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Leitfaden für Ärzte und Institutionen in MV - Techniker Krankenkasse

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Gewalt gegen K<strong>in</strong>der<br />

E<strong>in</strong> <strong>Leitfaden</strong> <strong>für</strong> <strong>Ärzte</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Institutionen</strong> <strong>in</strong> Mecklenburg-<br />

Vorpommern


Impressum<br />

4. Auflage<br />

Schwer<strong>in</strong>, Oktober 2007<br />

Herausgeber:<br />

<strong>Techniker</strong> <strong>Krankenkasse</strong>, Landesvertretung Mecklenburg-Vorpommern<br />

Mit Unterstützung durch:<br />

das M<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> Soziales <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit Mecklenburg-Vorpommern<br />

die Landesvere<strong>in</strong>igung <strong>für</strong> Ges<strong>und</strong>heitsförderung Mecklenburg-Vorpommern e.V.<br />

In Zusammenarbeit mit:<br />

der Parlamentarischen Staatssekretär<strong>in</strong> <strong>für</strong> Frauen- <strong>und</strong> Gleichstellung des Landes<br />

Mecklenburg-Vorpommern,<br />

der Fachhochschule <strong>für</strong> öffentliche Verwaltung, Polizei <strong>und</strong> Rechtspflege Güstrow,<br />

der Universität Rostock, Mediz<strong>in</strong>ische Fakultät, Institut <strong>für</strong> Rechtsmediz<strong>in</strong>,<br />

dem Universitätskl<strong>in</strong>ikum der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Institut <strong>für</strong><br />

Rechtsmediz<strong>in</strong><br />

Der Nachdruck erfolgt mit Genehmigung der Behörde <strong>für</strong> Soziales, Familie, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong><br />

Verbraucherschutz der Freien <strong>und</strong> Hansestadt Hamburg, Amt <strong>für</strong> Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Verbraucherschutz,<br />

Fachabteilung Ges<strong>und</strong>heitsberichterstattung <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsförderung<br />

Foto Umschlag:<br />

Kaiserberg Kommunikation, Duisburg<br />

1


Inhaltsverzeichnis<br />

Geleitworte<br />

H<strong>in</strong>weise zur Nutzung des <strong>Leitfaden</strong>s<br />

Gr<strong>und</strong>lagen <strong>für</strong> das Fallmanagement<br />

<strong>in</strong> der Arztpraxis<br />

Dokumentationshilfen<br />

Rückantwortbogen <strong>für</strong> <strong>Ärzte</strong> <strong>und</strong> Psychologen<br />

Rückantwortbogen <strong>für</strong> <strong>Institutionen</strong>, Ämter,<br />

Vere<strong>in</strong>e, Frauenhäuser, Krim<strong>in</strong>aldienste, Notrufe<br />

3


Geleitworte<br />

Liebe Ärzt<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> <strong>Ärzte</strong>, liebe Leser<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Leser<br />

Fälle von Vernachlässigung <strong>und</strong> Misshandlung von K<strong>in</strong>dern erlangen<br />

immer wieder traurige Aktualität. Solche Fälle gilt es zu verh<strong>in</strong>dern – wir<br />

alle, die mit Familien <strong>und</strong> mit K<strong>in</strong>dern zu tun haben, sollten unser Mög-<br />

lichstes da<strong>für</strong> tun. Im Umgang mit Misshandlung <strong>und</strong> Vernachlässigung<br />

von K<strong>in</strong>dern muss es e<strong>in</strong>en ähnlichen Mentalitätswechsel geben, wie wir<br />

ihn bei häuslicher Gewalt schon geschafft haben: Wir müssen davon<br />

wegkommen zu glauben, was h<strong>in</strong>ter verschlossenen Türen stattf<strong>in</strong>det,<br />

gehe die Gesellschaft nichts an.<br />

Nicht wegsehen – das gilt <strong>für</strong> alle, die mit Familien <strong>in</strong> Kontakt stehen.<br />

<strong>Ärzte</strong> spielen dabei e<strong>in</strong>e ganz wichtige Rolle. Sie bauen e<strong>in</strong> Vertrauens-<br />

verhältnis zu den Patienten auf <strong>und</strong> sie gew<strong>in</strong>nen viele wichtige E<strong>in</strong>bli-<br />

cke, wie es e<strong>in</strong>em Menschen geht – sowohl körperlich als auch psy-<br />

chisch. Misshandlung <strong>und</strong> Vernachlässigung s<strong>in</strong>d dabei häufig nicht<br />

leicht zu erkennen. Genau deshalb ist wichtig, dass alle, die mit Familien<br />

zu tun haben, sensibel auf H<strong>in</strong>weise reagieren. Dass sie sich austau-<br />

schen. Und dass sie sich e<strong>in</strong>mischen, wenn hilflose K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> Gefahr<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

Es gibt Eltern, die mit der Erziehung ihrer K<strong>in</strong>der überfordert s<strong>in</strong>d. Die-<br />

sen Familien müssen wir rechtzeitig Unterstützung anbieten. Wenn wir<br />

K<strong>in</strong>dern aus solchen Problemfamilien nicht helfen, werden sie nie die<br />

Chance haben, sich bestmöglich zu entwickeln. Unser Hilfsangebot ist<br />

vielfältig. So können Familienhebammen von Anfang an Hilfestellungen<br />

geben, Elterntra<strong>in</strong>er bieten Kurse an <strong>und</strong> geben Tipps, das Jugendamt<br />

<strong>und</strong> der jugendärztliche Dienst des Ges<strong>und</strong>heitsamtes s<strong>in</strong>d wichtige<br />

Ansprechpartner. Wenn alle Beteiligten gut <strong>in</strong>formiert s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> es uns<br />

gel<strong>in</strong>gt, dass die betroffenen Eltern die Hilfen dieser E<strong>in</strong>richtungen <strong>und</strong><br />

<strong>Institutionen</strong> annehmen, dann können wir K<strong>in</strong>dern Leid ersparen.<br />

Um K<strong>in</strong>der vor Gewalt <strong>und</strong> Vernachlässigung besser zu schützen, wer-<br />

den wir e<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>derschutzhotl<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>richten, unter der r<strong>und</strong> um die Uhr<br />

Experten erreichbar s<strong>in</strong>d. Die Mitarbeiter sollen nicht die Arbeit von Poli-<br />

zei <strong>und</strong> Jugendamt ersetzen, aber sie s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e wichtige Ergänzung.<br />

Dabei soll es nicht darum gehen, etwaige Täter anzuzeigen, sondern<br />

rasche Hilfe <strong>für</strong> die K<strong>in</strong>der zu ermöglichen. Auch <strong>für</strong> <strong>Ärzte</strong> kann die Hot-<br />

l<strong>in</strong>e e<strong>in</strong> gutes Angebot se<strong>in</strong>.<br />

Außerdem wird das Land künftig verstärkt Familienhebammen e<strong>in</strong>set-<br />

zen, die jungen Familien mit Problemen von Anfang an zur Seite stehen.<br />

Zudem soll das System der gesetzlichen Früherkennungsuntersuchun-<br />

gen künftig stärker da<strong>für</strong> genutzt werden, an Familien mit Hilfebedarf<br />

heranzukommen <strong>und</strong> sie zu unterstützen. Wenn Eltern ihre K<strong>in</strong>der trotz<br />

4


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

e<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung nicht zu den U-Untersuchungen br<strong>in</strong>gen, bietet das<br />

Ges<strong>und</strong>heitsamt der Familie Beratung <strong>und</strong> Hilfe an.<br />

Für uns alle, die wir <strong>in</strong> unserer täglichen Arbeit Familien <strong>und</strong> K<strong>in</strong>dern<br />

helfen, sie behandeln <strong>und</strong> beraten, steht e<strong>in</strong>es klar im Vordergr<strong>und</strong>: Das<br />

Wohl des K<strong>in</strong>des. Und wenn die Ges<strong>und</strong>heit oder gar das Leben des<br />

K<strong>in</strong>des <strong>in</strong> Gefahr s<strong>in</strong>d, dann müssen wir ohne Zögern e<strong>in</strong>greifen. Das<br />

erfordert manchmal mutige Entscheidungen. Umso wichtiger ist es, dass<br />

Sie als <strong>Ärzte</strong> über alle wichtigen Informationen verfügen <strong>und</strong> e<strong>in</strong> breites<br />

Netzwerk an Ansprechpartnern haben, die Ihnen bei e<strong>in</strong>er schwierigen<br />

Entscheidung zur Seite stehen können. Der <strong>Leitfaden</strong> soll dazu e<strong>in</strong>en<br />

Beitrag leisten. Ich möchte der <strong>Techniker</strong> <strong>Krankenkasse</strong> da<strong>für</strong> danken,<br />

dass Sie diesen <strong>Leitfaden</strong> erstellt hat <strong>und</strong> sich damit dieses wichtigen<br />

Themas annimmt.<br />

Ihr<br />

Erw<strong>in</strong> Seller<strong>in</strong>g<br />

5


Geleitworte<br />

Unsere K<strong>in</strong>der s<strong>in</strong>d unsere Zukunft. Ihnen gehört die ganze Aufmerk-<br />

samkeit der Eltern <strong>und</strong> der Gesellschaft. Deshalb erschüttert uns jedes<br />

e<strong>in</strong>zelne, bekannt werdende Beispiel von Gewalt an e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>d. Die<br />

Formen der Gewalt s<strong>in</strong>d vielfältig: körperliche <strong>und</strong> seelische Misshand-<br />

lung, sexueller Missbrauch <strong>und</strong> Vernachlässigung. Zu oft jedoch bleiben<br />

Fälle der Gewaltanwendung gegen K<strong>in</strong>der im Verborgenen. Daher s<strong>in</strong>d<br />

wir alle gefordert, noch aufmerksamer zu werden <strong>und</strong> jegliche Anzei-<br />

chen, die auf e<strong>in</strong>e Gewalte<strong>in</strong>wirkung h<strong>in</strong>weisen, wahrzunehmen.<br />

E<strong>in</strong>e besondere Bedeutung kommt dabei den Ärzt<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> <strong>Ärzte</strong>n zu,<br />

da ihnen mit den mediz<strong>in</strong>ischen Untersuchungen e<strong>in</strong>e Möglichkeit gege-<br />

ben ist, auf Auffälligkeiten zu achten.<br />

Der <strong>Leitfaden</strong> ist jedoch nicht nur an Ärzt<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> <strong>Ärzte</strong> gerichtet, son-<br />

dern auch an andere <strong>Institutionen</strong> <strong>und</strong> Professionen, die mit K<strong>in</strong>dern <strong>und</strong><br />

ihren Familien arbeiten <strong>und</strong> Problemsituationen <strong>und</strong> Gewaltphänomene<br />

erkennen können.<br />

Dieser <strong>Leitfaden</strong> soll sie dabei unterstützen, mögliche Gewaltsymptome<br />

frühzeitig zu erkennen <strong>und</strong> sich im Falle e<strong>in</strong>es Verdachts mit anderen<br />

Professionen <strong>und</strong> <strong>Institutionen</strong> auszutauschen.<br />

Der erste <strong>Leitfaden</strong> zum Thema "Gewalt gegen K<strong>in</strong>der" erschien im Jah-<br />

re 2000. Im Jahre 2004 erschien die erste Neuauflage. Unter Berück-<br />

sichtigung neuester Erkenntnisse <strong>und</strong> Entwicklungen auf juristischer <strong>und</strong><br />

mediz<strong>in</strong>ischer Ebene wurde der <strong>Leitfaden</strong> im Jahre 2007 vollständig<br />

überarbeitet <strong>und</strong> nun als zweite Neuauflage der Öffentlichkeit überge-<br />

ben. Wir hoffen, dass der <strong>Leitfaden</strong> <strong>in</strong> Zukunft mehr Sicherheit im Um-<br />

gang mit Problemen bei Gewalt gegen K<strong>in</strong>der gibt, e<strong>in</strong> kompetentes<br />

Fallmanagement <strong>in</strong> der ärztlichen Praxis oder <strong>in</strong> den Beratungsräumen<br />

der <strong>Institutionen</strong> unterstützt sowie zur besseren Vernetzung der unter-<br />

schiedlichen Hilfesysteme beiträgt. Für unsere K<strong>in</strong>der.<br />

Dr. Volker Möws<br />

Leiter der TK-Landesvertretung<br />

Mecklenburg-Vorpommern<br />

6


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

Geleitworte<br />

Als Landesvere<strong>in</strong>igung <strong>für</strong> Ges<strong>und</strong>heitsförderung Mecklenburg-<br />

Vorpommern e. V. freuen wir uns, dass der <strong>Leitfaden</strong> "Gewalt gegen<br />

K<strong>in</strong>der" mit Unterstützung zahlreicher Partner im Land fertiggestellt wor-<br />

den ist.<br />

Mit diesem umfangreichen Material können <strong>Ärzte</strong> <strong>für</strong> ihre verantwor-<br />

tungsvolle Rolle im Rahmen dieser Problematik sensibilisiert werden.<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus gibt ihnen der <strong>Leitfaden</strong> Hilfestellung bei der Erkennung<br />

von Gewalte<strong>in</strong>wirkungen sowie Orientierung auf ihre sozialen E<strong>in</strong>fluss-<br />

möglichkeiten, geme<strong>in</strong>sam mit örtlichen Partnern Lösungsansätze zu<br />

entwickeln.<br />

Bereits im Dezember 1998 hatte die Landesvere<strong>in</strong>igung <strong>für</strong> Ges<strong>und</strong>-<br />

heitsförderung Mecklenburg-Vorpommern e. V. <strong>in</strong> Kooperation mit der<br />

Landesvertretung Mecklenburg-Vorpommern der <strong>Techniker</strong> Kranken-<br />

kasse zu e<strong>in</strong>er Fachtagung "Gewalt <strong>in</strong> der Gesellschaft" e<strong>in</strong>geladen. Das<br />

Interesse an dieser Thematik war damals groß <strong>und</strong> hat bis heute nicht<br />

nachgelassen. Erfahrungen <strong>in</strong> der Praxis zeigen immer wieder, dass nur<br />

e<strong>in</strong> gesamtgesellschaftliches Engagement langfristig Aussicht auf Erfolg<br />

hat, der Gewalt - die viele Gesichter hat - E<strong>in</strong>halt zu gebieten. So ist die<br />

Familie leider nicht nur e<strong>in</strong> Ort von Sicherheit <strong>und</strong> Geborgenheit, son-<br />

dern auch der von Gewalt, vor allem von Gewalt gegen K<strong>in</strong>der.<br />

Gewalt richtet sich gegen Bevölkerungsgruppen, gegen Frauen, gegen<br />

Ausländer <strong>und</strong> Asylbewerber, gegen Beh<strong>in</strong>derte, Obdachlose, Drogen-<br />

abhängige, Homosexuelle <strong>und</strong> gegen K<strong>in</strong>der als e<strong>in</strong>es der schwächsten<br />

Glieder unserer Gesellschaft. Gewalt zeigt sich <strong>in</strong> Schulen, bei Sport-<br />

veranstaltungen, im Straßenverkehr, <strong>und</strong> sie wird uns täglich über die<br />

Medien vorgeführt.<br />

Die LVG M-V hat sich gr<strong>und</strong>sätzlich dah<strong>in</strong>gehend positioniert, dass wir<br />

e<strong>in</strong>e sehr starke Lobby <strong>für</strong> e<strong>in</strong> gewaltfreies Mite<strong>in</strong>ander, <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e gewalt-<br />

freie Zukunft <strong>und</strong> <strong>für</strong> die Ges<strong>und</strong>heit aller Altersgruppen brauchen <strong>und</strong><br />

da<strong>für</strong> e<strong>in</strong>treten. So war es <strong>für</strong> unsere Landesvere<strong>in</strong>igung naheliegend,<br />

neben dem Sozialm<strong>in</strong>isterium M-V ebenfalls als Kooperationspartner<strong>in</strong><br />

im Projekt der <strong>Techniker</strong> <strong>Krankenkasse</strong> zur Entwicklung des <strong>Leitfaden</strong>s<br />

<strong>für</strong> <strong>Ärzte</strong> mitzuwirken.<br />

Mit dem Wunsch, zahlreiche Ärzt<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> <strong>Ärzte</strong> <strong>in</strong> unserem B<strong>und</strong>es-<br />

land als Mitstreiter/<strong>in</strong>nen bei der geme<strong>in</strong>samen Bekämpfung von Gewalt<br />

zu gew<strong>in</strong>nen, verb<strong>in</strong>den wird die Hoffnung <strong>und</strong> den Willen zu weiteren<br />

geme<strong>in</strong>samen Anstrengungen <strong>für</strong> körperliches, psychisches <strong>und</strong> sozia-<br />

les Wohlbef<strong>in</strong>den unserer K<strong>in</strong>der. Vor allem K<strong>in</strong>der brauchen dr<strong>in</strong>gend<br />

zur Entwicklung ihrer Persönlichkeit bed<strong>in</strong>gungslose <strong>und</strong> verlässliche<br />

7


Zuwendung, die Erfahrung, dass sie um ihrer selbst willen geliebt wer-<br />

den.<br />

Dr. Angelika Baumann<br />

Vorsitzende der LVG<br />

8


Gr<strong>und</strong>lagen<br />

<strong>für</strong> das<br />

Fallmanagement<br />

<strong>in</strong> der Arztpraxis


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

14


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

1 Was ist Gewalt gegen K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendliche?............................ 17<br />

1.1 Direkte Gewalt – Misshandlung ....................................................... 19<br />

1.1.1 Körperliche Gewalt................................................................... 19<br />

1.1.2 Seelische Gewalt ..................................................................... 19<br />

1.1.3 Vernachlässigung .................................................................... 20<br />

1.1.4 Sexuelle Gewalt....................................................................... 21<br />

1.2 Indirekte Gewalt/Häusliche Gewalt.................................................. 23<br />

1.3 Auswirkungen von Gewalt ............................................................... 23<br />

1.4 Gewaltbegünstigende Faktoren....................................................... 25<br />

2 Epidemiologie..................................................................................... 28<br />

3 Rahmenbed<strong>in</strong>gungen <strong>für</strong> die ärztliche Praxis <strong>und</strong> <strong>Institutionen</strong> .. 31<br />

3.1 Rechtliche Rahmenbed<strong>in</strong>gungen..................................................... 31<br />

3.2 Empfehlungen zum Umgang mit K<strong>in</strong>desmisshandlung................... 34<br />

3.3 Konsequenzen <strong>für</strong> die ärztliche Praxis <strong>und</strong> <strong>Institutionen</strong> ................. 36<br />

4 Diagnostik <strong>und</strong> Bef<strong>und</strong>erhebung ..................................................... 40<br />

4.1 Diagnostik als Prozess .................................................................... 40<br />

4.2 Körperlicher Bef<strong>und</strong> ......................................................................... 40<br />

4.3 Psychischer Bef<strong>und</strong> <strong>und</strong> das Verhalten des K<strong>in</strong>des ........................ 48<br />

4.4 Sexueller Missbrauch ...................................................................... 51<br />

4.5 Beurteilung der familiären Situation................................................. 53<br />

4.6 Was noch auf Gewalt h<strong>in</strong>weisen kann <strong>und</strong> wie Sie damit umgehen<br />

können ............................................................................................. 55<br />

4.7 Bewertung <strong>und</strong> Gewichtung der Bef<strong>und</strong>e ........................................ 56<br />

4.8 Verifizieren der Verdachtsdiagnose................................................. 56<br />

5 Fallmanagement <strong>in</strong> der Arztpraxis ................................................... 58<br />

5.1 Ziele, Aufgaben <strong>und</strong> Voraussetzungen............................................ 58<br />

5.2 Erst- <strong>und</strong> Wiederholungsuntersuchungen....................................... 59<br />

5.3 Eröffnung der Diagnose gegenüber Eltern oder Begleitpersonen... 60<br />

5.4 Verhalten während des Praxisbesuchs ........................................... 61<br />

5.5 Zwischen den Praxisbesuchen........................................................ 62<br />

5.6 Notmaßnahmen bei unmittelbar drohender Gefahr <strong>für</strong> das K<strong>in</strong>d .... 63<br />

5.7 Wenn e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d verstorben ist........................................................... 65<br />

5.8 Feedback ......................................................................................... 66<br />

6 Gesetzliche Gr<strong>und</strong>lagen.................................................................... 67<br />

7 Literaturverzeichnis........................................................................... 75<br />

8 Internet................................................................................................ 78<br />

15


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

16


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

1 Was ist Gewalt gegen K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Ju-<br />

gendliche?<br />

"K<strong>in</strong>desmisshandlung ist e<strong>in</strong>e nicht zufällige (bewusste oder unbewuss-<br />

te) gewaltsame körperliche <strong>und</strong>/oder seelische Schädigung, die <strong>in</strong> Fami-<br />

lien oder <strong>Institutionen</strong> (z. B. K<strong>in</strong>dergärten, Schulen, Heimen) geschieht,<br />

<strong>und</strong> die zu Verletzungen, Entwicklungsverzögerungen oder sogar zum<br />

Tode führt, <strong>und</strong> die somit das Wohl <strong>und</strong> die Rechte e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des bee<strong>in</strong>-<br />

trächtigt oder bedroht." (Bast, 1978).<br />

Diese Def<strong>in</strong>ition ist schon seit vielen Jahren der Ausgangspunkt <strong>für</strong> die<br />

Frage, wann aus der Sicht der helfenden Berufsgruppen (z.B. <strong>Ärzte</strong> 1 ,<br />

Sozialarbeiter) von Gewalt gegen K<strong>in</strong>der gesprochen werden kann.<br />

Auch der Deutsche B<strong>und</strong>estag verwendet die o.g. Def<strong>in</strong>ition unter die-<br />

sem Aspekt. In ihr wird deutlich, dass Gewalt gegen K<strong>in</strong>der folgende<br />

Formen annehmen kann:<br />

1. Körperliche Gewalt,<br />

2. Seelische Gewalt,<br />

3. Vernachlässigung <strong>und</strong><br />

4. Sexuelle Gewalt.<br />

Zu unterscheiden ist jeweils die Misshandlung als aktive <strong>und</strong> die Ver-<br />

nachlässigung als passive Form. Mehrere Formen können bei e<strong>in</strong>em<br />

K<strong>in</strong>d auch gleichzeitig vorkommen.<br />

Diese Klassifizierung (vgl. Schema unten) unterscheidet hierbei Formen<br />

der direkten Gewalt von der Form der <strong>in</strong>direkten Gewalt gegen K<strong>in</strong>der<br />

<strong>und</strong> Jugendliche. Die direkte Gewalt ist unmittelbar gegen das Opfer<br />

gerichtet. Die <strong>in</strong>direkte Gewalt me<strong>in</strong>t die Wahrnehmung von Gewalt-<br />

handlungen zwischen erwachsenen Personen. Das Miterleben dieser<br />

Gewaltereignisse hat vergleichbare psychische Auswirkungen wie die<br />

Formen der direkten Gewalt.<br />

1 Die Bezeichnung „Arzt“ gilt hier, wie im Folgenden, als weibliche <strong>und</strong> männli-<br />

che Form. Dieses gilt auch <strong>für</strong> die weiteren Berufsbezeichnungen.<br />

17<br />

Def<strong>in</strong>ition K<strong>in</strong>des-<br />

misshandlung<br />

Klassifizierung<br />

direkter <strong>und</strong><br />

<strong>in</strong>direkter Gewalt


Schema: Gewalt<br />

gegen K<strong>in</strong>der<br />

Gewalt wird meist<br />

<strong>in</strong> der Familie<br />

ausgeübt<br />

Vernetzte Hilfe<br />

verschiedener<br />

<strong>Institutionen</strong> <strong>und</strong><br />

Kl<strong>in</strong>iken ist<br />

erforderlich<br />

<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

18<br />

Formen der Gewalt gegen K<strong>in</strong>der<br />

Direkte Gewalt (Misshandlung)<br />

Richtet sich direkt gegen K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendliche<br />

Körperliche<br />

Gewalt<br />

Seelische/<br />

Emotionale<br />

Gewalt<br />

Vernach-<br />

lässigung<br />

Sexuelle<br />

Gewalt<br />

Indirekte<br />

Gewalt<br />

Richtet sich <strong>in</strong>di-<br />

rekt gegen K<strong>in</strong>der<br />

<strong>und</strong> Jugendliche<br />

Häusliche<br />

Gewalt<br />

(Miterleben von<br />

Gewalt zwischen<br />

Erwachsenen)<br />

Die K<strong>in</strong>desmisshandlung ist durch e<strong>in</strong>e gezielte Schädigungsabsicht des<br />

Opfers gekennzeichnet. Meist wird e<strong>in</strong>e verantwortliche erwachsene<br />

Person wiederholt gegen e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d gewalttätig. Gewalt wird fast immer <strong>in</strong><br />

der Familie oder <strong>in</strong> anderen Sozialbereichen ausgeübt. Häufig ist die<br />

Gewaltanwendung der Erwachsenen e<strong>in</strong> Ausdruck eigener Hilflosigkeit<br />

<strong>und</strong> Überforderung. Die zunehmende Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der Ge-<br />

walt gegen K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> unserer Gesellschaft darf nicht dazu führen, dass<br />

wir unsere Aufmerksamkeit ausschließlich auf misshandelnde Personen<br />

<strong>und</strong> ihre Opfer richten <strong>und</strong> dabei die ökonomischen <strong>und</strong> soziokulturellen<br />

Ursachen vergessen. Diesen Verhältnissen s<strong>in</strong>d alle Menschen - je nach<br />

ihrer sozialen Lage - ausgesetzt. Die Häufung von E<strong>in</strong>schränkungen<br />

<strong>und</strong> Belastungen, von sozialen Benachteiligungen, von materieller Ar-<br />

mut <strong>und</strong> psychischem Elend ist e<strong>in</strong>e häufig übersehene Ursache <strong>für</strong><br />

Gewalt gegen K<strong>in</strong>der.<br />

Den verantwortlichen Erwachsenen sollen frühzeitig Hilfen zur Selbst-<br />

hilfe angeboten werden. Dabei müssen verschiedene <strong>Institutionen</strong> un-<br />

terstützend zusammenarbeiten, um dem komplexen Problem gerecht zu<br />

werden. In diesem <strong>Leitfaden</strong> sollen dabei Ihre Rolle als niedergelasse-<br />

ner Arzt sowie die Hilfen <strong>für</strong> das K<strong>in</strong>d im Vordergr<strong>und</strong> stehen. Möglich-<br />

keiten <strong>für</strong> e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames Fallmanagement mit anderen E<strong>in</strong>richtungen<br />

<strong>und</strong> Berufsgruppen werden aufgezeigt.<br />

Der wichtigste Kooperationspartner <strong>für</strong> <strong>Ärzte</strong> ist die Jugendhilfe. Durch


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

die Neuregelung des K<strong>in</strong>der- <strong>und</strong> Jugendschutzes nach § 8a Sozialge-<br />

setzbuch Achtes Buch (SGB VIII) ist der Schutzauftrag der öffentlichen<br />

<strong>und</strong> freien Jugendhilfe präzisiert worden. Damit ist e<strong>in</strong> gesetzlicher<br />

Rahmen geschaffen worden, der den professionellen Blick auf Gefähr-<br />

dungsrisiken schärft <strong>und</strong> die verschiedenen Fachkräfte zur Zusammen-<br />

arbeit verpflichten soll (siehe auch Kap. 3.1).<br />

1.1 Direkte Gewalt – Misshandlung<br />

Bei der K<strong>in</strong>desmisshandlung geschieht die Schädigung des K<strong>in</strong>des nicht<br />

zufällig. Meist wird e<strong>in</strong>e verantwortliche erwachsene Person wiederholt<br />

gegen e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d gewalttätig. Gewalt wird fast immer <strong>in</strong> der Familie oder <strong>in</strong><br />

anderen Zusammenlebenssystemen ausgeübt. Häufig ist die Gewalt-<br />

anwendung der Erwachsenen e<strong>in</strong> Ausdruck eigener Hilflosigkeit <strong>und</strong><br />

Überforderung.<br />

1.1.1 Körperliche Gewalt<br />

Erwachsene üben körperliche Gewalt an K<strong>in</strong>dern <strong>in</strong> vielen ver-<br />

schiedenen Formen aus. Verbreitet s<strong>in</strong>d Prügel, Schläge mit Gegens-<br />

tänden, Kneifen, Treten <strong>und</strong> Schütteln des K<strong>in</strong>des. Daneben werden<br />

Stichverletzungen, Vergiftungen, Würgen <strong>und</strong> Ersticken, sowie thermi-<br />

sche Schäden (Verbrennen, Verbrühen, Unterkühlen) beobachtet. Das<br />

K<strong>in</strong>d kann durch diese Verletzungen bleibende körperliche, geistige <strong>und</strong><br />

seelische Schäden davontragen oder <strong>in</strong> Extremfällen daran sterben.<br />

Dabei ist durch e<strong>in</strong>e Änderung des § 1631 Bürgerliches Gesetzbuches<br />

(BGB) seit dem Jahr 2000 das Recht auf gewaltfreie Erziehung festge-<br />

schrieben worden. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen<br />

<strong>und</strong> andere entwürdigende Maßnahmen s<strong>in</strong>d verboten.<br />

1.1.2 Seelische Gewalt<br />

Seelische oder psychische Gewalt s<strong>in</strong>d "Haltungen, Gefühle <strong>und</strong> Akti-<br />

onen, die zu e<strong>in</strong>er schweren Bee<strong>in</strong>trächtigung e<strong>in</strong>er vertrauensvollen<br />

Beziehung zwischen Bezugsperson <strong>und</strong> K<strong>in</strong>d führen <strong>und</strong> dessen geistig-<br />

seelische Entwicklung zu e<strong>in</strong>er autonomen <strong>und</strong> lebensbejahenden Per-<br />

sönlichkeit beh<strong>in</strong>dern." (Eggers, 1994). Die Schäden <strong>für</strong> die K<strong>in</strong>der s<strong>in</strong>d<br />

oft folgenschwer <strong>und</strong> daher mit denen der körperlichen Misshandlung<br />

vergleichbar.<br />

Seelische Gewalt liegt z.B. dann vor, wenn dem K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> Gefühl der<br />

Ablehnung vermittelt wird. Für das K<strong>in</strong>d wird es besonders schwierig,<br />

e<strong>in</strong> stabiles Selbstbewusstse<strong>in</strong> aufzubauen. Diese Ablehnung wird aus-<br />

gedrückt, <strong>in</strong>dem das K<strong>in</strong>d gedemütigt <strong>und</strong> herabgesetzt, durch unange-<br />

messene Schulleistungen oder sportliche <strong>und</strong> künstlerische Anforderun-<br />

19<br />

Formen der kör-<br />

perlichen Gewalt<br />

s<strong>in</strong>d vielfältig<br />

Eltern-K<strong>in</strong>d-<br />

Beziehung ist<br />

bee<strong>in</strong>trächtigt<br />

Das K<strong>in</strong>d erlebt<br />

Ablehnung


Überzogene<br />

Bestrafungen s<strong>in</strong>d<br />

Gewaltakte<br />

K<strong>in</strong>der werden <strong>in</strong><br />

partnerschaft-<br />

lichen Konflikten<br />

missbraucht<br />

Mangel an<br />

Fürsorge <strong>und</strong><br />

Förderung<br />

<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

gen überfordert, oder durch Liebesentzug, Zurücksetzung, Gleichgültig-<br />

keit <strong>und</strong> Ignorieren bestraft wird.<br />

Schwerwiegend s<strong>in</strong>d ebenfalls Akte, die dem K<strong>in</strong>d Angst machen: E<strong>in</strong>-<br />

sperren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en dunklen Raum, Alle<strong>in</strong>lassen, Isolation des K<strong>in</strong>des, Dro-<br />

hungen, Anb<strong>in</strong>den. Vielfach beschimpfen Eltern ihre K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

extrem überzogenen Maß oder brechen <strong>in</strong> Wutanfälle aus, die <strong>für</strong> das<br />

K<strong>in</strong>d nicht nachvollziehbar s<strong>in</strong>d. Auch überbehütendes <strong>und</strong> über<strong>für</strong>sorg-<br />

liches Verhalten kann zu seelischer Gewalt werden, wenn es Ohnmacht,<br />

Wertlosigkeit <strong>und</strong> Abhängigkeit vermittelt.<br />

Mädchen <strong>und</strong> Jungen werden auch <strong>für</strong> die Bedürfnisse der Eltern miss-<br />

braucht, <strong>in</strong>dem sie gezwungen werden, sich elterliche Streitereien anzu-<br />

hören, oder <strong>in</strong>dem sie <strong>in</strong> Beziehungskonflikten <strong>in</strong>strumentalisiert wer-<br />

den.<br />

Wie e<strong>in</strong>gangs dargestellt kann das Miterleben von Gewalt zwischen den<br />

Eltern Mädchen <strong>und</strong> Jungen Schaden zufügen. Zudem ist das Risiko,<br />

selber Opfer von Gewalt zu werden, stark erhöht, wenn es zu Gewalt <strong>in</strong><br />

der Partnerschaft kommt. K<strong>in</strong>der s<strong>in</strong>d häufig anwesend, wenn der Vater<br />

die Mutter schlägt oder bedroht, sie werden Augen- <strong>und</strong>/oder Ohren-<br />

zeugen von Gewalt, sie s<strong>in</strong>d z. T. auch direkt <strong>in</strong> die Gewalt gegen ihre<br />

Mutter verwickelt: Sie bekommen Schläge ab, weil sie von der Mutter<br />

auf den Arm gehalten werden, sie werden als „Geiseln“ genommen, um<br />

(oftmals) die Mutter zu e<strong>in</strong>em bestimmten Verhalten zu zw<strong>in</strong>gen, sie<br />

s<strong>in</strong>d gezwungen, bei Gewalttaten zuzusehen oder werden aufgefordert,<br />

dabei mitzumachen.<br />

1.1.3 Vernachlässigung<br />

Die Vernachlässigung stellt e<strong>in</strong>e Besonderheit sowohl der körperlichen<br />

als auch der seelischen K<strong>in</strong>desmisshandlung dar. Eltern können K<strong>in</strong>-<br />

dern Zuwendung, Liebe <strong>und</strong> Akzeptanz, Betreuung, Schutz <strong>und</strong> Förde-<br />

rung verweigern. Diese Verweigerung kann auch zu schweren physi-<br />

schen Bee<strong>in</strong>trächtigungen führen. Dazu gehören mangelnde Ernährung,<br />

unzureichende Pflege <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitliche Fürsorge bis h<strong>in</strong> zur völligen<br />

Verwahrlosung.<br />

Diese andauernde oder wiederholte Unterlassung <strong>für</strong>sorglichen Han-<br />

delns kann bewusst oder unbewusst, aufgr<strong>und</strong> unzureichender E<strong>in</strong>sicht<br />

oder unzureichenden Wissens erfolgen <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d Ausdruck e<strong>in</strong>er stark<br />

bee<strong>in</strong>trächtigten Beziehung zwischen Eltern <strong>und</strong> K<strong>in</strong>d. Um gerade die<br />

langfristige Auswirkung von Vernachlässigung zu verdeutlichen, ist fol-<br />

gende Def<strong>in</strong>ition hilfreich:<br />

„Die durch Vernachlässigung bewirkte chronische Unterversorgung des<br />

K<strong>in</strong>des durch die nachhaltige Nichtberücksichtigung, Missachtung oder<br />

Versagung se<strong>in</strong>er Lebensbedürfnisse hemmt, bee<strong>in</strong>trächtigt oder schä-<br />

20


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

digt se<strong>in</strong>e körperliche, geistige <strong>und</strong> seelische Entwicklung <strong>und</strong> kann zu<br />

gravierenden bleibenden Schäden oder gar zum Tode des K<strong>in</strong>des füh-<br />

ren." (Schone, 1997).<br />

1.1.4 Sexuelle Gewalt<br />

Im Unterschied zu körperlicher oder seelischer Gewalt gegen K<strong>in</strong>der,<br />

die häufig aus Hilflosigkeit <strong>und</strong> Überforderung ausgeübt werden, ist die<br />

sexuelle Gewalt an K<strong>in</strong>dern <strong>in</strong> der Regel e<strong>in</strong> planvolles, oft über Jahre<br />

andauerndes Verhalten, das sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Intensität allmählich steigert.<br />

Während K<strong>in</strong>desmisshandlung von Männern <strong>und</strong> Frauen verübt wird,<br />

geht die sexuelle Gewalt überwiegend von Männern bzw. männlichen<br />

Jugendlichen aus.<br />

Unter sexueller Gewalt versteht man Handlungen e<strong>in</strong>es Erwachsenen<br />

bzw. e<strong>in</strong>es älteren Jugendlichen an e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>d, wobei der Erwachsene<br />

das K<strong>in</strong>d als Objekt zur Befriedigung se<strong>in</strong>er sexuellen Bedürfnisse be-<br />

nutzt (nicht nur wenn K<strong>in</strong>der diese Handlungen nicht wollen <strong>und</strong> nicht<br />

imstande s<strong>in</strong>d, die Situation zu kontrollieren. Auch wenn K<strong>in</strong>der an se-<br />

xuelle Handlungen mit e<strong>in</strong>em Erwachsenen mitwirken, liegt e<strong>in</strong> Miss-<br />

brauch vor). Die Erwachsenen bzw. Jugendlichen nutzen ihre Macht als<br />

Ältere oder ihre Autorität <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es spezifischen Abhängigkeits-<br />

verhältnisses (als Vater, Lehrer, Fußballtra<strong>in</strong>er o.ä.) aus, um ihre Inte-<br />

ressen durchzusetzen. Sie erreichen dies, <strong>in</strong>dem sie emotionalen Druck<br />

ausüben, die Loyalität e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des ausnutzen, durch Bestechung mit<br />

Geschenken, Versprechungen oder Erpressungen - aber auch mit dem<br />

E<strong>in</strong>satz körperlicher Gewalt. Viele missbrauchende Erwachsene ver-<br />

pflichten oder erpressen die K<strong>in</strong>der zum Schweigen über den Miss-<br />

brauch.<br />

Formen sexueller Gewalt s<strong>in</strong>d das Berühren des K<strong>in</strong>des an den Ge-<br />

schlechtsteilen, die Aufforderung, den Täter anzufassen, Zungenküsse,<br />

oraler, vag<strong>in</strong>aler <strong>und</strong> analer Geschlechtsverkehr, Penetration mit F<strong>in</strong>-<br />

gern oder Gegenständen. Bekanntlich s<strong>in</strong>d auch Handlungen ohne Kör-<br />

perkontakt wie Exhibitionismus, sexualisierte Sprache <strong>und</strong> Herstellung<br />

<strong>und</strong> Konsum von Darstellungen k<strong>in</strong>derpornographischen Inhalts unter<br />

Strafe gestellt. Diese Formen der sexuellen Gewalt werden zunehmend<br />

auch im Internet dargestellt.<br />

Der Polizeilichen Krim<strong>in</strong>alstatistik über Opfer-Tatverdächtigen-<br />

Beziehung aus dem Jahre 2006 ist zu entnehmen, dass 76% der Opfer<br />

des sexuellen Missbrauchs an K<strong>in</strong>dern <strong>in</strong> der B<strong>und</strong>esrepublik Deutsch-<br />

land Mädchen s<strong>in</strong>d. Bei Mädchen beträgt der Anteil von missbrauchen-<br />

den Verwandten <strong>und</strong> Bekannten zusammen 50%. Der Anteil der Täter,<br />

21<br />

Def<strong>in</strong>ition von<br />

sexueller Gewalt<br />

Sexuelle Gewalt<br />

ist nicht nur kör-<br />

perlicherMiss- brauch <br />

Bekanntschafts-<br />

grad zwischen Tä-<br />

ter <strong>und</strong> Opfer


Sexuelle Gewalt<br />

ist meist nicht<br />

spontan<br />

Das K<strong>in</strong>d steht<br />

zwischen Gewalt<br />

<strong>und</strong> Zuwendung<br />

Scham- <strong>und</strong> Angst-<br />

gefühle verh<strong>in</strong>dern<br />

e<strong>in</strong> Sich- Anver-<br />

trauen<br />

<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

zu denen e<strong>in</strong>e flüchtige Vorbeziehung der Opfer bestand, beträgt 7%<br />

<strong>und</strong> zu denen ke<strong>in</strong>e Vorbeziehung bestand, 37%.<br />

Bei den Jungen sieht es ähnlich aus: Der Anteil von missbrauchenden<br />

Verwandten <strong>und</strong> Bekannten beträgt zusammen 53%. Mädchen werden<br />

dabei um 4% häufiger durch Verwandte missbraucht als Jungen, Jun-<br />

gen zu 7% häufiger durch Bekannte als Mädchen. Bei den Jungen be-<br />

trägt der Anteil der Täter, zu denen e<strong>in</strong>e flüchtige Vorbeziehung be-<br />

stand, 8% <strong>und</strong> zu denen ke<strong>in</strong>e Vorbeziehung bestand, 30%.<br />

Opfer-Tatverdächtigen-<br />

Beziehung<br />

22<br />

Opfer-Tatverdächtigen-Beziehung<br />

<strong>in</strong>sgesamt<br />

Opfer<br />

männlich weiblich<br />

Verwandtschaft 2924 603 2321<br />

Bekanntschaft 4982 1423 3559<br />

flüchtige Beziehung 1166 304 862<br />

ke<strong>in</strong>e Vorbeziehung 5696 1149 4547<br />

ungeklärt 1212 322 890<br />

Summe 15980 3801 12179<br />

(Polizeiliche Krim<strong>in</strong>alstatistik 2006; Bereich: B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland)<br />

E<strong>in</strong> wesentlicher Unterschied zwischen sexuellem Missbrauch <strong>und</strong> kör-<br />

perlicher Misshandlung ist, dass der Täter häufiger <strong>in</strong> überlegter Absicht<br />

handelt. Sexuelle Übergriffe s<strong>in</strong>d eher geplant als körperliche Gewaltta-<br />

ten.<br />

E<strong>in</strong>ige spezifische Merkmale s<strong>in</strong>d charakteristisch <strong>für</strong> den sexuellen<br />

Missbrauch, wenn er <strong>in</strong> der Familie stattf<strong>in</strong>det. Der Täter nutzt <strong>in</strong> beson-<br />

derem Maße das Macht- <strong>und</strong> Abhängigkeitsverhältnis aus, das zwischen<br />

ihm <strong>und</strong> dem betroffenen K<strong>in</strong>d besteht. Dieses Machtgefälle <strong>und</strong> das<br />

Vertrauen des K<strong>in</strong>des ermöglichen ihm, das K<strong>in</strong>d zu sexuellen Handlun-<br />

gen zu zw<strong>in</strong>gen. Dabei wendet er meist ke<strong>in</strong>e körperliche Gewalt an.<br />

Das K<strong>in</strong>d wird mit Drohungen zur Geheimhaltung verpflichtet. Übergriffe<br />

können auch mit Zuwendungen verb<strong>und</strong>en se<strong>in</strong>. Auf diese Weise wird<br />

das K<strong>in</strong>d zunächst sche<strong>in</strong>bar aufgewertet. Die Widersprüche im Verhal-<br />

ten des Täters s<strong>in</strong>d <strong>für</strong> das K<strong>in</strong>d nicht zu durchschauen. Das K<strong>in</strong>d sucht<br />

daher die Schuld <strong>für</strong> die sexuellen Übergriffe bei sich <strong>und</strong> schämt sich<br />

da<strong>für</strong>.<br />

Die Scham, von e<strong>in</strong>er meist geliebten <strong>und</strong> geachteten Person sexuell<br />

missbraucht zu werden, macht es dem K<strong>in</strong>d nahezu unmöglich, sich<br />

e<strong>in</strong>er dritten Person anzuvertrauen. Jungen können häufig noch mehr<br />

Schwierigkeiten haben, sich mitzuteilen. Bei e<strong>in</strong>igen Jungen kann der<br />

Missbrauch zusätzlich mit e<strong>in</strong>er Angst e<strong>in</strong>hergehen, <strong>für</strong> homosexuell


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

gehalten zu werden oder zu se<strong>in</strong>. E<strong>in</strong> weiterer Gr<strong>und</strong> <strong>für</strong> K<strong>in</strong>der, die Er-<br />

lebnisse <strong>für</strong> sich zu behalten, ist häufig die Androhung durch den Täter,<br />

das K<strong>in</strong>d werde im Fall der Offenbarung <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Heim müssen, oder sich<br />

Strafen <strong>und</strong> Ärger e<strong>in</strong>handeln. Nicht selten s<strong>in</strong>d Drohungen des Täters,<br />

sich selbst zu verletzen oder Suizid zu begehen, Vertrauenspersonen zu<br />

verletzen oder Haustiere des K<strong>in</strong>des zu misshandeln.<br />

1.2 Indirekte Gewalt/Häusliche Gewalt<br />

Häusliche Gewalt me<strong>in</strong>t physische, sexuelle, psychische, soziale <strong>und</strong><br />

emotionale Gewalt zwischen erwachsenen Menschen, die <strong>in</strong> naher Be-<br />

ziehung zue<strong>in</strong>ander stehen oder gestanden haben. Sie f<strong>in</strong>det im ver-<br />

me<strong>in</strong>tlichen Schutzraum des eigenen zu Hause statt <strong>und</strong> wird meistens<br />

von Männern gegen Frauen ausgeübt (vgl. BIG e.V., 1997).<br />

K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendliche, die wiederholt ernste physische <strong>und</strong> psychische<br />

Gewalthandlungen gegen ihre Mutter, die von deren Beziehungspartner<br />

ausg<strong>in</strong>gen, erlebt haben, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>in</strong>direkter Weise ebenfalls betroffen<br />

von dieser Gewalt. Zusätzlich besteht e<strong>in</strong>e hohe Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit,<br />

dass bei Vorliegen häuslicher Gewalt auch die K<strong>in</strong>der direkt misshandelt<br />

werden.<br />

K<strong>in</strong>der, die häusliche Gewalt erleben, s<strong>in</strong>d darauf angewiesen, von au-<br />

ßen Schutz <strong>und</strong> Unterstützung zu erhalten. Die Verantwortung <strong>für</strong> den<br />

Schutz der K<strong>in</strong>der kann nicht alle<strong>in</strong> von dem misshandelten Elternteil<br />

getragen werden, da dieses selbst Opfer von Gewalt ist <strong>und</strong> den eige-<br />

nen Schutz nicht sicherstellen kann.<br />

E<strong>in</strong>zelne Studien aus England zeigen, dass bei 30-50% der Fälle, <strong>in</strong><br />

denen die Mutter misshandelt wird, m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d ebenfalls vom<br />

Partner/Vater körperlich misshandelt wird oder sexuelle Übergriffe erlebt<br />

hat. 75% der K<strong>in</strong>der hatten Misshandlungen der Mutter miterlebt, 66%<br />

mitgehört (vgl. Kavemann, 2000).<br />

1.3 Auswirkungen von Gewalt<br />

Das Erleben direkter <strong>und</strong> <strong>in</strong>direkter Gewalt im nahen Umfeld hat immer<br />

Auswirkungen <strong>und</strong> Folgen <strong>für</strong> die Entwicklung von K<strong>in</strong>dern <strong>und</strong> Jugend-<br />

lichen. Gewalt erleben bedeutet <strong>für</strong> jeden Menschen e<strong>in</strong>en schweren<br />

E<strong>in</strong>griff <strong>in</strong> das Gefühl eigener Sicherheit <strong>und</strong> ist häufig mit massiven<br />

Folgen sowohl <strong>für</strong> die körperliche als auch psychische Ges<strong>und</strong>heit ver-<br />

b<strong>und</strong>en. K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendliche erleben die Gewalt als besonders be-<br />

drohlich <strong>und</strong> existenziell, da sie <strong>in</strong> ihrer Entwicklung auf Schutz <strong>und</strong> Ge-<br />

borgenheit durch Erwachsene angewiesen s<strong>in</strong>d. Die Folgen s<strong>in</strong>d umso<br />

23<br />

Merkmale häusli-<br />

cher Gewalt<br />

K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Ju-<br />

gendliche s<strong>in</strong>d<br />

<strong>in</strong>direkt mitbe-<br />

troffen<br />

Misshandeltes<br />

Elternteil kann<br />

Schutz nicht si-<br />

cher stellen<br />

K<strong>in</strong>der erleben<br />

Misshandlungen<br />

der Mutter mit<br />

Gravierende Fol-<br />

gen <strong>für</strong> körperli-<br />

che <strong>und</strong> psychi-<br />

sche Ges<strong>und</strong>heit


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

gravierender, wenn die Gewalt von nahe stehenden Personen ausgeht.<br />

Diese Erfahrungen können schwere seelische Schäden <strong>und</strong> Krankheits-<br />

bilder hervorrufen (z.B. Posttraumatische Belastungsstörung, Persön-<br />

lichkeitsstörungen).<br />

Unmittelbare Reaktionen<br />

24<br />

• Schockreaktionen, Erstarrung, Nichtansprechbarkeit<br />

• Angst, Panik, Schreien<br />

• Rufen nach der Mutter oder dem Vater<br />

• langes We<strong>in</strong>en<br />

• Anklammern<br />

• Abwehr, Um-sich-Schlagen, Verstecken<br />

• Verwirrtheit<br />

Mittel- <strong>und</strong> langfristige Auswirkungen<br />

• Rückzug, Isolation<br />

• Verlust von Urvertrauen/<br />

<strong>in</strong>nerer Zuversicht<br />

• Verlust von Respekt <strong>und</strong><br />

Achtung vor Mutter <strong>und</strong> Va-<br />

ter<br />

• Antriebslosigkeit, Spielun-<br />

lust<br />

• depressive Verstimmung<br />

• hochgradige Furcht<br />

• Klammern bei der Mutter<br />

oder der Betreuungsperson<br />

• Abwehr von Zuwendung<br />

• Stagnation der Entwicklung<br />

• Regression, d.h. Rückfall <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>e frühere Entwicklungs-<br />

stufe (z.B. E<strong>in</strong>nässen, Ba-<br />

bysprache)<br />

Langzeitfolgen <strong>und</strong> dauerhafte Schädigung<br />

• schwere psychosomatische Leiden<br />

• Schlafstörungen, Schulver-<br />

sagen,Konzentrationsstö- rungen<br />

• Schulschwänzen<br />

• ger<strong>in</strong>ges Selbstwertgefühl/<br />

Selbstbewusstse<strong>in</strong><br />

• Gewaltverhalten, erhöhte<br />

Aggressivität<br />

• besonders angepasstes<br />

<strong>und</strong> „braves“ Verhalten<br />

• selbstschädigendes Verhal-<br />

ten (Essstörungen, Dro-<br />

genmissbrauch)<br />

• Selbstverletzung, Suizidge-<br />

fahr<br />

• Zerstörung des positiven Lebensgefühls<br />

• Verachtung des eigenen Geschlechts<br />

• Selbstverachtung<br />

• Ablehnung sozialer Beziehungen<br />

• B<strong>in</strong>dungsangst<br />

• Wiederholung erlebter Beziehungsmuster<br />

• Rechtfertigung <strong>und</strong> Leugnung des Geschehens<br />

• Suizid


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

Geschlechtsspezifische Auswirkungen<br />

häufiger bei Mädchen:<br />

• Unsicherheit<br />

• Rückzug<br />

• Selbstschädigung, Selbst-<br />

verletzung<br />

• Angst<br />

• Kontaktvermeidung<br />

häufiger bei Jungen:<br />

• Akzeptanz von Gewalt<br />

• Dom<strong>in</strong>anzverhalten<br />

• Abwertung von <strong>und</strong> Ver-<br />

ächtlichkeit gegenüber<br />

Mädchen <strong>und</strong> Frauen<br />

• sexuelle Übergriffe (verbal<br />

<strong>und</strong> tätlich)<br />

• erhöhte Aggressivität<br />

• Gewaltverhalten <strong>und</strong> Be-<br />

drohungsrituale<br />

Das Erleben von Gewalt im Elternhaus hat auch Auswirkungen auf das<br />

Erwachsenenleben der betroffenen K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendlichen. K<strong>in</strong>dheits-<br />

erfahrungen bee<strong>in</strong>flussen im späteren Leben die Partnerwahl <strong>und</strong> es<br />

kann zur Wiederholung des <strong>in</strong> der Herkunftsfamilie erlernten Bezie-<br />

hungsmusters kommen. So stellt die erste <strong>für</strong> Deutschland repräsentati-<br />

ve Studie fest, dass Frauen, die <strong>in</strong> ihrer K<strong>in</strong>dheit <strong>und</strong> Jugend körperliche<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzungen zwischen ihren Eltern miterlebt haben, mehr als<br />

doppelt so häufig Gewalt durch ihren (Ex-)Partner erlebt haben, als<br />

Frauen, die ke<strong>in</strong>e gewalttätigen Ause<strong>in</strong>andersetzungen zwischen ihren<br />

Eltern miterlebt haben (B<strong>und</strong>esm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> Familie, Frauen, Senio-<br />

ren <strong>und</strong> Jugend, 2004).<br />

1.4 Gewaltbegünstigende Faktoren<br />

Gewaltbegünstigende Faktoren müssen immer <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em übergreifenden<br />

Rahmen betrachtet werden, wobei sie im gesellschaftlichen, sozialen,<br />

familiären <strong>und</strong> persönlichen Bereich auch ohne Auftreten von K<strong>in</strong>des-<br />

misshandlung ganz allgeme<strong>in</strong> die ges<strong>und</strong>e Entwicklung von K<strong>in</strong>dern <strong>und</strong><br />

Jugendlichen stark bee<strong>in</strong>trächtigen können. Die folgenden Risikofakto-<br />

ren, die Gewalt gegen K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendliche begünstigen können,<br />

s<strong>in</strong>d ausschließlich als H<strong>in</strong>weisliste zu verstehen. Es kann ke<strong>in</strong>e Aussa-<br />

ge darüber getroffen werden, <strong>in</strong>wieweit diese Faktoren im E<strong>in</strong>zelfall ü-<br />

berhaupt oder aber mit welchem Gewicht zu K<strong>in</strong>desmisshandlung bei-<br />

tragen können (vgl. Deegener/Körner, 2006).<br />

Untersuchungen haben ergeben, dass folgende Faktoren das Risiko<br />

von K<strong>in</strong>desmisshandlung erhöhen können – <strong>und</strong> zwar <strong>in</strong>sbesondere<br />

dann, wenn sie mehrfach auftreten:<br />

Mögliche Merkmale der Eltern:<br />

• ungewollte Schwangerschaft<br />

25<br />

Durch Gewalt ge-<br />

kennzeichnete <br />

K<strong>in</strong>dheitserfah-<br />

rungenbee<strong>in</strong>flus- sen das Erwach-<br />

senenleben <br />

Gewaltbegünsti-<br />

gende Faktoren<br />

müssen nicht zur<br />

K<strong>in</strong>desmisshand-<br />

lung führen<br />

Elterliche Risi-<br />

komerkmale


K<strong>in</strong>dliche Risi-<br />

komerkmale<br />

Risikofaktoren<br />

des sozialen Um-<br />

feldes <br />

Kulturell-<br />

gesellschaftliche<br />

Risikofaktoren<br />

Risikofaktoren<br />

sexueller Gewalt<br />

<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

26<br />

• große K<strong>in</strong>derzahl<br />

• frühe Mutterschaft<br />

• Erziehungsstil geprägt durch Drohungen, Missbilligung, An-<br />

schreien<br />

• eigene Gewalterfahrungen <strong>in</strong> der K<strong>in</strong>dheit<br />

• Alkohol- <strong>und</strong> Drogenprobleme<br />

• Psychische Störungen<br />

• misshandelnde Eltern s<strong>in</strong>d häufig depressiv<br />

• negative Bef<strong>in</strong>dlichkeiten wie erhöhte Ängstlichkeit, emotionale<br />

Verstimmung sowie erhöhte Erregbarkeit, ger<strong>in</strong>ge Frustrationsto-<br />

leranz, Reizbarkeit verb<strong>und</strong>en mit Impulskontroll-Störungen,<br />

Stress <strong>und</strong> das Gefühl der Überbeanspruchung<br />

• überhöhte Erwartungen an die K<strong>in</strong>der<br />

• Be<strong>für</strong>wortung körperlicher Strafen<br />

Mögliche Merkmale des K<strong>in</strong>des:<br />

• ger<strong>in</strong>ges Körpergewicht des K<strong>in</strong>des oder starkes Übergewicht<br />

• Auffälligkeiten <strong>in</strong> der körperlichen Entwicklung<br />

• ges<strong>und</strong>heitliche Probleme, Entwicklungsverzögerungen<br />

• Verhaltensprobleme<br />

Mögliche Merkmale des sozialen Umfeldes:<br />

• ger<strong>in</strong>ge f<strong>in</strong>anzielle Ressourcen<br />

• Arbeitslosigkeit bei Männern<br />

• Wohngegend <strong>und</strong> Nachbarschaft mit hoher Gewalt- <strong>und</strong> Armuts-<br />

rate<br />

• soziale Isolation, wenig Kontakte zu Verwandten<br />

• wenig soziale Unterstützung<br />

Mögliche kulturelle <strong>und</strong> gesellschaftliche Faktoren:<br />

• Erziehungse<strong>in</strong>stellungen <strong>und</strong> -praktiken<br />

• gesellschaftliche Verbreitung von Gewalt<br />

Mögliche Faktoren, die <strong>in</strong>sbesondere sexuelle Gewalt fördern, s<strong>in</strong>d:<br />

• Gleichsetzung von Männlichkeit mit Macht, Kontrolle <strong>und</strong> Domi-<br />

nanz<br />

• sexuelle Aktivität als Gradmesser von Männlichkeit <strong>und</strong> psycho-<br />

sozialer Potenz<br />

• Sexualisierung von Beziehungen, von Bedürfnissen <strong>und</strong> von Ag-<br />

gressionen<br />

• Abwertung des weiblichen Geschlechts<br />

• Verdrängung der Gefühlswelt


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

Die e<strong>in</strong>zelnen Risikofaktoren dienen nur als H<strong>in</strong>weisliste. Entscheidend<br />

ist auch, was die Beteiligten <strong>für</strong> Fähigkeiten <strong>und</strong> Kompetenzen mitbr<strong>in</strong>-<br />

gen, die <strong>für</strong> das Gel<strong>in</strong>gen oder Scheitern der Bewältigungsversuche<br />

äußerer Belastungen gr<strong>und</strong>legend s<strong>in</strong>d. Dabei kann die Lebensge-<br />

schichte der Eltern mit ihren sozialen <strong>und</strong> emotionalen Erfahrungen <strong>in</strong><br />

der eigenen K<strong>in</strong>dheit e<strong>in</strong>e ausschlaggebende Rolle spielen.<br />

27<br />

Risikofaktoren<br />

führen nicht<br />

zwangsläufig zu<br />

Gewalt


Sozialer Nahraum<br />

ist besonders be-<br />

troffen, großes<br />

Dunkelfeld<br />

<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

2 Epidemiologie<br />

Auswertung der Polizeilichen Krim<strong>in</strong>alstatistik <strong>und</strong> krim<strong>in</strong>ologische<br />

Erkenntnisse<br />

B<strong>und</strong>ese<strong>in</strong>heitlich erfolgt e<strong>in</strong>e Opfererfassung nur bei ausgewählten<br />

Straftatbeständen im Bereich der Gewalt- <strong>und</strong> Sexualkrim<strong>in</strong>alität sowie<br />

der Körperverletzung.<br />

Hierbei geht es vorrangig um § 225 StGB „Misshandlung von Schutzbe-<br />

fohlenen“, § 171 StGB „Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungs-<br />

pflicht“, umgangssprachlich „Vernachlässigung“ <strong>und</strong> § 176 StGB „Sexu-<br />

eller Missbrauch von K<strong>in</strong>dern“.<br />

Die <strong>in</strong> Frage kommenden Phänomene der Misshandlung <strong>und</strong> Vernach-<br />

lässigung sowie des sexuellen Missbrauchs von K<strong>in</strong>dern f<strong>in</strong>den über-<br />

wiegend im sozialen Nahraum der Opfer, vor allem <strong>in</strong> den Familien,<br />

statt. Aus dem Kreis der Beteiligten werden kaum Anzeigen bei den<br />

Strafverfolgungsbehörden erstattet. Es ist daher von e<strong>in</strong>em hohen Dun-<br />

kelfeld auszugehen.<br />

Die <strong>in</strong> der Polizeilichen Krim<strong>in</strong>alstatistik dokumentierten Fälle lassen<br />

daher lediglich Aussagen zum polizeilich bekannt gewordenen Hellfeld<br />

zu.<br />

So ist zu beachten, dass z. B. Fälle, die dem Jugendamt gemeldet wur-<br />

den <strong>und</strong> wo von dort auch <strong>in</strong>terveniert wurde, nicht obligatorisch bei der<br />

Staatsanwaltschaft oder Polizei angezeigt wurden <strong>und</strong> werden, so dass<br />

sie nicht oder nur zu e<strong>in</strong>em ger<strong>in</strong>gen Teil <strong>in</strong> der polizeilichen Krim<strong>in</strong>alsta-<br />

tistik auftauchen.<br />

Nachstehenden Tabellen s<strong>in</strong>d Fallzahlen <strong>in</strong> ihrer Entwicklung sowie die<br />

Entwicklung der Bevölkerung <strong>in</strong> Deutschland <strong>und</strong> <strong>in</strong> Mecklenburg-<br />

Vorpommern zu entnehmen.<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus wird e<strong>in</strong>e Aufschlüsselung nach dem Geschlecht von<br />

Tatverdächtigen <strong>und</strong> Opfern vorgenommen.<br />

28


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

Jahre<br />

Fallentwicklung K<strong>in</strong>desmisshandlung<br />

Fallzahl-<br />

B<strong>und</strong><br />

Fallzahl<br />

M-V<br />

Bevölkerungsentwicklung<br />

B<strong>und</strong><br />

0-14 Jahre<br />

(<strong>in</strong> %)<br />

Bevölkerungsentwicklung<br />

M-V<br />

0-14 Jahre<br />

(<strong>in</strong> %)<br />

2002 2642 48 -1,94 -6,93<br />

2003 2928 52 -1,99 -6,10<br />

2004 2916 56 -2,22 -5,25<br />

2005 2905 48 -1,71 -0,83<br />

2006 3131 43<br />

Jahre Fallzahl<br />

B<strong>und</strong><br />

Fallentwicklung Geschlechter<br />

Tatverdächtige Opfer<br />

männlich weiblich männlich weiblich<br />

2002 2642 1640 1082 1702 1369<br />

2003 2928 1740 1277 1818 1552<br />

2004 2916 1754 1288 1851 1558<br />

2005 2905 1675 1287 1870 1507<br />

2006 3131 1827 1401 2010 1629<br />

Jahre Fallzahl<br />

B<strong>und</strong><br />

Fallentwicklung Vernachlässigung<br />

Fallzahl<br />

M-V<br />

Bevölkerungsentwicklung<br />

B<strong>und</strong><br />

0-14 Jahre<br />

(<strong>in</strong> %)<br />

Bevölkerungsentwicklung<br />

M-V<br />

0-14 Jahre<br />

(<strong>in</strong> %)<br />

2002 1089 42 -1,94 -6,93<br />

2003 1240 42 -1,99 -6,10<br />

2004 1170 51 -2,22 -5,25<br />

2005 1178 43 -1,71 -0,83<br />

2006 1597 40<br />

Fallentwicklung Geschlechter<br />

Tatverdächtige<br />

Jahre Fallzahl B<strong>und</strong> männlich weiblich<br />

2002 1089 366 853<br />

2003 1240 391 984<br />

2004 1170 359 944<br />

2005 1178 386 914<br />

2006 1597 450 1151<br />

29


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

Jahre<br />

30<br />

Fallentwicklung sexueller Missbrauch <strong>in</strong> Zahlen<br />

Fallzahl<br />

B<strong>und</strong><br />

Fallzahl<br />

M-V<br />

Bevölkerungsentwicklung<br />

B<strong>und</strong><br />

0-14 Jahre<br />

(<strong>in</strong> %)<br />

Bevölkerungsentwicklung<br />

M-V<br />

0-14 Jahre<br />

(<strong>in</strong> %)<br />

2002 15989 405 -1,94 -6,93<br />

2003 15430 405 -1,99 -6,10<br />

2004 15255 398 -2,22 -5,25<br />

2005 13962 297 -1,71 -0,83<br />

2006 12765 306<br />

Jahre<br />

Fallzahl<br />

Land<br />

Fallentwicklung Geschlechter<br />

Tatverdächtige Opfer<br />

männlich weiblich männlich weiblich<br />

2002 405 249 6 93 285<br />

2003 405 255 14 92 277<br />

2004 398 261 14 84 309<br />

2005 297 236 8 72 232<br />

2006 306 251 12 80 231


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

3 Rahmenbed<strong>in</strong>gungen <strong>für</strong> die ärztliche<br />

Praxis <strong>und</strong> <strong>Institutionen</strong><br />

3.1 Rechtliche Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />

Als <strong>Ärzte</strong>, Zahnärzte oder Psychotherapeuten s<strong>in</strong>d Sie gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

<strong>und</strong> damit eben nicht ausnahmslos an Schweigepflicht <strong>und</strong> Datenschutz<br />

geb<strong>und</strong>en. Die Rechte des K<strong>in</strong>des <strong>und</strong> anderer Familienmitglieder wer-<br />

den damit im Gr<strong>und</strong>satz geschützt. Bei e<strong>in</strong>em Verdacht auf körperliche<br />

Misshandlung, sexuellen Missbrauch oder Vernachlässigung liegt der<br />

Ausnahmefall vor <strong>und</strong> Sie können die Schweigepflicht durchbrechen<br />

zum Wohle des K<strong>in</strong>des. So kann die Misshandlung vom K<strong>in</strong>d selbst an<br />

Sie herangetragen werden, so dass Sie mit dessen E<strong>in</strong>verständnis <strong>und</strong><br />

<strong>in</strong> Absprache mit ihm handeln. Ebenfalls s<strong>in</strong>d Sie von der ärztlichen<br />

Schweigepflicht entb<strong>und</strong>en, wenn die Annahme berechtigt ist, dass Sie<br />

von e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>willigung ausgehen können. E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>willigungsfähigkeit<br />

kann <strong>in</strong> der Regel bei Jugendlichen zwischen 14 <strong>und</strong> 18 Jahren ange-<br />

nommen werden. Sie sollten sich von ihnen e<strong>in</strong>e schriftliche E<strong>in</strong>willi-<br />

gungserklärung aushändigen lassen. Die E<strong>in</strong>willigungsfähigkeit von K<strong>in</strong>-<br />

dern bis 14 Jahren hängt von den Umständen des E<strong>in</strong>zelfalls, <strong>in</strong>sbeson-<br />

dere von deren E<strong>in</strong>sichtsfähigkeit ab. Bei der mutmaßlichen E<strong>in</strong>willigung<br />

dürfen Sie nur im verme<strong>in</strong>tlichen Interesse <strong>und</strong> E<strong>in</strong>verständnis des be-<br />

troffenen K<strong>in</strong>des handeln. Je jünger das K<strong>in</strong>d ist, desto seltener dürfte<br />

dieser Fall <strong>in</strong> der Praxis vorliegen.<br />

Noch wichtiger <strong>für</strong> Ihre Praxis ist, dass auch ohne E<strong>in</strong>willigung Infor-<br />

mationen weitergegeben werden können, wenn e<strong>in</strong> "rechtfertigender<br />

Notstand" nach § 34 StGB vorliegt. Danach handeln Sie nicht rechtswid-<br />

rig, wenn die Gefahr <strong>für</strong> Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Leben des K<strong>in</strong>des so groß ist,<br />

dass e<strong>in</strong>e Abwendung dieser Gefahr schwerer wiegt als die E<strong>in</strong>haltung<br />

der Schweigepflicht. Dies ist <strong>in</strong> der Regel bei Vorliegen e<strong>in</strong>er gegenwär-<br />

tigen erheblichen Gefahr <strong>für</strong> das K<strong>in</strong>d der Fall (vgl. Kap. 5.6 Notmaßnahmen<br />

bei unmittelbar drohender Gefahr <strong>für</strong> das K<strong>in</strong>d). 2<br />

§ 34 Rechtfertigender Notstand: Wer <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er gegenwärtigen Gefahr <strong>für</strong><br />

Leib, Leben … e<strong>in</strong>e Tat begeht, um die Gefahr … von e<strong>in</strong>em anderen<br />

abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der wider-<br />

2 Tröndle/Fischer <strong>in</strong> ihrem Kommentar zum Strafgesetzbuch zu § 203 „Verlet-<br />

zung von Privatgeheimnissen“ unter der Randnr. 47: „Gerechtfertigt ist die In-<br />

formation des Jugendamtes oder der Polizei durch e<strong>in</strong>en Arzt…bei Verdacht von<br />

K<strong>in</strong>desmisshandlungen <strong>und</strong> Wiederholungsgefahr (die regelmäßig nahe<br />

liegt;…)“<br />

31<br />

Die ärztliche<br />

Schweigepflicht<br />

kann durchbro-<br />

chen werden zum<br />

Wohle des K<strong>in</strong>des<br />

Rechtfertigender<br />

Notstand bei<br />

Abwendung e<strong>in</strong>er<br />

Gefahr


Mit anderen<br />

<strong>Institutionen</strong><br />

kooperieren<br />

Vorübergehende<br />

Inobhutnahme<br />

als sofortige<br />

Hilfe<br />

<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

streitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter <strong>und</strong> des<br />

Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, wenn die Tat<br />

e<strong>in</strong> angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.<br />

Nach erschütternden Fällen von K<strong>in</strong>desmisshandlung <strong>und</strong> Vernachläs-<br />

sigung, bei denen K<strong>in</strong>der zu Tode gekommen s<strong>in</strong>d, ist der K<strong>in</strong>derschutz<br />

nach § 8a SGB VIII neu geregelt <strong>und</strong> präzisiert worden. Der Schutzauf-<br />

trag bei K<strong>in</strong>deswohlgefährdung ist nach § 8a SGB VIII <strong>in</strong> besonderer<br />

Weise zu erfüllen (siehe hierzu den Gesetzestext <strong>in</strong> Kap. 6). Nach dem<br />

Gesetz stellen die Jugendämter <strong>in</strong> Vere<strong>in</strong>barungen mit den Trägern von<br />

E<strong>in</strong>richtungen <strong>und</strong> Diensten sicher, dass diese den Schutzauftrag wahr-<br />

nehmen <strong>und</strong> mit erfahrenen Fachkräften zusammenarbeiten. Dazu ge-<br />

hören auch Regelungen über die Frage, wie <strong>in</strong> Verdachtsfällen Gefähr-<br />

dungse<strong>in</strong>schätzungen vorgenommen <strong>und</strong> Schutzmaßnahmen <strong>für</strong> das<br />

K<strong>in</strong>d organisiert werden sollen.<br />

Haben Sie anlässlich der Behandlung e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des Kenntnis von Verlet-<br />

zungen, die auf Misshandlung, Missbrauch oder schwerwiegende Ver-<br />

nachlässigung h<strong>in</strong>deuten, sollten Sie sich an e<strong>in</strong>e im Serviceteil genann-<br />

te Beratungsstelle oder an das örtliche Jugendamt wenden. Dort gibt es<br />

erfahrene Fachkräfte, die Ihnen bei e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>schätzung <strong>und</strong> ggf. beim<br />

weiteren Vorgehen zur Seite stehen <strong>und</strong> den K<strong>in</strong>dern helfen können.<br />

Es ist Aufgabe des Jugendamtes <strong>und</strong> der Allgeme<strong>in</strong>en Sozialen Diens-<br />

te, e<strong>in</strong>em Verdacht auf K<strong>in</strong>deswohlgefährdung 3 nachzugehen <strong>und</strong> die<br />

Misshandlung zu stoppen. Die Interventionsmöglichkeiten dieser E<strong>in</strong>-<br />

richtungen s<strong>in</strong>d stets hilfeorientiert <strong>und</strong> sehr vielfältig. Hilfen sollen, so-<br />

weit möglich, unter Beteiligung der Eltern <strong>und</strong> K<strong>in</strong>der entwickelt werden,<br />

um damit den Schutz von K<strong>in</strong>dern <strong>in</strong> ihren Familien sicherzustellen. Die<br />

Palette reicht von präventiven Hilfen über ambulante (anonyme) Bera-<br />

tung <strong>und</strong> Therapie bis zu langfristigen <strong>und</strong> stationären Maßnahmen.<br />

In Fällen e<strong>in</strong>er akuten Gefährdung ist das Jugendamt bzw. der Allge-<br />

me<strong>in</strong>e Soziale Dienst (ASD) gemäß § 42 des Sozialgesetzbuchs VIII<br />

„K<strong>in</strong>der- <strong>und</strong> Jugendhilfe“ berechtigt <strong>und</strong> verpflichtet, K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Ju-<br />

gendliche <strong>in</strong> Obhut zu nehmen. Zur Inobhutnahme ist auch der K<strong>in</strong>der-<br />

<strong>und</strong> Jugendnotdienst (KJND) berechtigt, der auch abends, an Wochen-<br />

enden <strong>und</strong> Feiertagen zur Verfügung steht.<br />

3 Zum Begriff K<strong>in</strong>deswohlgefährdung vgl. Kap. 6. Gesetzliche Gr<strong>und</strong>lagen §<br />

1666 Abs. 1 BGB sowie § 8a SGB VIII.<br />

32


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

Sie können u. a. das Familiengericht e<strong>in</strong>schalten. Dort kann e<strong>in</strong>e Sorge-<br />

rechtse<strong>in</strong>schränkung oder e<strong>in</strong> Sorgerechtsentzug erwirkt werden, wenn<br />

anderweitig der Schutz nicht sichergestellt werden kann. Das<br />

Familiengericht kann auch e<strong>in</strong> Umgangs- <strong>und</strong> Kontaktverbot <strong>für</strong> den<br />

mutmaßlichen Täter aussprechen.<br />

Bei Information dieser <strong>Institutionen</strong> bedenken Sie, dass personenbezo-<br />

gene Daten nur bei Vorliegen e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>willigung oder e<strong>in</strong>es „rechtferti-<br />

genden Notstandes“ übermittelt werden dürfen. Andernfalls dürfen Sie<br />

nur anonymisierte Daten weitergeben. Dies soll Sie jedoch nicht daran<br />

h<strong>in</strong>dern, mit dem Jugendamtmitarbeiter oder Familienrichter <strong>in</strong> Kontakt<br />

zu treten <strong>und</strong> das weitere Vorgehen abzusprechen.<br />

Die Polizei ist e<strong>in</strong>e <strong>für</strong> die Abwehr <strong>und</strong> Verhütung von Gefahren zustän-<br />

dige Behörde. Auf diesem Gebiet wird sie entweder subsidiär – hilfswei-<br />

se – <strong>für</strong> andere eigentlich zuständige Behörden, z. B. bei deren Nichter-<br />

reichbarkeit oder bei besonderer Eilbedürftigkeit, wie z. B. auch an Stel-<br />

le des Jugendamtes, tätig. Darüber h<strong>in</strong>aus wird sie auch orig<strong>in</strong>är <strong>in</strong> den<br />

Fällen Gefahren abwehrend tätig, wo es ihre ureigenste Aufgabe ist, z.<br />

B. wenn es um die Verhütung von Straftaten geht. Die Vernachlässi-<br />

gung von K<strong>in</strong>dern, die K<strong>in</strong>desmisshandlung, der sexuelle Missbrauch<br />

von K<strong>in</strong>dern s<strong>in</strong>d Straftaten, die es zu verhüten gilt.<br />

Zudem ist die Polizei auch Strafverfolgungsbehörde, die nach dem so<br />

genannten Legalitätspr<strong>in</strong>zip gesetzlich verpflichtet ist, bei allen Strafta-<br />

ten, von denen sie Kenntnis erlangt, die erforderlichen Ermittlungen auf-<br />

zunehmen.<br />

Der Gesetzgeber stellt die Misshandlung von K<strong>in</strong>dern, <strong>und</strong> zwar die<br />

Vernachlässigung, den sexuellen Missbrauch <strong>und</strong> die körperliche Ge-<br />

walt unter Strafe. Die Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht,<br />

zu der auch die Vernachlässigung von K<strong>in</strong>dern zählt, kann gemäß § 171<br />

StGB mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft werden.<br />

Bei der Misshandlung von Schutzbefohlenen, zu denen <strong>in</strong>sbesondere<br />

K<strong>in</strong>der zählen, beträgt die Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis zu 10 Jah-<br />

ren, <strong>in</strong> besonders schwerwiegenden Fällen beträgt die M<strong>in</strong>destfreiheits-<br />

strafe 1 Jahr.<br />

Für den sexuellen Missbrauch bestehen mehrere Paragraphen, die mei-<br />

sten Anklagen aber kommen aufgr<strong>und</strong> von § 174 StGB (sexueller Miss-<br />

brauch an Schutzbefohlenen, Freiheitsstrafe von 3 Monaten bis zu 5<br />

Jahren) <strong>und</strong> § 176 (sexueller Missbrauch an K<strong>in</strong>dern, Freiheitsstrafe von<br />

6 Monaten bis zu 10 Jahren) zustande. Diese beiden Paragraphen<br />

betreffen Mädchen <strong>und</strong> Jungen unter 14 Jahren. Jugendliche zwischen<br />

14 <strong>und</strong> 16 Jahren s<strong>in</strong>d durch den § 182 StGB (sexueller Missbrauch<br />

Jugendlicher, Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren) geschützt. Wird e<strong>in</strong>e Per-<br />

son (K<strong>in</strong>d, Mann oder Frau) durch Gewalt oder Drohung zu sexuellen<br />

33<br />

E<strong>in</strong>schalten des<br />

Familiengerichts<br />

E<strong>in</strong>schalten der<br />

Polizei<br />

Vernachlässigung,<br />

Misshandlung <strong>und</strong><br />

Sexueller<br />

Missbrauch an<br />

K<strong>in</strong>dern <strong>und</strong><br />

Schutzbefohlenen<br />

im StGB


In Mecklen-<br />

burg-<br />

Vorpommern<br />

Wohl des K<strong>in</strong>-<br />

des im Vorder-<br />

gr<strong>und</strong><br />

Nicht <strong>in</strong><br />

Aktionismus<br />

verfallen<br />

<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

Handlungen gezwungen, oder ist das Opfer der E<strong>in</strong>wirkung des Täters<br />

schutzlos ausgeliefert, so kann auch die Strafvorschrift der sexuellen<br />

Nötigung (Vergewaltigung, M<strong>in</strong>destfreiheitsstrafe 1 Jahr) gemäß § 177<br />

StGB zur Anwendung kommen.<br />

Es gibt ke<strong>in</strong>e Anzeigepflicht bei Verdacht auf die Vernachlässigung,<br />

Misshandlung oder den Missbrauch von K<strong>in</strong>dern.<br />

Je nach Schwere der Tathandlung <strong>und</strong> der akuten Gefahr der Wieder-<br />

holung sollte der Arzt unter sorgfältiger Rechtsgüterabwägung entschei-<br />

den, ob er den Sachverhalt zur Anzeige br<strong>in</strong>gt. In jedem Fall hat der Arzt<br />

jedoch unabhängig von jeder Anzeige oder Nichtanzeige <strong>in</strong> eigener<br />

Verantwortlichkeit abzuwägen, wie er persönlich dazu beizutragen hat,<br />

die Gefahren vom betroffenen K<strong>in</strong>d sowie anderen K<strong>in</strong>dern, mit denen<br />

der Täter <strong>in</strong> Kontakt kommt, abzuwenden.<br />

E<strong>in</strong>e Konsultation mit anderen <strong>Institutionen</strong>, z.B. e<strong>in</strong>em im K<strong>in</strong>derschutz<br />

erfahrenen Rechtsanwalt, ist oft hilfreich <strong>und</strong> angebracht. Häufig kann<br />

aber nur im Rahmen e<strong>in</strong>es Ermittlungsverfahrens unter Ausnutzung der<br />

strafprozessualen Maßnahmen dem K<strong>in</strong>d ausreichend geholfen werden.<br />

Bei Vorliegen von Haftgründen (z.B. Wiederholungsgefahr, Verdunk-<br />

lungsgefahr) kann auf Antrag der Staatsanwaltschaft das zuständige<br />

Amtsgericht Haftbefehl gegen den Täter erlassen, so dass nicht das<br />

K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Obhut genommen werden muss.<br />

In Mecklenburg-Vorpommern gibt es <strong>in</strong> jeder der fünf Krim<strong>in</strong>alpolizei<strong>in</strong>-<br />

spektionen e<strong>in</strong> Fachkommissariat <strong>für</strong> spezielle Kapitaldelikte, wo schwe-<br />

re K<strong>in</strong>desmisshandlungen <strong>und</strong> alle Sexualdelikte bearbeitet werden.<br />

Nach Anzeigenerstattung <strong>und</strong> Abschluss der Ermittlungen entscheidet<br />

die Staatsanwaltschaft oder das Gericht über den Ausgang des Verfah-<br />

rens. Ansonsten werden die Vernachlässigung <strong>und</strong> die Misshandlung<br />

von K<strong>in</strong>dern von den örtlich zuständigen Krim<strong>in</strong>alkommissariaten bear-<br />

beitet.<br />

3.2 Empfehlungen zum Umgang mit K<strong>in</strong>desmiss-<br />

34<br />

handlung<br />

In der ärztlichen Versorgung steht die mediz<strong>in</strong>ische Betreuung des K<strong>in</strong>-<br />

des im Vordergr<strong>und</strong>. Daher ist das ärztliche Handeln primär durch die<br />

mediz<strong>in</strong>ischen Hilfen motiviert, die dem K<strong>in</strong>d gegeben werden.<br />

Sie werden immer parteilich <strong>für</strong> das K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>treten. Deshalb ist das<br />

Wohlergehen des K<strong>in</strong>des besonders zu berücksichtigen. Dieses Wohl<br />

ist aber nicht unbed<strong>in</strong>gt durch die sofortige Herausnahme des K<strong>in</strong>des<br />

aus se<strong>in</strong>er Familie herzustellen. Auch wenn Gewalt <strong>in</strong> der Familie oder<br />

<strong>in</strong> der näheren Umgebung ausgeübt wird, kann dennoch e<strong>in</strong> Verbleib<br />

des K<strong>in</strong>des <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Umfeld der ger<strong>in</strong>gere Schaden se<strong>in</strong>. Angemes-


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

sene Hilfe kann deshalb <strong>in</strong> vielen Fällen – vor allem, wenn ke<strong>in</strong>e akute<br />

Gefährdung des K<strong>in</strong>des vorliegt – dar<strong>in</strong> bestehen, Mütter <strong>und</strong> Väter bei<br />

ihren Erziehungsaufgaben professionell zu unterstützen. <strong>Ärzte</strong> können<br />

Eltern auf geeignete Beratungs- <strong>und</strong> Unterstützungse<strong>in</strong>richtungen vor<br />

Ort aufmerksam machen <strong>und</strong> ggf. den Kontakt zu diesen <strong>Institutionen</strong><br />

herstellen (Interventionsstellen, Erziehungsberatungsstellen, Frühför-<br />

derstellen, K<strong>in</strong>derschutzb<strong>und</strong>, Familienbildungsstätten; Mütterberatun-<br />

gen, Familienhebammen, Elterntra<strong>in</strong>er - entsprechende Hilfen f<strong>in</strong>den Sie<br />

im Serviceteil dieses <strong>Leitfaden</strong>s).<br />

Beratungsstellen <strong>und</strong> K<strong>in</strong>derschutze<strong>in</strong>richtungen werden <strong>in</strong> der Regel<br />

nur dann tätig, wenn sich betroffene Eltern eigen<strong>in</strong>itiativ an sie wenden.<br />

Im Unterschied dazu haben Jugendämter zusätzlich die Möglichkeit <strong>und</strong><br />

Verpflichtung, auf Eltern zuzugehen. In allen Fällen, <strong>in</strong> denen die Gefahr<br />

oder der Verdacht auf e<strong>in</strong>e Gefährdung des K<strong>in</strong>des vorliegt, ist gemäß §<br />

8a SGB VIII das Jugendamt <strong>für</strong> die E<strong>in</strong>schätzung des Risikos <strong>und</strong> die<br />

Organisation des Hilfeprozesses zuständig:<br />

§ 8a Schutzauftrag bei K<strong>in</strong>deswohlgefährdung: (1) Werden dem Ju-<br />

gendamt gewichtige Anhaltpunkte <strong>für</strong> die Gefährdung des Wohls e<strong>in</strong>es<br />

K<strong>in</strong>des oder Jugendlichen bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko im<br />

Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte abzuschätzen.<br />

<strong>Ärzte</strong> sollten sich deshalb <strong>in</strong> Zweifelsfällen immer an das örtliche Ju-<br />

gendamt wenden <strong>und</strong> dort fachliche Unterstützung bei der Abklärung<br />

des Verdachts e<strong>in</strong>holen <strong>und</strong> Möglichkeiten des Umgangs mit der betref-<br />

fenden Familie besprechen. Um e<strong>in</strong>e reibungslose Zusammenarbeit <strong>in</strong><br />

akuten Problemsituationen sicherzustellen, ist es s<strong>in</strong>nvoll, die Rahmen-<br />

bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>er solchen Kooperation sowie nach Möglichkeit auch<br />

die Ansprechpartner im Jugendamt fallunabhängig zu klären. Klare Ab-<br />

sprachen erleichtern den Kontakt <strong>und</strong> die Problemlösung <strong>in</strong> Akutsituati-<br />

onen.<br />

H<strong>in</strong>weise an das Jugendamt oder andere <strong>Institutionen</strong> <strong>und</strong> eventuelle<br />

Absprachen sollten Sie auf jeden Fall immer <strong>für</strong> sich dokumentieren. In<br />

Zweifelsfällen lassen Sie Ihre Dokumentation dem örtlich zuständigen<br />

Familiengericht zukommen.<br />

Bleiben Sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Fall von K<strong>in</strong>desmisshandlung oder sexuellem Miss-<br />

brauch dem K<strong>in</strong>d gegenüber unbefangen. Entsetzte oder empörte Äu-<br />

ßerungen wie "Das ist ja schrecklich, was dir angetan wurde!" helfen<br />

nicht weiter. Geben Sie dem K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> Gefühl der Sicherheit. Auch das<br />

Verhalten gegenüber der Begleitperson sollte fre<strong>und</strong>lich se<strong>in</strong>. Vorwürfe,<br />

Vermutungen <strong>und</strong> Vorurteile gegenüber Erziehungsberechtigten oder<br />

e<strong>in</strong> Dramatisieren des Falles helfen nicht weiter.<br />

35<br />

Eigene Bewertung<br />

<strong>und</strong> E<strong>in</strong>stellung<br />

klären


Eigene<br />

Möglichkeiten <strong>und</strong><br />

Grenzen kennen<br />

Zusammenarbeit<br />

mit anderen<br />

Hilfee<strong>in</strong>richtungen<br />

suchen<br />

Die ärztliche Pra-<br />

xis ist nur Teil des<br />

Hilfesystems<br />

<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

Sexualität wird <strong>in</strong> unserer Gesellschaft öffentlich thematisiert. Diese Öf-<br />

fentlichkeit führt aber nicht unbed<strong>in</strong>gt zu Offenheit. Sexualität ist auch<br />

weiterh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>time <strong>und</strong> <strong>in</strong>dividuelle Angelegenheit. Die persönliche<br />

Konfrontation mit Fällen von sexuellem Missbrauch wird damit auch<br />

durch die eigene E<strong>in</strong>stellung zum Thema Sexualität <strong>und</strong> durch die Fä-<br />

higkeit bestimmt, über sexuelle Sachverhalte reden zu können.<br />

Wenn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Familie Gewalt ausgeübt wurde, können an die Arztpraxis<br />

hohe Erwartungen gerichtet werden. Insbesondere dann, wenn von Ih-<br />

nen das Problem direkt angesprochen wurde. Die Bitte um Hilfe kann<br />

sowohl vom K<strong>in</strong>d als auch von der begleitenden Person ausgehen. Hier<br />

müssen Sie Ihre eigenen Möglichkeiten <strong>und</strong> Grenzen genau kennen.<br />

Das Vertrauen, das Ihnen entgegengebracht wird, darf nicht durch Ver-<br />

sprechen, die Sie später nicht e<strong>in</strong>halten können, zerstört werden.<br />

Es wird <strong>in</strong> der Regel nicht möglich se<strong>in</strong>, den Fall alle<strong>in</strong> zu behandeln <strong>und</strong><br />

somit das Problem des K<strong>in</strong>des <strong>und</strong> der Familie zu lösen, <strong>in</strong>sbesondere<br />

nicht bei Fällen <strong>in</strong>nerfamiliären sexuellen Missbrauchs. Die Zusammen-<br />

arbeit mit anderen Hilfee<strong>in</strong>richtungen ist erforderlich. Den <strong>Ärzte</strong>n kommt<br />

dabei die Rolle von Initiatoren zu. Auch wenn der Fall von anderen Pro-<br />

fessionen versorgt <strong>und</strong> gegebenenfalls koord<strong>in</strong>iert wird, sollten Sie wei-<br />

terh<strong>in</strong> Ihre Kompetenz <strong>und</strong> Ihr Verständnis <strong>für</strong> das K<strong>in</strong>d <strong>und</strong> die Familie<br />

e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen.<br />

3.3 Konsequenzen <strong>für</strong> die ärztliche Praxis <strong>und</strong> Insti-<br />

36<br />

tutionen<br />

Die Hilfen, die e<strong>in</strong> misshandeltes oder missbrauchtes K<strong>in</strong>d <strong>und</strong> dessen<br />

Familie benötigen, s<strong>in</strong>d unter Umständen sehr differenziert <strong>und</strong> zeit<strong>in</strong>-<br />

tensiv. Sie können meist nicht von e<strong>in</strong>er Person oder E<strong>in</strong>richtung er-<br />

bracht werden. Deshalb ist die ärztliche Praxis Teil e<strong>in</strong>es Systems von<br />

E<strong>in</strong>richtungen, die Hilfen anbieten.<br />

In diesem Kontext s<strong>in</strong>d folgende <strong>Institutionen</strong> wichtige Ansprechpartner:<br />

Als staatliche <strong>Institutionen</strong> haben die Jugendämter den gesetzlichen<br />

Auftrag, bei Vorliegen e<strong>in</strong>er Gefährdung den Schutz von K<strong>in</strong>dern sicher<br />

zu stellen <strong>und</strong> Hilfen <strong>für</strong> betroffene K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> ihre Eltern zu organisie-<br />

ren. Sie haben allen H<strong>in</strong>weisen über e<strong>in</strong>e (drohende) Gefährdung nach-<br />

zugehen, sich entsprechende Informationen zu verschaffen <strong>und</strong> das<br />

Gefahrenpotential e<strong>in</strong>zuschätzen. Jugendämter können betroffenen<br />

K<strong>in</strong>dern <strong>und</strong> Eltern e<strong>in</strong>erseits Hilfen anbieten <strong>und</strong> andererseits ggf. e<strong>in</strong>e<br />

Trennung der Täter<strong>in</strong> oder des Täters vom Opfer durchsetzen <strong>und</strong> z. B.<br />

e<strong>in</strong>e Fremdunterbr<strong>in</strong>gung des K<strong>in</strong>des e<strong>in</strong>leiten. Wenn die Eltern ke<strong>in</strong>e


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

E<strong>in</strong>willigung dazu erteilen, kann das Jugendamt e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d vorübergehend<br />

„<strong>in</strong> Obhut nehmen“ <strong>und</strong> den Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts,<br />

der Ges<strong>und</strong>heitssorge oder des Sorgerechts <strong>in</strong>sgesamt <strong>in</strong> die Wege<br />

leiten.<br />

<strong>Ärzte</strong> können sich <strong>in</strong> Zweifelsfällen auch direkt an das Familiengericht<br />

wenden. Dieses entscheidet über Veränderungen oder E<strong>in</strong>schränkun-<br />

gen (von Teilen) des Sorgerechts. Es kann zudem Umgangskontakte<br />

beschränken oder ganz ausschließen <strong>und</strong> Wegweisungen, auch gegen-<br />

über Dritten erlassen. Das Familiengericht muss bei Kenntniserlangung<br />

e<strong>in</strong>es entsprechenden Sachverhalts „von Amts wegen“ ermitteln <strong>und</strong><br />

den Sachverhalt aufklären. Bitte beachten Sie hierbei die unter Punkt<br />

3.1 genannten rechtlichen Voraussetzungen.<br />

In Mecklenburg-Vorpommern gibt es mehrere Beratungsstellen <strong>für</strong><br />

K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendliche, die Opfer sexueller Misshandlung wurden (sie-<br />

he Adressen im Serviceteil). In den Interventionsstellen <strong>in</strong> Rostock <strong>und</strong><br />

Schwer<strong>in</strong> gibt es e<strong>in</strong> Modellprojekt zur Unterstützung von K<strong>in</strong>dern <strong>und</strong><br />

Jugendlichen, die von häuslicher Gewalt mitbetroffen s<strong>in</strong>d. Ziel ist es,<br />

den schwierigen Prozess der Bewältigung <strong>und</strong> Aufarbeitung des Erleb-<br />

ten zu begleiten sowie die eigenständige Interessenvertretung des K<strong>in</strong>-<br />

des im Interventionsprozess zu unterstützen. Diese Beratungsstellen<br />

beraten <strong>und</strong> unterstützen nicht nur die Betroffenen selbst, sondern ste-<br />

hen auch als Ansprechpartner <strong>für</strong> Fachkräfte anderer Professionen zur<br />

Verfügung.<br />

Um K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendliche vor sexuellem Missbrauch <strong>und</strong> sexueller<br />

Gewalt zu schützen, kooperiert die K<strong>in</strong>der- <strong>und</strong> Jugendhilfe eng mit den<br />

Stellen des öffentlichen Ges<strong>und</strong>heitsdienstes <strong>und</strong> der Schule. Dies ge-<br />

schieht, analog zur Suchtprävention, durch Informations- <strong>und</strong> Aufklä-<br />

rungsprojekte, Öffentlichkeitsarbeit <strong>und</strong> gezielte gruppenspezifische<br />

Angebote.<br />

Die Angebote des K<strong>in</strong>derschutzb<strong>und</strong>es s<strong>in</strong>d von Ort zu Ort unter-<br />

schiedlich gestaltet. Welche Ortsverbände e<strong>in</strong>e Beratungsstelle vorhal-<br />

ten, kann beim Landesverband des K<strong>in</strong>derschutzb<strong>und</strong>es erfragt werden<br />

(siehe Adressen im Serviceteil dieses <strong>Leitfaden</strong>s). Gr<strong>und</strong>sätzlich können<br />

z.B. die E<strong>in</strong>richtungen des K<strong>in</strong>derschutzb<strong>und</strong>es Auskunft über die vor<br />

Ort existierenden Beratungs- <strong>und</strong> Unterstützungsangebote <strong>für</strong> Eltern<br />

<strong>und</strong> K<strong>in</strong>der geben.<br />

Die Landesregierung plant die E<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>derschutzhotl<strong>in</strong>e.<br />

Bei Anzeichen <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>deswohlgefährdung sollen sich die Menschen<br />

– bei Wunsch auch anonym – r<strong>und</strong> um die Uhr <strong>und</strong> damit auch außer-<br />

37<br />

Familiengericht<br />

Spezialisierte Bera-<br />

tungsstellen <br />

K<strong>in</strong>derschutz-<br />

hotl<strong>in</strong>e


Öffentlicher<br />

Ges<strong>und</strong>heits-<br />

dienst<br />

Kommunikation<br />

<strong>und</strong> Kooperation<br />

mit anderen<br />

E<strong>in</strong>richtungen<br />

Eigene Kontakte<br />

auf- <strong>und</strong> ausbau-<br />

en<br />

<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

halb der Dienstzeiten von Jugendämtern an diese Hotl<strong>in</strong>e wenden kön-<br />

nen. Die Mitarbeiter an der Hotl<strong>in</strong>e unterstützen bei der Bewertung der<br />

Situation <strong>und</strong> sie vermitteln zu weiteren Experten, die bei der Feststel-<br />

lung e<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>deswohlgefährdung beratend tätig werden.<br />

Auch <strong>in</strong> Beratungsstellen ohne spezifisches Angebot zum Thema „K<strong>in</strong>-<br />

desmisshandlung“ besteht gr<strong>und</strong>sätzlich die Möglichkeit, betroffene El-<br />

tern zu beraten <strong>und</strong> zu unterstützen. Hier ist ebenfalls e<strong>in</strong>e kollegiale<br />

Beratung möglich.<br />

Der Öffentliche Ges<strong>und</strong>heitsdienst (ÖGD) übernimmt e<strong>in</strong>en Part im<br />

Rahmen der Förderung der K<strong>in</strong>derges<strong>und</strong>heit, u.a. im Rahmen von<br />

Maßnahmen der Ges<strong>und</strong>heitsvorsorge <strong>und</strong> des Ges<strong>und</strong>heitsschutzes <strong>in</strong><br />

K<strong>in</strong>dertages- <strong>und</strong> Schule<strong>in</strong>richtungen. In § 15 Abs. 2 des Gesetzes über<br />

den Öffentlichen Ges<strong>und</strong>heitsdienst - ÖGD Mecklenburg-Vorpommern<br />

ist geregelt, dass die Ges<strong>und</strong>heitsämter Säugl<strong>in</strong>gs-, K<strong>in</strong>der- <strong>und</strong> Ju-<br />

gendberatung ergänzend zu vorhandenen E<strong>in</strong>richtungen anbieten. Be-<br />

sonders gefährdete Säugl<strong>in</strong>ge, K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendliche sollen aufge-<br />

sucht werden, um ihnen oder ihren Personensorgeberechtigten Bera-<br />

tung anzubieten. Nach Absatz 2 führen die Ges<strong>und</strong>heitsämter bei K<strong>in</strong>-<br />

dern vor der E<strong>in</strong>schulung sowie während der Schulzeit regelmäßig Un-<br />

tersuchungen durch. Diese be<strong>in</strong>halten auch die Möglichkeit zur Durch-<br />

führung ärztlicher Untersuchungen. Nach der Schulpflege-Verordnung-<br />

SchulGesPflVO M-V liegen diese Untersuchungen zeitlich vor der E<strong>in</strong>-<br />

schulung, <strong>in</strong> der 4. <strong>und</strong> <strong>in</strong> der 8. Klasse. E<strong>in</strong> zusätzliches Angebot der<br />

Untersuchung e<strong>in</strong> Jahr vor der E<strong>in</strong>schulung ist danach ebenfalls mög-<br />

lich.<br />

Effektive Hilfen können <strong>Ärzte</strong> organisieren, je besser sie über andere<br />

E<strong>in</strong>richtungen <strong>in</strong>formiert s<strong>in</strong>d. Im Serviceteil dieses <strong>Leitfaden</strong>s f<strong>in</strong>den Sie<br />

e<strong>in</strong>e Übersicht über spezielle Hilfee<strong>in</strong>richtungen <strong>und</strong> Behörden. Trotz<br />

knapper Zeit <strong>in</strong> den Praxen ist es e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>nvolle Möglichkeit, <strong>in</strong>terdiszi-<br />

pl<strong>in</strong>äre Kooperationen zu entwickeln <strong>und</strong> zu fördern, sowie Fortbildun-<br />

gen <strong>und</strong> Arbeitskreise der beteiligten Fach<strong>in</strong>stitutionen <strong>und</strong> -personen<br />

auf lokaler bzw. regionaler Ebene zu nutzen.<br />

Sofern ke<strong>in</strong>e entsprechenden Arbeitskreise oder Kooperationstreffen <strong>in</strong><br />

Ihrer näheren Umgebung e<strong>in</strong>gerichtet s<strong>in</strong>d, sollten Sie den Kontakt zu<br />

anderen E<strong>in</strong>richtungen selbst aufbauen. Mit E<strong>in</strong>ladungen anderer Pro-<br />

fessionen <strong>in</strong> Ihre Praxis kann auch Ihr Praxispersonal <strong>in</strong> die Thematik<br />

e<strong>in</strong>geführt <strong>und</strong> sensibilisiert werden. E<strong>in</strong>e weitergehende Beschäftigung<br />

mit dem Thema ist zu empfehlen. Hier s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>sbesondere ärztliche Fort-<br />

38


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

bildungsmaßnahmen <strong>und</strong> Literatur zu nennen. Im Anhang dieser Bro-<br />

schüre f<strong>in</strong>den Sie e<strong>in</strong>e Auswahl von Büchern, die Sie oder auch Betrof-<br />

fene detaillierter <strong>in</strong> das Thema e<strong>in</strong>führen.<br />

39


Diagnostik<br />

Auf e<strong>in</strong><br />

patientengerech-<br />

tesUntersu- chungs-<br />

verhalten achten<br />

Bei Verdacht auf<br />

Misshandlung das<br />

unbekleidete K<strong>in</strong>d<br />

untersuchen<br />

Stresssymptome<br />

<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

4 Diagnostik <strong>und</strong> Bef<strong>und</strong>erhebung<br />

4.1 Diagnostik als Prozess<br />

Der Verdacht auf Misshandlung, Vernachlässigung oder Missbrauch<br />

kann auf verschiedene Weise entstehen:<br />

• Aufgr<strong>und</strong> von körperlichen Symptomen, z.B. e<strong>in</strong>e ungeklärte Fraktur<br />

40<br />

beim Säugl<strong>in</strong>g oder Zeichen mangelnder Hygiene<br />

• Aufgr<strong>und</strong> von auffälligem Verhalten des K<strong>in</strong>des, z.B. plötzlich e<strong>in</strong>tre-<br />

tender Schulleistungsknick mit sozialem Rückzug<br />

• Aufgr<strong>und</strong> von anamnestischen Angaben, z.B. unvollständige Vor-<br />

sorgeuntersuchungen <strong>und</strong> Impfungen oder gehäufte Unfälle<br />

• Aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er gestörten familiären Interaktion, z.B. mangelnde Zu-<br />

wendung der Mutter oder fe<strong>in</strong>dseliges Verhalten gegen das K<strong>in</strong>d<br />

• Aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er auffälligen zeitlichen Verzögerung zwischen Verlet-<br />

zungszeitpunkt <strong>und</strong> der Vorstellung <strong>in</strong> der Arztpraxis.<br />

4.2 Körperlicher Bef<strong>und</strong><br />

Wichtig ist e<strong>in</strong> dem Patientenalter gerechtes Untersuchungsverhalten.<br />

Die Symptomsuche sollte <strong>in</strong> unauffälliger Form erfolgen. Heben Sie im-<br />

mer auch das Positive der Untersuchung hervor. Bestätigen Sie dem<br />

K<strong>in</strong>d, dass es gr<strong>und</strong>sätzlich ges<strong>und</strong> ist. Ziel ist es, dem K<strong>in</strong>d die Sicher-<br />

heit zu vermitteln, dass es über se<strong>in</strong>e Gewalterfahrungen frei sprechen<br />

kann.<br />

E<strong>in</strong>e Orientierung <strong>und</strong> Hilfestellung <strong>für</strong> den Ablauf der Untersuchung<br />

sowie die Dokumentation geben Ihnen die Bef<strong>und</strong>bögen im Anhang.<br />

Symptome, die auf körperliche Misshandlung deuten können, s<strong>in</strong>d häu-<br />

fig nicht e<strong>in</strong>fach zu bestimmen. Sie müssen <strong>in</strong> jedem Fall das unbeklei-<br />

dete K<strong>in</strong>d untersuchen. Es gibt mehrere Symptome, die den Verdacht<br />

auf Misshandlung sofort wecken sollten.<br />

Überängstliches Verhalten oder e<strong>in</strong>e stark angespannte Bauchdecke <strong>in</strong><br />

der Untersuchungssituation sollten Sie an die Möglichkeit von Stress<br />

<strong>und</strong> Anspannung beim K<strong>in</strong>d <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e belastende Lebenssituation den-<br />

ken lassen.


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

41


Kriterien <strong>für</strong><br />

Hämatome <strong>und</strong><br />

W<strong>und</strong>en auf der<br />

Haut<br />

Zwischen<br />

Verletzung <strong>und</strong><br />

Misshandlung<br />

differenzieren<br />

H<strong>in</strong>weise auf<br />

Schlaggegenstän-<br />

de<br />

Subdurales<br />

Hämatom durch<br />

Schütteltrauma<br />

<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

Hämatome <strong>und</strong> Hautw<strong>und</strong>en s<strong>in</strong>d die Bef<strong>und</strong>e, die <strong>in</strong> der täglichen Pra-<br />

xis am häufigsten im Zusammenhang mit Misshandlung vorkommen.<br />

Auf folgende Kriterien sollten Sie achten: Lokalisation, Gruppierung,<br />

Formung <strong>und</strong> Mehrzeitigkeit. Bei 90% der Misshandlungsopfer werden<br />

Symptome der Haut (Hämatome, Striemen, Narben) an nicht exponier-<br />

ten Stellen (untypisch <strong>für</strong> Sturzverletzungen) <strong>und</strong> <strong>in</strong> verschiedenen Al-<br />

tersstadien (Verfärbungen <strong>und</strong> Verschorfungen) beobachtet.<br />

Dabei deuten Lokalisationen im Gesicht, am Gesäß, am Rücken, an den<br />

Oberarm<strong>in</strong>nenseiten, im Brustbereich <strong>und</strong> auf dem Bauch eher auf<br />

Misshandlung h<strong>in</strong> (Abb. 1). Typisch <strong>für</strong> Sturzverletzungen s<strong>in</strong>d h<strong>in</strong>gegen<br />

Lokalisationen an Handballen, Ellenbogen, Knie <strong>und</strong> Schienbe<strong>in</strong><br />

(Abb. 2) sowie am Kopf im Bereich der "Hutkrempenl<strong>in</strong>ie" oder darunter<br />

(Abb. 3).<br />

Gelegentlich s<strong>in</strong>d diese Hämatome geformt <strong>und</strong> lassen auf e<strong>in</strong>en<br />

Schlaggegenstand schließen. E<strong>in</strong>wirkungen von stockähnlichen Werk-<br />

zeugen oder Gürteln können Doppelstriemen h<strong>in</strong>terlassen. (Abb. 4)<br />

Auch Kratz- <strong>und</strong> Bissw<strong>und</strong>en s<strong>in</strong>d oft H<strong>in</strong>weise auf Misshandlung. Biss-<br />

verletzungen mit e<strong>in</strong>em Abstand von mehr als 3 cm zwischen den abge-<br />

zeichneten Eckzähnen deuten auf e<strong>in</strong>en erwachsenen Täter h<strong>in</strong> <strong>und</strong><br />

sollten an e<strong>in</strong>en sexuellen Missbrauch denken lassen.<br />

Besonders schwerwiegende Folgen hat das "Schütteltrauma" der Säug-<br />

l<strong>in</strong>ge. Hierbei wird das K<strong>in</strong>d am Rumpf oder an den Armen festgehalten<br />

<strong>und</strong> geschüttelt. Dadurch schw<strong>in</strong>gt der Kopf h<strong>in</strong> <strong>und</strong> her <strong>und</strong> es reißen<br />

fe<strong>in</strong>e Blutgefäße unter der harten Hirnhaut. Blutungen vor der Netzhaut<br />

oder Blutungen bei der Liquorpunktion (subarachnoidale Blutungen)<br />

müssen den Verdacht auf e<strong>in</strong> Schütteltrauma erwecken. In der Akut-<br />

phase kommt es nicht selten zu e<strong>in</strong>er dramatischen Steigerung des<br />

<strong>in</strong>tracraniellen Drucks, wobei das K<strong>in</strong>d bewusstlos wird <strong>und</strong> zu krampfen<br />

beg<strong>in</strong>nt (Jacobi, 1995). Oftmals fehlen dabei äußerlich erkennbare Ver-<br />

letzungen. Die Symptome des subduralen Hämatoms s<strong>in</strong>d vielfältig.<br />

Akut kommt es zu Benommenheit, Schläfrigkeit bis h<strong>in</strong> zur Bewusstlo-<br />

sigkeit sowie zu Erbrechen <strong>und</strong> zu Krampfanfällen. Zusätzlich können,<br />

müssen aber nicht zw<strong>in</strong>gend, beim Schütteltrauma Griffmarken an<br />

Brustwand <strong>und</strong> Armen oder an den Knöcheln zu beobachten se<strong>in</strong>. Durch<br />

den Peitschenschlagmechanismus können sogar Wirbelkörperkompres-<br />

sionsfrakturen entstehen. Langfristig resultieren neurologische Abwei-<br />

chungen, Bewegungs- <strong>und</strong> Entwicklungsstörungen oder Anfallsleiden.<br />

Nicht selten kommt zu dem Schütteln als pathologischem Mechanismus<br />

auch noch das Aufschlagen des Kopfes an e<strong>in</strong>em Gegenstand h<strong>in</strong>zu,<br />

d.h., das K<strong>in</strong>d erleidet noch zusätzliche, oft mehrfache Hirnprellungen<br />

(Jacobi, 1995).<br />

42


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

Beim epiduralem Hämatom kommt es nach e<strong>in</strong>igen St<strong>und</strong>en oder weni-<br />

gen Tagen zu Erbrechen, zunehmenden Bewusstse<strong>in</strong>sstörungen, neu-<br />

rologischen Ausfallsersche<strong>in</strong>ungen <strong>und</strong> schließlich zu Bewusstlosigkeit.<br />

E<strong>in</strong>e Operation ist dann meist unumgänglich, um das Leben des K<strong>in</strong>des<br />

zu retten.<br />

Unerklärliches plötzliches Schielen ist e<strong>in</strong> Symptom, das auf Misshand-<br />

lung h<strong>in</strong>weisen kann. Ursache s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> diesem Fall Augenh<strong>in</strong>ter-<br />

gr<strong>und</strong>verletzungen oder e<strong>in</strong> Hirnschaden. Selten auftretende mögliche<br />

Augenveränderungen s<strong>in</strong>d Glaskörperblutungen im Anschluss an e<strong>in</strong><br />

Schädelhirntrauma mit <strong>in</strong>trakranieller Blutung.<br />

Fe<strong>in</strong>e flohstichartige (petechiale) Blutungen <strong>in</strong> den Augenb<strong>in</strong>dehäuten<br />

<strong>und</strong> an den äußeren Lidhäuten können als Stauungsblutungen entste-<br />

hen, wenn die Halsvenen beim Würgen oder Drosseln zugedrückt wur-<br />

den, der arterielle Zufluss aber noch erfolgte (Abb. 5). Flächenhafte Blu-<br />

tungen s<strong>in</strong>d Folgen e<strong>in</strong>es direkten Schlages auf das Auge.<br />

Bei Verbrennungen <strong>und</strong> Verbrühungen lässt e<strong>in</strong> dem Entwicklungsstand<br />

des K<strong>in</strong>des nicht entsprechendes Muster der Läsionen an Misshandlung<br />

denken. Unfallmäßige Verbrühungen entstehen, wenn e<strong>in</strong> Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>d<br />

heiße Flüssigkeit vom Tisch herunterzieht. In diesem Fall s<strong>in</strong>d Hals,<br />

Brust, Schultern <strong>und</strong> Gesicht betroffen. Wenn e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d absichtlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

heißes Bad gesetzt wird, s<strong>in</strong>d Gesäß <strong>und</strong> Hände gleichzeitig oder Hän-<br />

de <strong>und</strong> Füße gleichzeitig betroffen. Dieses Verletzungsmuster kann<br />

nicht entstehen, wenn das K<strong>in</strong>d selbständig <strong>in</strong> die Badewanne steigt.<br />

Dann ist nur e<strong>in</strong>e Hand oder e<strong>in</strong> Fuß betroffen. Sie sollten sich bei jeder<br />

Verbrühungsverletzung den genauen Hergang schildern lassen <strong>und</strong> den<br />

Entwicklungsstand des K<strong>in</strong>des berücksichtigen.<br />

Kreisförmige Verbrennungen am Handteller, unter den Fußsohlen <strong>und</strong><br />

am Bauch können durch Zigaretten verursacht se<strong>in</strong>. Große r<strong>und</strong>e<br />

Verbrennungen am Gesäß entstehen auch dadurch, dass K<strong>in</strong>der auf die<br />

heiße Herdplatte gesetzt werden.<br />

Bei Skelettverletzungen ist zu beachten, dass äußere Schwellungen <strong>und</strong><br />

Hautblutungen als Markersymptome häufig, aber nicht immer vorhanden<br />

s<strong>in</strong>d. Wenn e<strong>in</strong> völlig ruhiges K<strong>in</strong>d immer wieder schreit, wenn es hoch-<br />

genommen oder gefüttert wird, kann u. U. e<strong>in</strong> Rippenbruch vorliegen,<br />

der von außen nicht erkennbar ist. Dauerhafte Schonung von Extremitä-<br />

ten kann auf verdeckte Knochenbrüche h<strong>in</strong>weisen.<br />

Polytope Brüche verschiedenen Alters, sowie periostale Reaktionen <strong>in</strong><br />

unterschiedlichen Heilungsstadien deuten fast immer auf Misshandlun-<br />

43<br />

Epidurales<br />

Hämatom<br />

Augenverletzun-<br />

gen<br />

Verbrennungen<br />

<strong>und</strong> Verbrühungen<br />

Verletzungen des<br />

Skeletts auch oh-<br />

neMarkersym- ptome<br />

Frakturen


Wiederholen Sie<br />

Röntgenaufnah-<br />

men!<br />

Innere Verletzun-<br />

gen<br />

<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

gen h<strong>in</strong>. Besonders betroffen s<strong>in</strong>d meistens Rippen <strong>und</strong> lange Röhren-<br />

knochen. Sehr typisch s<strong>in</strong>d Absprengungen von Metaphysenkanten am<br />

Ende der langen Röhrenknochen <strong>und</strong> Epiphysenablösungen bei norma-<br />

ler Knochenstruktur, wenn e<strong>in</strong> adäquates Trauma <strong>in</strong> der Anamnese fehlt<br />

(sogenanntes "Battered-Child-Syndrom"). Hier können die Sonographie<br />

<strong>und</strong> die Sklelettsz<strong>in</strong>tigraphie unter Umständen wertvolle diagnostische<br />

Hilfe leisten.<br />

Schädelfrakturen, die über mehrere Nähte verlaufen, Impressions- oder<br />

Trümmerfrakturen ohne entsprechende Vorgeschichte <strong>und</strong> wachsende<br />

Frakturen müssen immer den Verdacht auf e<strong>in</strong>e Misshandlung ausspre-<br />

chen lassen. Wenn zu solchen Schädelfrakturen noch verschiedene alte<br />

<strong>und</strong> verschieden lokalisierte Hämatome am übrigen Körper <strong>und</strong> /oder<br />

ältere Frakturen anderer Skelettanteile h<strong>in</strong>zukommen, muss die Diagno-<br />

se der K<strong>in</strong>desmisshandlung ausgesprochen werden, auch wenn dies<br />

von den Eltern zehnmal <strong>in</strong> verschiedenen Versionen verne<strong>in</strong>t wird (Ja-<br />

cobi, 1995).<br />

Das Auftreten von Knochenbrüchen bei K<strong>in</strong>dern von e<strong>in</strong>em Lebensalter<br />

unter drei Jahren muss als hochverdächtig h<strong>in</strong>sichtlich e<strong>in</strong>er möglichen<br />

K<strong>in</strong>desmisshandlung angesehen werden (Dalton, 1990).<br />

Die Verkalkung an der Bruchstelle setzt <strong>in</strong>nerhalb der ersten Woche<br />

nach der Verletzung e<strong>in</strong> <strong>und</strong> ist danach auf dem Röntgenbild nach-<br />

weisbar. Daher ist es wichtig, bei dr<strong>in</strong>gendem Verdacht auf Misshand-<br />

lung die Röntgenaufnahme nach 1 bis 2 Wochen zu wiederholen. Com-<br />

putertomographien <strong>und</strong> Röntgenuntersuchungen (evtl. auch e<strong>in</strong>e Ske-<br />

lettsz<strong>in</strong>tigraphie) s<strong>in</strong>d vor allem bei K<strong>in</strong>dern unter 3 Jahren wichtig, um<br />

überhaupt Misshandlungen erkennen zu können. Sie müssen jedoch<br />

selbst im E<strong>in</strong>zelfall entscheiden, wann die Verdachtsmomente sich so<br />

verdichten, dass e<strong>in</strong>e Röntgenaufnahme angezeigt ist.<br />

Bei Misshandlung können <strong>in</strong>nere Verletzungen entstehen, die durch<br />

stumpfe Schläge auf den Leib verursacht werden. Innere Verletzungen<br />

s<strong>in</strong>d selten <strong>und</strong> schwer zu erkennen, weil meist ke<strong>in</strong>erlei Hautbef<strong>und</strong>e<br />

auftreten. Andererseits können sie sehr gefährlich werden. Sie s<strong>in</strong>d die<br />

zweithäufigste Todesursache bei körperlicher Misshandlung. Im E<strong>in</strong>zel-<br />

nen kommen vor:<br />

44<br />

• Magen- oder Dünndarmperforationen<br />

• E<strong>in</strong>risse der Gekrösewurzel<br />

• Leber-, Nieren-, Milz- <strong>und</strong> Bauchspeicheldrüsene<strong>in</strong>risse<br />

• Lungenverletzungen, Hämatothorax <strong>und</strong> Hämatoperikard.


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

Anhaltendes Erbrechen, Schmerzen, e<strong>in</strong> aufgetriebener Bauch, Aus-<br />

bleiben der Darmgeräusche, Störungen des Stuhlgangs, Entzündungen<br />

des Bauchfells <strong>und</strong> Schock können durch Darmverletzungen hervorge-<br />

rufen se<strong>in</strong>.<br />

An Vergiftungen ist bei folgenden Symptomen zu denken, Müdigkeit,<br />

Apathie, "Abwesenheit", Gangunsicherheit <strong>und</strong> Bewusstlosigkeit. Vergif-<br />

tungen kommen bei Säugl<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>dern aus folgenden Grün-<br />

den vor:<br />

• Überdosierung e<strong>in</strong>es verordneten Schlaf- oder Beruhigungsmit-<br />

tels (das K<strong>in</strong>d schläft nicht, das K<strong>in</strong>d ist unruhig). Eventuell wur-<br />

den Beruhigungsmittel auch verabreicht, um das K<strong>in</strong>d ruhig zu<br />

stellen, damit die Betreuungsperson ungestört ist bzw. anderen<br />

Aktivitäten nachgehen kann.<br />

• E<strong>in</strong>nahme e<strong>in</strong>es ungesicherten Medikaments durch Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>der<br />

(Aufbewahrung von Medikamenten <strong>und</strong> Sicherungsmaßnahmen<br />

diskutieren).<br />

• Medikamentengabe als Tötungsversuch bei erweitertem Selbst-<br />

mordversuch oder im Rahmen e<strong>in</strong>es Münchhausen by-proxy-<br />

Syndroms.<br />

• Beim Verdacht auf Vergiftung sollte unbed<strong>in</strong>gt Kl<strong>in</strong>ike<strong>in</strong>weisung<br />

erfolgen (Drogenscreen<strong>in</strong>g <strong>und</strong> Blutalkoholuntersuchung).<br />

Untersuchung bei Verdacht auf sexuelle Gewalt<br />

Bei der Untersuchung sollten Sie beachten, dass das betroffene K<strong>in</strong>d<br />

e<strong>in</strong>e körperliche Untersuchung als e<strong>in</strong>en weiteren Übergriff erleben<br />

kann. Daher sollte die Untersuchung äußerst behutsam durchgeführt<br />

werden. Erklären Sie dem K<strong>in</strong>d die Untersuchungsschritte. Sie sollten<br />

offen über das Thema sprechen können <strong>und</strong> sich nicht überängstlich<br />

verhalten. Weigert sich e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d, so sollte es Zeit bekommen, mit der<br />

Situation vertrauter zu werden.<br />

Die somatische Untersuchung bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch<br />

setzt sich zusammen aus der Erhebung e<strong>in</strong>es Allgeme<strong>in</strong>status <strong>und</strong> ei-<br />

nes Genitalstatus. Bei der Allgeme<strong>in</strong>untersuchung ist e<strong>in</strong> pädiatrischer<br />

Status enthalten, bei dem <strong>in</strong>sbesondere die Körperteile, die <strong>in</strong> sexuelle<br />

Aktivitäten oft e<strong>in</strong>bezogen s<strong>in</strong>d, genau untersucht werden, wie z.B.<br />

Brustbereich, M<strong>und</strong>, Gesäß, Oberschenkel<strong>in</strong>nenseite. Wenn der Arzt<br />

mit den Besonderheiten der genitalen Bef<strong>und</strong>erhebung vertraut ist, kann<br />

er e<strong>in</strong>en Genitalstatus erheben, der vorwiegend aus e<strong>in</strong>er genauen In-<br />

spektion der Genital- <strong>und</strong> Analregion besteht.<br />

Bei der Inspektion werden neben dem Gesamtaspekt des Genitalberei-<br />

ches, die Klitoris, große <strong>und</strong> kle<strong>in</strong>e Labien, Vulvaränder, Urethralbe-<br />

45<br />

Darmverletzungen<br />

Vergiftungen<br />

Erläuterung der<br />

Untersuchungs-<br />

schritte<br />

Somatische<br />

Untersuchung


K<strong>in</strong>dergynäkologi-<br />

scheUntersu- chung<br />

Körperlicher Be-<br />

f<strong>und</strong> bei sexuel-<br />

lem Missbrauch<br />

<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

reich, Hymen <strong>in</strong> allen Anteilen sowie die Ingu<strong>in</strong>alregion <strong>und</strong> der Anus<br />

beurteilt. Mit Hilfe der Separations- oder Traktionsmethode kann die<br />

Weite <strong>und</strong> Konfiguration des Introitus vag<strong>in</strong>ae, die distale Vag<strong>in</strong>a, die<br />

Fossa navicularis <strong>und</strong> die h<strong>in</strong>tere Kommissur untersucht werden. Je<br />

nach Bef<strong>und</strong> <strong>und</strong> Anamnese werden zusätzliche Untersuchungen erfor-<br />

derlich, z.B. mikrobiologische oder virologische Kulturen, serologische<br />

Untersuchungen oder der Nachweis von Sperma.<br />

E<strong>in</strong>e gynäkologische Untersuchung, d.h. e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>strumentelle Untersu-<br />

chung mit Vag<strong>in</strong>oskop oder Spekulum soll nicht rout<strong>in</strong>emäßig durchge-<br />

führt werden, sondern <strong>in</strong> Abhängigkeit von der Anamnese, dem Bef<strong>und</strong><br />

bei der Inspektion <strong>und</strong> dem Alter der Patient<strong>in</strong>. Bei äußeren Verletzun-<br />

gen, Blutungen oder auch rezidivierenden Genital<strong>in</strong>fektionen ist e<strong>in</strong>e<br />

Untersuchung immer erforderlich.<br />

Wenn Sie sich als Arzt durch e<strong>in</strong>e exakte k<strong>in</strong>dergynäkologische Unter-<br />

suchung überfordert fühlen, sollten Sie e<strong>in</strong>e k<strong>in</strong>dergynäkologische Kon-<br />

siliaruntersuchung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er spezialisierten Kl<strong>in</strong>ik oder durch e<strong>in</strong>en<br />

Rechtsmediz<strong>in</strong>er mit Erfahrung <strong>in</strong> Bef<strong>und</strong>erhebung <strong>und</strong> forensischer<br />

Bewertung anstreben.<br />

Liegt der vermutete sexuelle Übergriff mehr als 48 - 72 St<strong>und</strong>en zurück<br />

<strong>und</strong> ist bei der Genital<strong>in</strong>spektion ke<strong>in</strong>e Verletzung nachweisbar, können<br />

forensische Überlegungen vorerst <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> treten <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e<br />

k<strong>in</strong>dergynäkologische Konsiliaruntersuchung sorgfältig geplant werden.<br />

Hat e<strong>in</strong> Übergriff aber <strong>in</strong> den letzten 48 - 72 St<strong>und</strong>en stattgef<strong>und</strong>en, so<br />

muss die Untersuchung unverzüglich erfolgen, um beweiserhebliche<br />

H<strong>in</strong>weise festhalten zu können.<br />

Beim sexuellen Missbrauch gibt es kaum e<strong>in</strong>deutige Bef<strong>und</strong>e. Als spezi-<br />

fische Symptome gelten alle Verletzungen im Anogenitalbereich ohne<br />

plausible Anamnese. Dazu gehören Hämatome, Quetschungen, Strie-<br />

men, E<strong>in</strong>risse <strong>und</strong> Bissw<strong>und</strong>en. Häufig entstehen auch e<strong>in</strong> weiter E<strong>in</strong>-<br />

gang der Vag<strong>in</strong>a bzw. Rötung, E<strong>in</strong>risse oder venöse Stauung im Anal-<br />

bereich.<br />

Im Zusammenhang mit dem Verdacht bzw. der Anschuldigung des se-<br />

xuellen K<strong>in</strong>dermissbrauchs bleiben allerd<strong>in</strong>gs auch immer wieder Be-<br />

weisfragen ungeklärt. Beispielsweise ist aus diversen Literaturangaben<br />

bekannt, dass ke<strong>in</strong>eswegs jedes E<strong>in</strong>führen e<strong>in</strong>es männlichen Gliedes<br />

bzw. <strong>in</strong>travag<strong>in</strong>ale Manipulationen zwangsläufig mit dem Zerreißen des<br />

Jungfernhäutchens oder mit sichtbaren Verletzungen im Scheidenbe-<br />

reich e<strong>in</strong>hergehen (Lockemann/Püschel 1999). Die Intaktheit des Hy-<br />

mens schließt die Möglichkeit des sexuellen Missbrauchs (auch mit E<strong>in</strong>-<br />

führen des Penis bei e<strong>in</strong>em jungen Mädchen) nicht aus. Sehr schwierig<br />

ist auch die Beurteilung von alten Vernarbungen des Hymens, bei de-<br />

46


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

nen regelmäßig die Differenzialdiagnose e<strong>in</strong>er früheren unfallmäßigen<br />

Pfählungsverletzung <strong>in</strong> die Diskussion gebracht wird.<br />

Sexuell übertragbare Krankheiten wie z.B. Gonorrhoe oder Condyloma-<br />

ta accum<strong>in</strong>ata vor der Geschlechtsreife des K<strong>in</strong>des s<strong>in</strong>d mit größter<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit Folge von Missbrauch. Bei e<strong>in</strong>er Schwangerschaft <strong>in</strong><br />

der Frühpubertät muss man immer an die Folge e<strong>in</strong>es Missbrauchs<br />

denken. Daneben gibt es noch unspezifische Symptome, die ebenfalls<br />

beim Missbrauch entstehen können. Dazu zählen rezidivierende Harn-<br />

wegs<strong>in</strong>fekte, vag<strong>in</strong>ale Infektionen, sek<strong>und</strong>äre Enuresis <strong>und</strong> Enkopresis.<br />

Trotzdem lässt sich sagen, dass sexueller Missbrauch sehr häufig durch<br />

e<strong>in</strong>e körperliche Untersuchung nicht e<strong>in</strong>deutig diagnostizierbar ist. Bei<br />

Verdacht auf sexuellen Missbrauch sollten Sie sich - wenn erforderlich -<br />

von erfahrenen Kollegen oder multidiszipl<strong>in</strong>ären E<strong>in</strong>richtungen beraten<br />

lassen, damit die Abklärung im S<strong>in</strong>ne des K<strong>in</strong>des optimal verläuft <strong>und</strong><br />

Schutz vor weiteren Übergriffen gewährt wird. Damit wird das K<strong>in</strong>d vor<br />

e<strong>in</strong>er Retraumatisierung durch Vermeidung von überstürztem, wieder-<br />

holtem, falschem oder unüberlegtem Handeln geschützt.<br />

47<br />

Sexuell übertrag-<br />

bare Krankheiten<br />

als H<strong>in</strong>weis auf<br />

sexuellen Miss-<br />

brauch


Merkmale von<br />

misshandelten<br />

<strong>und</strong><br />

vernachlässigten<br />

K<strong>in</strong>dern<br />

<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

4.3 Psychischer Bef<strong>und</strong> <strong>und</strong> das Verhalten des K<strong>in</strong>-<br />

48<br />

des<br />

Die Erhebung des psychischen Bef<strong>und</strong>es gehört weder <strong>in</strong> der Praxis<br />

noch <strong>in</strong> der Kl<strong>in</strong>ik zum diagnostischen Alltag. Es ist deshalb s<strong>in</strong>nvoll,<br />

strukturiert vorzugehen, wie es zum Beispiel das Untersuchungsschema<br />

von Ste<strong>in</strong>hausen (1993) vorschlägt:<br />

Psychopathologische Bef<strong>und</strong>erhebung bei K<strong>in</strong>dern <strong>und</strong> Jugendli-<br />

chen:<br />

Äußeres Ersche<strong>in</strong>ungsbild Attraktivität, Reife, Fehlbildungen, Klei-<br />

Kontakt- <strong>und</strong> Beziehungsfä-<br />

higkeit <br />

dung, Sauberkeit<br />

Abhängigkeit von der Begleitperson,<br />

Aufnahme der Beziehung zum Untersu-<br />

cher, Selbstsicherheit, Kooperation<br />

Emotionen Stimmung, Affekte, Angst, psychomoto-<br />

rischer Ausdruck<br />

Denk<strong>in</strong>halte Ängste, Be<strong>für</strong>chtungen, Phantasien,<br />

Denkstörungen, Selbstkonzept, Identität<br />

Kognitive Funktionen Aufmerksamkeit, Orientierung, Auffas-<br />

sung, Wahrnehmung, Gedächtnis, allg.<br />

Intelligenz<br />

Sprache Umfang, Intonation, Artikulation, Voka-<br />

bular, Sprachverständnis<br />

Motorik Aktivität, qualitative Auffälligkeiten wie<br />

Tics, Stereotypien, Jaktationen<br />

Soziale Integration Position, Beziehungen <strong>in</strong>nerhalb der<br />

(Ste<strong>in</strong>hausen, 1993)<br />

Familie, Schulklasse, Fre<strong>und</strong>eskreis<br />

Die Erhebung des psychischen Bef<strong>und</strong>es ist die Voraussetzung da<strong>für</strong>,<br />

seelische Störungen von K<strong>in</strong>dern angemessen e<strong>in</strong>ordnen zu können.<br />

Sie sollten Auffälligkeiten erkennen <strong>und</strong> benennen können <strong>und</strong> auch<br />

dokumentieren. In den Früherkennungsuntersuchungen im K<strong>in</strong>desalter<br />

werden "Auffälligkeiten der emotionalen <strong>und</strong> sozialen Entwicklung des<br />

K<strong>in</strong>des" kodiert.<br />

In der Fachliteratur wird e<strong>in</strong> Merkmal als typisch <strong>für</strong> misshandelte K<strong>in</strong>der<br />

beschrieben: Das K<strong>in</strong>d zeigt e<strong>in</strong>e "gefrorene Aufmerksamkeit" (frozen<br />

watchfulness). Es sitzt still auf se<strong>in</strong>em Platz <strong>und</strong> beobachtet se<strong>in</strong>e Um-<br />

gebung quasi aus dem Augenw<strong>in</strong>kel heraus, ohne sich zu bewegen. Es<br />

bewegt sich erst dann, wenn es sich unbeobachtet fühlt. Als weitere<br />

typische Symptome <strong>für</strong> misshandelte K<strong>in</strong>der werden emotionale Störun-


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

gen (anhaltende Traurigkeit, Ängstlichkeit, Stimmungslabilität <strong>und</strong> man-<br />

gelndes Selbstvertrauen) <strong>und</strong> Schwierigkeiten im Sozialverhalten be-<br />

schrieben. Die K<strong>in</strong>der s<strong>in</strong>d entweder auffallend ruhig <strong>und</strong> zurückgezo-<br />

gen oder aber besonders aktiv, unruhig <strong>und</strong> schwierig (Aggressivität,<br />

Distanzlosigkeit). Bei der Entwicklungsbeurteilung f<strong>in</strong>det man häufig<br />

Rückstände <strong>in</strong> der Motorik <strong>und</strong> Sprache.<br />

Manchmal senden K<strong>in</strong>der verschlüsselte Botschaften wie "Hier gefällt es<br />

mir" oder "Ich gehe gern <strong>in</strong>s Krankenhaus", die aussagen können, dass<br />

die Situation zu Hause schwer erträglich ist, ohne sie als solche zu be-<br />

nennen.<br />

Manche K<strong>in</strong>der, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er deprivierenden Umgebung leben, entwi-<br />

ckeln sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er neuen Situation (während des Kl<strong>in</strong>ikaufenthaltes)<br />

rasch zum Positiven.<br />

Der Verdacht auf sexuellen Missbrauch entsteht manchmal durch auffäl-<br />

liges Verhalten des K<strong>in</strong>des. Es zeigt <strong>in</strong>adäquates, sexualisiertes Verhal-<br />

ten oder nicht altersentsprechendes Wissen über Sexualität, das im<br />

Spiel oder <strong>in</strong> Zeichnungen dargestellt wird. Als Folge e<strong>in</strong>er Miss-<br />

brauchssituation kann e<strong>in</strong>e plötzliche Verhaltensveränderung ohne er-<br />

sichtlichen Gr<strong>und</strong> entstehen. K<strong>in</strong>der meiden das Alle<strong>in</strong>se<strong>in</strong> mit e<strong>in</strong>er<br />

bestimmten Person oder haben e<strong>in</strong>en Schulleistungsknick, häufig ver-<br />

b<strong>und</strong>en mit sozialem Rückzug (<strong>in</strong>ternalisierendes Verhalten) oder unan-<br />

gemessener Aggressivität (externalisierendes Verhalten).<br />

Die beschriebenen Verhaltensauffälligkeiten s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>eswegs Beweise<br />

<strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Misshandlungs- oder Vernachlässigungssituation. Sie dienen<br />

allenfalls als H<strong>in</strong>weise <strong>und</strong> können selbstverständlich auch andere Ur-<br />

sachen haben. E<strong>in</strong> Arzt sollte bei diesen Bef<strong>und</strong>en aber körperliche,<br />

psychische oder sexuelle Gewalt gegen das K<strong>in</strong>d bzw. belastende Le-<br />

bensumstände <strong>in</strong> die differenzialdiagnostischen Überlegungen e<strong>in</strong>bezie-<br />

hen.<br />

Sollte es zu e<strong>in</strong>em Gespräch mit dem K<strong>in</strong>d oder e<strong>in</strong>er Betreuungsper-<br />

son über den Verdacht auf Misshandlung bzw. Missbrauch kommen, ist<br />

<strong>für</strong> e<strong>in</strong> eventuell folgendes Strafverfahren vor allem Folgendes wichtig:<br />

Jede Befragung des K<strong>in</strong>des, <strong>in</strong>sbesondere e<strong>in</strong>e suggestive Befragung,<br />

kann bezüglich e<strong>in</strong>er späteren Beurteilung der Glaubwürdigkeit des K<strong>in</strong>-<br />

des äußerst problematisch se<strong>in</strong>. Sie sollten deshalb <strong>in</strong> Ihrem Gespräch<br />

alles unterlassen, was als Suggestivfrage gewertet werden könnte.<br />

Wenn sich das K<strong>in</strong>d von sich aus mitteilt, so sollten dessen eigene An-<br />

gaben schriftlich, wenn möglich wörtlich niedergelegt werden.<br />

Bitte beachten Sie, dass das Ergebnis der Untersuchung - auch zur Si-<br />

cherung von Beweisen <strong>für</strong> e<strong>in</strong> etwaiges Strafverfahren - sorgfältig do-<br />

49<br />

Auffälliges<br />

Verhalten des<br />

K<strong>in</strong>des<br />

E<strong>in</strong>zelbef<strong>und</strong> ist<br />

noch ke<strong>in</strong> Beweis<br />

Vermeiden Sie<br />

Suggestivfragen<br />

Sorgfältige<br />

Dokumentation


Diagnose nur<br />

durch Verhaltens-<br />

auffälligkeiten<br />

<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

kumentiert wird. Zu diesem Zweck wird <strong>in</strong>sbesondere auf die im Servi-<br />

ceteil beiliegenden Untersuchungsbögen h<strong>in</strong>gewiesen<br />

Seelische Gewalt<br />

Seelische Gewalt <strong>und</strong> psychische Vernachlässigung können nur durch<br />

Verhaltensauffälligkeiten diagnostiziert werden. Diese Verhaltensauf-<br />

fälligkeiten s<strong>in</strong>d allerd<strong>in</strong>gs nicht spezifisch <strong>für</strong> Misshandlung, sondern<br />

können viele andere Ursachen haben. Es gibt ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>deutiges Merkmal<br />

<strong>und</strong> ke<strong>in</strong> gesichertes diagnostisches Instrument, um seelische Gewalt<br />

zu erkennen. Es ist jedoch möglich, zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>en Verdacht zu erhär-<br />

ten. In der Literatur wird e<strong>in</strong>e Vielzahl von diagnostischen H<strong>in</strong>weisen auf<br />

seelische Misshandlung gegeben, wenn organische Ursachen ausge-<br />

schlossen s<strong>in</strong>d. Die meisten dieser Symptome s<strong>in</strong>d auch bei sexuellem<br />

Missbrauch zu beobachten oder gehen mit körperlicher Gewalt e<strong>in</strong>her<br />

(Eggers, 1994):<br />

50<br />

Symptome bei seelischer Gewalt<br />

Säugl<strong>in</strong>gsalter Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>dalter Schulalter<br />

• Gedeihstörung<br />

• Motorische<br />

Unruhe<br />

• Apathie<br />

• "Schreik<strong>in</strong>d"<br />

• Nahrungs-<br />

verweigerung<br />

Erbrechen,<br />

Verdau-<br />

ungsprobleme<br />

• Psychomotori-<br />

scheRetarda- tion<br />

• (Sek<strong>und</strong>äre)<br />

Enuresis<br />

• (Sek<strong>und</strong>äre)<br />

Enkopresis<br />

• Daumenlut-<br />

schen<br />

• Trichotilloma-<br />

nie<br />

• Nägelbeißen<br />

• Spielstörung<br />

• Freudlosigkeit<br />

• Furchtsamkeit<br />

• Passivität, Zu-<br />

rückgezogen-<br />

se<strong>in</strong><br />

• Aggressivität,<br />

Autoaggres-<br />

sionen<br />

• Distanzschwä-<br />

che<br />

• Sprachstörung<br />

• Motorische<br />

Störungen <strong>und</strong><br />

Jactationen<br />

• Kontaktstörun-<br />

gen<br />

• Schul-<br />

verweigerung,<br />

Abnahme der<br />

Schulleistungen,<br />

Konzentrati-<br />

onsstörungen<br />

• Mangel an Aus-<br />

dauer,Initiativ- verlust<br />

• Hyperaktivität,<br />

"Störenfried"-<br />

Verhalten<br />

• Ängstlichkeit,<br />

Schüchternheit,<br />

Misstrauen<br />

• Suizidgedanken,<br />

Versagensängs-<br />

te<br />

• Narzisstische<br />

Größenphan-<br />

tasien,Tag- träumereien


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

Zur Diagnostik kann e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>der- <strong>und</strong> Jugendpsychiater oder e<strong>in</strong> psycho-<br />

logischer K<strong>in</strong>der- <strong>und</strong> Jugendpsychotherapeut h<strong>in</strong>zugezogen werden.<br />

4.4 Sexueller Missbrauch<br />

Bei sexuellem Missbrauch gibt es kaum e<strong>in</strong>deutige Symptome. Deshalb<br />

sollten Sie immer Differentialdiagnosen aufstellen. Zu den oben be-<br />

schriebenen Verhaltensweisen werden weitere Verhaltensauffälligkeiten<br />

beobachtet. Diese Symptome s<strong>in</strong>d ebenfalls unspezifisch <strong>und</strong> müssen<br />

weiter abgeklärt werden:<br />

Gestörtes Essverhalten, Schlafstörungen, Rückfall <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>d-<br />

verhalten (Regression), Weglaufen von zu Hause, Distanzlosigkeit, se-<br />

xualisiertes Verhalten, Ablehnung des eigenen Körpers, Sexualstö-<br />

rungen, Alkohol- <strong>und</strong> Drogenmissbrauch, Affektlabilität, Depressivität,<br />

erhöhtes Sicherheitsbedürfnis, Alpträume, unklare Angstzustände,<br />

Schmerzen (z. B. Bauchschmerzen), Sprachstörungen, Stehlen <strong>und</strong><br />

anderes del<strong>in</strong>quentes Verhalten, Beziehungsschwierigkeiten, Border-<br />

l<strong>in</strong>e-Persönlichkeitsstörungen <strong>und</strong> Konversionssyndrome.<br />

Unterleibsverletzungen <strong>und</strong> Geschlechtskrankheiten bei K<strong>in</strong>dern, wie<br />

z. B. Gonorrhoe, sollten immer als H<strong>in</strong>weise auf sexuelle Gewalt be-<br />

trachtet werden. Entzündungen im Genitalbereich s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong> primäres<br />

Anzeichen <strong>für</strong> Missbrauch; unspezifische Infektionen durch Darmbak-<br />

terien s<strong>in</strong>d relativ häufig. Spezifische Infektionen z. B. durch Trichomo-<br />

naden oder Candida kommen dagegen bei Mädchen vor der Pubertät<br />

sehr selten vor, wenn ke<strong>in</strong> sexueller Missbrauch vorliegt. Condylomata<br />

accum<strong>in</strong>ata s<strong>in</strong>d mit großer Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit e<strong>in</strong>e Folge von Miss-<br />

brauch.<br />

Außerdem s<strong>in</strong>d Hämatome <strong>und</strong> Bissw<strong>und</strong>en im Genital- <strong>und</strong> Anal-<br />

bereich e<strong>in</strong> häufiges Zeichen von sexueller Gewalt. Beweisend ist der<br />

Nachweis männlicher DNA <strong>in</strong> der Scheide, im Anus oder an e<strong>in</strong>er Biss-<br />

Spur. Die Probennahme dient ausschließlich der Spurensicherung. Ob<br />

e<strong>in</strong>e DNA-Analyse durchgeführt werden darf, entscheiden die zuständi-<br />

gen strafverfolgenden Behörden.<br />

Dazu sollte mit e<strong>in</strong>em feuchten Watteträger (Leitungswasser genügt)<br />

die Spur durch mehrfaches Überstreichen der Stelle aufgenommen<br />

werden. Danach müssen Sie den Spurenträger an der Luft trocknen<br />

lassen, da sonst die DNA zerstört <strong>und</strong> <strong>für</strong> die Analyse unbrauchbar wird.<br />

Rechtsmediz<strong>in</strong>ische Institute führen auf Veranlassung des behandeln-<br />

den Arztes oder anderer <strong>Institutionen</strong>/Privatpersonen DNA-Analysen<br />

durch mit dem Ziel des Nachweises männlicher DNA, ohne dass durch<br />

diese Untersuchungsergebnisse bestehende gesetzliche Regelungen<br />

51<br />

Zusätzliche<br />

Symptome<br />

Körperliche<br />

Symptome<br />

DNA-<br />

Spurensicherung<br />

bei missbrauch-<br />

ten Mädchen


DNA-<br />

Spurensicherung<br />

bei missbrauch-<br />

ten Jungen<br />

Lokalbef<strong>und</strong> im<br />

Genitalbereich<br />

<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

verletzt werden. Der mögliche Bef<strong>und</strong> „männliche DNA im Abstrichmate-<br />

rial“ sichert weitgehend die Diagnose „Sexueller K<strong>in</strong>desmissbrauch“. Die<br />

Ermittlungsbehörde entscheidet dann über die weiteren Spurenuntersu-<br />

chungen bis h<strong>in</strong> zum Täternachweis durch <strong>in</strong>dividualisierende DNA-<br />

Analyse.<br />

Auch nach Waschen, Duschen oder Baden lohnt sich der Versuch des<br />

DNA-Nachweises! Er kann auch noch nach Tagen zum Erfolg führen,<br />

wenn man bei der Spurenaufnahme die Haut spreizt.<br />

Nach positivem Nachweis männlicher DNA kann dann geme<strong>in</strong>sam mit<br />

kompetenten Partnern des Netzwerkes darüber beraten werden, ob <strong>und</strong><br />

wann ggf. e<strong>in</strong>e Anzeige erfolgen soll, um das K<strong>in</strong>d vor fortgesetztem<br />

sexuellem Missbrauch zu schützen. Schließlich ist auch zu beachten,<br />

dass e<strong>in</strong>e Schwangerschaft entstehen kann. Auch mögliche psychische<br />

Auffälligkeiten müssen hier unbed<strong>in</strong>gt bedacht bzw. beobachtet werden.<br />

Bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch von Jungen sollte nach vorsich-<br />

tigem Spreizen des Anus mit e<strong>in</strong>em Watteträger das Spurenmaterial<br />

gesichert werden. Unter Umständen s<strong>in</strong>d nach vorsichtiger analer Un-<br />

tersuchung Spuren am Handschuhf<strong>in</strong>ger zu sichern. Bei Knaben ist e-<br />

benfalls nach Biss-Spuren zu suchen! Auch hier hilft e<strong>in</strong>e DNA-<br />

Primäranalyse, die lediglich den Nachweis „fremder DNA“ sichert. Die<br />

<strong>in</strong>dividualisierende DNA-Untersuchung darf nur auf behördliche Anord-<br />

nung durchgeführt werden. Die Beweise s<strong>in</strong>d aber dann gesichert <strong>und</strong><br />

stehen <strong>für</strong> e<strong>in</strong> Strafverfahren zur Verfügung.<br />

Allergien <strong>und</strong> Hautkrankheiten mit atypischem Verlauf (Pyodermien,<br />

Ekzeme) können ebenfalls auf sexuellen Missbrauch h<strong>in</strong>deuten.<br />

Bakterielle Erreger der sexuell übertragbaren Krankheiten (STD) s<strong>in</strong>d:<br />

Neisseria gonorrhoeae, urogenitale Mykoplasmen <strong>und</strong> Ureaplasmen,<br />

Chlamydia trachomatis, Haemophilus ducreyi, Treponema pallidum.<br />

Virale Erreger der STD: Human-Immunodeficiency-Virus (HIV)<br />

Parasitäre Erreger: Trichomonas vag<strong>in</strong>alis, Ektoparasiten.<br />

Sehr oft jedoch ist sexueller Missbrauch bei der körperlichen Untersu-<br />

chung nicht diagnostizierbar. Jede verdächtige Verletzung sollte be-<br />

schrieben, fotografiert <strong>und</strong> skizziert werden.<br />

52


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

4.5 Beurteilung der familiären Situation<br />

Beobachtungen bei Eltern <strong>und</strong> Begleitpersonen<br />

Um e<strong>in</strong>en Verdacht auf K<strong>in</strong>desmisshandlung zu erhärten, können Sie<br />

durch Beobachten der Eltern oder Begleitpersonen weitere H<strong>in</strong>weise<br />

erhalten. Eltern, die ihr K<strong>in</strong>d misshandelt haben, verhalten sich <strong>in</strong> vieler-<br />

lei H<strong>in</strong>sicht anders als Eltern, deren K<strong>in</strong>der durch e<strong>in</strong>en Unfall verletzt<br />

wurden. So lehnen manche Eltern e<strong>in</strong>e adäquate Behandlung oder wei-<br />

tergehende Untersuchungen ab, obwohl dieses dr<strong>in</strong>gend angezeigt ist.<br />

Viele Eltern berichten widersprüchlich von dem "Unfall", der sich zuge-<br />

tragen haben soll. Der Bef<strong>und</strong> passt nicht zur Schilderung des Unfall-<br />

hergangs.<br />

Die Reaktion der Eltern kann der Verletzung nicht angemessen se<strong>in</strong>. Sie<br />

ist entweder übertrieben oder untertrieben. Manchmal klagen Eltern im<br />

Detail über Belanglosigkeiten, die <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Zusammenhang zur Verlet-<br />

zung stehen.<br />

E<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d kann deutliche Anzeichen von Pflegemangel <strong>und</strong> Unter-<br />

ernährung aufweisen, die Eltern stellen sich jedoch als perfekte Eltern<br />

dar. Der Entwicklungsstand des K<strong>in</strong>des kann nicht altersgerecht se<strong>in</strong>,<br />

die Eltern berücksichtigen dies aber nicht. Der Umgang mancher Eltern<br />

mit dem K<strong>in</strong>d ist ständig lieblos oder überfordernd; die Erwartungen an<br />

das K<strong>in</strong>d s<strong>in</strong>d völlig unrealistisch. Gegebenenfalls beobachten Sie Erre-<br />

gungszustände oder Kontrollverlust bei den Eltern.<br />

Im Rahmen der Anamneseerhebung sollten Sie unbed<strong>in</strong>gt sich auch e<strong>in</strong><br />

Bild bezüglich des Vorkommens von Belastungsfaktoren im sozialen<br />

Umfeld des K<strong>in</strong>des bzw. Jugendlichen machen. Hierbei können Fragen<br />

zur Familiensituation helfen:<br />

• Wer gehört zur Familie ?<br />

• Ist jemand weggegangen (Todesfall, Partnerverlust, Trennung) oder<br />

dazugekommen (Geschwisterk<strong>in</strong>d, neuer Partner)?<br />

• Wen gibt es sonst noch an Angehörigen?<br />

• Wie geht es den Eltern, der Mutter?<br />

• Wie kommt die Mutter mit dem K<strong>in</strong>d (den K<strong>in</strong>dern) zurecht?<br />

• Gibt es Konfliktstoffe (mit dem K<strong>in</strong>d, Alkohol, Schulden)?<br />

• Hat das K<strong>in</strong>d schulische Probleme?<br />

• Wie ist die Wohnsituation?<br />

• Gibt es Spielsachen <strong>für</strong> das K<strong>in</strong>d? Hat es e<strong>in</strong> eigenes Bett?<br />

• Wie ist der Kontakt zu Angehörigen?<br />

• Gibt es Nachbarn, Fre<strong>und</strong>e, Bekannte, an die man sich auch im Not-<br />

fall wenden kann?<br />

• Wer hat die bisherigen Vorsorgeuntersuchungen gemacht?<br />

53<br />

Unkooperatives<br />

Verhalten der El-<br />

tern<br />

Unangemessene<br />

Reaktionen der<br />

Eltern<br />

Umgang der Eltern<br />

mit dem K<strong>in</strong>d<br />

Anamnese-<br />

erhebung im<br />

sozialen Nahbe-<br />

reich<br />

Leitfragen zur<br />

Familiensituation


Beziehungen <strong>in</strong><br />

der Familie beach-<br />

ten<br />

Elterliche<br />

Ablehnung<br />

H<strong>in</strong>weise auf<br />

Ablehnung <strong>und</strong><br />

Vernachlässigung<br />

Mutter-K<strong>in</strong>d-<br />

Beziehung<br />

<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

• Haben die Eltern oder das K<strong>in</strong>d Kontakt zum Jugendamt oder zu<br />

54<br />

Beratungsstellen?<br />

Familiäre Interaktion<br />

Als weiteres diagnostisches Kriterium soll die Beobachtung der Interak-<br />

tion zwischen K<strong>in</strong>d <strong>und</strong> Eltern beschrieben werden. Misshandlung kann<br />

als gewalttätiger Lösungsversuch <strong>und</strong> als Scheitern der Eltern-K<strong>in</strong>d-<br />

Beziehung verstanden werden. Ablehnung des K<strong>in</strong>des durch die Eltern<br />

<strong>und</strong> problematische Eltern-K<strong>in</strong>d-Beziehungen können bereits <strong>in</strong> den<br />

ersten Lebensmonaten festgestellt werden (Engfer, 1990; Esser <strong>und</strong><br />

We<strong>in</strong>el, 1990).<br />

Das Konstrukt elterlicher Ablehnung beschreibt e<strong>in</strong>e rigide, von hohen<br />

unrealistischen Erwartungen an das K<strong>in</strong>d geprägte Erziehungshaltung.<br />

Die Art der elterlichen Zuwendung wird dem K<strong>in</strong>d nicht gerecht.<br />

In den Richtl<strong>in</strong>ien <strong>für</strong> die Früherkennungsuntersuchung (1991) werden<br />

<strong>für</strong> das Säugl<strong>in</strong>gsalter u.a. die folgenden H<strong>in</strong>weise auf Ablehnung <strong>und</strong><br />

Vernachlässigung durch die Mutter angegeben:<br />

• Wenig fre<strong>und</strong>licher Umgang mit dem K<strong>in</strong>d, z.B. Mutter lächelt wenig.<br />

• Ger<strong>in</strong>ge Zärtlichkeit, z.B. kaum zärtliche Berührungen; Mutter ver-<br />

meidet Körperkontakt mit dem K<strong>in</strong>d.<br />

• Häufig verbale Restriktionen, z.B. sehr negative Feststellungen über<br />

das K<strong>in</strong>d, Vorwürfe <strong>in</strong> sehr ärgerlichem Ton.<br />

• Mutter übergeht deutlich die Signale des K<strong>in</strong>des (lächeln, quengeln,<br />

schreien).<br />

• Reaktives (soziales) Lächeln des K<strong>in</strong>des fehlt (mangelnder Blickkon-<br />

takt).<br />

• Die Beziehung zwischen Mutter <strong>und</strong> K<strong>in</strong>d ist von Unsicherheit, ge-<br />

r<strong>in</strong>ger Vorhersagbarkeit <strong>und</strong> mangelnder Verlässlichkeit gekenn-<br />

zeichnet.<br />

• Die Mutter wirkt überfordert <strong>und</strong> nimmt das K<strong>in</strong>d nicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en k<strong>in</strong>d-<br />

lichen Bedürfnissen, sondern als „ebenbürtig“ wahr.<br />

Dabei wird von der Beziehung zwischen Mutter <strong>und</strong> K<strong>in</strong>d gesprochen,<br />

da <strong>in</strong> über 90% der Fälle die Mutter die Begleitperson des K<strong>in</strong>des <strong>in</strong> der<br />

Praxis oder Kl<strong>in</strong>ik ist. Gleichzeitig ist nur wenig über die Beziehungen<br />

von Vätern zu ihren K<strong>in</strong>dern bekannt, da sich die Forschung der Interak-<br />

tionsbeobachtung bis auf wenige Ausnahmen (Frank et al., 1997) aus-<br />

schließlich mit den Müttern befasst. In Fällen von Inzest kann man<br />

manchmal e<strong>in</strong>e übertrieben wirkende Fürsorge durch die männlichen<br />

Begleitpersonen beobachten.


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

Bei e<strong>in</strong>em Hausbesuch können Sie den Lebensraum des K<strong>in</strong>des beur-<br />

teilen. Der niedergelassene Arzt hat gegenüber dem Kl<strong>in</strong>ikarzt den Vor-<br />

teil, die soziale Situation <strong>und</strong> die Lebenssituation des K<strong>in</strong>des zu sehen<br />

<strong>und</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e differentialdiagnostischen Überlegungen mit e<strong>in</strong>fließen zu<br />

lassen.<br />

4.6 Was noch auf Gewalt h<strong>in</strong>weisen kann <strong>und</strong> wie<br />

Sie damit umgehen können<br />

E<strong>in</strong>e ausführliche Anamnese kann weitere Verdachtsmomente zutage<br />

fördern oder wichtige H<strong>in</strong>weise auf mögliche andere Ursachen geben.<br />

E<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis auf Misshandlung ist gegeben, wenn das K<strong>in</strong>d verspätet <strong>in</strong><br />

die Praxis gebracht wird. Oft behaupten die Eltern, die Verletzungen<br />

seien frisch, auch wenn das offensichtlich nicht stimmt. Auffällig kann es<br />

se<strong>in</strong>, wenn das K<strong>in</strong>d <strong>für</strong> den Arztbesuch "hergerichtet" ist, also nach<br />

e<strong>in</strong>em "Unfall" frisch angezogen oder gebadet wurde. Mehr-<br />

fachverletzungen verschiedener Art <strong>und</strong> verschiedenen Alters s<strong>in</strong>d fast<br />

immer e<strong>in</strong> wichtiges Zeichen <strong>für</strong> Misshandlung.<br />

Viele Eltern geben unglaubhafte Erklärungen <strong>für</strong> die Verletzungen an.<br />

Meist ist die Verletzung <strong>für</strong> den angegebenen Unfallhergang viel zu<br />

schwer. Oftmals soll sich nach Auskunft der Eltern das K<strong>in</strong>d selbst e<strong>in</strong>e<br />

Verletzung zugefügt haben. Für das Alter des K<strong>in</strong>des ist die Art <strong>und</strong><br />

Weise, wie diese Verletzung zustande gekommen ist, jedoch untypisch<br />

oder nahezu unmöglich. Solche Erklärungen kommen häufig spontan<br />

<strong>und</strong> früh, ohne dass Sie danach gefragt haben.<br />

Bei der Befragung der Eltern kann sich herausstellen, dass e<strong>in</strong>e me-<br />

diz<strong>in</strong>ische Versorgung wie Vorsorgeuntersuchungen oder Impfungen<br />

nicht <strong>in</strong> Anspruch genommen wird. Wenn das K<strong>in</strong>d schon gehäuft sta-<br />

tionär aufgenommen wurde, auch wenn es sich um Bagatellfälle han-<br />

delte, kann e<strong>in</strong>e mangelnde Versorgung des K<strong>in</strong>des vorliegen. Mögli-<br />

cherweise fehlt e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d häufig <strong>in</strong> der Schule. Manche Eltern haben be-<br />

reits öfter die Arztpraxis oder das Krankenhaus gewechselt.<br />

Es muss auf jeden Fall der ganze Körper des K<strong>in</strong>des genau untersucht<br />

werden. Dies schließt die behaarte Kopfhaut, die Geschlechtsorgane<br />

<strong>und</strong> den Zustand der <strong>in</strong>neren Organe e<strong>in</strong>. Bewusstse<strong>in</strong>szustand <strong>und</strong><br />

psychische Bef<strong>in</strong>dlichkeit müssen ebenfalls berücksichtigt werden.<br />

Wenn weitere Untersuchungen nötig s<strong>in</strong>d, sollten Sie e<strong>in</strong>fühlsam versu-<br />

chen, dem K<strong>in</strong>d die Wichtigkeit klarzumachen. Für die weitere Behand-<br />

lung <strong>und</strong> die Entdeckung eventueller Spuren ist e<strong>in</strong> Bef<strong>und</strong> oft unver-<br />

zichtbar (Beschreibung, Foto, Skizze, DNA-Abstrich von Speichel-/<br />

55<br />

Hausbesuch<br />

H<strong>in</strong>weise aus der<br />

Anamnese<br />

Unglaubwürdige<br />

Erklärungen <strong>für</strong><br />

die Verletzungen<br />

H<strong>in</strong>weise auf<br />

mangelnde Ver-<br />

sorgung des K<strong>in</strong>-<br />

des<br />

Genaue <strong>und</strong> um-<br />

fassende<br />

Untersuchungen<br />

Untersuchung bei<br />

Verdacht auf<br />

sexuellen<br />

Missbrauch


E<strong>in</strong>fühlsamer<br />

Umgang mit dem<br />

K<strong>in</strong>d<br />

Bei e<strong>in</strong>em Ver-<br />

dacht zuerst Ver-<br />

trauen schaffen<br />

<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

Spermaspuren). E<strong>in</strong> negativer Bef<strong>und</strong> kann dem K<strong>in</strong>d die Erleichterung<br />

geben, dass es unversehrt geblieben ist. Häufig haben K<strong>in</strong>der konkrete<br />

Ängste, schwanger oder krank zu se<strong>in</strong>. Diese Ängste werden jedoch<br />

nicht geäußert. E<strong>in</strong>e Untersuchung kann dazu beitragen, diese Be<strong>für</strong>ch-<br />

tungen abzubauen. Dennoch sollten Sie beachten, dass das betroffene<br />

K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e körperliche Untersuchung als e<strong>in</strong>en weiteren Übergriff erleben<br />

kann. Daher sollte die Untersuchung äußerst behutsam durchgeführt<br />

werden.<br />

Erklären Sie dem K<strong>in</strong>d die Untersuchungsschritte. Sie sollten offen über<br />

das Thema sprechen können <strong>und</strong> sich nicht überängstlich verhalten.<br />

Weigert sich e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d, so sollte es möglichst nicht zur Untersuchung<br />

gezwungen werden, sondern Zeit bekommen, mit der Situation vertrau-<br />

ter zu werden.<br />

4.7 Bewertung <strong>und</strong> Gewichtung der Bef<strong>und</strong>e<br />

Alle erhobenen Bef<strong>und</strong>e müssen zusammenfassend bewertet werden.<br />

Die Diagnose soll den körperlichen <strong>und</strong> psychischen Bef<strong>und</strong> des K<strong>in</strong>des,<br />

die familiäre Interaktion <strong>und</strong> die Familiensituation beschreiben. Es wird<br />

festgestellt, ob e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d normal entwickelt ist, ob Auffälligkeiten <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Entwicklung bestehen <strong>und</strong> ob diese Auffälligkeiten das Ausmaß von<br />

Behandlungsbedürftigkeit erreichen.<br />

Die Ergebnisse der Interaktionsbeobachtung <strong>und</strong> die Erhebung der Be-<br />

lastungsfaktoren führen zu e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>schätzung von Belastungen <strong>und</strong><br />

Stärken der Familie <strong>und</strong> von fördernden <strong>und</strong> hemmenden E<strong>in</strong>flüssen auf<br />

die Entwicklung des K<strong>in</strong>des. Misshandlung, Vernachlässigung <strong>und</strong> se-<br />

xueller Missbrauch werden unter den Belastungen erfasst. Aus der Ver-<br />

teilung von Belastungen <strong>und</strong> Stärken sollte sich ergeben, welche Hilfen<br />

erforderlich s<strong>in</strong>d.<br />

4.8 Verifizieren der Verdachtsdiagnose<br />

Wenn der Verdacht noch nicht ganz abgesichert ist, sollten Sie zu-<br />

nächst vermeiden, mit der Familie bzw. den Eltern darüber zu sprechen.<br />

Wichtiger ist zuerst, das Vertrauen der Familie zu gew<strong>in</strong>nen. Das K<strong>in</strong>d<br />

sollte häufiger wiedere<strong>in</strong>bestellt werden, damit Sie sowohl zum K<strong>in</strong>d als<br />

auch zu den Eltern e<strong>in</strong>e positive Beziehung aufbauen können. So ste-<br />

hen Sie weiterh<strong>in</strong> dem K<strong>in</strong>d <strong>und</strong> der Familie beratend zur Seite <strong>und</strong><br />

können den Ges<strong>und</strong>heitszustand des K<strong>in</strong>des beobachten. Es gibt ke<strong>in</strong>e<br />

allgeme<strong>in</strong>gültige Grenze, bei der unbed<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>geschritten werden muss.<br />

Diese Entscheidung können Sie nur im E<strong>in</strong>zelfall nach Abwägung der<br />

Risiken treffen.<br />

56


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

In e<strong>in</strong>igen Fällen kann die E<strong>in</strong>holung e<strong>in</strong>es zweiten Urteils erforderlich<br />

se<strong>in</strong>. Insbesondere bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch können Sie<br />

an die Grenzen Ihrer diagnostischen Möglichkeiten gelangen. Zur Beur-<br />

teilung der Genitale <strong>und</strong> der Analregion ist besondere Erfahrung <strong>und</strong><br />

Kompetenz erforderlich. Sie sollten dann auf die Konsiliaruntersuchung<br />

von K<strong>in</strong>dergynäkologen zurückgreifen. Adressen f<strong>in</strong>den Sie im Service-<br />

teil dieses <strong>Leitfaden</strong>s. Sie müssen allerd<strong>in</strong>gs abwägen, ob dem K<strong>in</strong>d<br />

e<strong>in</strong>e gynäkologische Untersuchung zuzumuten ist. Gr<strong>und</strong>sätzlich sollten<br />

möglichst wenige Untersuchungen stattf<strong>in</strong>den.<br />

Beziehen Sie psychologischen <strong>und</strong> sozialpädagogischen Sachverstand<br />

e<strong>in</strong>. Auf diese Weise können Verhaltensauffälligkeiten eher <strong>in</strong> Zusam-<br />

menhang mit der Diagnose gebracht werden. Langjährige <strong>und</strong> vertrau-<br />

ensvolle Kooperationen zwischen <strong>Ärzte</strong>n sowie anderen kompetenten<br />

Partnern des Netzwerkes s<strong>in</strong>d stets vorteilhaft.<br />

57<br />

Unterstützung<br />

durch e<strong>in</strong> zweites<br />

Urteil bei Verdacht<br />

auf sexuellen<br />

Missbrauch<br />

Zusammenarbeit<br />

mit anderen<br />

Professionen


Gewaltprävention<br />

als Ziel des<br />

geme<strong>in</strong>samen<br />

Fallmanagements<br />

Geme<strong>in</strong>sames<br />

Fallmanagement<br />

setzt persönliche<br />

Kontakte voraus<br />

Aufgaben der<br />

Arztpraxis<br />

Unterstützung der<br />

Familie durch<br />

Allgeme<strong>in</strong>e So-<br />

ziale Dienste<br />

<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

5 Fallmanagement <strong>in</strong> der Arztpraxis<br />

Die folgenden Empfehlungen <strong>für</strong> e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames Fallmanagement<br />

wurden im Rahmen von Kooperationstreffen zwischen niedergelassenen<br />

<strong>Ärzte</strong>n <strong>und</strong> sowie weiteren Hilfee<strong>in</strong>richtungen <strong>und</strong> Behörden entwickelt.<br />

Diese Empfehlungen gehen über Diagnostik <strong>und</strong> Bef<strong>und</strong>sicherung h<strong>in</strong>-<br />

aus.<br />

5.1 Ziele, Aufgaben <strong>und</strong> Voraussetzungen<br />

Gr<strong>und</strong>überlegung des Fallmanagements beim Verdacht auf Gewalt ge-<br />

gen K<strong>in</strong>der ist die geme<strong>in</strong>same Betreuung des K<strong>in</strong>des durch die Arzt-<br />

praxis, Allgeme<strong>in</strong>e Soziale Dienste, Ges<strong>und</strong>heitsämter <strong>und</strong> spezialisierte<br />

Beratungsstellen. Durch e<strong>in</strong>e frühzeitige fallbezogene Kooperation der<br />

genannten Stellen soll die Gr<strong>und</strong>lage <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e effiziente Gewaltpräven-<br />

tion verbessert werden. E<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Fallkenntnis der genannten<br />

Stellen ist darüber h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong>e wichtige Bed<strong>in</strong>gung, um bei e<strong>in</strong>er unmit-<br />

telbar drohenden ges<strong>und</strong>heitlichen Gefährdung des K<strong>in</strong>des Hilfen<br />

schnell verfügbar zu machen.<br />

Im Idealfall gibt es e<strong>in</strong> lokales Netzwerk, <strong>in</strong> die alle e<strong>in</strong>geb<strong>und</strong>en wer-<br />

den, die mit Familien zu tun haben: also etwa lokale Bündnisse <strong>für</strong> Fa-<br />

milie, Ges<strong>und</strong>heitswesen, Jugendämter, Polizei, Interventionsstellen,<br />

Kitas <strong>und</strong> Schulen, Allgeme<strong>in</strong>e Soziale Dienste, Ges<strong>und</strong>heitsämter, Be-<br />

ratungsstellen öffentlicher <strong>und</strong> freier Träger, spezialisierte Kranken-<br />

hausabteilungen <strong>und</strong> weitere E<strong>in</strong>richtungen, die sich mit dem Problem<br />

Gewalt gegen K<strong>in</strong>der befassen.<br />

Im Rahmen des geme<strong>in</strong>samen Fallmanagements hat die Arztpraxis fol-<br />

gende Aufgaben:<br />

• Frühzeitiges Erkennen e<strong>in</strong>er Gefährdung des K<strong>in</strong>des<br />

• Ges<strong>und</strong>heitliche Versorgung des K<strong>in</strong>des <strong>und</strong> Beobachtung des Ge-<br />

58<br />

s<strong>und</strong>heitszustandes<br />

• Information der Eltern bzw. Begleitpersonen über die Möglichkeiten<br />

der Allgeme<strong>in</strong>en Sozialen Dienste oder spezielle Bera-<br />

tungsangebote.<br />

• Unterstützung der Kontaktaufnahme zu Hilfee<strong>in</strong>richtungen durch<br />

aktive Vermittlung.<br />

Aufgabe der Allgeme<strong>in</strong>en Sozialen Dienste ist die Vermittlung sozialer<br />

Hilfen, wie Beratung bei Erziehungsfragen, Hilfe bei der Wohnungs-<br />

beschaffung, Beratung <strong>in</strong> wirtschaftlichen Notlagen. Bei e<strong>in</strong>er unmittel-<br />

baren Gefahr <strong>für</strong> das K<strong>in</strong>d s<strong>in</strong>d die Allgeme<strong>in</strong>en Sozialen Dienste <strong>für</strong> die


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

Intervention zuständig. Spezialisierte Beratungse<strong>in</strong>richtungen unterstüt-<br />

zen die Familie bei der Problembewältigung durch E<strong>in</strong>zel- <strong>und</strong> Familien-<br />

therapie.<br />

Gr<strong>und</strong>lage <strong>für</strong> e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames Fallmanagement s<strong>in</strong>d Kenntnisse <strong>in</strong> der<br />

Arztpraxis über entsprechende Beratungs- <strong>und</strong> Hilfeangebote. Die An-<br />

gebote müssen <strong>für</strong> die Eltern oder Begleitpersonen des K<strong>in</strong>des erreich-<br />

bar se<strong>in</strong>. Die Voraussetzungen <strong>für</strong> e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames Fallmanagement<br />

s<strong>in</strong>d unabhängig vom konkreten Fall durch persönliche Kon-<br />

taktaufnahme zu den kooperierenden Stellen zu schaffen, z. B. durch:<br />

• Kontakt mit den Allgeme<strong>in</strong>en Sozialen Diensten oder e<strong>in</strong>er von<br />

Ihnen bevorzugten Beratungsstelle<br />

• E<strong>in</strong>ladung des zuständigen Sozialarbeiters der Allgeme<strong>in</strong>en So-<br />

zialen Dienste <strong>in</strong> Ihre Praxis.<br />

Ziel der Kontaktaufnahme ist die Vorstellung von Angebot <strong>und</strong> Hand-<br />

lungsmöglichkeiten der Beratungsstellen bzw. der Allgeme<strong>in</strong>en Sozialen<br />

Dienste. Darüber h<strong>in</strong>aus bietet e<strong>in</strong> persönliches Gespräch die Möglich-<br />

keit, gegenseitige Erwartungen über die jeweiligen Aufgaben zu ver-<br />

deutlichen <strong>und</strong> zu e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen Problemsicht zu gelangen.<br />

Sie sollten darüber h<strong>in</strong>aus Ihre persönliche Haltung zum Problem K<strong>in</strong>-<br />

desmisshandlung <strong>und</strong> K<strong>in</strong>desmissbrauch kritisch prüfen. Der Kontakt zu<br />

Opfern <strong>und</strong> möglichen Tätern erfordert e<strong>in</strong>en vorurteilslosen Umgang<br />

mit dem Problem. Ihre Aufgabe ist es, die nach e<strong>in</strong>em Erstkontakt mit<br />

der Diagnose "Verdacht auf Gewalt gegen K<strong>in</strong>der" möglicherweise ge-<br />

fährdete Arzt-Patienten-Beziehung zu stabilisieren. Nur so ist e<strong>in</strong> ge-<br />

me<strong>in</strong>sames Fallmanagement <strong>in</strong> Kooperation zwischen Ihnen, Allgemei-<br />

nen Sozialen Diensten <strong>und</strong> spezialisierten Beratungse<strong>in</strong>richtungen mög-<br />

lich.<br />

Bei Trennungs- <strong>und</strong> Ehescheidungskonflikten können Sie mit der Forde-<br />

rung konfrontiert werden, e<strong>in</strong>em Partner die Misshandlung, den Miss-<br />

brauch oder die Vernachlässigung des K<strong>in</strong>des zu attestieren. Hier ist es<br />

äußerst wichtig, e<strong>in</strong>e neutrale Haltung e<strong>in</strong>zunehmen. Die Gefahr e<strong>in</strong>er<br />

Instrumentalisierung durch e<strong>in</strong>e der Konfliktparteien ist groß.<br />

5.2 Erst- <strong>und</strong> Wiederholungsuntersuchungen<br />

Bei der Erstuntersuchung steht die Bef<strong>und</strong>erhebung <strong>und</strong> -sicherung<br />

e<strong>in</strong>schließlich e<strong>in</strong>er Befragung der Eltern oder Begleitpersonen im Vor-<br />

dergr<strong>und</strong>. In diesem Zusammenhang sollte auch nach dem vorbehan-<br />

delnden Arzt gefragt werden. Jedes K<strong>in</strong>d mit e<strong>in</strong>er Verdachtsdiagnose<br />

"Misshandlung" oder "Missbrauch" sollte <strong>in</strong> kurzen Abständen wieder-<br />

59<br />

Auf andere E<strong>in</strong>-<br />

richtungenzuge- hen<br />

Geme<strong>in</strong>same Ziele<br />

def<strong>in</strong>ieren<br />

B<strong>in</strong>dung im Ver-<br />

dachtsfall an die<br />

Arztpraxis<br />

besonders wichtig<br />

Bei Partner-<br />

schaftskonflikten<br />

neutral bleiben<br />

Nach dem vorbe-<br />

handelnden Arzt<br />

fragen <strong>und</strong> nach<br />

anderen helfenden<br />

Personen


Möglichkeit e<strong>in</strong>es<br />

Hausbesuchs<br />

e<strong>in</strong>beziehen<br />

K<strong>in</strong>dergynäkolo-<br />

gischeUntersu- chung <br />

Eröffnungsge-<br />

spräch vorbereiten<br />

Gesprächsführung<br />

<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

e<strong>in</strong>bestellt werden. In schweren Fällen ist die E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Kl<strong>in</strong>ik<br />

angezeigt.<br />

Manchmal reicht die Diagnostik <strong>in</strong> der Arztpraxis <strong>in</strong>sbesondere bei Ver-<br />

dacht auf e<strong>in</strong>e Vernachlässigung des K<strong>in</strong>des nicht aus. In diesem Fall<br />

sollten Sie sich durch e<strong>in</strong>en Hausbesuch über die Wohnsituation <strong>und</strong><br />

das familiäre Umfeld des K<strong>in</strong>des <strong>in</strong>formieren.<br />

Die Zeit bis zur Wiederholungsuntersuchung können Sie nutzen, um<br />

durch Rückfragen beim vorbehandelnden Arzt, bei Kollegen oder spe-<br />

ziellen Beratungse<strong>in</strong>richtungen zusätzliche Sicherheit <strong>in</strong> der Diagno-<br />

sestellung zu gew<strong>in</strong>nen. Beim Verdacht auf sexuellen Missbrauch von<br />

Mädchen durch penetrierende Sexualpraktiken wird e<strong>in</strong>e Überweisung<br />

an e<strong>in</strong>e gynäkologische Praxis zur k<strong>in</strong>dergynäkologischen Untersu-<br />

chung empfohlen. Anschriften e<strong>in</strong>iger Praxen f<strong>in</strong>den Sie im Serviceteil.<br />

5.3 Eröffnung der Diagnose gegenüber Eltern oder<br />

60<br />

Begleitpersonen<br />

Wenn der Verdacht auf K<strong>in</strong>desmisshandlung oder Missbrauch be-<br />

stätigt wird, sollte die Diagnose im Gespräch mit den Eltern oder ggf.<br />

Begleitpersonen eröffnet werden (Hutz 1994/95 <strong>und</strong> Kopecky-Wenzel<br />

&Frank 1995). In jedem Fall sollte der Schutz des K<strong>in</strong>des vor weiteren<br />

Übergriffen oder e<strong>in</strong>er Eskalation unbed<strong>in</strong>gt sichergestellt se<strong>in</strong>. Die<br />

vernetzte Kooperation mit der öffentlichen Jugendhilfe oder speziali-<br />

sierten Beratungsstellen kann hierbei e<strong>in</strong>e wichtige Hilfestellung se<strong>in</strong>.<br />

Das Gespräch sollte unter geeigneten Bed<strong>in</strong>gungen stattf<strong>in</strong>den. Hier-<br />

zu gehören:<br />

• Ausreichende Gesprächszeit<br />

• Ruhige Gesprächsumgebung ohne Unterbrechungen durch An-<br />

rufe oder durch das Praxispersonal<br />

• Bereithalten von Informationsmaterial über spezielle Beratungs-<br />

angebote <strong>für</strong> die Eltern/Begleitpersonen<br />

• Beg<strong>in</strong>nen Sie das Gespräch mit den Bef<strong>und</strong>en, die Sie bei dem<br />

K<strong>in</strong>d beobachtet haben. Die Symptomatik des K<strong>in</strong>des bietet Ih-<br />

nen e<strong>in</strong>e Möglichkeit, mit den Eltern <strong>in</strong>s Gespräch zu kommen<br />

("Ihr Sohn macht schon seit längerer Zeit e<strong>in</strong>en sehr ängstlichen<br />

E<strong>in</strong>druck auf mich. Haben Sie e<strong>in</strong>e Vorstellung, woran es liegen<br />

kann?"). Manchmal stellen Sie <strong>in</strong> der Sprechst<strong>und</strong>e fest, dass<br />

e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d, das wegen Husten vorgestellt wird, mehrere Hämatome<br />

aufweist. Sie sollten den Eltern diese Bef<strong>und</strong>e unbed<strong>in</strong>gt mittei-<br />

len <strong>und</strong> mit ihnen über mögliche Ursachen reden.


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

5.4 Verhalten während des Praxisbesuchs<br />

Nach Möglichkeit sollte nur e<strong>in</strong>e ausführliche Untersuchung des K<strong>in</strong>des<br />

durchführt werden. Beim Verdacht auf sexuellen Missbrauch an Mäd-<br />

chen erfolgt diese Untersuchung idealerweise durch e<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>der-<br />

gynäkolog<strong>in</strong> oder e<strong>in</strong>en K<strong>in</strong>dergynäkologen. Die Untersuchung ist <strong>in</strong><br />

jedem Fall als Ganzkörperuntersuchung durchzuführen.<br />

Für e<strong>in</strong>e erfolgreiche Prävention weiterer Gewalt ist es wichtig, dass die<br />

Arztpraxis e<strong>in</strong>e vertrauensvolle Situation gegenüber Eltern oder Begleit-<br />

personen schafft. Nur so können die behandelnden <strong>Ärzte</strong> ihre Vertrau-<br />

ensstellung im S<strong>in</strong>ne des Fallmanagements e<strong>in</strong>setzen.<br />

• Machen Sie deutlich, dass Sie sich um die Ges<strong>und</strong>heit des K<strong>in</strong>des<br />

sorgen.<br />

• Vermeiden Sie wertende Haltungen gegenüber Eltern oder potentiel-<br />

len Tätern.<br />

• Bieten Sie ke<strong>in</strong>e Beratungen <strong>und</strong> Therapien an, die Sie selbst nicht<br />

leisten können.<br />

• Führen Sie nach Möglichkeit e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Entscheidung zur In-<br />

anspruchnahme oder Information von Beratungsstellen <strong>und</strong> Allge-<br />

me<strong>in</strong>en Sozialen Diensten herbei.<br />

Sofern e<strong>in</strong>e Kontaktaufnahme zu den Allgeme<strong>in</strong>en Sozialen Diensten<br />

oder Beratungse<strong>in</strong>richtungen notwendig wird, sollten Sie Eltern oder<br />

Begleitpersonen über diesen Schritt <strong>in</strong>formieren. Ziel der Gespräche ist<br />

es, bei Verdacht auf Misshandlung oder Missbrauch des K<strong>in</strong>des Vorbe-<br />

halte oder Bedenken seitens der Eltern bzw. Begleitpersonen gegen-<br />

über der Inanspruchnahme e<strong>in</strong>er speziellen Beratungse<strong>in</strong>richtung oder<br />

der Allgeme<strong>in</strong>en Sozialen Dienste abzubauen.<br />

Die Arztpraxis ist <strong>in</strong> der Wahl Ihrer Kooperationspartner frei. Die Emp-<br />

fehlung an die Eltern, e<strong>in</strong>e bestimmte Institution aufzusuchen, muss<br />

jedoch überzeugend se<strong>in</strong>. Für die Familie oder das K<strong>in</strong>d muss deutlich<br />

se<strong>in</strong>, dass dort e<strong>in</strong>e konkrete Hilfe erwartet werden kann. Daher ist es<br />

das Beste, wenn Sie Erfahrungen <strong>in</strong> der Zusammenarbeit mit der emp-<br />

fohlenen E<strong>in</strong>richtung besitzen.<br />

Die Kontaktaufnahme zu den Beratungsstellen freier Träger ist zu emp-<br />

fehlen, wenn die persönliche Problembewältigung der Familie im Vor-<br />

dergr<strong>und</strong> steht, wenn seitens der Eltern Vorbehalte gegenüber Be-<br />

hörden bestehen oder wenn e<strong>in</strong>e absolute Vertraulichkeit gewahrt wer-<br />

den muss. Allgeme<strong>in</strong>e Soziale Dienste s<strong>in</strong>d zu empfehlen, wenn es um<br />

die Bewilligung sozialer Hilfen geht. In Fällen sexuellen Missbrauchs<br />

sollte <strong>in</strong> jedem Fall Beratung durch Fachleute vermittelt werden.<br />

61<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

Ganzkörperunter-<br />

suchung<br />

durchführen<br />

Gegenüber Eltern<br />

<strong>und</strong> Begleit-<br />

personenVer- trauen aufbauen<br />

Persönliche<br />

Kenntnis der<br />

empfohlenen<br />

E<strong>in</strong>richtungen<br />

schafft<br />

Glaubwürdigkeit


E<strong>in</strong>holung zusätz-<br />

licherInformatio- nen von Allgemei-<br />

nen Sozialen Dien-<br />

sten<br />

Information über<br />

Vorm<strong>und</strong>schafts-<br />

verhältnisse<br />

e<strong>in</strong>holen<br />

Art <strong>und</strong> Umfang<br />

der Informations-<br />

weitergabeper- sönlichvere<strong>in</strong>ba- ren<br />

Information<br />

behördlicher Stel-<br />

len auch ohne<br />

E<strong>in</strong>verständnis der<br />

Eltern möglich<br />

<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

5.5 Zwischen den Praxisbesuchen<br />

Die Zeit zwischen den Praxisbesuchen des K<strong>in</strong>des sollten Sie <strong>für</strong> fol-<br />

gende Tätigkeiten nutzen:<br />

• Holen Sie zusätzliche Informationen von den Allgeme<strong>in</strong>en Sozialen<br />

62<br />

Diensten oder anderen E<strong>in</strong>richtungen, mit denen Sie zusammenar-<br />

beiten, e<strong>in</strong>.<br />

• Knüpfen sie e<strong>in</strong> Netz <strong>für</strong> das geme<strong>in</strong>same Fallmanagement zwi-<br />

schen Ihrer Praxis, Allgeme<strong>in</strong>en Sozialen Diensten oder anderen Hil-<br />

fee<strong>in</strong>richtungen.<br />

• Dokumentieren Sie den Fall gesondert.<br />

• Lassen Sie sich e<strong>in</strong>beziehen <strong>in</strong> die Teilnahme an Erziehungskonfe-<br />

renzen oder ähnlichen Maßnahmen der Allgeme<strong>in</strong>en Sozialen<br />

Dienste.<br />

Durch Kontaktaufnahme mit den Allgeme<strong>in</strong>en Sozialen Diensten <strong>und</strong><br />

den Mütterberatungsstellen der Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Sozialämter <strong>und</strong> den<br />

Schulärzten können weitere E<strong>in</strong>schätzungen zur Beurteilung e<strong>in</strong>er Ver-<br />

dachtsdiagnose e<strong>in</strong>geholt werden. Die Mitarbeiter<strong>in</strong>nen erhalten u. a.<br />

durch Hausbesuche Informationen über das soziale Umfeld der K<strong>in</strong>der.<br />

Die regional organisierten Stellen besitzen im Rahmen ihrer Tätigkeiten<br />

möglicherweise Fallkenntnis.<br />

Familiengerichte stehen Ihnen <strong>für</strong> allgeme<strong>in</strong>e juristische Auskünfte zur<br />

Verfügung. Insbesondere bei Ehen mit ausländischen Partnern kann<br />

e<strong>in</strong>e Information zu Sorgerechtsfragen hilfreich se<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>e Rückfrage<br />

beim zuständigen Familiengericht ist ebenfalls angezeigt, wenn die<br />

Vorm<strong>und</strong>schaft geklärt werden soll <strong>und</strong> die Begleitperson des K<strong>in</strong>des<br />

e<strong>in</strong>e entsprechende Bestallungsurk<strong>und</strong>e nicht vorweisen kann.<br />

Inhalt, Umfang <strong>und</strong> Anlass der Weitergabe von fallbezogenen In-<br />

formationen zwischen der Arztpraxis <strong>und</strong> den Allgeme<strong>in</strong>en Sozialen<br />

Diensten oder Beratungsstellen freier Träger s<strong>in</strong>d mit Mitarbeitern der<br />

entsprechenden E<strong>in</strong>richtungen möglichst persönlich zu vere<strong>in</strong>baren.<br />

Seitens der kooperierenden E<strong>in</strong>richtungen werden zunächst Informatio-<br />

nen über die Entwicklung des Ges<strong>und</strong>heitszustandes des K<strong>in</strong>des von<br />

Ihnen erwartet. Die Informationsvere<strong>in</strong>barung kann z. B. die Mitteilung<br />

über e<strong>in</strong>en Abbruch des Kontaktes zwischen Ihnen <strong>und</strong> dem betreuten<br />

K<strong>in</strong>d umfassen.<br />

Die Information von Behörden oder Beratungse<strong>in</strong>richtungen freier Trä-<br />

ger sollte gr<strong>und</strong>sätzlich mit dem E<strong>in</strong>verständnis der Eltern des K<strong>in</strong>des<br />

erfolgen. Behördliche Stellen können auch ohne dieses E<strong>in</strong>verständnis<br />

e<strong>in</strong>bezogen werden, wenn das Wohl des K<strong>in</strong>des aufs Höchste gefährdet<br />

ist:


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

• Das aktuelle Ausmaß der ges<strong>und</strong>heitlichen Schäden erfordert die<br />

sofortige Herausnahme des K<strong>in</strong>des aus se<strong>in</strong>er häuslichen Umge-<br />

bung.<br />

• Beim Verbleib <strong>in</strong> der häuslichen Umgebung droht e<strong>in</strong>e akute Gefahr<br />

<strong>für</strong> die Ges<strong>und</strong>heit, das Leben (z. B. durch Suizid) <strong>und</strong> die geistige<br />

Entwicklung des K<strong>in</strong>des.<br />

Neben e<strong>in</strong>er ausführlichen Dokumentation der Anamnese wird e<strong>in</strong>e Do-<br />

kumentation der Aussagen von Eltern/Begleitpersonen e<strong>in</strong>schließlich<br />

ergänzender E<strong>in</strong>drücke empfohlen. Die Dokumentation sollte durch Fo-<br />

toaufnahmen der äußeren Verletzungen des K<strong>in</strong>des ergänzt werden.<br />

E<strong>in</strong>e gute Dokumentation der Bef<strong>und</strong>e kann forensische bzw. argumen-<br />

tative Bedeutung bekommen. Die Bef<strong>und</strong>fotos sollten möglichst mit<br />

Maßstab, Datum <strong>und</strong> Identifikationsnummer versehen se<strong>in</strong>. Entspre-<br />

chende Dokumente s<strong>in</strong>d möglicherweise Gr<strong>und</strong>lage <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e gerichtliche<br />

Beweissicherung. E<strong>in</strong>e ausführliche Dokumentation ist der Nachweis,<br />

dass e<strong>in</strong>e mögliche Veranlassung behördlicher Maßnahmen durch den<br />

Arzt auf sorgfältiger Abwägung der Situation des K<strong>in</strong>des beruht. Im Ser-<br />

viceteil dieses <strong>Leitfaden</strong>s f<strong>in</strong>den Sie e<strong>in</strong>e Vorlage, mit der Sie die Do-<br />

kumentation strukturieren können.<br />

Maßnahmen der Allgeme<strong>in</strong>en Sozialen Dienste <strong>für</strong> K<strong>in</strong>der bzw. deren<br />

Familien, die durch Gewalt <strong>und</strong> Missbrauch gefährdet s<strong>in</strong>d, werden im<br />

Wesentlichen durch fallbezogene Erziehungskonferenzen nach dem<br />

K<strong>in</strong>der- <strong>und</strong> Jugendhilfegesetz koord<strong>in</strong>iert. Die Teilnahme an diesen Er-<br />

ziehungskonferenzen ermöglicht Ihnen, e<strong>in</strong>en umfassenden E<strong>in</strong>druck<br />

von der sozialen <strong>und</strong> familiären Situation des von Ihnen betreuten K<strong>in</strong>-<br />

des zu erhalten. Zusätzlich wird der Kontakt zu den Kooperationspart-<br />

nern im Rahmen des geme<strong>in</strong>samen Fallmanagements vertieft.<br />

5.6 Notmaßnahmen bei unmittelbar drohender Ge-<br />

fahr <strong>für</strong> das K<strong>in</strong>d<br />

Bei K<strong>in</strong>desmissbrauch <strong>und</strong> K<strong>in</strong>desmisshandlung handelt es sich um<br />

langfristige Prozesse, an deren Ende möglicherweise e<strong>in</strong>e hohe physi-<br />

sche <strong>und</strong> psychische Gefährdung des K<strong>in</strong>des steht.<br />

Nach dem Besuch <strong>in</strong> Ihrer Praxis müssen Sie gr<strong>und</strong>sätzlich davon aus-<br />

gehen, dass sich das zuvor untersuchte K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er so genannten ge-<br />

genwärtigen Gefahr zum<strong>in</strong>dest <strong>für</strong> se<strong>in</strong>e Ges<strong>und</strong>heit bef<strong>in</strong>det. In dem <strong>für</strong><br />

die Ordnungsbehörden <strong>und</strong> damit auch die Jugendämter <strong>und</strong> die Polizei<br />

geltenden Sicherheits- <strong>und</strong> Ordnungsgesetz Mecklenburg-Vorpommern<br />

(SOG M-V) wird <strong>in</strong> § 3 (3) e<strong>in</strong>e gegenwärtige Gefahr def<strong>in</strong>iert als „e<strong>in</strong>e<br />

Sachlage, bei der das die öffentliche Sicherheit oder Ordnung schädi-<br />

gende Ereignis bereits e<strong>in</strong>getreten ist (Störung) oder unmittelbar oder <strong>in</strong><br />

63<br />

Falldokumentation<br />

<strong>für</strong> eventuelle<br />

gerichtliche Be-<br />

weissicherung<br />

Teilnahme an<br />

Erziehungs-<br />

konferenzen


Abgestufte Reak-<br />

tion auch im<br />

Gefahrenfall<br />

möglich<br />

<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

allernächster Zeit mit an Sicherheit grenzender Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit be-<br />

vorsteht“. Als erhebliche Gefahr wird <strong>in</strong> § 3 (3) SOG M-V e<strong>in</strong>e Gefahr <strong>für</strong><br />

e<strong>in</strong> bedeutendes Rechtsgut, u. a. Leben <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit def<strong>in</strong>iert, so<br />

dass im Falle des von Ihnen untersuchten K<strong>in</strong>des i. d. R. von e<strong>in</strong>er ge-<br />

genwärtigen erheblichen Gefahr ausgegangen werden muss. Da es sich<br />

hier um die Abwehr der Gefahr <strong>und</strong> die Verhütung weiterer Gefahren<br />

handelt, s<strong>in</strong>d die Anforderungen an die Bewertung erheblich niedriger<br />

als z. B. <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Strafverfahren, <strong>in</strong> dem es um die rechtskräftige Verur-<br />

teilung e<strong>in</strong>es Angeklagten geht.<br />

Der Ansche<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er gegenwärtigen Gefahr, die gr<strong>und</strong>sätzlich schwerer<br />

wiegt als Ihre Schweigepflicht, reicht hier bereits aus (vgl. die Ausfüh-<br />

rungen zum rechtfertigenden Notstand <strong>in</strong> Kap. 3.1). Aus diesem Gr<strong>und</strong><br />

ist <strong>in</strong> jedem E<strong>in</strong>zelfall genau abzuwägen, um Maßnahmen zur Abwehr<br />

dieser Gefahren zu treffen oder zum<strong>in</strong>dest zu <strong>in</strong>itiieren.<br />

Um besonders <strong>in</strong> Krisensituation angemessen zu reagieren, sollten Sie<br />

Ihr Verhalten an folgenden Überlegungen ausrichten:<br />

• Im Notfall - Gefahr <strong>für</strong> Leben, Suizidgefahr, Gefahr der unkontrollier-<br />

64<br />

baren Gewaltbereitschaft, Eskalation von Familienkonflikten vor oder<br />

an Wochenenden - sollte sofort der Rettungsdienst oder die Polizei<br />

verständigt werden.<br />

• In den Fällen, die e<strong>in</strong> sofortiges E<strong>in</strong>greifen erfordern, ist ent-<br />

sprechend der Gefahrenbewertung e<strong>in</strong>e abgestufte Reaktion mög-<br />

lich:<br />

• Kontaktaufnahme mit dem K<strong>in</strong>der- <strong>und</strong> Jugendnotdienst des<br />

Amtes <strong>für</strong> Jugend (Dokumentation)<br />

• Krankenhause<strong>in</strong>weisung (Dokumentation)<br />

• Information der Allgeme<strong>in</strong>en Sozialen Dienste (Dokumentati-<br />

on)<br />

• E<strong>in</strong>schaltung der Polizei (Dokumentation)<br />

• Die entsprechenden Maßnahmen s<strong>in</strong>d gegenüber den Eltern bzw.<br />

den Begleitpersonen des K<strong>in</strong>des e<strong>in</strong>deutig zu begründen ("Ich muss<br />

jetzt die Allgeme<strong>in</strong>en Sozialen Dienste anrufen, weil ...")<br />

• In der Praxis auftretende Zweifelsfälle können Sie durch e<strong>in</strong>fache<br />

Maßnahmen entschärfen (z. B. e<strong>in</strong> kurzes Erstgespräch, die Bitte<br />

um Aufenthalt im Wartezimmer, die Ablenkung durch Zeitschriften<br />

oder andere Medien, e<strong>in</strong>e zwischenzeitliche Informationse<strong>in</strong>holung<br />

bei e<strong>in</strong>em Kollegen oder Kooperationspartner, e<strong>in</strong> ausführliches<br />

Wiederholungsgespräch).<br />

Die E<strong>in</strong>schätzung e<strong>in</strong>er unmittelbaren Gefahrensituation <strong>für</strong> das K<strong>in</strong>d<br />

muss von Ihnen gr<strong>und</strong>sätzlich <strong>in</strong> eigener Verantwortung vorgenommen<br />

werden. Sofern der Fall erstmalig <strong>in</strong> der Praxis vorstellig wird, ist das


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

E<strong>in</strong>beziehen weiterer Stellen aus Zeitgründen meist nicht möglich. Diese<br />

Situation ist jedoch selten.<br />

Es gibt Situationen, bei der <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er längeren Betreuung e<strong>in</strong> Fall<br />

plötzlich eskaliert. In diesem Fall kann e<strong>in</strong>e Zweitme<strong>in</strong>ung dann zeitnah<br />

e<strong>in</strong>geholt werden, wenn der Fall bei e<strong>in</strong>em Kollegen oder bei Kooperati-<br />

onspartnern bereits anonym oder namentlich bekannt ist. Die Voraus-<br />

setzungen hier<strong>für</strong> werden durch e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames Fallmanagement<br />

geschaffen. Das geme<strong>in</strong>same Fallmanagement ist <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne so-<br />

mit auch e<strong>in</strong>e Vorbeugung <strong>für</strong> den Krisenfall <strong>in</strong> der Praxis. Die Anonymi-<br />

sierung des Falls stellt e<strong>in</strong>e Möglichkeit dar, sich ohne Verletzung der<br />

Schweigepflicht kompetenten Rat e<strong>in</strong>zuholen. Zu beachten ist hierbei,<br />

dass e<strong>in</strong>e Anonymisierung nicht immer dadurch erreicht wird, dass man<br />

den Namen der Betroffenen nicht nennt, da <strong>in</strong> manchen Fällen <strong>für</strong> die<br />

Identifizierung bereits die Schilderung der Umstände ausreichend se<strong>in</strong><br />

kann.<br />

5.7 Wenn e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d verstorben ist<br />

Ist dem Leichenschau haltenden Arzt mit h<strong>in</strong>reichender Wahrsche<strong>in</strong>lich-<br />

keit bekannt, dass <strong>in</strong> der Vergangenheit K<strong>in</strong>desmisshandlungen oder<br />

sexueller K<strong>in</strong>desmissbrauch stattgef<strong>und</strong>en haben, ist stets der Verdacht<br />

auf e<strong>in</strong>en nicht natürlichen Tod gegeben. Generell sollte die Leiche voll-<br />

ständig entkleidet untersucht werden.<br />

Bei H<strong>in</strong>weisen auf e<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>desmisshandlung im Rahmen der Leichen-<br />

schau ist diese unverzüglich zu beenden. Der Verdacht ist auf der To-<br />

tenbesche<strong>in</strong>igung zu dokumentieren. In diesen Fällen ist e<strong>in</strong> rechtsme-<br />

diz<strong>in</strong>isches Konsil dr<strong>in</strong>gend angeraten.<br />

Achten Sie auf B<strong>in</strong>dehautunterblutungen. Betrachten Sie die Genitalre-<br />

gion. Auch ger<strong>in</strong>gfügige Zeichen äußerer Gewalt können H<strong>in</strong>weise ge-<br />

ben. Insbesondere Schütteltraumen, die zu tödlichen subduralen Blu-<br />

tungen führen können, h<strong>in</strong>terlassen ke<strong>in</strong>e oder nur sehr ger<strong>in</strong>ge äußer-<br />

lich feststellbare Spuren.<br />

Das Ankreuzen der Rubriken auf der Todesbesche<strong>in</strong>igung „Todesursa-<br />

che nicht feststellbar“, „Todesart nicht aufgeklärt“ ist <strong>in</strong> Verdachtsfällen<br />

von K<strong>in</strong>desmisshandlung zw<strong>in</strong>gend erforderlich. Daraufh<strong>in</strong> ist nach gel-<br />

tendem Recht die Polizei zu <strong>in</strong>formieren, die dann eigene Ermittlungen<br />

führen muss. Der zuständige Staatsanwalt hat dann nach Informationen<br />

durch die Polizei zu entscheiden, ob e<strong>in</strong>e gerichtliche Obduktion gemäß<br />

Strafprozessordnung beim zuständigen Gericht zu beantragen ist. Das<br />

ist dann im Regelfall zu erwarten. Ke<strong>in</strong>esfalls können durch die genann-<br />

ten Aktivitäten <strong>für</strong> den Leichenschau-Arzt auf irgende<strong>in</strong>e Art <strong>und</strong> Weise<br />

Kosten entstehen, wie bisweilen fehlerhaft vermutet wird.<br />

65<br />

Geme<strong>in</strong>sames<br />

Fallmanagement<br />

sichert Verfügbar-<br />

keit von Zweit-<br />

me<strong>in</strong>ungen im Kri-<br />

senfall<br />

Ärztliche<br />

Leichenschau<br />

E<strong>in</strong>tragung auf<br />

der Totenbe-<br />

sche<strong>in</strong>igung


Rückmeldungen<br />

s<strong>in</strong>d wichtig <strong>für</strong><br />

geme<strong>in</strong>sames Fall-<br />

management<br />

Rückmeldung<br />

durch persönliche<br />

Kommunikation<br />

<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

5.8 Feedback<br />

Geme<strong>in</strong>sames Fallmanagement beruht <strong>in</strong> hohem Maße auf e<strong>in</strong>em ver-<br />

antwortungsvollen Austausch von Informationen zwischen der be-<br />

handelnden Arztpraxis, Kollegen, Allgeme<strong>in</strong>en Sozialen Diensten, Psy-<br />

chologen, K<strong>in</strong>der- <strong>und</strong> Jugendpsychiatern, Ges<strong>und</strong>heitsämtern <strong>und</strong> Be-<br />

ratungse<strong>in</strong>richtungen. Die entsprechenden Informationsbeziehungen<br />

s<strong>in</strong>d um so belastbarer, je schneller gegenseitige Rückmeldungen über<br />

Ergebnisse der weiteren Behandlung des Falls durch die jeweilige E<strong>in</strong>-<br />

richtung erfolgen.<br />

Häufig s<strong>in</strong>d solche Informationsvere<strong>in</strong>barungen Gegenstand des ge-<br />

me<strong>in</strong>samen Fallmanagements von Arztpraxen, Behörden <strong>und</strong> Bera-<br />

tungse<strong>in</strong>richtungen. In Fällen, bei denen Sie seitens e<strong>in</strong>er anderen Pra-<br />

xis beauftragt wurden, e<strong>in</strong>en Gewaltverdacht zu bestätigen, sollten Sie<br />

der überweisenden Praxis Ihren Bef<strong>und</strong> möglichst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em persönlichen<br />

Telefongespräch mitteilen.<br />

Die hohen Anforderungen des Praxisalltags führen mitunter dazu, dass<br />

Informationsabsprachen trotz bester Absichten nicht e<strong>in</strong>gehalten werden<br />

können. In diesem Fall bietet die Teilnahme an Kooperationstreffen e<strong>in</strong>e<br />

leicht organisierbare Möglichkeit zum regelmäßigen Austausch von In-<br />

formationen <strong>und</strong> Erfahrungen. Sowohl die Fallarbeit als auch der prä-<br />

ventive Ansatz erfordern e<strong>in</strong> hohes Maß an E<strong>in</strong>satz <strong>und</strong> Energie. Als<br />

niedergelassener Arzt haben Sie jedoch die Möglichkeit, durch länger-<br />

fristige Verläufe den Erfolg Ihrer Bemühungen zu sehen. Dann kann die<br />

Betreuung von Familien, <strong>in</strong> denen Gewalt gegen K<strong>in</strong>der geschieht, e<strong>in</strong>e<br />

lohnende Arbeit se<strong>in</strong>.<br />

66


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

6 Gesetzliche Gr<strong>und</strong>lagen<br />

Gr<strong>und</strong>gesetz<br />

Artikel 1, Abs. 1<br />

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten <strong>und</strong> zu schüt-<br />

zen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.<br />

Artikel 2, Abs. 1<br />

Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung se<strong>in</strong>er Persönlichkeit, so-<br />

weit er nicht die Rechte anderer verletzt <strong>und</strong> nicht gegen die verfas-<br />

sungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.<br />

Artikel 6, Abs. 1<br />

Ehe <strong>und</strong> Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen<br />

Ordnung.<br />

Artikel 6, Abs. 2<br />

Pflege <strong>und</strong> Erziehung der K<strong>in</strong>der s<strong>in</strong>d das natürliche Recht der Eltern<br />

<strong>und</strong> die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht<br />

die staatliche Geme<strong>in</strong>schaft.<br />

Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)<br />

§ 1666 Abs. 1<br />

Gefährdung des K<strong>in</strong>deswohls<br />

Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des K<strong>in</strong>des durch<br />

missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, durch Vernachlässi-<br />

gung des K<strong>in</strong>des, durch unverschuldetes Versagen der Eltern oder<br />

durch das Verhalten e<strong>in</strong>es Dritten gefährdet, so hat das Familiengericht,<br />

wenn die Eltern nicht gewillt oder nicht <strong>in</strong> der Lage s<strong>in</strong>d, die Gefahr ab-<br />

zuwenden, die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen<br />

zu treffen. Das Gericht kann auch Maßnahmen mit Wirkung gegen ei-<br />

nen Dritten treffen.<br />

§ 1631 Abs. 2<br />

Verbot entwürdigender Maßnahmen<br />

K<strong>in</strong>der haben e<strong>in</strong> Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestra-<br />

fungen, seelische Verletzungen <strong>und</strong> andere entwürdigende Maßnahmen<br />

s<strong>in</strong>d unzulässig.<br />

67


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII)<br />

§ 8a<br />

Schutzauftrag bei K<strong>in</strong>deswohlgefährdung<br />

(1) Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte <strong>für</strong> die Gefähr-<br />

dung des Wohls e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des oder Jugendlichen bekannt, so hat es das<br />

Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte abzu-<br />

schätzen. Dabei s<strong>in</strong>d die Personensorgeberechtigten sowie das K<strong>in</strong>d<br />

oder der Jugendliche e<strong>in</strong>zubeziehen, soweit hierdurch der wirksame<br />

Schutz des K<strong>in</strong>des oder des Jugendlichen nicht <strong>in</strong> Frage gestellt wird.<br />

Hält das Jugendamt zur Abwendung der Gefährdung die Gewährung<br />

von Hilfen <strong>für</strong> geeignet <strong>und</strong> notwendig, so hat es diese den Personen-<br />

sorgeberechtigten oder den Erziehungsberechtigten anzubieten.<br />

(2) In Vere<strong>in</strong>barungen mit den Trägern von E<strong>in</strong>richtungen <strong>und</strong> Diensten,<br />

die Leistungen nach diesem Buch erbr<strong>in</strong>gen, ist sicherzustellen, dass<br />

deren Fachkräfte den Schutzauftrag nach Absatz 1 <strong>in</strong> entsprechender<br />

Weise wahrnehmen <strong>und</strong> bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos<br />

e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>soweit erfahrene Fachkraft h<strong>in</strong>zuziehen. Insbesondere ist die<br />

Verpflichtung aufzunehmen, dass die Fachkräfte bei den Personensor-<br />

geberechtigten oder den Erziehungsberechtigten auf die Inanspruch-<br />

nahme von Hilfen h<strong>in</strong>weisen, wenn sie diese <strong>für</strong> erforderlich halten, <strong>und</strong><br />

das Jugendamt <strong>in</strong>formieren, falls die angenommenen Hilfen nicht aus-<br />

reichend ersche<strong>in</strong>en, um die Gefährdung abzuwenden.<br />

(3) Hält das Jugendamt das Tätigwerden des Familiengerichts <strong>für</strong> erfor-<br />

derlich, so hat es das Gericht anzurufen; dies gilt auch, wenn die Perso-<br />

nensorgeberechtigten oder die Erziehungsberechtigten nicht bereit oder<br />

<strong>in</strong> der Lage s<strong>in</strong>d, bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos mitzuwir-<br />

ken. Besteht e<strong>in</strong>e dr<strong>in</strong>gende Gefahr oder kann die Entscheidung des<br />

Gerichts nicht abgewartet werden, so ist das Jugendamt verpflichtet,<br />

das K<strong>in</strong>d oder den Jugendlichen <strong>in</strong> Obhut zu nehmen.<br />

(4) Soweit zur Abwendung der Gefährdung das Tätigwerden anderer<br />

Leistungsträger, der E<strong>in</strong>richtungen der Ges<strong>und</strong>heitshilfe oder der Polizei<br />

notwendig ist, hat das Jugendamt auf die Inanspruchnahme durch die<br />

Personensorgeberechtigten oder die Erziehungsberechtigten h<strong>in</strong>zuwir-<br />

ken. Ist e<strong>in</strong> sofortiges Tätigwerden erforderlich <strong>und</strong> wirken die Perso-<br />

nensorgeberechtigten nicht mit, so schaltet das Jugendamt die anderen<br />

zur Abwendung zuständigen Stellen selbst e<strong>in</strong>.<br />

§ 16<br />

Allgeme<strong>in</strong>e Förderung der Erziehung <strong>in</strong> der Familie<br />

(1) Müttern, Vätern, anderen Erziehungsberechtigten <strong>und</strong> jungen Men-<br />

schen sollen Leistungen der allgeme<strong>in</strong>en Förderung der Erziehung <strong>in</strong><br />

68


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

der Familie angeboten werden. Sie sollen dazu beitragen, dass Mütter,<br />

Väter <strong>und</strong> andere Erziehungsberechtigte ihre Erziehungsverantwortung<br />

besser wahrnehmen können. Sie sollen auch Wege aufzeigen, wie Kon-<br />

fliktsituationen <strong>in</strong> der Familie gewaltfrei gelöst werden können.<br />

(2) Leistungen zur Förderung der Erziehung <strong>in</strong> der Familie s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>sbe-<br />

sondere<br />

1. Angebote der Familienbildung, die auf Bedürfnisse <strong>und</strong><br />

Interessen sowie auf Erfahrungen von Familien <strong>in</strong> unter-<br />

schiedlichen Lebenslagen <strong>und</strong> Erziehungssituationen<br />

e<strong>in</strong>gehen, die Familie zur Mitarbeit <strong>in</strong> Erziehungse<strong>in</strong>rich-<br />

tungen <strong>und</strong> <strong>in</strong> Formen der Selbst- <strong>und</strong> Nachbarschafts-<br />

hilfe besser befähigen sowie junge Menschen auf Ehe,<br />

Partnerschaft <strong>und</strong> das Zusammenleben mit K<strong>in</strong>dern vor-<br />

bereiten,<br />

2. Angebote der Beratung <strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>en Fragen der Erzie-<br />

hung <strong>und</strong> Entwicklung junger Menschen,<br />

3. Angebote der Familienfreizeit <strong>und</strong> der Familienerholung,<br />

<strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> belastenden Familiensituationen, die bei<br />

Bedarf die erzieherische Betreuung der K<strong>in</strong>der e<strong>in</strong>schlie-<br />

ßen.<br />

(3) Das Nähere über Inhalt <strong>und</strong> Umfang der Aufgaben regelt das Lan-<br />

desrecht.<br />

Strafgesetzbuch (StGB)<br />

§ 13<br />

Begehen durch Unterlassen<br />

Wer es unterlässt, e<strong>in</strong>en Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand e<strong>in</strong>es<br />

Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn<br />

er rechtlich da<strong>für</strong> e<strong>in</strong>zustehen hat, dass der Erfolg nicht e<strong>in</strong>tritt, <strong>und</strong> das<br />

Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch<br />

e<strong>in</strong> Tun entspricht.<br />

§ 171<br />

Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht<br />

Wer se<strong>in</strong>e Fürsorge- oder Erziehungspflicht gegenüber e<strong>in</strong>er Person<br />

unter sechzehn Jahren gröblich verletzt <strong>und</strong> dadurch den Schutzbefoh-<br />

lenen <strong>in</strong> die Gefahr br<strong>in</strong>gt, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er körperlichen oder psychischen Ent-<br />

wicklung erheblich geschädigt zu werden, e<strong>in</strong>en krim<strong>in</strong>ellen Lebens-<br />

wandel zu führen oder der Prostitution nachzugehen, wird mit Freiheits-<br />

strafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.<br />

69


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

§ 176<br />

Sexueller Missbrauch von K<strong>in</strong>dern<br />

(1) Wer sexuelle Handlungen an e<strong>in</strong>er Person unter vierzehn Jahren<br />

(K<strong>in</strong>d) vornimmt oder an sich von dem K<strong>in</strong>d vornehmen lässt, wird mit<br />

Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft.<br />

(2) Ebenso wird bestraft, wer e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d dazu bestimmt, dass es sexuelle<br />

Handlungen an e<strong>in</strong>em Dritten vornimmt oder von e<strong>in</strong>em Dritten an sich<br />

vornehmen lässt.<br />

(3) In besonders schweren Fällen ist auf Freiheitsstrafe nicht unter ei-<br />

nem Jahr zu erkennen.<br />

(4) Mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren wird bestraft,<br />

wer<br />

70<br />

1. sexuelle Handlungen vor e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>d vornimmt,<br />

2. e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen an sich<br />

vornimmt,<br />

3. auf e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d durch Schriften (§ 11 Abs. 3) e<strong>in</strong>wirkt, um es zu se-<br />

xuellen Handlungen zu br<strong>in</strong>gen, die es an oder vor dem Täter<br />

oder e<strong>in</strong>em Dritten vornehmen oder von e<strong>in</strong>em Täter oder e<strong>in</strong>em<br />

Dritten an sich vornehmen lassen soll, oder<br />

4. auf e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d durch Vorzeigen pornografischer Abbildungen oder<br />

Darstellungen, durch Abspielen von Tonträgern pornografischen<br />

Inhalts oder durch entsprechende Reden e<strong>in</strong>wirkt.<br />

(5) Mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren wird bestraft,<br />

wer e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Tat nach den Absätzen 1 bis 4 anbietet oder nach-<br />

zuweisen verspricht oder wer sich mit e<strong>in</strong>em anderen zu e<strong>in</strong>er solchen<br />

Tat verabredet.<br />

(6) Der Versuch ist strafbar; dies gilt nicht <strong>für</strong> Taten nach Absatz 4 Nr. 3<br />

<strong>und</strong> 4 <strong>und</strong> Absatz 5.<br />

§ 176 a<br />

Schwerer sexueller Missbrauch von K<strong>in</strong>dern<br />

(1) Der sexuelle Missbrauch von K<strong>in</strong>dern wird <strong>in</strong> den Fällen des § 176<br />

Abs. 1 <strong>und</strong> 2 mit Freiheitsstrafe nicht unter e<strong>in</strong>em Jahr bestraft, wenn<br />

der Täter <strong>in</strong>nerhalb der letzten fünf Jahre wegen e<strong>in</strong>er solchen Straftat<br />

rechtskräftig verurteilt worden ist.<br />

(2) Der sexuelle Missbrauch von K<strong>in</strong>dern wird <strong>in</strong> den Fällen des § 176<br />

Abs. 1 <strong>und</strong> 2 mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren bestraft, wenn


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

1. e<strong>in</strong>e Person über achtzehn Jahren mit dem K<strong>in</strong>d den Beischlaf<br />

vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an ihm vornimmt<br />

oder sich von ihm vornehmen lässt, die mit e<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen <strong>in</strong><br />

den Körper verb<strong>und</strong>en s<strong>in</strong>d,<br />

2. die Tat von mehreren geme<strong>in</strong>schaftlich begangen wird oder<br />

3. der Täter das K<strong>in</strong>d durch die Tat <strong>in</strong> die Gefahr e<strong>in</strong>er schweren<br />

Ges<strong>und</strong>heitsschädigung oder e<strong>in</strong>er erheblichen Schädigung der<br />

körperlichen oder seelischen Entwicklung br<strong>in</strong>gt.<br />

(3) Mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren wird bestraft, wer <strong>in</strong> den<br />

Fällen des § 176 Abs. 1 bis 3, 4 Nr. 1 oder Nr. 2 oder des § 176 Abs. 6<br />

als Täter oder anderer Beteiligter <strong>in</strong> der Absicht handelt, die Tat zum<br />

Gegenstand e<strong>in</strong>er pornografischen Schrift (§ 11 Abs. 3) zu machen, die<br />

nach § 184b Abs. 1 bis 3 verbreitet werden soll.<br />

(4) In m<strong>in</strong>der schweren Fällen des Absatzes 1 ist auf Freiheitsstrafe von<br />

drei Monaten bis zu fünf Jahren, <strong>in</strong> m<strong>in</strong>der schweren Fällen des Absat-<br />

zes 2 auf Freiheitsstrafe von e<strong>in</strong>em Jahr bis zu zehn Jahren zu erken-<br />

nen.<br />

(5) Mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren wird bestraft, wer das K<strong>in</strong>d<br />

<strong>in</strong> den Fällen des § 176 Abs. 1 bis 3 bei der Tat körperlich schwer miss-<br />

handelt oder durch die Tat <strong>in</strong> die Gefahr des Todes br<strong>in</strong>gt.<br />

(6) In die <strong>in</strong> Absatz 1 bezeichnete Frist wird die Zeit nicht e<strong>in</strong>gerechnet,<br />

<strong>in</strong> welcher der Täter auf behördliche Anordnung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Anstalt ver-<br />

wahrt worden ist. E<strong>in</strong>e Tat, die im Ausland abgeurteilt worden ist, steht<br />

<strong>in</strong> den Fällen des Absatzes 1 e<strong>in</strong>er im Inland abgeurteilten Tat gleich,<br />

wenn sie nach deutschem Strafrecht e<strong>in</strong>e solche nach § 176 Abs. 1 o-<br />

der 2 wäre.<br />

§ 177<br />

Sexuelle Nötigung; Vergewaltigung<br />

(1) Wer e<strong>in</strong>e andere Person<br />

1. mit Gewalt,<br />

2. durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr <strong>für</strong> Leib <strong>und</strong> Leben o-<br />

der<br />

3. unter Ausnutzung e<strong>in</strong>er Lage, <strong>in</strong> der das Opfer der E<strong>in</strong>wirkung<br />

des Täters schutzlos ausgeliefert ist,<br />

nötigt, sexuelle Handlungen des Täters oder e<strong>in</strong>es Dritten an sich zu<br />

dulden oder an dem Täter oder e<strong>in</strong>em Dritten vorzunehmen, wird mit<br />

Freiheitsstrafe nicht unter e<strong>in</strong>em Jahr bestraft.<br />

71


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

(2) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht un-<br />

ter zwei Jahren. E<strong>in</strong> besonders schwerer Fall liegt <strong>in</strong> der Regel vor,<br />

wenn<br />

72<br />

1. der Täter mit dem Opfer den Beischlaf vollzieht oder ähnliche<br />

sexuelle Handlungen an dem Opfer vornimmt oder an sich von<br />

ihm vornehmen lässt, die dieses besonders erniedrigen, <strong>in</strong>sbe-<br />

sondere, wenn sie mit e<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>driongen <strong>in</strong> den Körper verbun-<br />

den s<strong>in</strong>d (Vergewaltigung), oder<br />

2. die Tat von mehreren geme<strong>in</strong>schaftlich begangen wird.<br />

(3) Auf Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren ist zu erkennen, wenn der<br />

Täter<br />

1. e<strong>in</strong>e Waffe oder e<strong>in</strong> anderes gefährliches Werkzeug bei sich<br />

führt,<br />

2. sonst e<strong>in</strong> Werkzeug oder Mittel bei sich führt, um den Wider-<br />

stand e<strong>in</strong>er anderen Person durch Gewalt oder Drohung mit<br />

Gewalt zu verh<strong>in</strong>dern oder zu überw<strong>in</strong>den, oder<br />

3. das Opfer durch die Tat <strong>in</strong> die Gefahr e<strong>in</strong>er schweren Ges<strong>und</strong>heitsschädigung<br />

br<strong>in</strong>gt.<br />

(4) Auf Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren ist zu erkennen, wenn der<br />

Täter<br />

§ 225<br />

1. bei der Tat e<strong>in</strong>e Waffe oder e<strong>in</strong> anderes gefährliches Werkzeug<br />

verwendet oder<br />

2. das Opfer<br />

a) bei der Tat körperlich schwer misshandelt oder<br />

b) durch die Tat <strong>in</strong> die Gefahr des Todes br<strong>in</strong>gt.<br />

Misshandlung von Schutzbefohlenen<br />

(1) Wer e<strong>in</strong>e Person unter achtzehn Jahren oder e<strong>in</strong>e wegen Gebrech-<br />

lichkeit oder Krankheit wehrlose Person, die<br />

1. se<strong>in</strong>er Fürsorge oder Obhut untersteht,<br />

2. se<strong>in</strong>em Hausstand angehört,<br />

3. von dem Fürsorgepflichtigen se<strong>in</strong>er Gewalt überlassen<br />

worden oder<br />

4. ihm im Rahmen e<strong>in</strong>es Dienst- oder Arbeitsverhältnisses<br />

untergeordnet ist,<br />

quält, roh misshandelt, oder wer durch böswillige Vernachlässigung sei-<br />

ner Pflicht, <strong>für</strong> sie zu sorgen, nicht nachkommt, wird mit Freiheitsstrafe<br />

von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft.<br />

(2) Der Versuch ist strafbar.


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

(3) Auf Freiheitsstrafe nicht unter e<strong>in</strong>em Jahr ist zu erkennen, wenn der<br />

Täter die schutzbefohlene Person durch die Tat <strong>in</strong> die Gefahr<br />

5. des Todes oder e<strong>in</strong>er schweren Ges<strong>und</strong>heitsschädigung<br />

oder<br />

6. e<strong>in</strong>er erheblichen Schädigung der körperlichen oder see-<br />

lischen Entwicklung br<strong>in</strong>gt.<br />

Gesetz über die öffentliche Sicherheit <strong>und</strong> Ordnung<br />

<strong>in</strong> Mecklenburg-Vorpommern (SOG M-V )<br />

§ 7<br />

(1) Die Polizei hat Gefahren <strong>für</strong> die öffentliche Sicherheit oder Ordnung<br />

festzustellen <strong>und</strong> aus gegebenem Anlass zu ermitteln.<br />

(3) Die Polizei hat im E<strong>in</strong>zelfall zur Abwehr von Gefahren <strong>für</strong> die öffentli-<br />

che Sicherheit oder Ordnung selbständig diejenigen Maßnahmen zu<br />

treffen, die sie nach pflichtgemäßem Ermessen <strong>für</strong> unaufschiebbar hält.<br />

(4) Die Polizei hat im Rahmen der Gefahrenabwehr auch Straftaten zu<br />

verhüten <strong>und</strong> <strong>für</strong> die Verfolgung künftiger Straftaten vorzusorgen ( vor-<br />

beugende Bekämpfung von Straftaten ) sowie andere Vorbereitungen<br />

zu treffen, um künftige Gefahren abwehren zu können.<br />

Strafprozessordnung (StPO)<br />

§ 163<br />

(1) Die Behörden <strong>und</strong> Beamten des Polizeidienstes haben Straftaten zu<br />

erforschen <strong>und</strong> alle ke<strong>in</strong>en Aufschub gestattenden Anordnungen zu tref-<br />

fen, um die Verdunklung der Sache zu verhüten. Zu diesem Zweck s<strong>in</strong>d<br />

sie befugt, alle Behörden um Auskunft zu ersuchen, bei Gefahr im Ver-<br />

zug auch, die Auskunft zu verlangen, sowie Ermittlungen jeder Art vor-<br />

zunehmen, soweit nicht andere gesetzliche Vorschriften ihre Befugnisse<br />

besonders regeln<br />

UN-K<strong>in</strong>derrechtskonvention<br />

Artikel 19<br />

(1) Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzge-<br />

bungs-, Verwaltungs-, Sozial- <strong>und</strong> Bildungsmaßnahmen, um das K<strong>in</strong>d<br />

vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Scha-<br />

denszufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachläs-<br />

sigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung e<strong>in</strong>schließlich des<br />

sexuellen Missbrauchs zu schützen, solange es sich <strong>in</strong> der Obhut der<br />

Eltern oder e<strong>in</strong>es Elternteils, e<strong>in</strong>es Vorm<strong>und</strong>s oder anderen gesetzlichen<br />

Vertreters oder e<strong>in</strong>er anderen Person bef<strong>in</strong>det, die das K<strong>in</strong>d betreut.<br />

73


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

(2) Diese Schutzmaßnahmen sollen je nach den Gegebenheiten wirk-<br />

same Verfahren zur Aufstellung von Sozialprogrammen enthalten, die<br />

dem K<strong>in</strong>d <strong>und</strong> denen, die es betreuen, die erforderliche Unterstützung<br />

gewähren <strong>und</strong> andere Formen der Vorbeugung vorsehen sowie Maß-<br />

nahmen zur Aufdeckung, Meldung, Weiterverweisung, Untersuchung,<br />

Behandlung <strong>und</strong> Nachbetreuung <strong>in</strong> den <strong>in</strong> Absatz 1 beschriebenen Fäl-<br />

len schlechter Behandlung von K<strong>in</strong>dern <strong>und</strong> gegebenenfalls <strong>für</strong> das E<strong>in</strong>-<br />

schreiten der Gerichte.<br />

Gesetz über den öffentlichen Ges<strong>und</strong>heitsdienst im<br />

Land Mecklenburg-Vorpommern<br />

§ 15<br />

K<strong>in</strong>der- <strong>und</strong> Jugendärztlicher Dienst<br />

(1) Die Ges<strong>und</strong>heitsämter bieten Säugl<strong>in</strong>gs-, K<strong>in</strong>der- <strong>und</strong> Jugendbera-<br />

tung ergänzend zu vorhandenen E<strong>in</strong>richtungen an. Besonders gefährde-<br />

te Säugl<strong>in</strong>ge, K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendliche sollen aufgesucht werden, um<br />

ihnen oder ihren Personensorgeberechtigten Beratung anzubieten.<br />

(2) Die Ges<strong>und</strong>heitsämter führen bei K<strong>in</strong>dern vor der E<strong>in</strong>schulung sowie<br />

während der Schulzeit regelmäßig Untersuchungen mit dem Ziel durch,<br />

Krankheiten <strong>und</strong> Fehlentwicklungen frühzeitig zu erkennen <strong>und</strong> den Ge-<br />

s<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Entwicklungsstand der K<strong>in</strong>der festzustellen, soweit dies<br />

<strong>für</strong> schulische Entscheidungen bedeutsam ist. Die K<strong>in</strong>der haben an den<br />

notwendigen Untersuchungen teilzunehmen <strong>und</strong> an ihnen mitzuwirken;<br />

ihre Personensorgeberechtigten haben die Untersuchungen zu ermögli-<br />

chen.<br />

(3) Das Sozialm<strong>in</strong>isterium wird ermächtigt, im E<strong>in</strong>vernehmen mit dem <strong>für</strong><br />

Bildung zuständigen M<strong>in</strong>isterium durch Rechtsverordnung Art, Umfang<br />

<strong>und</strong> Zeitpunkte der Untersuchungen nach Absatz 2 sowie die Art der<br />

statistischen Auswertung festzulegen.<br />

(4) Werden Krankheiten oder Fehlentwicklungen festgestellt, vermitteln<br />

die Ges<strong>und</strong>heitsämter <strong>in</strong> Zusammenarbeit mit den Leistungs- <strong>und</strong> Kos-<br />

tenträgern geeignete Hilfen e<strong>in</strong>schließlich Rehabilitations- <strong>und</strong> Kurmaß-<br />

nahmen.<br />

(5) Die Ges<strong>und</strong>heitsämter bieten die öffentlich empfohlenen Impfungen<br />

<strong>in</strong> K<strong>in</strong>dertagese<strong>in</strong>richtungen <strong>und</strong> Schulen an.<br />

(6) Die Ges<strong>und</strong>heitsämter beraten Personen, die beruflich Säugl<strong>in</strong>ge,<br />

K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendliche betreuen oder erziehen, <strong>in</strong> ges<strong>und</strong>heitlichen<br />

Fragen.<br />

74


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

7 Literaturverzeichnis<br />

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76


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77


<strong>Leitfaden</strong> Gewalt gegen K<strong>in</strong>der Mecklenburg-Vorpommern<br />

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Internetseite des Informationszentrums K<strong>in</strong>desmisshand-<br />

lung/K<strong>in</strong>desvernachlässigung (IKK) des Deutschen Jugend<strong>in</strong>stituts (DJI)<br />

München<br />

www.k<strong>in</strong>desmisshandlung.de<br />

Internetseite der Ärztlichen K<strong>in</strong>derschutzambulanz K<strong>in</strong>derkl<strong>in</strong>ik des Kli-<br />

nikum Kassel <strong>in</strong> Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft gegen<br />

K<strong>in</strong>desmisshandlung <strong>und</strong> -vernachlässigung (DGgKV) e.V.<br />

www.k<strong>in</strong>derschutz.de<br />

Internetseite des Instituts <strong>für</strong> soziale Arbeit (ISA) e.V., Münster<br />

www.fruehehilfen.de<br />

Internetseite der B<strong>und</strong>eszentrale <strong>für</strong> ges<strong>und</strong>heitliche Aufklärung (BZgA)<br />

<strong>und</strong> des Deutschen Jugend<strong>in</strong>stituts (DJI)<br />

Deutsche Leitl<strong>in</strong>ien www.uni-duesseldorf.de/AWMF/awmfleit.htm<br />

AWMF onl<strong>in</strong>e = Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft der Wissenschaftlichen Medi-<br />

z<strong>in</strong>ischen Fachgesellschaften<br />

Leitl<strong>in</strong>ien der Deutschen Gesellschaft <strong>für</strong> K<strong>in</strong>der- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrie<br />

<strong>und</strong> -psychotherapie zu Vernachlässigung, Misshandlung, sexueller<br />

Missbrauch (Stand 1999, überarbeitet 2003)<br />

www.uni-duesseldorf.de/AWMF/ll/028-034.htm<br />

Leitl<strong>in</strong>ien der Deutschen Gesellschaft <strong>für</strong> Sozialpädiatrie <strong>und</strong> Jugend-<br />

mediz<strong>in</strong> zu Vernachlässigung <strong>und</strong> K<strong>in</strong>desmisshandlung (Stand 2002,<br />

Überarbtg. geplant 2007)<br />

www.uni-duesseldorf.de/AWMF/ll/071-003.htm<br />

Leitl<strong>in</strong>ien <strong>für</strong> Bildgebende Diagnostik der Gesellschaft <strong>für</strong> Pädiatrische<br />

Radiologie zu K<strong>in</strong>desmisshandlung (Stand 2001, überarbeitet 2004,<br />

Überarbtg. geplant 12/2007)<br />

www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF/ll/064-014.htm<br />

78


Dokumentationshilfen<br />

(Verdacht auf)<br />

K<strong>in</strong>desmisshandlung,<br />

Vernachlässigung,<br />

sexueller Missbrauch<br />

H<strong>in</strong>weis:<br />

Die folgenden Seiten können Sie als Kopiervorlage verwenden


Dokumentation:<br />

(Verdacht auf) K<strong>in</strong>desmisshandlung / Vernachlässigung /<br />

sexueller Missbrauch<br />

Der Dokumentationsbogen entstand <strong>in</strong> Zusammenarbeit mit dem Institut <strong>für</strong> Rechtsmediz<strong>in</strong>,<br />

Prof. Dr. K. Püschel <strong>und</strong> Prof. Dr. E. Miltner.<br />

Personalien des K<strong>in</strong>des (ggf. Adressen-Abdruck)<br />

Familienname: ________________________________<br />

Vorname: ________________________________<br />

Geburtsdatum: ________________________________<br />

Adresse: ________________________________<br />

1. Kurze Sachverhaltsschilderung<br />

Anlass des Arztbesuchs, Vorfallszeit, Hergang, Art der Gewalt<br />

2. Untersuchungsbef<strong>und</strong>e<br />

(Praxisstempel)<br />

Allgeme<strong>in</strong>zustand<br />

Größe, Gewicht; Auffälligkeiten bzgl. Ernährungszustand, Pflegezustand, Entwicklung, Bekleidung


Haut<br />

– Detaillierte Dokumentation, Vermessung, genaue Angabe der Lokalisation, erkennbare Formung <strong>und</strong><br />

Alterse<strong>in</strong>schätzung aller Verletzungen – Rötungen, Schwellungen, Hämatome, Abschürfungen, W<strong>und</strong>en,<br />

Schleimhautläsionen z. B. im M<strong>und</strong> – <strong>in</strong>sbesondere z. B. Doppelstriemen, Griffspuren, Bissmarken, petechiale<br />

Lid- <strong>und</strong> B<strong>in</strong>dehautblutungen.<br />

– Skizze verwenden.<br />

– Wenn möglich Fotos mit Maßstab.<br />

– Verborgene Läsionen beachten, z. B. am behaarten Kopf.<br />

Innere Verletzungen<br />

– Innere Blutungen, Organverletzungen, Frakturen.<br />

– Röntgenologische Bef<strong>und</strong>e, evtl. Ultraschall, CT, Knochensz<strong>in</strong>tigraphie.<br />

– Altersschätzung, <strong>in</strong>sbes. von Frakturen.<br />

– H<strong>in</strong>weise auf Schütteltrauma? Augenh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>sveränderungen?<br />

– Neurologische Auffälligkeiten.<br />

Genitale / anale Bef<strong>und</strong>e<br />

– Frische Verletzungen, Narben, Entzündungszeichen.<br />

– Hymenalbef<strong>und</strong> (Öffnung normal bis 0,5 cm im 5. Lebensjahr).<br />

– Evtl. k<strong>in</strong>dergynäkologische Untersuchung!


3. Skizzen zur Bef<strong>und</strong>dokumentation:<br />

Ganzkörperschema<br />

Genital-/Analregion


4. Verhaltensauffälligkeiten beim K<strong>in</strong>d, psychischer Bef<strong>und</strong>; soziale Situation<br />

Psyche, Verhalten<br />

z. B. situationsgerechtes Verhalten<br />

– überängstlich, überangepasst, verschlossen<br />

– eigenartig unbeweglich, beobachtend (sog. „frozen watchfulness“)<br />

– „sexualisiertes“ Verhalten, ungewöhnlicher Wortschatz<br />

– H<strong>in</strong>weise auf Essstörungen<br />

– evtl. Alkohol-/Drogen-/Medikamentene<strong>in</strong>fluss?<br />

Soziale / familiäre Verhältnisse<br />

z. B. Anzahl Geschwister, bekannte Misshandlungsproblematik<br />

– Erziehungsberechtigte(r), Elternhaus<br />

– Berufstätigkeit (evtl. Arbeitslosigkeit), Wohnverhältnisse<br />

5. Auffälligkeiten bei den Eltern / der Begleitperson<br />

z. B. Wer kommt mit dem K<strong>in</strong>d zum Arzt, Motivation<br />

– Zeitverzögerung bzw. ungewöhnliche Tageszeit des Arztbesuchs<br />

– ungewöhnliches Besorgnis-Verhalten<br />

– Diskrepanz zwischen Erklärung der Verletzungsursachen <strong>und</strong> Bef<strong>und</strong><br />

– Verschweigen früherer Verletzungen<br />

– häufiger Arztwechsel<br />

– Alkohol / Drogenproblem von Bezugspersonen


6. Diagnose / Differentialdiagnose<br />

Anfangsverdacht Diagnose<br />

körperliche Misshandlung m m<br />

sexueller Missbrauch m m<br />

Vernachlässigung m m<br />

seelische Misshandlung m m<br />

Sonstige Differentialdiagnose<br />

z. B. Ger<strong>in</strong>nungsstörung, Stoffwechselstörung, Malabsorption, Unfall (evtl. wiederholt)<br />

7. Spurensicherung (bei akuten, schwerwiegenden Fällen)<br />

Die Spurensicherungsmaßnahmen sollten generell so früh wie möglich (vor Re<strong>in</strong>igungsmaßnahmen) durchgeführt<br />

werden, am Körper spätestens <strong>in</strong>nerhalb 24 bis 48 St<strong>und</strong>en. Trockene Sekretspuren an Kleidungsstücken oder<br />

anderen Spurenträgern s<strong>in</strong>d auch länger verwertbar.<br />

– Rückfrage ggf. – je nach Sachlage – beim Institut <strong>für</strong> Rechtsmediz<strong>in</strong> oder im Landeskrim<strong>in</strong>alamt.<br />

– E<strong>in</strong>sendung z. B. an das Institut <strong>für</strong> Rechtsmediz<strong>in</strong><br />

Durchgeführte Sicherungsart bitte ankreuzen: ⊗<br />

am Körper z. B. Blut-/Sekretspuren vom Täter (F<strong>in</strong>gernägel ggf. durch Krim<strong>in</strong>altechnik)<br />

Sicherungsart: – Mulltupfer mit Wasser anfeuchten <strong>und</strong> Spur aufnehmen<br />

– Neutralprobe von nicht verschmutztem Hautbereich nehmen, beide Mulltupfer<br />

– getrennt verpacken (Plastikdose)<br />

Schamhaare sichern m<br />

Sicherungsart: – mit Kamm auskämmen<br />

– ca. 10–20 Vergleichsschamhaare des Opfers kurz über der Haut abschneiden<br />

<strong>und</strong> getrennt verpacken<br />

Abstriche – Vag<strong>in</strong>a m<strong>in</strong>. 2 Abstriche (Introitus-Bereich, Vag<strong>in</strong>alkanal <strong>und</strong> -gewölbe, evtl. Zervikalkanal)<br />

– ggf. M<strong>und</strong> <strong>und</strong> Anus, je nach Sachverhalt<br />

Sicherungsart: – Mulltupfer (bitte getrennt verpacken <strong>und</strong> mit Entnahmeregion kennzeichnen),<br />

Lufttrocknung<br />

– möglichst zusätzlich Objektträger (nicht zudeckeln)<br />

sonstige Spurenträger m<br />

z. B. Slip, ggf. Tampon oder B<strong>in</strong>de<br />

8. Procedere<br />

z. B. Wiedere<strong>in</strong>bestellung<br />

weitere Consiliaruntersuchungen<br />

Krankenhause<strong>in</strong>weisung<br />

Meldung → Soziale Dienste, K<strong>in</strong>derschutzb<strong>und</strong>, sonstige Institution<br />

m<br />

m


Rückantwortbogen <strong>für</strong> <strong>Ärzte</strong> <strong>und</strong> Psychologen<br />

Wichtige H<strong>in</strong>weise: Bitte leserlich schreiben! Denn jede fasche Zahl oder jeder<br />

falsche Ansprechpartner kann die Suche des K<strong>in</strong>des im Ernstfall beh<strong>in</strong>dern<br />

oder unmöglich machen.<br />

Landkreis:<br />

Fachgebiet:<br />

Titel:<br />

Vorname:<br />

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Straße:<br />

PLZ <strong>und</strong> Ort:<br />

Telefon:<br />

Fax:<br />

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Bitte senden Sie diesen Bogen an folgende Adresse zurück:<br />

<strong>Techniker</strong> <strong>Krankenkasse</strong><br />

Landesvertretung Mecklenburg-Vorpommern<br />

Werderstr. 74c<br />

19055 Schwer<strong>in</strong><br />

oder per Fax an:<br />

0385-7609-200


Rückantwortbogen <strong>für</strong> <strong>Institutionen</strong>, Ämter, Vere<strong>in</strong>e,<br />

Frauenhäuser, Krim<strong>in</strong>aldienste, Notrufe<br />

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