesundheit für alle bis zum Jahr<br />
2000". Siebter Bericht zur Weltgesundheitslage. Europäische<br />
Region. Kopenhagen 1987.<br />
Wolfgang Wieland: Diagnose. Überlegungen zur Medizintheorie.<br />
Berlin/New York: Aldine de Gruyter 1976<br />
Aaron Wildawsky: Searching for Safety. New Brunswick:<br />
Transaction Books 1988<br />
R.G. Wilkinson: Socio-economic Differences in Mortality:<br />
Interpreting the Data on Their Size and Trends. In Richard G.<br />
Wilkinson (Hrgr): Class and Health. Research and Longitudinal<br />
Data. London: Tavistock 1986, 1-20<br />
John Wing: Reasoning About Madness. London: Oxford University<br />
Press 1978 (dt. Sozialpsychiatrie, 1982)<br />
World Health Organization Regional Office for Europe: Health<br />
for All by the Year 2 000. Copenhagen 1980<br />
World Health Organization Regional Office for Europe: Framework<br />
for a Health Promotion Policy: A Discussion Document.<br />
Copenhagen 1986<br />
Irving Zola: Medicine as an Institution of Social Control.<br />
Sociological Review, Vol. 20, 1972, 487-503<br />
Irving Zola: Pathways to the Doctor - From Person to Patient.<br />
Social Science and Medicine, Bd. 7, 1973, 677-687<br />
Irving Zola: In the Name of Health and Illness: On Some.Socio<br />
political Consequences of Medical Influence. Social Science and<br />
Medicine. Vol. 9, 1975, 83-87
<strong>Forschungsgruppe</strong> Gesundheitsrisiken und Präventionspolitik<br />
Das Krankheits- und Sterbegeschehen in industrialisierten Län<strong>der</strong>n wird hauptsächlich<br />
von chronischen Erkrankungen bestimmt, <strong>der</strong>en Verursachungen weitgehend in den Be<br />
reichen Umwelt/Arbeit/Lebensweise liegen. Nach ihrer Manifestation sind sie medizi<br />
nisch meist nicht mehr heilbar. Auf die Verhütung des Ausbruchs solcher Krankheiten<br />
richten sich konkurrierende Strategien. Sie unterscheiden sich hinsichtlich des Interven<br />
tionsfelds, <strong>der</strong> wissenschaftlich-disziplinären Untermauerung und <strong>der</strong> Institutionalisie<br />
rung. Die <strong>Forschungsgruppe</strong> untersucht und vergleicht Risikokonzepte, Wirkungen und<br />
Entwicklungsbedingungen unterschiedlicher präventiver Interventionen und Strategien.<br />
Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Forschungsgruppe</strong>:<br />
Dr. med. Thomas Elkeles, Dipl. Soz.<br />
Dipl.-Psych. Karin Frenzel<br />
Dipl.-Chem. Barbara Maria Köhler, Ph.D,<br />
Dr. rer.pol. Hagen Kühn<br />
Dipl.-Pol. Uwe Lenhardt<br />
Martin Moers, M.A. (Philosophie)<br />
Dr. phil. Doris Schaeffer<br />
Priv.-Doz. Dr. rer.pol. Rolf Rosenbrock (Leiter)<br />
Janos Wolf, Dipl.-Phil.