Entwurf_Titel_2 1..1 - Anwaltsblatt - Deutscher Anwaltverein
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<strong>Deutscher</strong>AnwaltVerein<br />
A11041<br />
Aufsätze<br />
Rechtsanwaltschaft unter<br />
Modernisierungszwang (Hommerich) 453<br />
Berufsrecht: Harmonisierung durch<br />
Deregulierung? (Henssler) 458<br />
Kommentar<br />
Schluss mit lustig, liebe Versicherer<br />
(Jansen) 469<br />
Thema<br />
Umfrage: Parteien zum Rechtsberatungsgesetz 470<br />
Anwaltstag 2004<br />
Sicherheit und Ordnung auf Kosten<br />
der Freiheit? (Geißler) 474<br />
Mitteilungen<br />
1. JuMoG (Hirtz und Sommer) 503<br />
RVG – Frage des Monats 511<br />
Rechtsprechung<br />
BVerfG: Auswahl von Anwaltsnotaren<br />
(mit Anmerkung Kleine-Cosack) 519<br />
OLG Nürnberg: Werbung mit Umsatzzahlen 526<br />
8 + 9/2004<br />
September <strong>Deutscher</strong>AnwaltVerlag
EDITORIAL<br />
Anwaltschaft<br />
und Rechtswissenschaft<br />
Rechtsanwalt Hartmut Kilger, Präsident<br />
des Deutschen <strong>Anwaltverein</strong>s<br />
Ludwig Koch ist einer der wenigen<br />
Anwälte, denen der Doktortitel honoris<br />
causa zuerkannt worden ist. Im<br />
Juni 70 Jahre alt geworden, galt dem<br />
ehemaligen Präsidenten des Deutschen<br />
<strong>Anwaltverein</strong>s eine akademische Feier<br />
an der Universität zu Köln. Vier Professoren<br />
sprachen zu aktuellen Fragen<br />
des Berufsrechts. Ihre Vorträge sind in<br />
diesem Heft vereinigt.<br />
Dies ist ein guter Anlass über das<br />
Verhältnis der Anwaltschaft zur<br />
Rechtswissenschaft nachzudenken. Hat<br />
doch jede Rechtsanwältin und jeder<br />
Rechtsanwalt ein rechtswissenschaftliches<br />
Studium absolviert. Soweit so gut<br />
und altvertraut – also selbstverständlich.<br />
Wirklich selbstverständlich? Der<br />
Anwalt ist ein Mann der Tat! Er ist<br />
Praktiker! Warum sollten nicht andere<br />
Abschlüsse (z. B. von Fachhochschulen)<br />
zum Anwaltsberuf ausreichen?<br />
Was halten wir entgegen? Was ist<br />
Wissenschaft? Lesebrille und Studierstübchen?<br />
Nein: Geisteswissenschaft<br />
dient der Bildung der Persönlichkeit.<br />
„Universitas“ hat ihren Sinn.<br />
Wir Rechtsanwälte sind mehr als bloße<br />
Paragraphenanwender. Es muss – im<br />
Interesse der Menschen – dabei bleiben,<br />
dass rechtwissenschaftlich ausgebildet<br />
ist, wer Recht anwenden soll.<br />
Halt! Schallt es entgegen. Findet<br />
denn an den Universitäten eine rechtwissenschaftliche<br />
Ausbildung überhaupt<br />
noch statt? Natürlich, heißt die<br />
Antwort. Nur leider: sie erreicht nicht<br />
mehr alle. Wer freischussgerecht studiert,<br />
wird den Anspruch der Universitas<br />
wohl nicht mehr erfüllen. Das ist<br />
ein Übelstand, der behoben werden<br />
muss. Aber er rechtfertigt nicht, Abschlüsse<br />
zuzulassen, die von vorn herein<br />
auf Rechtswissenschaft verzichten!<br />
Bachelor-Abschlüsse, inzwischen<br />
auch für Jura im Gespräch, können,<br />
wenn sie kein rechtswissenschaftliches<br />
Curriculum enthalten, keinesfalls zum<br />
Anwalt qualifizieren.<br />
Das heißt: Anwaltschaft und rechtswissenschaftliche<br />
Fakultäten sind natürliche<br />
Verbündete beim Kampf gegen<br />
eine Entwissenschaftlichung des<br />
I<br />
MN<br />
Rechtswesens – zusammen mit den anderen<br />
Berufsgruppen, die von Volljuristen<br />
gestellt werden. Nur gemeinsam<br />
können wir verhindern, dass man<br />
uns zu Rechtsanwendungsingenieuren<br />
degradiert. So verstanden macht es<br />
auch einen Sinn, wenn heute allenthalben<br />
von einer „anwaltsorientierten“<br />
Juristenausbildung gesprochen wird.<br />
Insoweit kann die Ausbildungsreform<br />
des letzten Jahres auch wirklich etwas<br />
bewirken.<br />
Erstens: die Förderung der Wissenschaft<br />
vom Recht des Anwalts muss<br />
oberste Priorität haben. Was – mit<br />
Ludwig Kochs Hilfe – am Institut für<br />
Anwaltsrecht der Universität zu Köln<br />
geschaffen worden ist, ist vorbildhaft.<br />
Zweitens: Rechtswissenschaft muss<br />
aber auch in der Lehre wieder die ihre<br />
zukommende Geltung erlangen. Es<br />
darf nicht bloß „praxisbezogen“<br />
geprüft werden.<br />
Drittens: Das Studium bildet nicht<br />
Anwälte aus. Das bedeutet: nach der<br />
Ersten juristischen Prüfung wird die<br />
praktische Ausbildung zum Anwalt<br />
(wie zu den anderen Berufen) weiterhin<br />
erforderlich sein. Nach dem Studium<br />
sollte aber jeder in der Lage sein,<br />
zu entscheiden, welchen Beruf er ergreifen<br />
will.<br />
Viertens: Rechtswissenschaft können<br />
nur Rechtswissenschaftler sinnvoll<br />
vermitteln. Wir Anwälte sollten uns<br />
auf diesem Feld zurückhalten.<br />
Im Ergebnis: nicht nur Berührungspunkte<br />
zwischen Anwaltschaft und<br />
Rechtswissenschaft. Sondern eine gemeinsame<br />
Option für eine sinnvolle<br />
Zukunft. Wir müssen uns alle mehr als<br />
bisher einer sachgerechten Zusammenarbeit<br />
mit den Universitäten widmen.<br />
Wie man das leistet, hat Ludwig Koch<br />
in seinem Bereich bereits vorgemacht.
Editorial<br />
I Anwaltschaft und Rechtswissenschaft<br />
Rechtsanwalt Hartmut Kilger, Präsident des<br />
Deutschen <strong>Anwaltverein</strong>s<br />
Bericht aus Berlin<br />
IV Sommerliche Schnellschüsse<br />
Bettina Mävers, Berlin<br />
Aufsätze<br />
453 Die Rechtsanwaltschaft unter Modernisierungszwang<br />
Prof. Dr. Christoph Hommerich, Bergisch-Gladbach<br />
458 Das Berufsbild des europäischen Rechtsanwalts –<br />
Harmonisierung durch Deregulierung?<br />
Prof. Dr. Martin Henssler, Köln<br />
463 Die Unabhängigkeit des Rechtsanwalts<br />
Prof. Dr. Barbara Grunewald, Köln<br />
466 Die Reform des Rechtsberatungsgesetzes<br />
Prof. Dr. Hanns Prütting, Köln<br />
Kommentar<br />
469 Schluss mit lustig, liebe Versicherer<br />
Rechtsanwalt Justizrat Friedrich Jansen, Neuwied<br />
Thema<br />
470 Wie hält es die Politik mit dem Rechtsberatungsgesetz?<br />
<strong>Anwaltsblatt</strong>-Umfrage bei den rechtspolitischen<br />
Sprechern der Bundestagsfraktionen<br />
Interview<br />
472 Sanktionsbewehrung der Fortbildungspflicht<br />
Interview mit Rechtsanwalt und Notar Johann<br />
Günter Knopp, Präsident der RAK Frankfurt/M.<br />
Gastkommentar<br />
473 Rechtschutzversicherungen – Kein Muss für den<br />
Verbraucher<br />
Johannes Plott, FINANZtest<br />
Anwaltstag 2004<br />
474 Sicherheit und Ordnung auf Kosten der Freiheit?<br />
Festvortrag von Dr. Heiner Geißler, Bundesminister<br />
a.D., auf der Zentralveranstaltung<br />
480 DAV-Rednerwettstreit: Sind Anwälte „Edel und<br />
Star(c)k“?<br />
Rechtsanwalt Dr. Friedrich Blase, Frankfurt/M.<br />
482 Zwischenruf: Einsatz für verfolgte Berufskollegen<br />
Rechtsanwalt Gerhart R. Baum, Bundesminister<br />
a. D., Köln<br />
Rechtsanwälte und Menschenrechte<br />
Rechtsanwalt Dr. Konstantin Thun, Freiburg<br />
483 Anwaltstag 2004 mit großer Medienresonanz<br />
Rechtsanwalt Swen Walentowski, Berlin<br />
484 Treffpunkt Anwaltstag 2004<br />
Im Auftrag des Deutschen <strong>Anwaltverein</strong>s<br />
herausgegeben von den Rechtsanwälten:<br />
Felix Busse<br />
Dr. Michael Kleine-Cosack<br />
Wolfgang Schwackenberg<br />
Redaktion:<br />
Dr. Nicolas Lührig (Leitung)<br />
Dr. Peter Hamacher<br />
Udo Henke<br />
Rechtsanwälte<br />
Aus der Arbeit des DAV<br />
486 Spitzengespräch mit dem FDP-Präsidium<br />
Janine Kley, Berlin<br />
487 Anwälte lehnen Großen Lauschangriff ab!<br />
Bremischer Anwaltsverein: 125-jähriges Jubiläum<br />
Rechtsanwalt Dieter Janssen, Bremen<br />
488 DAV gegen Zusammenlegung von Gerichtsbarkeiten<br />
<strong>Anwaltverein</strong> Stuttgart: Per Knopfdruck ins<br />
Landgericht Konstanz<br />
Rechtsanwältin Anke Haug, Stuttgart<br />
489 Anwaltverband Sachsen: 13. Anwaltstage<br />
Rechtsanwalt Svend-Gunnar Kirmes, Grimma<br />
Gründung eines <strong>Anwaltverein</strong>s in Großbritannien<br />
490 DAV-Gesetzgebungsausschüsse<br />
AG Anwaltsmanagement: Corporate<br />
Governance der Rechtsanwälte<br />
Rechtsanwalt Jürgen Schneider, Hamburg<br />
491 Deutsche Anwaltakademie: Das Weinrechtsseminar<br />
Rechtsanwalt Hans-Hermann Hieronimi, Koblenz<br />
492 AG Internationaler Rechtsverkehr: 2. Deutsch-<br />
Italienisches Seminar<br />
493 8. Deutsch-Französisches Seminar<br />
Rechtsanwalt Thomas Krümmel, Berlin<br />
494 AG Verkehrsrecht: Geschäftsbericht 2003/2004<br />
Rechtsanwalt JR Hans-Jürgen Gebhardt, Homburg/Saar<br />
495 ARGE Mietrecht und WEG: Mietrecht, Mietprozess<br />
und Reformbedarf im Wohnungseigentumsrecht<br />
Rechtsanwalt Udo Henke, Berlin<br />
496 AG Sozialrecht: Mitgliederversammlung<br />
AG Strafrecht: Mitgliederversammlung<br />
AG Familien- und Erbrecht: Mitgliederversammlung<br />
497 Personalien (u. a. Ehrung für Dr. h. c. Koch)<br />
DAV-Anwaltausbildung<br />
498 Ausbilden zum Anwalt: wichtig und richtig<br />
Rechtsanwalt Heinrich Potthast, Köln<br />
499 Newsletter für DAV-Ausbildungskanzleien<br />
Meinung & Kritik<br />
500 Anwalt – Priester – Arzt<br />
Rechtsanwalt Prof. Dr. Friedrich Graf von<br />
Westphalen, Köln<br />
501 Anwaltsmonopol, Verbraucherschutz,<br />
Verschwiegenheit<br />
Rechtsanwalt Niko Härting, Berlin<br />
502 Es geht nicht um bewusst kriminell tätige Kollegen<br />
Rechtsanwalt Matthias Schollen, Freiburg/Breisgau<br />
Mitteilungen<br />
Zivilprozessrecht<br />
503 Modernes Zivilverfahrensrecht? 1. JuMoG<br />
Rechtsanwalt Dr. Bernd Hirtz, Köln<br />
Strafprozessrecht<br />
506 Moderne Strafverteidigung 1. JuMoG<br />
Rechtsanwalt Dr. Ulrich Sommer, Köln
Syndikusanwälte<br />
509 Unternehmen prüfen Anwaltshonorare strenger<br />
Dr. Joachim Jahn, Frankfurt<br />
Anwaltsvergütung<br />
510 Anforderungen an Abrechnung nach dem RVG<br />
Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen<br />
511 RVG – Frage des Monats: Terminsgebühr vor<br />
Klageanhängigkeit?<br />
Rechtsanwalt Udo Henke, Berlin<br />
Anwaltspraxis<br />
512 Datenschutz im Anwaltsbüro<br />
Rechtsanwalt Jens Wagener, Berlin<br />
Internationales<br />
513 30. DACH-Tagung in Berlin<br />
Rechtsanwalt Jürgen Wagner, Konstanz/Zürich/Vaduz<br />
Anwaltsrecht<br />
514 Bücherschau: Rechtsberatung und Werberecht<br />
Rechtsanwalt Dr. Matthias Kilian, Köln<br />
Haftpflichtfragen<br />
516 Vom Umgang mit dem Haftpflichtversicherer<br />
Rechtsanwältin Kerstin Nieger, München<br />
518 § 61 InsO – BGH zu Grenzen der Verwalterhaftung<br />
Rechtsanwalt Alexander Weinbeer, München<br />
Rechtsprechung<br />
Berufsrecht<br />
519 BVerfG (1. Senat), Beschl. v. 20.4.2004 – 1 BvR<br />
838/01 u.a.: Verfassungswidrige Auswahl von<br />
Anwaltsnotaren mit Anmerkung von Rechtsanwalt<br />
Dr. Michael Kleine-Cosack, Freiburg/Br.<br />
525 BVerfG (2. Kamm. des 1. Senates), Beschl. v.<br />
28.04.2004 – 1 BvR 912/04: Sach- und Rechtslage<br />
bei Amtsenthebung von Notaren<br />
526 OLG Nürnberg, Urt. v. 22.6.2004 – 3 U 334/04:<br />
Werbung des Anwalts mit Umsatzzahlen zulässig<br />
Anwaltsvergütung<br />
527 BGH, Beschl. v. 27.4.2004 – VI ZB 64/03:<br />
Volle Gebühr bei Vertretung durch Assessor<br />
528 Fotonachweis, Impressum<br />
Auf dem Umschlag<br />
Jahrgang 54<br />
August/September 2004<br />
VI, VIII Informationen<br />
XXVI <strong>Deutscher</strong> Anwaltverlag aktuell<br />
XXXII Bücher & Internet<br />
XXXIV, XXXV Deutsche Anwaltakademie aktuell<br />
XXXVI DAV-Service<br />
Im nächsten Heft:<br />
9 Interprofessionelle Zusammenarbeit von Rechtsanwälten,<br />
Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern<br />
(Merkner und Pluskat)<br />
9 Das neue UWG (Sosnitza)
IV<br />
MN<br />
BERICHT AUS BERLIN<br />
Sommerliche Schnellschüsse<br />
Wohnraumüberwachung<br />
Fast sah es so aus, als würde die<br />
Rechtspolitik das eine oder andere<br />
Thema für die nachrichtenarme Sommerzeit<br />
liefern, als Bundesjustizministerin<br />
Brigitte Zypries kurz vor den Parlamentsferien<br />
mit ihren Entwürfen<br />
zum großen Lauschangriff – pardon:<br />
Wohnraumüberwachung – und zur<br />
Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts<br />
in die Schlagzeilen geriet.<br />
Fast: Die Wogen der Empörung<br />
schlugen zwar hoch, verebbten jedoch<br />
schnell wieder.<br />
Zurückgekehrt in die Schubladen<br />
des Justizministeriums – oder doch des<br />
Innenministeriums? – ist der Gesetzentwurf<br />
zur Wohnraumüberwachung.<br />
Er war von Politikern aller Parteien<br />
und in der Öffentlichkeit scharf kriti-<br />
Die Autorin:<br />
Bettina Mävers<br />
war als Journalistin<br />
u. a. für das<br />
Handelsblatt tätig<br />
und erhielt 2001<br />
den DAV-Pressepreis.<br />
siert worden, vor allem, weil das<br />
grundsätzliche Abhörverbot von Berufsgeheimnisträgern<br />
wie Rechtsanwälten<br />
für die Bedürfnisse der Strafverfolgung<br />
aufgeweicht werden sollte.<br />
Die strikte Ablehnung aus den Reihen<br />
von SPD und Grünen überraschte die<br />
Bundesjustizministerin offensichtlich,<br />
denn angeblich soll der <strong>Entwurf</strong> vor<br />
der Veröffentlichung in mehreren Sitzungen<br />
mit den Rechtspolitikern der<br />
Regierungsfraktionen besprochen und<br />
abgestimmt worden sein. Lediglich einige<br />
wenige Politiker der Unionsparteien<br />
begrüßten den Gesetzentwurf,<br />
die meisten Christdemokraten und -sozialen<br />
hatten sich allerdings ablehnend<br />
geäußert.<br />
Einmütig ist die Front der Unionsparteien<br />
allerdings beim Thema Lebenspartnerschaftsrecht:<br />
Vor allem die<br />
Stiefkindadoption durch gleichgeschlechtliche<br />
Lebenspartner lehnen die<br />
Konservativen ab.<br />
Wirklich überrascht haben diese<br />
Vorbehalte der Unionspolitiker wohl<br />
niemanden, und da deren Uneinigkeit<br />
in sozialpolitischen Fragen zurzeit wesentlich<br />
spannender und berichtens-<br />
werter ist, verschwand auch das<br />
Thema Lebenspartnerschaft schnell<br />
wieder aus den Schlagzeilen.<br />
Einigung zur Justizmodernisierung<br />
Überraschend, allerdings nicht von<br />
breitem Interesse und damit sommerthementauglich,<br />
war dagegen die plötzliche<br />
Einigung der Regierungsparteien<br />
und der CDU/CSU-Fraktion, das Justizmodernisierungsgesetz<br />
der Bundesregierung<br />
und das 1. Justizbeschleunigungsgesetz<br />
zusammenzuführen und<br />
es, damit sich auch alle wieder finden,<br />
1. Justizmodernisierungsgesetz zu nennen.<br />
Innerhalb kurzer Zeit wurde ein<br />
Gesetzentwurf zurechtgezimmert, der<br />
noch vor der Sommerpause von Bundestag<br />
und Bundesrat durchgewinkt<br />
wurde. Dabei blieb einiges aus dem<br />
<strong>Entwurf</strong> der Bundesregierung übrig,<br />
etwas weniger vom <strong>Entwurf</strong> der<br />
Union, und einiges fiel ganz unter den<br />
Tisch: Zum Beispiel der umstrittene<br />
Beweistransfer vom Strafurteil in den<br />
Zivilprozess, den beide Entwürfe, allerdings<br />
in unterschiedlicher Form,<br />
noch vorgesehen hatten (zum Inhalt<br />
des 1. Justizmodernisierungsgesetz<br />
siehe auch die Aufsätze von Hirtz und<br />
Sommer ab S. 503 in diesem Heft).<br />
Damit ist nach dem Kostenrechtsmodernisierungsgesetz<br />
ein weiteres<br />
Justizgesetz auf der Basis eines parteiübergreifenden<br />
Konsenses zwischen<br />
Bundestag und Bundesrat entstanden.<br />
Diese konsensuale Politik wird aber<br />
spätestens bei der von den Ländern geforderten<br />
Öffnungsklausel zur Zusammenlegung<br />
öffentlich-rechtlicher Fachgerichtsbarkeiten<br />
an ihre Grenzen<br />
stoßen: In einer gemeinsamen Erklärung<br />
plädierten die Sprecher der CDU/<br />
CSU-Fraktion für Rechts-, Innen-,<br />
Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik<br />
dagegen und damit gegen die Position<br />
auch der unionsgeführten Bundesländer.<br />
Da sich aber zumindest die Bundesjustizministerin<br />
schon einmal dafür<br />
ausgesprochen hat, werden die Abgeordneten<br />
von SPD und Grüne möglicherweise<br />
folgen, so dass die Mehrheit<br />
im Bundestag – im Bundesrat sowieso<br />
– gesichert wäre.<br />
Antidiskriminierung: Brüssel mahnt<br />
Im Juli kehrte sie doch noch einmal<br />
zurück in die Schlagzeilen, die Rechts-<br />
politik: Die EU-Kommission hat gegen<br />
Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren<br />
eingeleitet, weil zwei<br />
Antidiskriminierungsrichtlinien immer<br />
noch nicht umgesetzt wurden. Die<br />
Bundesjustizministerin hatte im Juni<br />
ein vorläufiges Konzept eines zivilrechtlichenAntidiskriminierungsgesetzes<br />
vorgelegt und einen Gesetzentwurf<br />
im Lauf des Sommers angekündigt.<br />
Noch im vergangenen Jahr hatte Frau<br />
Zypries erklärt, sie wolle lediglich die<br />
Richtlinie umsetzen. Der Diskussionsentwurf<br />
geht darüber insofern hinaus,<br />
als auch Diskriminierungen wegen Behinderung<br />
bei bestimmten Verträgen<br />
erfasst werden. Das dürfte noch nicht<br />
das letzte Wort gewesen sein: Es ist<br />
bekannt, dass die Grünen ein weitgehendes<br />
Diskriminierungsverbot im<br />
Zivilrecht verankern wollen und sowohl<br />
den persönlichen Anwendungsbereich<br />
über den von der Richtlinie<br />
verlangten Schutz vor rassischen oder<br />
ethnischen Benachteiligungen als auch<br />
den sachlichen Anwendungsbereich,<br />
also die Art der erfassten Verträge,<br />
ausdehnen wollen. Und es wird gemunkelt,<br />
dass den Grünen im Zusammenhang<br />
mit dem Zuwanderungsgesetz<br />
entsprechende Zugeständnisse<br />
gemacht worden seien.<br />
BGB: Neue Haftungsregelung<br />
Heimlich, still und leise hat der<br />
Bundestag vor der Sommerpause das<br />
Gesetz zur Änderung über Fernabsatzverträge<br />
bei Finanzdienstleistungen<br />
verabschiedet, das die entsprechende<br />
EG-Richtlinie umsetzt und Vorschriften<br />
für den Vertrieb von Finanzdienstleistungen<br />
via Telefon, Internet oder<br />
Fax enthält. Wie in den vergangenen<br />
Wochen bereits diskutiert, wurde mit<br />
diesem Gesetz auch eine Änderung<br />
der §§ 444 und 639 BGB beschlossen:<br />
das Wort wenn wird durch soweit ersetzt<br />
und damit eine Beschränkung<br />
oder ein Ausschluss der Haftung auf<br />
den konkreten Inhalt einer Garantie begrenzt.<br />
Die Änderung geht auf einen<br />
Gesetzentwurf der Unionsfraktion zur<br />
Beseitigung der Rechtsunsicherheit<br />
beim Unternehmenskauf zurück, der<br />
durch Änderung verschiedener Normen<br />
klarstellen sollte, dass sich die Begrenzung<br />
auch auf die Rechtsfolgenseite<br />
bezieht. Dies hat das BMJ nun in der<br />
Begründung zur Änderung der beiden<br />
Paragrafen deutlich gemacht, und so<br />
haben auch die Unionspolitiker der<br />
kleinen Lösung zugestimmt.<br />
Bettina Mävers, Berlin
VI<br />
MN<br />
INFORMATIONEN<br />
DAV-Aktuell<br />
DAV-Vorstand Ewer<br />
Vizepräsident des BFB<br />
Bei den Wahlen<br />
Ende Juni zum Präsidium<br />
des Bundesverbandes<br />
der Freien Berufe<br />
(BFB) wurde Dr.<br />
Wolfgang Ewer (links)<br />
aus dem DAV-Vorstand zum Vizepräsidenten<br />
gewählt. Der Rechtsanwalt aus<br />
Kiel wird auch das Amt des Schatzmeisters<br />
übernehmen. Als Präsident wurde<br />
der Mediziner Dr. Ulrich Oesingmann<br />
bestätigt. Beisitzer wurden aus der Anwaltschaft<br />
Rechtsanwalt Dr. Fritz-Eckehard<br />
Kempter, Vizepräsident der RAK<br />
München, und Rechtsanwalt, Steuerberater<br />
und Wirtschaftsprüfer Dieter Ulrich,<br />
Vizepräsident der Wirtschaftsprüferkammer.<br />
Bislang war der DAV unter<br />
den Vizepräsidenten durch DAV-Vorstand<br />
Dr. Klaus E. Böhm vertreten.<br />
Das Präsidium wurde für vier Jahre<br />
gewählt. Der BFB vertritt die Interessen<br />
der Freiberufler als Gesamtheit in<br />
der Bundesrepublik. nil<br />
Ausbildungsabgabe ade?<br />
Die Spitzenorganisationen der gewerblichen<br />
Wirtschaft haben mit der<br />
Bundesregierung einen Ausbildungspakt<br />
abgeschlossen, den der Bundesverband<br />
der Freien Berufe (BFB) bewusst<br />
nicht unterzeichnet hat. Das<br />
Überangebot an Lehrstellen in unserem<br />
Bereich ist Beleg dafür, dass Freiberufler<br />
ausbildungswilligen und -fähigen<br />
Jugendlichen Angebote auch ohne<br />
Pakt oder Gesetz unterbreiten.<br />
Durch den Pakt ist die Ausbildungsplatzabgabe<br />
zwar momentan vom Tisch,<br />
doch könnten Forderungen nach einem<br />
Gesetz schon bald wieder auflodern:<br />
Dann nämlich, wenn die gewerbliche<br />
Wirtschaft hinter ihren Zusagen zurückund<br />
die Lehrstellenschere offen bleibt.<br />
Die Anwaltschaft sollte die Entwicklung<br />
aufmerksam verfolgen. Zwar liegt<br />
ihre Betriebsgröße im Schnitt unter dem<br />
voraussichtlichen Schwellenwert von<br />
zehn Beschäftigten und auch die geforderte<br />
Ausbildungsquote von sieben Prozent<br />
wird in den meisten Kanzleien übererfüllt.<br />
Doch der enorme Bürokratieaufwand,<br />
den ein Ausbildungsplatzgesetz<br />
mit sich brächte, käme auch auf die Anwälte<br />
zu.<br />
Marcus Kuhlmann, Berlin<br />
<strong>Anwaltverein</strong> Stuttgart<br />
Karriere, Kohle,<br />
Kompetenz<br />
Fortbildung für Anwältinnen<br />
Als Vertiefung der Vorgängerkongresse<br />
in Hamburg und München fokussiert<br />
der <strong>Anwaltverein</strong> Stuttgart am<br />
12. und 13. November 2004 seinen<br />
Anwältinnen-Kongress auf das Thema<br />
„Kohle“. Neben den Regelungen des<br />
RVG – Honorare berechnen, Honorare<br />
festlegen, Honorare vereinbaren – lernen<br />
die teilnehmenden Anwältinnen,<br />
wie sie die Kosten ihrer Arbeitszeit<br />
berechnen, wie sie ihren Preis bestimmen,<br />
wie sie ihr Marketing planen,<br />
was sie beim Kanzleimanagement<br />
beachten sollten und welche Akquisitionsinstrumente<br />
es gibt. Praktische<br />
Beispiele werden das Programm<br />
abrunden. Es referieren: Rechtsanwältin<br />
Svenja Spranger, Geschäftsführerin<br />
des Hamburgischen <strong>Anwaltverein</strong>s und<br />
Mitglied im geschäftsführenden Ausschuss<br />
der AG Anwältinnen, Rechtsanwältin<br />
Edith Kindermann (Bremen)<br />
sowie Anwaltstrainerin und Coach Johanna<br />
Busmann (Hamburg). Als einziger<br />
Mann auf dem Programm: Der<br />
Vorsitzende des <strong>Anwaltverein</strong>s Stuttgart<br />
Ekkehard Kiesswetter, der die Teilnehmerinnen<br />
begrüßen wird.<br />
Informationen und Anmeldung:<br />
Im Internet unter www.anwaltvereinstuttgart.de<br />
oder telefonisch bei der<br />
Anwaltservice Stuttgart GmbH unter<br />
(0711) 236 93 06.<br />
AG Strafrecht<br />
Veranstaltungen September/Oktober<br />
2004<br />
28. Fachlehrgang Strafrecht: 9.9. –<br />
4.12.2004, Düsseldorf, Einzelheiten<br />
und Teilnehmergebühren auf Anfrage<br />
Wirtschaftsstrafrecht: RAuN Dr.<br />
Wilhelm Krekeler, Dortmund; RA Dr.<br />
Daniel M. Krause, Berlin; 11.9.2004,<br />
Berlin.<br />
Aktuelles Straf- und Strafverfahrensrecht:<br />
RA Prof. Dr. Volkmar<br />
Mehle, Bonn; RA Dr. Holger Matt,<br />
Frankfurt; 2.10.2004, Lübeck.<br />
Internet und Strafrecht: RAin Annette<br />
Marberth-Kubicki, Kiel; RAin<br />
Dr. Gina Greeve, Frankfurt;<br />
23.10.2004, Münster.<br />
Verkehrsstraf- und Ordnungswidrigkeitenrecht:<br />
RA Rainer Brüssow,<br />
Köln; RA Dr. Klaus Leipold,<br />
München; 30.10.2004, Dortmund.<br />
Teilnehmergebühr: 140 E für Mitglieder<br />
der ARGE; 190 E für Nichtmitglieder.<br />
Anmeldungen (bitte schriftlich) und<br />
weitere Informationen: Arbeitsgemeinschaft<br />
Strafrecht, Veranstaltungsorganisation,<br />
Gansweide 21,<br />
53359 Rheinbach, Tel: 02226/912091,<br />
Fax: 02226/912095.<br />
AG Verkehrsrecht<br />
Veranstaltungen September/Oktober<br />
2004<br />
24. Homburger Tage: 16.10.2004,<br />
Homburg/Saar, Teilnehmergebühr und<br />
Rahmenprogramm auf Anfrage<br />
Der Zeugenbeweis: Prof. Dr. Friedrich<br />
Dencker, Münster; 18.9.2004, Berlin.<br />
Unfallregulierung und Sozialrecht:<br />
RA Prof. Dr. Hermann Plagemann,<br />
Frankfurt; Ass. Jürgen Nehls, Bielefeld;<br />
18.9.2004, Dresden.<br />
Fahreignung – Erteilung, Entziehung<br />
und Wiedererteilung der Fahrerlaubnis:<br />
RA Frank R. Hillmann III, Oldenburg;<br />
Dipl. Psych. Axel Uhle,<br />
TÜV Saarbrücken; 18.9.2004, Hagen.<br />
Brennpunkte der Schadenregulierung:<br />
RA Jörg Elsner, Hagen;<br />
25.9.2004, Stuttgart.<br />
Klageanträge und typische Beweisprobleme<br />
im Haftpflichtprozeß:<br />
RiBGH a.D. Dr. Manfred Lepa, Bonn;<br />
25.9.2004, Groß-Gerau.<br />
Brennpunkte der Personenschadenregulierung:<br />
Prokurist Herbert Lang,<br />
ALLIANZ München; 25.9.2004, Nürnberg.<br />
Wahrheitsfindung und Vernehmung<br />
im Prozess. Technik der Befragung<br />
von Parteien und Zeugen/innen:<br />
RiOLG Axel Wendler, Lehrbeauftragter<br />
an der Universität Tübingen, Filderstadt;<br />
2.10.2004, Bad Bramstedt.<br />
Teilnehmergebühr (inkl. Mittagessen):<br />
140 E für Mitglieder der ARGE; 190 E<br />
für Nichtmitglieder.<br />
Anmeldungen (bitte schriftlich) und<br />
weitere Informationen: Arbeitsgemeinschaft<br />
Verkehrsrecht, Veranstaltungsorganisation,<br />
Gansweide 21, 53359<br />
Rheinbach, Tel: 02226/912091, Fax:<br />
02226/912095.
VIII<br />
MN<br />
INFORMATIONEN<br />
AG Verwaltungsrecht<br />
Aktuelles Bauordnungsrecht<br />
und Änderung<br />
durch das EAG<br />
Die Landesgruppe Hessen der Arbeitsgemeinschaft<br />
für Verwaltungsrecht<br />
im DAV veranstaltet am Donnerstag,<br />
dem 7.10.2004 in Sulzbach/Taununs<br />
(Dorint-Hotel) ein Seminar zum<br />
Bauordnungsrecht. Der Vorsitzende<br />
Richter am OVG Münster Dr. Bernhard<br />
Schulte referiert zu aktuellen Problemen<br />
des Bauordnungsrechts (insbesondere<br />
Schnittstellenproblematik mit dem<br />
Bauplanungsrecht). Die Änderung des<br />
Bauplanungsrechts durch das EAG Bau<br />
vom 24.06.2004 stellt Jens Meißner<br />
vom Thüringer Innenministerium vor.<br />
Es ist eine Fortbildungsveranstaltung<br />
gem. § 15 FAO.<br />
Tagungsbeitrag: 150 E fuÈ r Mitglieder<br />
der AG, 200 E fuÈ r Nichtmitglieder.<br />
Information und Anmeldung:<br />
Rechtsanwalt Dr. M. Großhauser,<br />
Beethovenstr. 35, 60325 Frankfurt/<br />
Main, Tel.: 0 69 / 97 57 02 32, Fax:<br />
0 69 / 74 82 40, m.grosshauser@tonline.de.<br />
AG Ausländer- und Asylrecht<br />
Aktuelles zum Recht der<br />
Spätausssiedler<br />
Das Seminar der ARGE am 2. Oktober<br />
2004 von 10:00 bis 17:00 Uhr<br />
befasst sich mit der komplizierten Materie<br />
des Rechts der Spätaussiedler,<br />
das trotz rückläufiger Zahlen noch immer<br />
von großer Bedeutung ist.<br />
Der Referent, Rechtsanwalt Michael<br />
Koch, wird u. a. folgende Themen<br />
behandeln: Beweiskraft der<br />
behördlichen Anhörungsprotokolle;<br />
nachträgliche Härtefallaufnahme/-einbeziehung;<br />
Staatsangehörigkeitsfragen;<br />
BVFG nach dem Zuwanderungsgesetz;<br />
Gebührenfragen nach dem RVG.<br />
Teilnehmerbeiträge: 90 E fuÈ r Mitglieder<br />
der ARGE, 130 E fuÈ r Nichtmitglieder.<br />
Anmeldung: RA Steinbeck, Leipziger<br />
Platz 1, 90491 Nürnberg, Tel. (09 11)<br />
519 59-10 Fax: (0911) 51959-20,<br />
RASUR@t-online.de (Vorkenntnisse<br />
werden vorausgesetzt).<br />
AG Steuerrecht<br />
Mitgliederversammlung<br />
Der Geschäftsführende Ausschuss<br />
(GFA) der AG lädt ein zur Mitgliederversammlung<br />
am Freitag, 5.11.2004,<br />
18.00 Uhr, Hotel Hilton, Mohrenstr. 30,<br />
10117 Berlin.Tagesordnung: 1. Bericht<br />
des Vorsitzenden, 2. Kassenprüfbericht,<br />
3. Allg. Aussprache, 4. Entlastung des<br />
GFA, 5. Neuwahl des GFA, 6. Wahl<br />
Kassenprüfer, 7. Verschiedenes. Anträge<br />
sind spätestens 21 Tage vorher<br />
beim GFA eingehend (Littenstr. 11,<br />
10179 Berlin) zu stellen und von mindestens<br />
10 Mitgliedern zu unterstützen.<br />
Tagungen und Kongresse<br />
Treffen deutscher und<br />
britischer Juristen<br />
Die Deutsch-Britische Juristenvereinigung<br />
e. V. und The British-German<br />
Jurists Association laden zu einer Tagung<br />
vom 17. bis 19. September nach<br />
Köln ein. U. a wird es Vorträge zu den<br />
Themen „Media and the Law“ und<br />
„Criminal investigation“ geben. Am<br />
ersten Tagungstag wird der Oberbürgermeister<br />
der Stadt Köln die Teilnehmer<br />
empfangen.<br />
Weitere Informationen zum Programm<br />
und Anmeldung: Deutsch-Britische<br />
Juristenvereinigung e. V., Rechtsanwalt<br />
Dr. Suhr, Neuer Wall 42, 20354<br />
Hamburg, Tel.: 0 40 / 37 86 87 11,<br />
Fax: 0 40 / 37 89 87 20.<br />
Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinie<br />
Die 4. Jahrestagung der Arbeitsgruppe<br />
Europäisches und Internationales<br />
Arbeits- und Sozialrecht (EIAS) im<br />
Deutschen Arbeitsgerichtsverband e. V.<br />
wird sich am 11./12. November 2004 in<br />
Hamburg mit der Umsetzung der neuen<br />
europäischen Antidiskriminierungsrichtlinie<br />
im Arbeits- und Sozialrecht beschäftigen.<br />
Das Thema wird aus deutscher,<br />
französischer, englischer und<br />
internationaler Sicht behandelt. Referenten<br />
werden Professoren, Richter, Ministerialbeamte<br />
und Rechtsanwälte sein.<br />
Weitere Informationen zum Programm<br />
und Anmeldung: EIAS c/o<br />
Rechtsanwälte Walther Behrens Partner,<br />
Jungfernstieg 41, 20354 Hamburg,<br />
info@behrenspp.de.
Im Auftrag des<br />
Deutschen <strong>Anwaltverein</strong>s<br />
herausgegeben von den<br />
Rechtsanwälten:<br />
Felix Busse<br />
Dr. Michael Kleine-Cosack<br />
Wolfgang Schwackenberg<br />
Die Rechtsanwaltschaft<br />
unter Modernisierungszwang<br />
Prof. Dr. Christoph Hommerich, Bergisch Gladbach*<br />
Q<br />
Redaktion:<br />
Dr. Nicolas Lührig (Leitung)<br />
Dr. Peter Hamacher<br />
Udo Henke<br />
Rechtsanwälte<br />
Jahrgang 54<br />
August/September 2004<br />
Die Debatte um die Deregulierung der Berufsrechte hat<br />
die Freien Berufe erfasst. Der Sonderstatus auch der Anwaltschaft<br />
wird in Frage gestellt. Der Autor fordert die<br />
Anwaltschaft auf, das Vertrauen in das System anwaltlichen<br />
Rechtsrats nicht zu verspielen. Die Chance der Anwaltschaft<br />
liege darin, dass sich die Gesellschaft eine Versorgung<br />
mit Rechtsrat auf Discountstandard dauerhaft<br />
nicht leisten könne.<br />
1. Die Entwicklungsdynamik der Anwaltschaft<br />
Die Situation der Anwaltschaft in der Bundesrepublik<br />
Deutschland ist derzeit durch folgende zentrale Entwicklungstendenzen<br />
gekennzeichnet:<br />
Ein ungebremster Expansionsdruck verschärft die Konkurrenzsituation<br />
innerhalb der Anwaltschaft. Die Folgen<br />
dieses Prozesses sind ungewisser denn je. Wäre der Markt<br />
rechtlicher Dienste in Form von Rechtsvertretung und<br />
Rechtsberatung gesättigt, würde dieser Konkurrenzdruck<br />
unmittelbar zu existenziellen Problemen für eine Vielzahl<br />
von Anwälten führen. Solche Wirkungen sind derzeit empirisch<br />
nicht abschließend gesichert. Allerdings mehren sich<br />
Berichte über Umsatzrückgänge und wirtschaftliche Schieflagen<br />
in Anwaltskanzleien1 .<br />
In engem Zusammenhang mit diesem Expansionsdruck,<br />
zugleich aber auch mit der fortschreitenden Differenzierung<br />
des rechtlichen Wissens und einer Differenzierung der<br />
Nachfrage nach Rechtsrat ist die sich beschleunigende Dynamik<br />
der Spezialisierung der Anwaltschaft zu sehen2 .Äußerlich<br />
sichtbar wird dies am starken Zuwachs der Fachanwälte,<br />
aber auch an Tendenzen zu strategischen<br />
Schwerpunktsetzungen in den Kanzleien und der Ausrichtung<br />
ihrer Leistungsprogramme an den Belangen bestimmter<br />
Zielgruppen. Im Ergebnis resultieren hieraus spezielle<br />
Risiken für Allgemeinanwälte mit ihrem eher unspezifischen<br />
Programm. Solche Risiken werden sich vor allem<br />
dann verschärfen, wenn Mandanten immer stärker zu spezialisierter<br />
Nachfrage anwaltlicher Dienste neigen. Dies gilt<br />
zumindest so lange, wie Allgemeinanwälte nicht als Ein-<br />
gangs- bzw. Steuerungsinstanz für anwaltlichen Rechtsrat<br />
gesehen werden.<br />
Die Tendenz zur Spezialisierung kennzeichnet zugleich<br />
einen fundamentalen Strukturwandel in den westlichen Industrienationen:<br />
Die Angewiesenheit der Menschen auf Expertensysteme<br />
wird größer, da die Lebensverhältnisse immer<br />
stärker durch überregionale, nationale und vor allem<br />
internationale Entwicklungen geprägt sind, dementsprechend<br />
weniger im lokalen Rahmen verbleiben und insgesamt<br />
an Komplexität zunehmen 3 .<br />
Dem entspricht die sich verstärkende Tendenz zur Internationalisierung<br />
der Anwaltskanzleien, die sich nicht nur in<br />
einer Fusionswelle mit dem Ergebnis internationaler Großkanzleien<br />
manifestiert hat, sondern inzwischen auch daran<br />
sichtbar wird, dass auf der Ebene von Kanzleien mittlerer<br />
Größe internationale Kooperationen zunehmen. Die Anwaltschaft<br />
folgt damit – wenn auch noch zögernd – dem<br />
fundamentalen ökonomischen Strukturwandel in Form der<br />
Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen.<br />
Die zunehmende Größe und innere Differenzierung der<br />
Anwaltschaft verschärft zugleich das Problem ihrer Integration<br />
als einer Professionsgemeinschaft 4 . Innere Differenzierung<br />
heißt immer auch Spreizung der Interessenlagen<br />
und zugleich Erhöhung der Zentrifugalkräfte innerhalb einer<br />
Gemeinschaft. Die Wahrscheinlichkeit einer Integration<br />
der Anwaltschaft im Sinne einer Wertegemeinschaft nimmt<br />
– wird nicht durch besondere Anstrengungen gegengesteuert<br />
– mit zunehmer Zahl der Berufsträger tendenziell ab. In<br />
der Masse der Anwälte erkennen die Einzelnen nur schwer,<br />
dass ihr Beitrag zum Fortbestand der Anwaltschaft als einer<br />
Wertegemeinschaft wichtig ist. Damit aber steigt tendenziell<br />
die Zahl derer, die als Trittbrettfahrer von dieser Gemeinschaft<br />
profitieren wollen, ohne selbst in sie zu investieren<br />
5 .<br />
* Der Autor ist Vorstandsvorsitzender des Soldan Instituts für Anwaltsmanagement.<br />
Der Beitrag beruht auf dem Vortrag am 15.6.2004 aus Anlass der akademischen<br />
Feier der Universität zu Köln zum 70. Geburtstag von Rechtsanwalt<br />
Dr. h.c. Ludwig Koch.<br />
1 Vgl. hierzu Hommerich, C.; Werle, R.: Die Anwaltschaft zwischen Expansionsdruck<br />
und Modernisierungszwang, in: Zeitschr. f. Rechtssoziologie 1/87, S. 1ff.;<br />
Hommerich, C.: Der Einstieg in den Anwaltsberuf, Bonn 2001.<br />
2 Zum Strukturwandel der Anwaltschaft vgl. Abel, R. L.; Lewis, Ph. S. C.: Lawyers<br />
and Society, 2. Bde. Berkeley 1988.<br />
3 Vgl. hierzu Giddens, A.: Konsequenzen der Moderne, Frankfurt am Main 1996.<br />
4 Vgl. hierzu Kilger, H., AnwBl 2003, S. 449 ff.<br />
5 Coleman, J. S.: Foundations of Social Theory, Cambridge, Mass. 1990, S. 270–<br />
271, S. 451–465; Münch, R.: Soziologische Theorie, Bd. 2, Frankfurt am Main<br />
2003, S. 103 ff.
454<br />
MN<br />
Dieser Herausforderung von innen steht eine Herausforderung<br />
von außen gegenüber: Insbesondere auf europäischem<br />
Parkett wird – mit einer Zeitverzögerung von gut 15<br />
Jahren – die vor allem im angloamerikanischen Bereich<br />
geführte Diskussion über eine „Deprofessionalisierung“ der<br />
klassischen Professionen6 (gemeint sind in erster Linie<br />
Ärzte, Anwälte, Wissenschaftler, Architekten) aufgegriffen<br />
und in Form einer Deregulierungsdebatte zugespitzt7 . Im<br />
Zentrum dieser Diskussion steht die Frage, ob die freien<br />
Berufe ihre gesellschaftliche Sonderstellung im Sinne einer<br />
interessengeleiteten Politik reiner Domänesicherung missbrauchen<br />
und eine gesellschaftlich unerwünschte Wissensmonopolisierung<br />
betreiben, um sich auf diese Weise Konkurrenz<br />
vom Halse zu halten. Damit wird der Sonderstatus<br />
der Anwaltschaft in Frage gestellt und eine Öffnung der<br />
Rechtsberatung und rechtlichen Vertretung auch für andere<br />
Berufsgruppen nicht grundsätzlich ausgeschlossen8 .<br />
Die hier skizzierten Einzeltendenzen markieren eine Gemengelage,<br />
in der die Anwaltschaft unter Modernisierungszwang<br />
gerät. Sie wird folgende zentrale Fragen überzeugend<br />
beantworten müssen: Wie kann sie sich von der<br />
allgemeinen Krise der Expertensysteme abkoppeln? Kann<br />
sie durch eine eigene Überzeugungsleistung gegenüber<br />
Staat und Gesellschaft ihre Alleinstellung oder zumindest<br />
ihre herausragende Stellung in Sachen rechtlicher Beratung<br />
und Vertretung legitimieren?<br />
Drei weitere Fragen schließen sich an: Wie schafft es<br />
die Anwaltschaft, Systemvertrauen in ihr Expertensystem<br />
zu gewinnen, wie schaffen es die Kanzleien, Organisationsvertrauen<br />
zu gewinnen und schließlich, wie schafft es jeder<br />
einzelne Anwalt und jede einzelne Anwältin, personales<br />
Vertrauen auf sich zu vereinigen9 ?<br />
Die folgenden Ausführungen beziehen sich schwerpunktmäßig<br />
auf die erste der drei Fragestellungen.<br />
2.Von der Domäneverteidigung zu aktiver<br />
Vertrauensbildung<br />
Der Verdacht, die klassischen Professionen neigten vor<br />
allem zur Monopolbildung, ist nahezu so alt wie Professionen<br />
selbst. Zwar wurden für die Institutionalisierung von<br />
Systemen, die den klassischen Professionen die Selbstregulierung<br />
ihrer eigenen Belange ermöglichten, gute Argumente<br />
vorgetragen: Nur die Mitglieder der Professionen<br />
selbst seien – im Gegensatz zu Laien – in der Lage, über<br />
ihr Wissen zu wachen, es aktiv durch Forschung und Lehre<br />
auszubauen und weiterzuvermitteln und auf dem Weg der<br />
professionellen Selbstkontrolle seine regelgerechte Anwendung<br />
sicherzustellen. Darüber hinaus war es funktional gut<br />
begründet, den Mitgliedern der Professionen die Unterwerfung<br />
unter einen Code of Ethics abzuverlangen, um auf<br />
diese Weise sicherzustellen, dass sie – ausschließlich orientiert<br />
am Prinzip der Fachlichkeit und auf ein bestimmtes<br />
Dienstleistungsideal verpflichtet – für die ihnen anvertrauten<br />
Menschen tätig wurden. Dies schloss eine dominante<br />
Orientierung am Prinizp ökonomischer Nutzenmaximierung<br />
aus und einen – zumindest partiellen – Verzicht auf Eigennutz<br />
ein10 .<br />
Schließlich wurde der „Zentralwertbezug“ ihrer Tätigkeit<br />
besonders akzentuiert: Speziell die Rechtsanwälte wurden<br />
als Organe der Rechtspflege gesehen, zugleich aber wurden<br />
ihre Unabhängigkeit insbesondere von staatlicher Kontrolle<br />
und ihre unbedingte Mandantenorientierung zu Kernbestandteilen<br />
ihres Berufsbildes erklärt11 .<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Aufsätze<br />
Die Funktionalität dieses Leitbildes wurde im Zuge der<br />
Deprofessionalisierungsdiskussion nur bedingt bestritten.<br />
Im Vordergrund stand aber der Vorwurf, die Mitglieder der<br />
Professionen wichen faktisch zu stark von diesem Leitbild<br />
ab, ja sie missbrauchten die aus ihm resultierende Sonderstellung,<br />
um eigennützig ihre ökonomischen Interessen abzusichern.<br />
Die Angehörigen der freien Berufe erweckten<br />
vor allem bei ihren Kritikern den Eindruck, Mitglieder einer<br />
Verteidigungsgemeinschaft für Privilegien, nicht aber<br />
Mitglieder einer Professionsgemeinschaft zu sein, die sich<br />
auf die aktive Gestaltung ihrer zentralen Aufgaben konzentriert.<br />
In der Tat kann man sich fragen, ob die Klärung der Legitimitätsbedingungen<br />
von Rechtsrat und rechtlicher Vertretung<br />
nicht auch von der Anwaltschaft selbst in Teilen auf<br />
singuläre Fragen mittlerer oder auch geringerer Reichweite<br />
verkürzt wurde. Die Lektüre von Urteilen zum anwaltlichen<br />
Berufsrecht – hier etwa speziell auch zum Werberecht<br />
– verhilft dem Leser gelegentlich zum Genuss von<br />
Realsatiren, etwa, wenn das Outfit von Kanzleimitarbeitern<br />
bei ihrer Ablichtung in Kanzleibroschüren oder aber die<br />
Angemessenheit von „Gabelimbissen“ bei Kanzleiveranstaltungen<br />
zum Gegenstand filigraner rechtlicher Erörterung<br />
werden 12 .<br />
Möglicherweise hatten auch die obersten Gerichte den<br />
Eindruck einer nur begrenzten Fähigkeit der Anwaltschaft<br />
zu ernsthafter Selbstkontrolle und legitimer Regelung ihrer<br />
Belange innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Rahmens.<br />
Sie beantworten – nun bereits seit einigen Jahren – die Versuche<br />
von Anwälten, die Grenzen der eigenen Domäne eng<br />
zu fassen und abzusichern, mit eindeutiger Deregulierung.<br />
Kurioserweise waren es damit letztlich die Anwälte selbst,<br />
die eine partielle Deregulierung ihres Berufsstandes gerichtlich<br />
„erstritten“.<br />
Unabhängig davon stellte sich bei der Diskussion wichtiger<br />
Zukunftsprobleme wie etwa der Zulassung von Fachanwaltschaften<br />
die Frage, ob die Anwaltschaft aus sich<br />
selbst heraus in der Lage ist, notwendige Anpassungsleistungen<br />
an die Differenzierung der Nachfrage, aber auch an<br />
die veränderte Situation einer Professionsgemeinschaft in<br />
einer Kommunikationsgesellschaft zu erbringen.<br />
6 Rothmann, R. A.: Deprofessionalization. The Case of Law in America; in:<br />
Work and Occupations (11) 1984, S. 183–206; Freidson, E.: Professional Reborn:<br />
Theory Prophecy and Policy, Chicago 1994; Freidson, E.: Professionalism,<br />
Oxford 2001.<br />
7 Henssler, M., ZZP 2002, S. 321 ff.; Henssler, M., Kilian, M.: Positionspapier zur<br />
Studie des Instituts für Höhere Studien, Wien: „Economic Impact Of Regulation<br />
In The Field Of Liberal Professions in Different Member States, 2003,<br />
http://www.brak.de/seiten/pdf/aktuelles/ihs.pdf; Monti, M.: Competition in Professional<br />
Services: New Light and New Challenges, 2003, http://europa.eu.int/<br />
comm/competition/speeches/text/sp2003_007_en.pdf; Clementi, D.: Review of<br />
the Regulatory Framework for Legal Services in England and Wales, 2004,<br />
http://www.legal-services-review.org.uk/content/consult/review.htm.<br />
8 Zur berufspolitischen Diskussion vgl. Jaeger, R., NJW 2004, 21 (S. 1492 ff.);<br />
Stürner, R., Bormann, J., NJW 2004, 21 (S. 1481 ff.); Hellwig, H.-J., AnwBl<br />
2004, S. 213 ff.<br />
9 Vgl. Luhmann, N.: Vertrauen, Stuttgart 2000 (4. Aufl.), S. 47 ff.; Frevert, U.:<br />
Vertrauen, historische Annäherungen, Göttingen 2003, S. 57; Petermann, F.:<br />
Psychologie des Vertrauens, München: 1992; Schweer, M.: Interpersonales<br />
Vertrauen: Theorien und empirische Befunde, Opladen 1997.<br />
10 Für eine ausführliche Darstellung vgl. Freidson, E.: Professional Reborn:<br />
Theory Prophecy and Policy, Chicago 1994; Freidson, E.: Professionalism, Oxford<br />
2001.<br />
11 Zusammenfassend Hommerich, C.: Die Anwaltschaft unter Expansionsdruck,<br />
Köln 1988, S. 11 ff.<br />
12 Vgl. hierzu Kleine-Cosack, M., AnwlBl 2004, S. 153 ff.
AnwBl 8 + 9/2004 455<br />
Aufsätze MN<br />
Wie immer man dies im Einzelnen beurteilt, fest steht,<br />
dass in einer Zeit erheblich gewachsener innerer Dynamik<br />
der Gesellschaft solche Anpassungsleistungen erforderlich<br />
sind. Der fundamentale Charakter der Probleme, mit denen<br />
die Anwaltschaft aktuell konfrontiert ist, erzwingt geradezu<br />
einen mutigen Neuanfang. Bliebe es für die Zukunft bei einer<br />
eher kleinteiligen Auseinandersetzung über die Zukunft<br />
der Anwaltschaft, wäre zugleich ihr Erosionsprozess vorprogrammiert.<br />
Erforderlich ist eine Diskussion über die Wertfundamente<br />
legitimen Rechtsrats, die den Ansatz partikularer<br />
Interessen der Anwälte hinter sich lässt und sich auf die<br />
Frage nach den Voraussetzungen für ein funktionierendes<br />
System gerichtlicher und außergerichtlicher Konfliktlösung<br />
und Konfliktprävention konzentriert und hierbei zugleich<br />
die Rolle der Anwaltschaft in ihrem essentiellen Kern für<br />
die Zukunft neu bestimmt 13 . Diese Diskussion über legitimen<br />
Rechtsrat ist zugleich eine Diskussion über die Zuweisung<br />
von Vertrauen in die Anwaltschaft als Expertensystem.<br />
Sie trifft den Nerv zukünftiger Entwicklung des<br />
Rechts in unserer Gesellschaft unter den Bedingungen fortschreitender<br />
Globalisierung und vermutlich abnehmender<br />
Prosperität.<br />
Gerade wegen der letztgenannten Bedingung ist es modisch<br />
geworden, das Diskussionsspektrum durch eine Ökonomisierung<br />
der Betrachtungsweise zu verengen und nur<br />
noch solche Argumente zuzulassen, die sich unter den<br />
Aspekten ökonomischer Effektivität und Effizienz bewähren.<br />
Eine solche Betrachtungsweise führt zwangsläufig zu<br />
einer Trivialisierung des Beitrags von Rechtsvertretung und<br />
Rechtsberatung zur Funktionsfähigkeit des Rechtssystems,<br />
der sich in ökonomischen Kosten-Nutzen-Kalkülen nicht<br />
hinreichend ausdrücken lässt.<br />
Diskutiert werden müssen die Bedingungen der Funktionsfähigkeit<br />
von Expertensystemen als Vertrauenssystemen.<br />
Sie müssen sich bewähren, es sei denn, wir nähmen<br />
das Chaos in Kauf.<br />
3.Vertrauen in die Anwaltschaft als<br />
Expertensystem<br />
Niklas Luhmann hat in seiner Schrift zum Thema „Vertrauen“<br />
darauf hingewiesen, dass in einer komplexen Welt<br />
Systemvertrauen erforderlich ist, da der einzelne angesichts<br />
der sich ihm bietenden Möglichkeiten vollständig mit dieser<br />
Selektionslast überfordert wäre 14 . Wir alle sind in einer<br />
hoch arbeitsteiligen Welt auf Vertrauen angewiesen und<br />
müssen erwarten können, dass sich diejenigen, denen wir<br />
Vertrauen schenken, so verhalten, dass sie es im Ergebnis<br />
auch rechtfertigen. Doch wem können wir vertrauen? Wer<br />
sendet Vertrauenssignale, wer Misstrauenssignale? Vertrauen<br />
wir Regierungen, die Kriege beginnen, ohne sie<br />
rechtfertigen zu können? Vertrauen wir Politikern, die ihre<br />
ureigenste Verantwortung in Kommissionen verschieben?<br />
Vertrauen wir Kommissionsmitgliedern, die bereits vor Beginn<br />
ihrer Arbeit der Presse die Ergebnisse mitteilen? Vertrauen<br />
wir der Presse, die Nachrichten erzeugt, um Auflagen<br />
zu steigern? Vertrauen wir Chirurgen, die an Herzschrittmachern,<br />
welche sie selbst verordnen, Geld verdienen?<br />
Diese Liste ließe sich beliebig verlängern. Sie dokumentiert<br />
unsere ganze Angewiesenheit auf Vertrauen und zugleich<br />
unsere Verletzlichkeit für den Fall eines Missbrauchs.<br />
Der britische Soziologe Anthony Giddens hat diesen Gedanken<br />
weiter vertieft und herausgearbeitet, dass in einer<br />
Welt zunehmender globaler Risiken und „institutionalisier-<br />
ter Risikoumwelten“ (wie z. B. die internationalen Finanzmärkte)<br />
die Angewiesenheit der Menschen auf Vertrauen in<br />
Expertensysteme wächst 15 . Er betont in diesem Zusammenhang<br />
zwei Aspekte: Zum einen müssen Menschen angesichts<br />
unvollständiger Information daran glauben, dass Expertensysteme<br />
funktionieren. Bezogen auf die Anwaltschaft<br />
ist dies der Glaube daran, dass rechtliches Wissen im Sinne<br />
der Mandanten durch die Anwälte ebenso zuverlässig mobilisiert<br />
wird wie ihre Verpflichtung zur Verschwiegenheit<br />
und ihre Fähigkeit und Bereitschaft, in unbedingtem Mandanteninteresse<br />
zu handeln.<br />
Mit diesem Glauben an die Funktionsfähigkeit des Systems<br />
anwaltlichen Rechtsrats verbindet sich zugleich der<br />
Glaube an die Rechtschaffenheit der einzelnen Anwälte.<br />
Vertraut wird also darauf, dass zum einen das „System“ als<br />
solches funktioniert, mit Expertenwissen also Probleme erkannt<br />
und akzeptabel gelöst werden können, und das zum<br />
anderen die einzelnen Experten das richtige Funktionieren<br />
des Systems auch sicherstellen. (Giddens spricht in diesem<br />
Zusammenhang von „gesichtsunabhängigen“ und „gesichtsabhängigen“<br />
Bindungen 16 ).<br />
Indem die Menschen der Anwaltschaft vertrauen, gehen<br />
sie Risiken ein. Diese sind umso größer, je komplexer die<br />
zu lösenden Probleme sind und je größer dementsprechend<br />
die Differenz zwischen Expertenwissen und Laienwissen<br />
ausfällt. Diese Asymmetrie des Wissens begründet ein Risiko,<br />
welches dem einzelnen Mandanten nicht genommen<br />
werden kann 17 . Er vertraut auf die Funktionsfähigkeit des<br />
Systems und zugleich auf personaler Ebene „seinem“ Anwalt<br />
oder „seiner“ Anwältin.<br />
Allerdings kann sein Risiko durch Vorschriften zur Berufsmoral<br />
und Sanktionsregeln zur Durchsetzung dieser<br />
Moral vermindert werden 18 . Solche Vorschriften reduzieren<br />
das Risiko der Laien, Experten in Anspruch zu nehmen, da<br />
sie zumindest einen Mindeststandard anwaltlicher Leistung<br />
garantieren. Sie erhöhen zugleich die Erwartungssicherheit<br />
der Experten – hier der Anwälte – untereinander, dass sie<br />
sich professionell verhalten werden und dementsprechend<br />
vertrauenswürdig, weil kalkulierbar sind. Es entsteht also<br />
ein institutioneller Vertrauensrahmen auf der Grundlage verbindlicher<br />
Verhaltensregeln, die die Berufsträger normativ<br />
verpflichten und zugleich nach außen vertrauensbildend<br />
wirken 19 .<br />
4. Deregulierung und Vertrauensbildung<br />
Folgt man den Überlegungen der Deregulierer, so ist ein<br />
solcher institutionalisierter Vertrauensrahmen nur in einem<br />
sehr engen Sinne nötig („Verbraucherschutz“). Ihre Überlegungen<br />
sind grundsätzlich von der Vorstellung getragen,<br />
dass marktmäßige Konkurrenz auch der Rechtsberater und<br />
Rechtsvertreter im Ergebnis qualitätssichernde Wirkung<br />
13 Zur Ethik anwaltlichen Handelns vgl. v. Westphalen, AnwBl 3/2002, S. 125 ff.<br />
14 Luhmann aaO, S. 27 ff.<br />
15 Giddens, A. aaO, S. 40 ff.<br />
16 Giddens, A. aaO, S. 103.<br />
17 Vgl. zur Asymmetrie des Wissens: Freidson, E.: Der Ärztestand, berufs- und<br />
wissenschaftssoziologische Durchleuchtung einer Profession, Stuttgart 1979.<br />
18 Rüschemeyer, D.: Juristen in Deutschland und in den USA, Stuttgart 1976,<br />
S. 12 ff.; Giddens, A. aaO, S. 41 ff.<br />
19 Vgl. hierzu auch Freidson, E., 2001 aaO, S. 197 ff.; Grüninger, S.: Vertrauensmanagement:<br />
Kooperation, Governance und Moral, Marburg 2001, S. 113 ff.
456<br />
MN<br />
habe, da rational handelnde, mündige Konsumenten in der<br />
Lage seien, auf der Grundlage ihrer eigenen Nutzenerwartung<br />
eine Qualitätsauswahl zu treffen. Diese Vorstellung<br />
von den Selbstreinigungskräften des Marktes, vom homo<br />
oeconomicus oder vom rational handelnden Subjekt kennzeichnet<br />
die Modelle der Nationalökonomen 20 , aber auch<br />
die soziologischen Handlungstheorien in Form des so genannten<br />
„rational choice-Ansatzes“ 21 .<br />
Gerade am Beispiel des Anwalt-Mandant-Verhältnisses<br />
werden allerdings die Grenzen eines solchen Ansatzes<br />
sichtbar. Einige Überlegungen sollen dies verdeutlichen:<br />
Zunächst ist festzustellen, dass Deregulierung der Anwaltschaft<br />
die Suchkosten („Transaktionskosten“) individualisiert.<br />
In diesem Zusammenhang stellt Fukuyama fest,<br />
Misstrauen in einer Gesellschaft belege alle Erscheinungsformen<br />
wirtschaftlichen Handelns mit einer Art Steuer, die<br />
in Gesellschaften mit einem hohen Maß an sozialem Vertrauen<br />
entfällt 22 . Es muss also gesehen werden, dass mit<br />
dem Abbau vertrauensbildender Regulierungen von Expertensystemen<br />
individuelle Kosten der Suche von Experten<br />
erhöht werden.<br />
Diese Steuer hat es in sich, denn ihre Höhe bleibt offen.<br />
Es stellt sich die Frage, welche Suchstrategien bei der Auswahl<br />
von Experten durch Laien überhaupt erfolgversprechend<br />
sind. Nach welcher Rationalität soll ein mündiger<br />
Konsument vorgehen, wenn er angesichts eines akuten Problems<br />
etwa in Form einer plötzlich eintretenden Krise in<br />
kürzester Zeit erstklassigen Expertenrat benötigt. Soweit er<br />
in einer solchen Situation nicht einem Expertensystem mit<br />
garantierten Mindeststandard vertrauen kann, wird die Zeit<br />
zum begrenzenden Faktor seiner Möglichkeiten, Recht in<br />
Anspruch zu nehmen.<br />
Helfen ihm als potenziellem Mandanten so genannte<br />
„Ratings“? Welchen Informationsgehalt haben solche Ratings?<br />
Messen sie zuverlässig und gültig die fachliche Qualität<br />
eines Anwalts, seine Empathie, seine Bereitschaft sich<br />
ethisch zu verhalten in einem ex ante absehbaren Sinne?<br />
Messen sie vielleicht doch nur den Bekanntheitsgrad von<br />
Anwälten im Kollegenkreis oder die besondere Lautstärke,<br />
mit der sie sich bemerkbar gemacht haben? Helfen einem<br />
potenziellen Mandanten Kenntnisse über die Zahl der Fälle,<br />
die ein Anwalt in einem bestimmten Gebiet bearbeitet hat?<br />
Kann sich ein Mandant bei seiner Auswahlentscheidung<br />
auf die Kommunikation der Anwälte nach außen verlassen?<br />
Kann er unter der Bedingung eines Wettbewerbsmarktes sicher<br />
sein, dass seine Risiken richtig definiert und ihm ausreichend<br />
klar verdeutlicht werden? Besteht die Gefahr, dass<br />
diese Risiken zwar vielleicht dargestellt, im Verhältnis zu<br />
den Chancen aber fein nuanciert untergewichtet werden<br />
(vgl. hierzu die Kommunikationsstrategie von „Schönheitschirurgen“)?<br />
Wie weit kommt ein potenzieller Mandant, wenn er<br />
nach der „Reputation“ eines Anwaltes forscht oder sich<br />
fragt, ob die „Chemie“ zwischen ihm und seinem potenziellen<br />
Anwalt stimmt? Wie rational ist eine Auswahl auf der<br />
Grundlage der Empfehlung eines Freundes im Golfklub?<br />
Ist diese Art „äußerer Evidenzen“ 23 eine hinreichende<br />
Grundlage für eine Vertrauensentscheidung?<br />
Kann ein Mandant überhaupt eine „rationale“ Entscheidung<br />
über die Inanspruchnahme eines Experten treffen,<br />
wenn er sein Risiko selbst noch gar nicht kennt, weil er es<br />
nicht einschätzen kann?<br />
Kann ein potenzieller Mandant Vertrauen erst einmal<br />
„antesten“ und auf diese Weise einen schrittweisen, auf Er-<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Aufsätze<br />
fahrung gegründeten Vertrauensaufbau organisieren? Hat er<br />
hierfür die Fähigkeiten und in seiner speziellen Konfliktsituation<br />
überhaupt die Möglichkeiten? Welche Möglichkeiten<br />
hat ein Mandant, während eines laufenden Verfahrens<br />
die Qualität eines Anwalts zu bewerten? Kann er bewerten,<br />
ob es für ihn „nützlich“ ist, wenn sein Anwalt das Verfahren<br />
in seinem „wohlverstandenen Interesse“ steuert und dadurch<br />
Teil des Problems wird? Ist ein Mandant in einer<br />
emotional hoch angespannten Situation überhaupt fähig, die<br />
sachliche Seite eines Verfahrens nüchtern zu bewerten?<br />
Kann die Möglichkeit zum Missbrauch der Wissensmacht<br />
des Anwalts durch die ökonomische Macht des<br />
Mandanten begrenzt werden?<br />
Und schließlich: In welchem Sinne ist eine „Marktbereinigung“<br />
zu erwarten, wenn ein Mandant mit seinem Anwalt<br />
im Ergebnis nicht zufrieden ist? Hat nicht eine große<br />
Es muss abgewogen werden, ob und<br />
in welchem Umfang die Gesellschaft<br />
das Vertrauensrisiko bei der Auswahl,<br />
Beauftragung und Qualitätskontrolle<br />
von Rechtsberatern privatisieren will<br />
Zahl der Mandate einmaligen Charakter, sodass ein Wechsel<br />
des Anwalts in Zukunft gar nicht ansteht? Reicht es zur<br />
Marktregulierung, wenn in solchen Fällen durch den enttäuschten<br />
Mandanten lediglich negative Reputationssignale<br />
gesendet werden? Verfügt ein Mandant, der mit seinem Anwalt<br />
unzufrieden ist, über ausreichende Mittel, seine Ansprüche<br />
durchzusetzen?<br />
Die Fragen verdeutlichen die Unsicherheitssituation, in<br />
die ein Laie gestellt ist, wenn er einen Experten auswählen<br />
und später auch kontrollieren soll. Jeder, der einmal in einer<br />
kritischen gesundheitlichen Situation eine Entscheidung<br />
über den „richtigen“ Arzt treffen musste, weiß unmittelbar,<br />
wovon die Rede ist. Vielleicht erklärt dies auch, warum Experten<br />
oft dazu neigen, von sich aus keine anderen Experten<br />
zu empfehlen. Sie sind sich offenkundig des Risikos einer<br />
solchen Empfehlung bewusst. Es wird damit<br />
nachvollziehbar, dass Anthony Giddens zu dem Ergebnis<br />
kommt, letztlich sei alles Vertrauen in gewissem Sinne blindes<br />
Vertrauen24 .<br />
Unter diesen Bedingungen wird klar, worum es bei der<br />
Deregulierungsdebatte im Kern geht25 : In einem öffentlichen<br />
Diskussionsprozess muss abgewogen werden, ob und<br />
in welchem Umfang die Gesellschaft das Vertrauensrisiko<br />
bei der Auswahl, Beauftragung und Qualitätskontrolle von<br />
Rechtsberatern privatisieren will.<br />
In diesem Diskurs geht es um viel: Es geht um die Frage<br />
des gleichen Zugangs zum Recht. Es geht um die Frage der<br />
Qualität des Rechtssystems und dies keineswegs nur im forensischen<br />
Bereich, sondern breiter im Sinne von Recht als<br />
20 Vgl. hierzu bereits Marktsoziologie und Entscheidungslogik, Neuwied/Berlin<br />
1967.<br />
21 Coleman, J. S. aaO<br />
22 Fukuyama, F.: Konfuzius und Marktwirtschaft, München 1995, S. 45.<br />
23 Gambetta, D.: Können wir dem Vertrauen vertrauen? in: Hartmann, M.; Offe,<br />
C. (Hg.): Vertrauen, Grundlage des sozialen Zusammenhalts, Frankfurt am<br />
Main 2001, S. 204 ff.<br />
24 Giddens, A. aaO, S. 49.<br />
25 Vgl. Freidson, E. 2001 aaO, S. 179 ff.
AnwBl 8 + 9/2004 457<br />
Aufsätze MN<br />
System sozialer Kontrolle und Befriedung. Und schließlich<br />
geht es bei alledem um die Frage des Vertrauens in ein Expertensystem.<br />
Schwindet dieses Vertrauen wird eine Vertrauenskultur<br />
in eine Misstrauenskultur umgewandelt, ist<br />
Destabilisierung, in welcher Ausprägung auch immer, die<br />
wahrscheinliche Folge. An der Börse halten wir eine solche<br />
Konstellation für hoch brisant. Und wie steht es um die Brisanz<br />
einer Destabilisierung des Expertensystems „Anwaltschaft“?<br />
Darüber hinaus ist zu befürchten, dass die Individualisierung<br />
des Risikos bei der Auswahl und Beauftragung von<br />
Rechtsberatern zu Qualitätseinbußen führen wird: Es<br />
wächst das Risiko gering qualifizierter Rechtsberatung, das<br />
im Ergebnis die Mandanten tragen müssen, ohne es ex ante<br />
einschätzen zu können. Die Vorstellung, wer einen „Aldi-<br />
Anwalt“ wünsche, solle die Chance haben, ihn auch zu bekommen,<br />
ist zynisch. Sie übersieht die Asymmetrie der<br />
Wirkungen schlechten Rechtsrats, die für den Anwalt gering<br />
ausfallen, für den Mandanten aber den Charakter einer<br />
existenziellen Bedrohung annehmen können.<br />
Es wächst das Risiko einer fortschreitenden Qualitätssegmentierung<br />
des Rechtsrats im Sinne einer Privilegierung<br />
der Spezialisten und einer Abwertung der anderen Berater<br />
zu reinen Rechtstechnikern, die – bei tendenziell abnehmender<br />
Berufszufriedenheit – dazu übergehen werden, angesichts<br />
zunehmenden Preiswettbewerbs Rechtsrat zu routinisieren,<br />
zu standardisieren und zu multiplizieren, nur um<br />
überleben zu können.<br />
Der Professionsforscher Eliot Freidson spricht in diesem<br />
Zusammenhang von standardisiertem und bürokratisiertem<br />
Service. Er befürchtet, dass innerhalb der Professionen die<br />
Wissensentwicklung einseitig auf ökonomische Verwertbarkeit<br />
und Trendorientierung ausgerichtet wird und eine theoriegeleitete<br />
Forschung ausbleibt. Damit entstünde das Risiko,<br />
dass die Professionen auf ökonomischen Erfolg und<br />
technische Wissensanwendung eingedampft werden und<br />
ihre Bindung an raum- und zeitunabhängige Werte verkümmert.<br />
Nach Freidson verlören die Professionen so ihre<br />
„Seele“ 26 .<br />
5. Konsequenzen für die Anwaltschaft<br />
Es mag sein, dass wir in einer Dienstleistungsgesellschaft<br />
die Dienste wie Produkte hierarchisieren und damit<br />
auch die Dienstleistungswelt in Billigprodukte, solide Produkte,<br />
Premiumprodukte und Luxusprodukte aufteilen<br />
können. Angesichts der derzeitigen Entwicklungen in den<br />
Konsumgütermärkten stünde dann ein erheblicher Zuwachs<br />
im „Discountbereich“ an, da die Menschen preissensibel<br />
geworden sind.<br />
Allerdings ist zu fragen, ob wir uns Bildungsversorgung,<br />
„Versorgung“ mit Religion, Versorgung mit Gesundheit,<br />
Versorgung mit Architektur und Baukultur, Versorgung mit<br />
Sicherheit auf Discountstandard leisten können oder leisten<br />
wollen, ob wir Expertensysteme zulassen, die sich eher am<br />
Minimum als am Maximum orientieren oder aber ob wir<br />
eine breite Spreizung der Standards in Kauf nehmen, sodass<br />
jeder nach seinem Gusto auswählen kann.<br />
Was die rechtlichen Dienste angeht, so steht im Mittelpunkt<br />
die Frage, ob Rechtsversorgung ein öffentliches Gut<br />
bleibt oder schrittweise zu einem privaten Gut wird, von<br />
welchem diejenigen, die nicht zahlen wollen oder können,<br />
ausgeschlossen bleiben.<br />
Dies ist im Kern eine politische Frage. Die Anwaltschaft<br />
muss in diesem Zusammenhang eine Überzeugungsleistung<br />
erbringen. Sie muss die Zukunftsrisiken verschiedener<br />
Alternativen der Rechtsversorgung verdeutlichen und<br />
darlegen, dass nur ein Expertensystem mit verbürgter Qualität<br />
den Menschen unter Unsicherheitsbedingungen relative<br />
Sicherheit geben kann.<br />
Gerade im Zusammenhang mit Rechtsrat kann Systemvertrauen<br />
in das Expertensystem Anwaltschaft nur begründet<br />
werden, wenn zunächst das wertethische Fundament<br />
der Anwaltschaft präzise und klar definiert wird<br />
und darauf aufbauend Standards für bestmögliche Versorgung<br />
mit Rechtsrat entwickelt werden.<br />
Es muss verdeutlicht werden, dass im Zusammenhang<br />
mit dem Recht wie auch im Zusammenhang mit Gesundheit<br />
oder mit anderen zentralen Werten eine Freigabe der<br />
Standards dazu führen wird, dass sich immer mehr Menschen<br />
ungestützt in Risikoumwelten bewegen müssen, die<br />
sie überfordern. Wohin dies führt, ist bereits jetzt am Beispiel<br />
der Diskussion über die Gesundheitsversorgung absehbar.<br />
Nicht zuletzt muss verdeutlicht werden, dass die<br />
Möglichkeit zur Inanspruchnahme von Recht in einem<br />
Rechtsstaat offen gehalten und nicht durch die Hintertür<br />
„offener Märkte“ verabschiedet werden kann.<br />
Dabei ist zu beachten, dass eine reine Ökonomisierung<br />
der Betrachtung öffentlicher Güter für den Einzelnen und<br />
für die Gesellschaft hohe Risiken birgt 27 . Dies schließt die<br />
Beachtung ökonomischer Prinzipien bei der Leistungserstellung<br />
selbstverständlich keineswegs aus. Allerdings ist<br />
die Verkürzung der Weltsicht auf ökonomische Faktoren ein<br />
Irrweg, der die Komplexität sozialer Beziehungen und der<br />
Bedingungen sozialen Zusammenlebens völlig unterschätzt.<br />
Die Anwaltschaft muss in einem öffentlichen Diskurs<br />
die Bedingungen für Rechtsrat mit verbürgter Qualität aufzeigen.<br />
Gelingt diese Überzeugungleistung, muss sie diese<br />
Bedingungen in einem System wirksamer Selbstkontrolle<br />
faktisch herstellen und so Vertrauen in der Gesellschaft gewinnen.<br />
Hierzu gehört die Organisation einer hochwertigen<br />
Anwaltaus- und -fortbildung, die Wiederbelebung der Diskussion<br />
über das Qualitätsmanagement in Anwaltskanzleien<br />
und die Schaffung von Strukturen, die Qualität in den<br />
Kanzleien zuverlässig sichern und den Menschen Organisationsvertrauen<br />
ermöglichen. Hierzu gehört schließlich, jede<br />
einzelne Anwältin und jeden einzelnen Anwalt auf die<br />
Qualitätstriade aus fachlicher Kompetenz, persönlicher Integrität<br />
und Mandantenorientierung („Wohlwollen“) zu verpflichten,<br />
um so den Mandanten zu ermöglichen, den Anwälten<br />
als Mittlern des Zugangs zum Recht persönliches<br />
Vertrauen entgegenzubringen. Im Ergebnis gilt der Satz der<br />
Philosophin Sissela Bok: „Was immer Menschen wichtig<br />
ist, es gedeiht in einer Atmosphäre des Vertrauens“ 28 .<br />
26 Freidson, E. 2001 aaO, S. 209, S. 297 ff.<br />
27 Vgl. hierzu Lorig, W. H., „Good Governance“ und „Public Service Ethics“, in:<br />
Aus Politik und Zeitgeschichte, B 18/2004, S. 24 ff.<br />
28 Bok, S.: Lying, New York 1978, S. 31.
458<br />
MN<br />
Das Berufsbild des<br />
europäischen Rechtsanwalts<br />
– Harmonisierung<br />
durch Deregulierung?<br />
Prof. Dr. Martin Henssler, Universität zu Köln*<br />
Das deutsche Berufsbild des Rechtsanwalts ist keineswegs<br />
ein Auslaufmodell, auch wenn dies die aktuellen Bestrebungen<br />
der Europäischen Kommission zur Liberalisierung<br />
des anwaltlichen Berufsrechts vermuten lassen. Der<br />
Autor wirft einen Blick auf das Anwaltsbild in anderen<br />
EU-Staaten und weist einen Weg, wie das Berufsrecht harmonisiert<br />
werden könnte.<br />
I. Einleitung<br />
Veraltet, unflexibel, zu komplex, ungenügend überprüfbar<br />
und intransparent, so lautet das vernichtende und ganz<br />
aktuelle Urteil einer staatlichen Behörde über den Rechtsberatungsmarkt.<br />
Gemeint war allerdings nicht der deutsche<br />
Rechtsberatungsmarkt, um dessen Modernisierung sich der<br />
mit diesem Heft geehrte langjährige Präsident des Deutschen<br />
<strong>Anwaltverein</strong>s, Dr. h. c. Ludwig Koch, seit vielen<br />
Jahrzehnten erfolgreich bemüht. Das Urteil entstammt dem<br />
jüngst vorgelegten Clementi-Bericht einer englischen Regierungskommission<br />
1 und bezieht sich auf den Regelungsrahmen<br />
des englischen Anwaltsmarktes 2 . Aus der europäischen<br />
Perspektive betrachtet ist das vielleicht aber noch<br />
bedenklicher, gilt doch der britische Markt im Vergleich<br />
zum unsrigen als – angeblich – stark dereguliert. Wie<br />
würde das Verdikt der englischen Behörde für den deutschen<br />
Regelungsrahmen ausfallen, der weiterhin ein aus der<br />
Postkutschenzeit stammendes Zweigstellenverbot und ein<br />
umfassendes anwaltliches Beratungsmonopol aufweist, das<br />
von den Medien ob seiner Entstehungsgeschichte gerne als<br />
antiliberales Relikt aus der Nazizeit angeprangert wird?<br />
Die Bewertung unseres Marktes durch die europäische<br />
Kommission und das europäische Parlament ist eindeutig.<br />
In einem kürzlich im Februar 2004 von der Generaldirektion<br />
Wettbewerb erstellten Ranking zu den Wettbewerbshemmnissen<br />
auf dem Rechtsberatungsmarkt werden wir als<br />
„schwarze Schafe“ an den Pranger gestellt und der Spitzengruppe<br />
der hyperregulierten EU-Mitgliedstaaten zugerechnet<br />
3 . Damit müssen wir uns jenen Staaten zugeordnet<br />
fühlen, in denen – so wörtlich die Entschließung des Europäischen<br />
Parlaments vom Januar dieses Jahres – „die Berufskammern<br />
allzu häufig ihre Selbstregelungsbefugnis<br />
mehr zur Förderung der Interessen ihrer eigenen Mitglieder<br />
als zur Förderung derjenigen der Verbraucher nutzen“ 4 .<br />
Deutlich wird an diesen Beispielen, dass alle nationalen<br />
Rechtsberatungsmärkte und damit alle Anwaltschaften in<br />
Europa vor Herausforderungen und weiteren Umwälzungen<br />
stehen. Obwohl gerade die deutsche Anwaltschaft bereits<br />
ein Jahrzehnt ständiger Reformen auf dem Gebiet des Berufsrechts<br />
hinter sich hat, sind weitere grundlegende Veränderungen<br />
unausweichlich. Der Druck zu Veränderungen<br />
kommt von den nationalen Parlamenten, zu wesentlichen<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Aufsätze<br />
Teilen aber aus Europa – wie die jüngsten Gesetzesentwürfe<br />
der EU-Kommission und die aktuellen Gerichtsentscheidungen<br />
des EuGH zeigen.<br />
Welchen Weg soll die Anwaltschaft in einem einheitlichen<br />
europäischen Beratungsmarkt einschlagen, welche<br />
Funktion soll ihr in den vorerst noch eigenständigen nationalen<br />
Rechtspflegesystemen zukommen? Die europäische<br />
Anwaltschaft steht tatsächlich an einem Scheideweg: Soll<br />
sie sich zum reinen Dienstleistungsberuf entwickeln oder<br />
soll sie sich von gewerblichen Dienstleistern bewusst und<br />
deutlich abgrenzen und auf einer Sonderstellung für die<br />
Funktionsfähigkeit eines rechtsstaatlichen Systems pochen?<br />
Kommerz oder Organ der Rechtspflege, so könnte man plakativ<br />
formulieren? 5<br />
II. Der europäische Rechtsanwalt zwischen<br />
Organ der Rechtspflege und modernem<br />
Dienstleistungsberuf<br />
1. Der Rechtsanwalt als unabhängiges Rechtspflegeorgan<br />
und Freier Beruf<br />
Unser nationales Berufsrecht stuft in § 1 BRAO den Anwalt<br />
als „unabhängiges Organ der Rechtspflege“ ein und<br />
grenzt ihn mit dieser Sonderstellung deutlich von einem<br />
schlichten gewerblichen Dienstleistungsberuf ab. Weite<br />
Teile der Anwaltschaft können freilich mit dieser Vorgabe<br />
kaum etwas anfangen, geschweige denn sich mit ihr identifizieren.<br />
Die ablehnende Einstellung beruht häufig auf einem<br />
Missverständnis: „Organ der Rechtspflege“ war nie<br />
im Sinne einer Amtsstellung mit beamtenähnlichen Pflichten<br />
zu verstehen 6 . Die Zubilligung einer Organstellung ist<br />
das Ergebnis des erfolgreichen Kampfes der Anwaltschaft<br />
um die Freie Advokatur 7 .<br />
Die programmatische Aussage des § 1 BRAO verbindet<br />
den Hinweis auf die Organstellung bewusst mit dem gleichgewichtigen<br />
Bekenntnis zur Unabhängigkeit im Sinne der<br />
freien und unreglementierten Selbstbestimmung des einzelnen<br />
Rechtsanwaltes 8 . Die Bezugnahme auf die Funktion als<br />
Organ der Rechtspflege soll zum Ausdruck bringen, dass<br />
die staatsfreie unreglementierte Anwaltschaft als Institution<br />
ein unverzichtbares Element jedes rechtsstaatlichen Rechtspflegesystems<br />
ist, die gleichberechtigt neben der Richterschaft<br />
und weiteren Organen wie Staatsanwälten oder Notaren<br />
steht 9 . Erst der Anwalt als Rechtspflegeorgan sichert<br />
das Recht des Bürgers, sich durch die hierfür qualifizierte<br />
* Der Beitrag beruht auf dem Vortrag am 15.6.2004 aus Anlass der akademischen<br />
Feier der Universität zu Köln zum 70. Geburtstag von Rechtsanwalt Dr. h.c.<br />
Ludwig Koch.<br />
1 Consultation Paper on the Review of the Regulatory Framework for Legal Services<br />
in England and Wales, März 2004, abrufbar unter http://www.legal-services-review.org.uk/content/consult/review.htm.<br />
Zum Clementi-Review Kilian,<br />
AnwBl 2004, 389; Hellwig, AnwBl 2004, 213, 221 f.<br />
2 Umfassend zur englischen Anwaltschaft Abel, English Lawyers Between Market<br />
and State: The Politics of Professionalism, Oxford 2003. Aus dem deutschen<br />
Schrifttum Rawert, Die Zweiteilung der englischen Anwaltschaft, Bonn 1993;<br />
Remmertz, Anwaltschaft zwischen Tradition und Wettbewerb – Das Berufs- und<br />
Standesrecht der Rechtsanwälte in England und Deutschland, Bonn 1996.<br />
3 Vgl. http://europa.eu.int/comm/competition/antitrust/legislation/%20#liberal.<br />
4 Entschließung des Europäischen Parlaments zur europäischen Wettbewerbspolitik<br />
vom 29.1.2004.<br />
5 Zum Generalthema „Der europäische Rechtsanwalt zwischen Rechtspflege und<br />
Dienstleistung“ Ahrens, ZZP 115 (2002), 281 ff.; Henssler ZZP 115 (2002),<br />
321 ff.; de Lousanoff ZZP 115 (2002), 357 ff.; Iqbal ZZP 115 (2002), 385 ff.<br />
6 Grundlegend zur Begrifflichkeit Koch, in: Henssler/Prütting, BRAO, 2. Aufl.<br />
2004, § 1 Rdnr. 66 ff.; ferner Rdnr. 26 unter Hinweis auf BVerfG NJW 1975,<br />
103.<br />
7 Vgl. anschaulich BVerfG NJW 1983, 1535, 1536.<br />
8 So auch Koch, in: Henssler/Prütting, aaO, § 1 Rdnr. 79.<br />
9 BVerfG NJW 1983, 1535, 1536; vgl. auch Stern, Anwaltschaft und Verfassungsstaat,<br />
S. 13; Krämer, NJW 1995, 2313, 2315 f.
AnwBl 8 + 9/2004 459<br />
Aufsätze MN<br />
Vertrauensperson rechtliches Gehör zu verschaffen und so<br />
effektiv die durch die Rechtsordnung gewährten Rechte<br />
durchzusetzen. Der unabhängige Anwalt ist der Garant des<br />
Zugangs zu Recht und Gerechtigkeit.<br />
Diese Einbindung in das Rechtspflegesystem im Sinne<br />
einer im Gemeinwohl liegenden Funktion der Anwaltschaft<br />
begründet Teilhaberechte, aber auch eine Mitverantwortung.<br />
Sie ist die Grundlage der Anwaltsprivilegien wie dem<br />
Zeugnisverweigerungsrecht und dem Beschlagnahmeverbot;<br />
sie ist aber auch die Grundlage der besonderen Pflichtenstellung<br />
in Form spezifischer Berufspflichten. Sie ist<br />
letztlich auch die Rechtfertigung für ein Kammerwesen im<br />
Sinne eines Systems der autonomen Selbstverwaltung, das<br />
einerseits die Unabhängigkeit vom Staat sichert, das aber<br />
zugleich – anstelle des Staates – darüber wacht, dass die<br />
Anwaltschaft ihrer im Gemeinwohl liegenden Aufgabe<br />
nachkommt. Wer sie aufgeben will, dem muss bewusst sein,<br />
dass er damit allen Sonderrechten die Grundlage entzieht.<br />
2. Die verfassungsrechtliche Sonderstellung des Rechtsanwaltes<br />
Für das deutsche Recht stellt sich die rechtspolitische<br />
Frage, die anwaltliche Stellung als Rechtspflegeorgan freiwillig<br />
aufzugeben, nicht. Die freie Advokatur ist unter der<br />
Geltung des Grundgesetzes verfassungsrechtlich abgesichert.<br />
Mit dem Bekenntnis in Art. 20 Abs. 3 GG zur<br />
Rechtsstaatlichkeit verbunden ist die Gewährleistung eines<br />
funktionsfähigen Rechtspflegesystems 10 . Ein rechtsstaatlich<br />
verfasstes Justiz- und Gemeinwesen bedingt aber die Existenz<br />
von staatsunabhängigen Rechtsanwälten 11 , die der<br />
Bürger als seine Vertrauensperson nach freier Wahl beauftragen<br />
kann. Art 12 GG garantiert die freie Ausübung des<br />
solchermaßen determinierten Anwaltsberufes, die rechtsstaatliche<br />
Institutionalisierung strahlt somit auf den Schutzumfang<br />
der Berufsfreiheit aus. Diese Betrachtungsweise<br />
liegt ganz auf der Linie Ludwig Kochs, der in seinem<br />
Schlusswort auf dem Anwaltstag 1988 formuliert hat:<br />
„Meine Sehnsucht ist, dass es bald wirklich keine Aussage<br />
mehr gibt zu Ansehen und Wirklichkeit unseres Rechtsstaates<br />
ohne die Erwähnung anwaltlicher Aufgabe in ihm“ 12 .<br />
3. Das Berufsbild des Rechtsanwaltes in Europa<br />
Nicht alle europäische Rechtsordnungen sind freilich<br />
von einem derartigen Anwaltsbild geprägt. Vielmehr beginnen<br />
bereits an dieser Stelle die Schwierigkeiten, die von<br />
den europäischen Bemühungen um eine Harmonisierung<br />
des Anwaltsbildes zu bewältigen sind. In Europa stehen<br />
sich grundsätzlich zwei Systeme gegenüber, die freilich<br />
häufig nicht in Reinkultur in den nationalen Regelungen<br />
verankert sind 13 . Die skandinavischen Länder, insbesondere<br />
Finnland und Schweden, mit gewissen Abstrichen aber<br />
auch das Vereinigte Königreich 14 , begründen die anwaltlichen<br />
Berufspflichten nicht aus einer Organstellung heraus,<br />
sondern rekurrieren auf das anwaltliche Mandatsverhältnis.<br />
Als Folge dieses Begründungsansatzes stehen die Berufspflichten<br />
grundsätzlich zur Disposition der Mandanten. Die<br />
Rechtsberatungsmärkte sind kaum reguliert, ja in Schweden<br />
ist es dem Juristen völlig freigestellt, ob er überhaupt einem<br />
Berufsverband beitreten will. Die Staaten des romanischen<br />
Rechtskreises, insbesondere die südeuropäischen Länder<br />
Italien, Spanien und Portugal sowie Frankreich und Belgien,<br />
aber auch Österreich und sehr ausgeprägt Griechenland erkennen<br />
dem Anwalt dagegen ähnlich wie Deutschland die<br />
Stellung eines Rechtspflegeorgans zu. Die Berufspflichten<br />
bestehen aufgrund dieser institutionellen Absicherung als<br />
öffentlich-rechtliche Pflichten ganz unabhängig von dem<br />
vertraglichen Pflichtenprogramm. Die Parteien des Anwaltsvertrages<br />
können über seine Reichweite nicht disponieren.<br />
III. Die Entwicklung des anwaltlichen<br />
Berufsrechts in Europa<br />
1. Deregulierungsbestrebungen der EU-Kommission<br />
Auch im Bereich der Rechtsberatungsmärkte haben wir<br />
damit in Europa den bekannten Wettbewerb der Systeme.<br />
Welches System wird sich durchsetzen? Hat unser traditionelles<br />
System eine Zukunftschance? Für die EU-Kommission<br />
ist das Aufbrechen der Verkrustungen und Wettbewerbshemmnisse<br />
auf den Tätigkeitsfeldern aller freien<br />
Berufe ein zentrales Anliegen 15 . Gleich zwei Aktionen der<br />
jüngsten Zeit zielen auf eine partielle Abschaffung berufsrechtlicher<br />
Beschränkungen. Zunächst wurde am 9. 2. 2004<br />
der von der „GD Wettbewerb“ verantwortete Bericht über<br />
den „Wettbewerb bei freiberuflichen Dienstleistungen“ vorgelegt<br />
16 , ein wahrer Aufruf des zuständigen EU-Kommissars<br />
Monti zum Abbau berufsrechtlicher Beschränkungen 17 ;<br />
nur zwei Wochen später folgte aus der „GD Markt“ ein Vorschlag<br />
für eine EU-Richtlinie über Dienstleistungen im<br />
Binnenmarkt 18 , der schon einige der monierten Beschränkungen,<br />
etwa im Bereich der Werbung und der berufsübergreifenden<br />
Zusammenarbeit, attackiert. Das Interesse Europas<br />
an den Freien Berufen kommt nicht überraschend, da<br />
innerhalb des Dienstleistungssektors, dessen Bedeutung für<br />
das Arbeits- und Wirtschaftsleben kontinuierlich wächst<br />
und der in der EU inzwischen ein BIP von 54 % und einen<br />
Beschäftigungsanteil von 67 % sichert, die freiberuflichen<br />
Leistungen den wachstumsstärksten Sektor mit hohen Zuwachsraten<br />
bilden 19 .<br />
Wesentliche Grundlage der Feststellungen der Kommission<br />
ist eine von ihr in Auftrag gegebene Studie des Wiener<br />
Instituts für Höhere Studien („IHS-Studie“) 20 , die der Kommission<br />
zufolge die These stützt, mehr Freiheit bei der Berufsausübung<br />
ermögliche eine höhere Wertschöpfung. Die<br />
Studie geht von der Prämisse aus, dass aus ökonomischer<br />
Sicht eine möglichst geringe Regulierungsdichte anzustreben<br />
sei, weil eine intensivere Regulierung aus Sicht der<br />
Volkswirtschaft und der Verbraucher zu keinen besseren Ergebnissen<br />
führe. Sie stützt diese These auf die Behauptung,<br />
in den geringer regulierten Märkten – etwa Finnland und<br />
Schweden – sei kein „market failure“, also kein Marktversagen<br />
auszumachen. In einer gemeinsamen Stellungnahme<br />
zur IHS-Studie haben Kilian und ich dargelegt, dass diese<br />
Aussage weder verifizierbar noch verallgemeinerungsfähig<br />
10 Krämer NJW 1975, 849, 853.<br />
11 Rick, Die verfassungsrechtliche Stellung des Rechtsanwalts, S. 80.<br />
12 Koch, AnwBl 1988, 428.<br />
13 Hierzu Hellwig, BRAK-Mitt. 2002, 52, 53; Henssler, ZZP 115 (2002), 321.<br />
14 Dort ist der Rechtsanwalt „officer of the court“ dazu Henssler ZZP 115<br />
(2002), 321, 325 f.<br />
15 Zu den gegenwärtigen Entwicklungen Schriever, AnwBl 2004, 171; Hellwig,<br />
AnwBl 2004, 213, 218 ff.; Lühn, AnwBl 2003, 688 ff.; Henssler, BB 2004,<br />
Editorial zu Heft 22.<br />
16 KOM(2004) 83 endgültig, abrufbar unter http://europa.eu.int/comm/competition/liberal_professions/final_communication_de.pdf.<br />
17 Dazu Hellwig BRAK-Mitt 2004, 19.<br />
18 KOM(2004) 2 endgültig/2, abrufbar unter http://europa.eu.int/eur-lex/de/com/<br />
pdf/2004/com2004_0002de02.pdf.<br />
19 Vgl. KOM(2004) 83 endgültig, Rdnr. 8.<br />
20 Paterson/Fink/Ogus, Economic impact of regulation in the field of liberal professions<br />
in different EU Member States, Institut für Höhere Studien, Wien, Januar<br />
2003. Abzurufen unter http://europa.eu.int/comm/competition/publications/publications/
460<br />
MN<br />
ist, da der von der Studie als Idealtypus angeführte finnische<br />
und schwedische Markt nicht näher untersucht wird<br />
und zudem als Markt mit verhältnismäßig wenigen Dienstleistungsanbietern<br />
keine Rückschlüsse zulässt, welche Folgen<br />
eine pauschale Deregulierung der Berufsrechte etwa in<br />
Deutschland hätte21 . Gleichwohl schließt sich der Kreis zu<br />
den Eingangsüberlegungen: Vorbildfunktion haben nicht<br />
diejenigen Länder, die von einer rechtsstaatlichen Organstellung<br />
ausgehen. Vorbildfunktion haben diejenigen Länder,<br />
die den Rechtsanwalt als schlichten Dienstleister ohne<br />
spezifische Sonderstellung betrachten.<br />
Bemerkenswert erscheint, dass die Kommission in ihren<br />
Empfehlungen an keiner Stelle zu erkennen gibt, dass sie<br />
sich dieses fundamentalen Unterschiedes überhaupt bewusst<br />
ist. Störend an der rein ökonomischen Ausrichtung<br />
der IHS-Studie und der daran anknüpfenden Empfehlung<br />
der GD-Wettbewerb ist, dass das deutsche Berufsrecht, wie<br />
es in der BRAO und der Berufsordnung verankert ist, als<br />
grundsätzlich unerwünschtes Wettbewerbshemmnis betrachtet<br />
wird. Die rein ökonomische Betrachtung arbeitet<br />
mit der Prämisse, dass die Regulierung den Interessen der<br />
Berufsangehörigen an einem abgeschotteten Markt und einer<br />
Gewinnoptimierung dient. Die vorrangige Frage, welche<br />
Funktion Berufsrecht erfüllen muss, damit es sowohl<br />
mit den nationalen Verfassungen als auch mit dem Europarecht<br />
konform und damit überhaupt wirksam ist, wird nicht<br />
gestellt. Verfassungsrechtlich ist es aber keine neue Erkenntnis,<br />
dass Berufsausübungsregelungen gerade nicht<br />
Partikularinteressen (etwa der Rechtsanwaltschaft) dienen<br />
dürfen, sondern, um verfassungsrechtlich Bestand zu haben,<br />
von „vernünftigen Erwägungen des Gemeinwohls“ getragen<br />
sein müssen22 . Und auch aus europäischer Sicht bedarf<br />
es keiner neuen regulatorischen Aktion der Kommission.<br />
Vielmehr kann schon derzeit nach der Rspr. des EuGH die<br />
Aufnahme und Ausübung selbstständiger Tätigkeiten nur<br />
dann eingeschränkt werden, wenn die entsprechenden<br />
Rechts- und Verwaltungsvorschriften durch zwingende<br />
Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt und erforderlich<br />
sind23 . Benötigt werden keine neuen Aktionen, um<br />
allein der Gewinnoptimierung des Berufsstands dienende<br />
Regelungen zu vermeiden. Der Gang vor die Gerichte, gegebenenfalls<br />
zum BVerfG oder EuGH genügt.<br />
Wie heikel Deregulierungsschritte sind, zeigt das Beispiel<br />
der Reform des Notarrechtes in den Niederlanden. Die<br />
Niederlande haben im Jahre 1999 ihr im sog. Lateinischen<br />
Notariat wurzelndes Notarrecht grundlegend novelliert24 .<br />
Zielsetzung war es, durch Abbau von Zulassungsschranken<br />
und Freigabe der Gebühren mehr Wettbewerb zu schaffen<br />
und die Kosten für den Verbraucher zu senken. Zugleich<br />
sollten die Berufsträger zu notwendigen Innovationen angehalten<br />
werden, damit sich das Notariat zu einem modernen<br />
Dienstleistungsberuf entwickeln möge. Allerdings bleibt der<br />
Notar weiterhin staatlich ernannter Träger eines Amtes, so<br />
dass die Wurzeln im lateinischen Notariat nicht vollständig<br />
gekappt wurden. U.a. wurden auch die bis dato geltenden<br />
staatlichen Gebührentarife aufgehoben. Die Aufhebung hat<br />
allerdings nicht dazu geführt, dass die Tarife im Interesse<br />
der Verbraucher gesunken sind, wie dies geplant war. Ganz<br />
im Gegenteil ist es sogar zu einem massiven Anstieg der<br />
Gebühren, etwa im Bereich der Beurkundung von Familiensachen,<br />
gekommen25 . Die Prämisse, eine Deregulierung der<br />
Berufsrechte wirke sich zwangsläufig zum Vorteil der Verbraucher<br />
aus, beruht damit auf einem offensichtlichen Trugschluss.<br />
Pikanterweise setzen sich die Verbraucherschützer,<br />
die zunächst die Abschaffung des Gebührengesetzes gefor-<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Aufsätze<br />
dert hatten, jetzt dafür ein, die festen Tarife wieder einzuführen.<br />
„In dubio pro libertate“ war das Motto, unter dem der<br />
Berufsrechtler Ludwig Koch jahrelang mit Recht für die Liberalisierung<br />
des deutschen Berufsrechts gekämpft hat. Inzwischen<br />
aber stehen wir gelegentlich an einer Schwelle,<br />
an der anwaltliche Grundwerte tangiert sind. Bei unbedachter<br />
Deregulierung besteht, wie man sieht, die Gefahr, dass<br />
gewachsene Marktregularien zum Nachteil aller Beteiligten<br />
zerstört werden. Soweit Vorschriften dazu dienen, den Zugang<br />
zum Recht zu verbessern, Verbraucherrechte zu stärken<br />
und die Qualität der anwaltlichen Dienstleistung zu sichern,<br />
können diese wichtigen Gemeinwohlbelange nicht<br />
für eine Deregulierung, die dann letztlich nur um ihrer<br />
selbst Willen erfolgen würde, geopfert werden.<br />
2. Eckdaten eines harmonisierten Berufsrechts<br />
In Brüssel werden derzeit die Weichen für die Zukunft<br />
gestellt. Wünschenswert ist eine Debatte über die Zukunft<br />
des Rechtsanwalts in Europa, über das Modell des Europäischen<br />
Rechtsanwaltes, für das die deutsche Anwaltschaft in<br />
Brüssel auch mit möglichst einer Stimme kämpfen sollte.<br />
Wie aber sollen die Eckdaten eines harmonisierten Berufsbildes<br />
aussehen?<br />
Bei der Gestaltung des Berufsbilds eines „europäischen<br />
Rechtsanwaltes“ ist an der Funktion als „unabhängiges<br />
Rechtspflegeorgan“ festzuhalten. Der Verzicht auf die Organstellung<br />
mit dem Ziel, sich den besonderen anwaltlichen<br />
Pflichten zu entziehen, hätte drastische Folgen. Der Anwalt<br />
würde durch den Beruf eines „dienstleistenden Juristen“ ersetzt,<br />
die Anwaltsprivilegien verlören ihre Grundlage, für<br />
ein Beratungsmonopol der Anwaltschaft fehlte jede Rechtfertigung.<br />
Der Anwalt muss, will er seine Sonderstellung<br />
bewahren, mehr sein als ein reiner Dienstleister. Seine auch<br />
im Kreise der Freien Berufe herausragende Rechtsstellung<br />
kann er sich nur erhalten, wenn er sich zur seiner institutionellen<br />
Funktion im Rahmen staatlicher Justizgewährleistung<br />
bekennt und bereit ist, hierfür besondere Pflichten auf<br />
sich zu nehmen. Berufsrecht und Bekenntnis zur Stellung<br />
als Rechtspflegeorgan sind eng mit einander verknüpft.<br />
Für diese Position dürfte es in Europa klare Mehrheiten<br />
geben. Die Anwaltschaft muss die notwendigen Grundlagen<br />
hierfür aber selbst legen: Sie muss sich im Interesse einer<br />
langfristigen Bewahrung der anwaltlichen Sonderstellung auf<br />
die anwaltlichen Grundwerte – Unabhängigkeit, Verschwiegenheit<br />
und Verbot der Wahrnehmung widerstreitender Interessen<br />
– besinnen, auf jene Werte also, welche zur Wahrung<br />
des Ansehens des Rechtsanwaltes und zur Sicherung der Vertrauensbeziehung<br />
zum Mandanten essentiell sind 26 . Auch die<br />
EU-Kommission denkt nicht daran, diese Grundwerte in<br />
21 Henssler/Kilian, Positionspapier zur Studie des Instituts für Höhere Studien,<br />
September 2003; abrufbar unter http://www.anwaltverein.de/bruessel/pos-papier.pdf.<br />
22 Grundlegend BVerfG AnwBl 1987, 598 ff., 603 ff.; 1993, 120 ff.; ferner Jaeger,<br />
AnwBl. 2000, 475 ff.<br />
23 Vgl. zur Dogmatik der Grundfreiheiten etwa EuGH C-55/94 (Gebhard), Slg.<br />
1995, I-4165; EuGH C-255/97 (Pfeiffer), Slg. 1999, I-2835; EuGH C-108/96<br />
(MacQuen) Slg. 2001, I-837; EuGH C-294/00 (Paracelsus Schulen/Gräbner),<br />
Slg. 2002, I-6515.<br />
24 Hierzu umfassend Schützeberg, Der Notar in Europa – Eine rechtsvergleichende<br />
Untersuchung des deutschen, französischen, niederländischen und englischen<br />
notariellen Berufsrechts, Diss. Köln 2004.<br />
25 Schützeberg, aaO.<br />
26 Zu diesen „core values“ ausführlicher Henssler, ZZP 115 (2002), 321, 328; sowie<br />
bereits ders. NJW 2001, 1521.
AnwBl 8 + 9/2004 461<br />
Aufsätze MN<br />
Zweifel zu ziehen. Ein gewisser Regulierungsbedarf zum<br />
Schutz dieser Grundwerte wird von ihr durchaus konzediert 27 .<br />
Ihrer Ansicht nach sind es 4 Sektoren, in denen unerwünschte<br />
Wettbewerbshemmnisse abzubauen sind, nämlich 28 im Bereich:<br />
9 der Gebühren- und Tarifgesetze,<br />
9 der Werbung,<br />
9 der Zugangsvoraussetzungen und Monopolrechten,<br />
wie sie in unserem Rechtsberatungsgesetz verankert<br />
sind und<br />
9 im Bereich der Vorschriften für die zulässige Unternehmensform<br />
und die berufsübergreifende Zusammenarbeit.<br />
3. Das anwaltliche Vergütungsrecht<br />
a) Kritik an festen Honorarordnungen<br />
Exemplarisch sei in diesem Rahmen der Kritik am anwaltlichen<br />
„Gebühren“recht begegnet, weil es ganz oben<br />
auf der Deregulierungswunschliste der Kommission steht.<br />
Der Preis ist der wichtigste Wettbewerbsparameter überhaupt,<br />
es ist daher verständlich, dass Wettbewerbshüter jeder<br />
Einschränkung der freien Preisfindung per se skeptisch<br />
gegenüberstehen. Im Bereich des anwaltlichen Vergütungswesens<br />
existiert zwar mit dem RVG seit dem 1.7.2004 ein<br />
neues Gesetz. Es entspricht aber nicht den Wünschen der<br />
EU-Kommission: Auch unter der Geltung des RVG bleibt<br />
es im forensischen Bereich bei festen Gebührensätzen und<br />
dem Verbot der Gebührenunterschreitung, Erfolgshonorare<br />
sind weiterhin verpönt. Nach Ansicht der Kommission<br />
schaden aber Mindestpreise dem Wettbewerb am meisten,<br />
da sie die Vorteile wettbewerbsfähiger Märkte für Verbraucher<br />
ausschalten 29 . Auch der Bundesminister für Wirtschaft<br />
und Arbeit, Wolfgang Clement, ist dieser Auffassung und<br />
hat bereits, ganz im Sinne Montis, die gesetzlichen Gebührenordnungen<br />
prinzipiell in Frage gestellt 30 .<br />
b) Vorteile tarifierter Honorarsysteme<br />
Die Ablehnung von Tarifgesetzen, zu denen auch das<br />
RVG zählt, beruht auf der Prämisse, die Regulierung diene<br />
in erster Linie dem Interesse des Berufsstandes an einem<br />
auskömmlichen Verdienst. Dass unser Gebührensystem im<br />
Gegenteil in erster Linie eine soziale Komponente aufweist<br />
wird ebenso verkannt wie die sonstigen, im Interesse der<br />
Allgemeinheit und der Verbraucher liegenden positiven Effekte<br />
von Tarifsystemen. Die Regulierung der Vergütung sichert<br />
zunächst allen Rechtsuchenden gleichermaßen den<br />
Zugang zum Recht. Erreicht wird dies zum einen über die<br />
Streitwertabhängigkeit der Gebühren, zum anderen durch<br />
den der Taxe immanenten Gedanken der Mischkalkulation.<br />
Die vom Rechtsanwalt vereinnahmte hohe Vergütung bei<br />
hohen Streitwerten kompensiert die nicht kostendeckenden<br />
Einnahmen bei niedrigen Streitwerten 31 . Die Tarifierung<br />
ermöglicht die Durchsetzung geringwertiger Ansprüche mit<br />
Hilfe von Rechtsanwälten, weil die nicht kostendeckende<br />
Tarifvergütung in diesen Mandaten durch die Einnahmen<br />
aus „gebührenhaltigeren“ Mandaten quersubventioniert<br />
wird. Eine solche soziale Komponente des Vergütungswesens<br />
ist nur bei einer Tarifierung denkbar; sie setzt voraus,<br />
dass dem Rechtsanwalt eine Mindestvergütung zugebilligt<br />
wird, welche die Bearbeitung kleinerer Mandate im<br />
System der Mischkalkulation wirtschaftlich gestattet.<br />
Die Tarifierung der anwaltlichen Vergütung effektuiert<br />
in einem System der prozessualen Kostenerstattung zu-<br />
gleich Erstattungsmechanismen und ermöglicht eine staatliche<br />
Prozesskostenhilfe 32 . Vor allem aber gestattet sie das<br />
Entstehen eines funktionierenden Versicherungsmarktes,<br />
auf dem sich der Verbraucher kostengünstig gegen das Risiko<br />
versichern kann, Rechtsverfolgungskosten aufwenden<br />
zu müssen 33 . Versicherungsprodukte können auf dem Markt<br />
nur dann kostengünstig angeboten werden, wenn dem Versicherer<br />
zum einen ein Risiko-Pooling möglich und zum<br />
anderen das versicherte Risiko kalkulierbar ist. Resultat des<br />
BRAGO-Konzeptes, das weiterhin dem RVG zugrunde<br />
liegt, ist, dass Deutschland der weltweit größte Rechtsschutzversicherungsmarkt<br />
ist 34 . Rund 42 % der Bevölkerung<br />
sind durch entsprechende Policen abgedeckt 35 . Mit jährlichen<br />
Zahlungen an die Anwaltschaft von mehr als 1,5<br />
Mrd. E sind Rechtsschutzversicherer die größten Einkäufer<br />
anwaltlicher Leistungen 36 . Die Belastung des deutschen<br />
Steuerzahlers mit der Finanzierung eines aufwändigen Prozesskostenhilfesystems<br />
ist aufgrund der Existenz der tarifierten<br />
Anwaltsvergütung deutlich geringer als in „deregulierten“<br />
Ländern. Eine Untersuchung aus dem Jahre 2001<br />
hat ergeben, dass Bund und Länder für Beratungshilfe nach<br />
dem BerHG, Prozesskostenhilfe und Beistand in Strafsachen<br />
ca. 350 Mio E, also ca. 4,40 E pro Bürger und Jahr<br />
ausgeben. 37 Mit diesen Pro-Kopf-Werten liegt Deutschland<br />
europaweit nur im hinteren Mittelfeld 38 .<br />
c) Reformbedarf<br />
Nicht nur das geschilderte niederländische Beispiel sollte<br />
deutlich machen: Eine unbedachte und einäugig ökonomisch<br />
motivierte Deregulierung des Gebührenrechts ist nicht zielführend.<br />
Den Schaden wird der Verbraucher tragen müssen<br />
und all jene kleineren Anwaltskanzleien, die für eine flächendeckende<br />
Versorgung der rechtsuchenden Bevölkerung mit<br />
Rechtsrat sorgen. Der EuGH hat in seiner grundlegenden Entscheidung<br />
in der Sache Arduino 39 auch keine Einwände gegen<br />
die Vorgabe von Höchst- und Mindestgebühren durch den nationalen<br />
Gesetzgeber geltend gemacht 40 .Vielmehrsolljeder<br />
Mitgliedstaat selbst entscheiden, wie er die Funktionsfähigkeit<br />
seines Rechtspflegesystems optimal sichert.<br />
27 Vgl. KOM(2004) 83 endgültig, Rdnr. 23 ff.<br />
28 KOM(2004) 83 endgültig, Rdnrn. 31–64.<br />
29 KOM(2004) 83 endgültig, Rdnr. 32.<br />
30 Vgl. Handelsblatt vom 6. Juni 2003. Aktuelles Interesse des BMWA findet die<br />
Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI). Darüber hinaus sollen<br />
nach dem Willen Clements aber auch in anderen Berufsfeldern, wie jenen<br />
der Sachverständigen, der Rechtsanwälte und der Ärzte, die Gebühren- und<br />
Honorarordnungen reformiert werden.<br />
31 Vgl. nur Gerold/Schmidt/von Eicken/Madert-Madert, BRAGO, 15. Aufl. 2001,<br />
Einl. Rdnr. 6.<br />
32 Vgl. Henssler/Kilian, Positionspapier, aaO, S. 27 f.<br />
33 Hierzu ausführlich Kilian, [2003] 30 Journal Of Law & Society, S. 31 ff.<br />
34 Vgl. Kilian, [2003] 30 Journal Of Law & Society, S. 31, 40.<br />
35 Kilian, [2003] 30 Journal Of Law & Society, S. 31, 47, unter Berufung auf empirische<br />
Daten von Marken-Profile 9/Stern aus dem Jahr 2001.<br />
36 Vgl. zu den Leistungsdaten der Versicherungswirtschaft Schiller, VW 2000,<br />
1332 ff.<br />
37 Kilian, Legal Aid And Access To Justice In Germany, in: ILAG (ed.), The<br />
Challenge Of The New Century, Band 1, Melbourne 2001, S. 77, 106. Die Aufwendungen<br />
für die Prozesskostenhilfe betrugen in 2000 (nach Abzug einer<br />
Rückzahlungsquote von 15–20 %) rund 525 Mio. DM, für die Beiordnung in<br />
Strafsachen ca. 125 Mio. DM und für Beratungshilfe ca. 48 Mio. DM (Näherungswerte,<br />
eine konsolidierte Statistik aller Bundesländer existiert nicht). Näher<br />
Kilian, aaO, 99 (für PKH), 103 (Beiordnung Strafsachen), 105 (BerH).<br />
38 BRAK, BRAK-Mitt. 2001, 128, 130.<br />
39 EuGH Urteil vom 19.2.2002 C-35/99 = AnwBl 2002, 247 ff. Zu diesem Urteil –<br />
und dem zeitgleich ergangenen Urteil im Verfahren Wouters – etwa Eichele,<br />
EuZW 2002, 182; Lörcher, NJW 2002, 1092; Römermann/Wellige, BB 2002,<br />
633; Schlosser, JZ 2002, 454; Hund, DStR 2002, 519; v. Wedelstädt, IWB<br />
2002, 309; Kilian, WRP 2002, 812.<br />
40 Der EuGH ist damit nicht der im deutschen Schrifttum vertretenen These gefolgt,<br />
der zu Folge Mindestgebühren gegen die Dienstleistungsfreiheit verstoßen<br />
sollen, vgl. Lenz, Preiswettbewerb unter Rechtsanwälten, 1998, S. 167 ff.
462<br />
MN<br />
Als Fazit bleibt: Die von der EU-Kommission aufgestellte<br />
simple Gleichung: Staatliche Gebührengesetze =<br />
unerwünschte, kostentreibende Wettbewerbshemmnisse<br />
beruht auf einer unzulässigen Simplifizierung und der<br />
Unkenntnis der hochkomplexen Wirkungsmechanismen<br />
zwischen prozessualer Kostenerstattung, staatlicher Prozesskostenhilfe,<br />
privater Rechtsschutzversicherung und Sicherung<br />
des Zugangs zum Recht. Im Gegenteil – es muss<br />
die These gelten, dass der Verbindung von prozessualer<br />
Kostenstattung und subsidiär tarifierter Anwaltsvergütung,<br />
wie sie in Deutschland anzutreffen ist, europaweit eine Vorbildfunktion<br />
zukommt. Sie dient nicht nur der Abwehr unberechtigter<br />
Klagen, sondern stärkt das Auftreten der<br />
Rechtsschutzversicherungen und entlastet damit den Staat<br />
bei der Sicherung des Zugangs zum Recht.<br />
IV. Grenzüberschreitende Anwaltstätigkeit in<br />
Europa<br />
1. Folgen der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit<br />
für die Anwaltschaft<br />
Der harmonisierte Binnenmarkt bietet neben Risiken<br />
vielfältige Chancen, insbesondere für hochqualifizierten<br />
Nachwuchsjuristen mit internationaler Ausbildung und<br />
Ausrichtung. Die Rechtsanwälte gehören – aufgrund der<br />
Richtlinien 77/249/EWG 41 und 98/5/EG 42 – zu einer kleinen<br />
Minderheit von Dienstleistungsunternehmern, die eine eigenständige<br />
Konkretisierung ihrer europaweiten Dienstleistungs-<br />
und Niederlassungsfreiheit durch Richtlinien und deren<br />
Umsetzungen erreicht haben. Welch ein enormer<br />
Kraftakt eine solche Rechtsvereinheitlichung ist, kann man<br />
erst ermessen, wenn man weiß, dass die berufsrechtliche<br />
Harmonisierung, die mit den beiden Richtlinien erreicht<br />
wurde, sogar für die USA Vorbildcharakter hat. Die USA<br />
sind mit ihren abgeschotteten bundesstaatlichen Regelungen<br />
von vergleichbaren Freizügigkeitsrechten noch weit<br />
entfernt. Das Tempo der beruflichen Liberalisierung ist<br />
demjenigen der politischen Integration weit enteilt.<br />
Die Betätigungsmöglichkeiten für Anwälte aus Mitgliedstaaten<br />
der Europäischen Union bestimmen sich in Deutschland<br />
nach dem „Gesetz zur Umsetzung von Richtlinien der<br />
Europäischen Gemeinschaft auf dem Gebiet des Berufsrechts<br />
der Rechtsanwälte“ (EuRAG) 43 , das neben der Niederlassungsrichtlinie<br />
auch die zuvor durch das RADG und das<br />
EigPrüfG implementierten Dienstleistungs- und Hochschuldiplomanerkennungsrichtlinien<br />
umsetzt 44 . Jeder Anwalt aus<br />
dem EU-Raum kann nunmehr unter der Berufsbezeichnung<br />
seines Heimatlandes dauerhaft in jedem anderen Mitgliedstaat<br />
die gleichen beruflichen Tätigkeiten ausüben wie die<br />
Berufsangehörigen des Aufnahmestaats. Es scheint, als hätten<br />
wir ihn tatsächlich wieder eingeführt, den europäischen<br />
Rechtsanwalt mit unbegrenzten Betätigungsmöglichkeiten,<br />
so wie wir ihn schon einmal im Mittelalter zur Zeit der<br />
Blüte der oberitalienischen Rechtsschulen hatten, als man<br />
mit einem Abschluss etwa der Universität Bologna in weiten<br />
Teilen Europas rechtsberatend tätig werden konnte.<br />
Tatsächlich erreicht ist indes nur eine rein fiktive Gleichwertigkeit<br />
aller europäischen Abschlüsse; an der wichtigsten<br />
Voraussetzung für einen europäischen Beratungsmarkt<br />
fehlt es dagegen weiterhin: nämlich an der einheitlichen<br />
Rechtsordnung. Eine tiefergehende Analyse entlarvt den<br />
Aktionismus des europäischen und der nationalen Gesetzgeber<br />
als enormen legislatorischen Aufwand für eine in Relation<br />
zum Gesamtmarkt verschwindend kleine Schar „europäischer<br />
Rechtsanwälte“. Die Statistik der BRAK aus<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Aufsätze<br />
dem Jahre 2003 weist für die gesamte Bundesrepublik bei<br />
knapp 127.000 Rechtsanwälten gerade 397 ausländische<br />
Rechtsanwälte aus.<br />
2.Wettbewerb der Berufsrechte?<br />
Ein echter Wettbewerb der Ausbildungssysteme und der<br />
Berufsrechte findet in Europa derzeit nicht statt, so dass der<br />
Druck, der über die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit<br />
auf eine Deregulierung des deutschen Berufsrechtes<br />
ausgeübt werden könnte, gering ist. Ein „race to the bottom“,<br />
wie wir ihn im Gesellschaftsrecht kennen, ist so<br />
lange nicht zu befürchten, solange wir nicht auch im Berufsrecht<br />
das auf dem Warenverkehr bekannte Ursprungslandsprinzip<br />
übernehmen. Der sog. „Delaware-Effekt“ beruht<br />
auf der Überlegung, dass diejenigen Staaten, die das<br />
liberalste – will heißen: das am wenigsten auf den Gläubigerschutz<br />
achtende – Gesellschaftsrecht vorhalten, Standortvorteile<br />
bieten, so dass die Unternehmensansiedlung<br />
reizvoll wird45 . Im Berufsrecht kann dagegen derzeit das liberale<br />
Recht des Heimatstaates nicht mit der Dienstleistung<br />
exportiert werden. Der im Ausland tätige Anwalt muss sich<br />
vielmehr mit Billigung des EuGH stets einem eventuell<br />
strengeren Berufsrecht seines Tätigkeitsortes unterwerfen46 .<br />
3. Das Kollisionsrecht bei grenzüberschreitender Tätigkeit<br />
Hier erweist es sich als nachteilig, dass Europa mit der<br />
Harmonisierung der Berufsrechte kaum vorangekommen<br />
ist. Wie soll sich der Rechtsanwalt verhalten, wenn die Berufs-<br />
bzw. Verfahrensrechte, denen er unterworfen ist, Unterschiede<br />
aufweisen oder sogar kollidierende Bestimmungen<br />
kennen; wenn z. B. – was tatsächlich denkbar ist – das<br />
englische Recht eine Offenbarungspflicht in Form einer<br />
Meldepflicht kennt, das deutsche Recht dagegen die Verschwiegenheitspflicht<br />
ausnahmslos anordnet. Die europäischen<br />
Regeln bieten hier nur partiell Antworten. Im Falle<br />
einer reinen Dienstleistung im Ausland hat der Rechtsanwalt<br />
grundsätzlich sowohl die Bestimmungen seines Heimatstaates<br />
als auch das Berufsrecht des Aufnahmestaates zu<br />
beachten (§ 27 EuRAG). Es gilt also nicht das Herkunftslandsprinzip,<br />
über das im Europarecht sonst Kollisionen<br />
gelöst werden, und das nunmehr auch Art. 16 des <strong>Entwurf</strong>s<br />
einer EU-Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt47 als Grundsatz für grenzüberschreitende Dienstleistungen<br />
vorsieht48 . Stattdessen kommt es zu einer seltsamen Parallelanwendung<br />
der Rechte von Ursprungs- und Zielland mit der<br />
Folge des Problems der sog. Double Deontology49 . Nur bei<br />
einer außerforensischen Tätigkeit sind die Pflichten weniger<br />
umfassend. In Deutschland niedergelassene ausländische<br />
41 Zu dieser Kespohl-Willemer, AnwBl. 1991, 147 ff.; Raczinski/Rogalla/Tomsche,<br />
AnwBl. 1989, 583 ff.; Rabe, RabelsZ 55, 291 ff. (1991).<br />
42 Zu dieser Henssler, ZEuP 1999, 689; Lörcher, BRAK-Mitt. 1998, 9; Nerlich,<br />
MDR 1996, 874; Sobotta/Kleinschnittger, EuZW 1998, 645; Weber, DZWiR<br />
1996, 127.<br />
43 Zum EuRAG Klein, AnwBl 2000, 190 f.; Lach, NJW 2000, 1609 ff.; Franz, BB<br />
2000, 989 ff.<br />
44 Für Anwälte aus anderen Staaten können sich Tätigkeitsmöglichkeiten auf<br />
Grundlage des General Agreement On Trade In Services (GATS) oder aufgrund<br />
bilateraler Gewährleistungen ergeben; vgl. Kilian, in Henssler/Streck,<br />
Handbuch des Sozietätsrechts, Köln 2001, Rdnr. H 30 ff.<br />
45 Vgl. Hatzis-Schoch, RIW 1992, 539 ff.<br />
46 Kilian, in: Henssler/Streck, aaO, Rz. H 175 ff.<br />
47 KOM(2004) 2 endgültig/2, abrufbar unter http://europa.eu.int/eur-lex/de/com/<br />
pdf/2004/com2004_0002de02.pdf.<br />
48 Zu den für die Rechtsanwälte relevanten Ausnahmen vgl. Art 17 des <strong>Entwurf</strong>s<br />
sowie dazu Henssler. BB 2004, Editorial zu Heft 22.<br />
49 Dazu Hellwig, AnwBl 2004, 213, 218.
AnwBl 8 + 9/2004 463<br />
Aufsätze MN<br />
Anwälte bleiben Angehörige des Berufsverbandes ihres<br />
Herkunftsstaats, müssen folglich dessen Berufsrecht weiterhin<br />
beachten. Sie werden darüber hinaus gemäß § 6 Abs. 1<br />
EuRAG bzw. § 207 Abs. 2 BRAO (jeweils i. V. m. § 29 BerufsO)<br />
dem deutschen Berufsrecht unterworfen.<br />
Die jüngst vorgeschlagene Lösung der vor diesem Hintergrund<br />
unvermeidlichen Kollisionsprobleme über das Herkunftslandsprinzip<br />
50 hat zwar den Charme der Einfachkeit.<br />
Sie führt aber genau zu dem, was es zu vermeiden gilt:<br />
nämlich zu den „race to the bottom“ mit der langfristigen<br />
Durchsetzung der völlig deregulierten skandinavischen Berufsrechtssysteme.<br />
Das kann nicht gewollt sein. Akzeptiert<br />
man das Ursprungslandprinzip auch außerhalb der Staaten,<br />
die eine anwaltliche Stellung als Rechtspflegeorgan anerkennen,<br />
schwächt man zugleich in Europa die Bemühungen,<br />
dieses Prinzip europaweit als Vorbild zu verankern.<br />
Sinnvoll erscheint es vielmehr, jedenfalls vorerst während<br />
der Auslandstätigkeit nur das Berufsrecht des Zielstaates<br />
anzuwenden. Warum sollte ein deutscher Anwalt, der im<br />
Vereinigten Königreich tätig ist, nicht die Möglichkeiten<br />
des dortigen liberaleren Werberechtes nutzen, warum nicht<br />
mit einem englischen Mandanten ein in England zulässiges<br />
Erfolgshonorar vereinbaren dürfen? Meines Erachtens<br />
greift hier schon der Normzweck der deutschen Berufsregeln<br />
nicht, da der Schutz der britischen rechtsuchenden<br />
Bevölkerung nicht vom Regelungsanliegen des deutschen<br />
Berufsrechts erfasst wird und auch die Funktionsfähigkeit<br />
der Rechtspflege nur für Deutschland, nicht dagegen für<br />
das britische System gesichert werden soll. Selbst im Bereich<br />
der anwaltlichen Grundwerte bleibt es bei diesem<br />
Grundsatz, so etwa wenn ein deutscher Anwalt in England<br />
widerstreitende Interessen im Einverständnis aller Beteiligter<br />
vertritt und das englische Berufsrecht diese Tätigkeit für<br />
zulässig erklärt. Schon aus verfassungsrechtlichen Gründen<br />
sind den deutschen Rechtsanwaltskammern und der deutschen<br />
Anwaltsgerichtsbarkeit hier Sanktionen verwehrt, da<br />
Gemeinwohlinteressen, die eine entsprechende Berufsausübungsbeschränkung<br />
rechtfertigen könnten, nicht ersichtlich<br />
sind. Mit diesem kollisionsrechtlichen Ansatz werden<br />
wir uns behelfen müssen, solange die wünschenswerte<br />
Harmonisierung der Berufsrechte nicht erreicht ist.<br />
V. Ausblick<br />
Eines macht der eingangs erwähnte, lesenwerte Clementi-Bericht<br />
sehr deutlich. Aus der Sicht des europäischen<br />
Verbrauchers lassen sich die Wünsche ganz einfach definieren:<br />
Er will bestqualifizierte Beratung zu einem möglichst<br />
niedrigen Preis. Die Anwaltsverbände werden dagegen halten,<br />
dass Qualität ihren Preis haben muss. Unabhängig davon<br />
aber gilt: Überlebensnotwendig ist für eine im Wettbewerb<br />
51 stehende Anwaltschaft die überlegene<br />
Qualifikation. Berufsethos und fachliche Qualifikation stellen<br />
derzeit sicher, dass der Anwalt der beste Rechtsberater<br />
ist. Dank des Engagements von Ludwig Koch kann die<br />
Universität zu Köln mit ihrem Institut für Anwaltsrecht<br />
über eine anspruchsvolle, anwaltsorientierte Ausbildung<br />
dazu beizutragen, dass dies auch in Zukunft so bleibt.<br />
50 Hellwig, AnwBl 2004, 213, 218, 220.<br />
51 Zur Anwaltschaft im Wettbewerb bereits Henssler, AnwBl 1993, 541.<br />
Die Unabhängigkeit des<br />
Rechtsanwalts<br />
Prof. Dr. Barbara Grunewald, Universität zu Köln*<br />
Der Rechtsanwalt ist unabhängig. Doch was anwaltliche<br />
Unabhängigkeit ist, regeln BRAO und BORA nicht.<br />
Am Beispiel von Fallgruppen zeigt die Autorin auf, dass es<br />
keinen Bedarf gibt, den Begriff der anwaltlichen Unabhängigkeit<br />
zu konkretisieren.<br />
I. Die momentane Rechtslage<br />
1. Der Begriff der Unabhängigkeit<br />
Nach § 1 BRAO, der Basisnorm des anwaltlichen Berufsrechts,<br />
ist der Rechtsanwalt ein unabhängiges Organ<br />
der Rechtspflege. Ähnlich formuliert § 43 a Abs. 1 BRAO,<br />
wonach der Rechtsanwalt keine Bindungen eingehen darf,<br />
die seine berufliche Unabhängigkeit gefährden. In der<br />
Kommentierung von Ludwig Koch heißt es: „Die anwaltliche<br />
Unabhängigkeit bedeutet Freiheit, im Wesentlichen<br />
Staatsunabhängigkeit in anwaltlicher Berufsausübung. Anwaltliche<br />
Unabhängigkeit ist ein unangefochtenes, selbstverständliches<br />
Wesensmerkmal anwaltlicher Berufsausübung.<br />
Sie ist Ausfluss des Grundsatzes der<br />
freiheitlichen Advokatur“ 1 . Dies ist eine meisterhafte Zusammenfassung<br />
dessen, worum es geht. Im weiteren Verlauf<br />
der Kommentierung wird dann deutlich, dass neben die<br />
Staatsunabhängigkeit die Unabhängigkeit von Mandanten<br />
und Dritten tritt. Als Ergebnis dieser Untersuchung heißt es<br />
dann 2 : „Die bisherigen ergebnislosen Bemühungen, anwaltliche<br />
Unabhängigkeit in eine für alle Lebenssachverhalte<br />
passende Definition zu zwingen, sollte enden“ 3 .<br />
2. Konsequenzen<br />
Diese Unklarheit darüber, was anwaltliche Unabhängigkeit<br />
ist, hat Konsequenzen. Wie schon gesagt, wiederholt<br />
§ 43 a Abs. 1 BRAO die in § 1 BRAO niedergelegten<br />
Grundsätze im Wesentlichen. Verstöße gegen § 43 a Abs. 1<br />
BRAO können nach § 113 BRAO mit anwaltsgerichtlichen<br />
Maßnahmen sanktioniert werden. Die geschilderte Unbestimmtheit<br />
der Tatbestandsmerkmale hat aber zur Folge,<br />
dass Sanktionen wegen Verletzung der Pflicht zur anwaltlichen<br />
Unabhängigkeit äußerst selten sind. Jedenfalls die<br />
veröffentlichte Judikatur der Anwaltsgerichte weist für die<br />
letzten Jahre keine auf § 43 a Abs. 1 BRAO gestützten Urteile<br />
auf. Daher erübrigt sich die ansonsten sich aufdrängende<br />
Frage, ob anwaltsgerichtliche Sanktionen wegen eines<br />
Verstoßes gegen eine so unbestimmte Norm wie § 43 a<br />
Abs. 1 BRAO überhaupt dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot<br />
standhalten würden 4 .<br />
* Der Beitrag beruht auf dem Vortrag am 15.6.2004 aus Anlass der akademischen<br />
Feier der Universität zu Köln zum 70. Geburtstag von Rechtsanwalt Dr. h.c.<br />
Ludwig Koch.<br />
1 Henssler/Prütting/Koch BRAO, 2. Aufl., § 1 Rdz. 38.<br />
2 Henssler/Prütting/Koch (s.o. Fn. 1) § 1 Rdz. 63.<br />
3 Siehe auch Kleine-Cosack BRAO, 4. Aufl., § 1 Rdz. 16: Allgemeinplätze; zust.<br />
auch Römermann/Hartung, Anwaltliches Berufsrecht, 2002, § 9 Rdz. 8.<br />
4 Zu der vergleichbaren Frage, ob § 43 BRAO dem Bestimmtheitsgebot standhält,<br />
Grunewald/Piepenstock MDR 2000, 869.
464<br />
MN<br />
II.Veränderungsbedarf ?<br />
1. Konkretisierung durch die Satzungsversammlung<br />
Dieser Befund ist nicht naturgegeben. Vielmehr besteht<br />
die Möglichkeit, dass die Satzungsversammlung die ihr<br />
nach § 59 b Abs. 2 Nr. 1 BRAO eingeräumte Kompetenz<br />
nutzt und konkrete Regeln entwickelt, wann die Unabhängigkeit<br />
gefährdet ist 5 . Dies ist etwa in § 26 BORA (Rechtsanwälte<br />
dürfen nur zu angemessenen Bedingungen beschäftigt<br />
werden) und auch in anderen Bestimmungen der BORA<br />
geschehen. Ob weitere Konkretisierungen wünschenswert<br />
sind, lässt sich nur sagen, wenn man die Fallgestaltungen<br />
ins Auge fasst, hinsichtlich derer ein Verstoß gegen § 43 a<br />
Abs. 1 BRAO diskutiert wird.<br />
a) Wirtschaftliche Unabhängigkeit vom Mandanten<br />
aa) Abhängigkeit auf Grund der Betreuung nur weniger<br />
Mandanten<br />
Immer wieder wird als Fallgruppe, in der die anwaltliche<br />
Unabhängigkeit gefährdet sein könnte, die Abhängigkeit eines<br />
Rechtsanwalts genannt, dessen Umsatz im Wesentlichen<br />
auf einen einzigen Mandanten zurückgeht. Wollte man insoweit<br />
konkret werden, würde sich eine Parallele zu den die<br />
Wirtschaftsprüfer betreffenden Regeln des HGB anbieten.<br />
Nach § 319 Abs. 2 Nr. 8 HGB darf ein Wirtschaftsprüfer<br />
nicht Prüfer sein, wenn er in den letzten 5 Jahren jeweils<br />
mehr als 30 % der Gesamteinnahmen aus seiner beruflichen<br />
Tätigkeit aus der Prüfung und Beratung der zu prüfenden<br />
Kapitalgesellschaft bezogen hat und dies auch im laufenden<br />
Geschäftsjahr zu erwarten ist. Dies ließe sich – so gewollt –<br />
problemlos auf Rechtsanwälte übertragen6 . Empfehlenswert<br />
wäre das aber nicht7 . Denn anders als ein Wirtschaftsprüfer<br />
ist ein Rechtsanwalt nicht auch im öffentlichen Interesse,<br />
sondern in erster Linie im Interesse seines Mandanten tätig.<br />
Das rechtfertigt eine Abschwächung in den Anforderungen<br />
an die Unabhängigkeit. Im Übrigen ist die intensive Beschäftigung<br />
eines Rechtsanwalts mit einem Mandanten<br />
durchaus nicht immer unerwünscht. Manche Mandanten haben<br />
so viel Beratungsbedarf, dass sie einen Rechtsanwalt<br />
problemlos beschäftigen können und wollen. Die damit verbundene<br />
wirtschaftliche Abhängigkeit dieses Anwalts liegt<br />
für die Mandanten meist auf der Hand. Sofern es gleichwohl<br />
bei der Mandatierung bleibt, billigt der Mandant die Abhängigkeit.<br />
Um seinen Schutz kann es also nicht gehen. Auch<br />
ist nicht festzustellen, dass das Ansehen der Anwaltschaft in<br />
der Öffentlichkeit allein auf Grund der Tatsache, dass einige<br />
Rechtsanwälte nur für einen Mandanten tätig sind, leidet. Insoweit<br />
ist also weder § 43 a Abs. 1 BRAO noch § 1 BRAO<br />
einschlägig8 und insoweit besteht auch kein Konkretisierungsbedarf.<br />
bb) Abhängigkeit auf Grund von Darlehenshingaben<br />
Eine weitere in der berufsrechtlichen Literatur genannte<br />
Fallgestaltung für mögliche Abhängigkeiten sind Darlehenshingaben,<br />
wobei Darlehensgeber sowohl der Rechtsanwalt<br />
wie auch der Mandant sein kann. Ist der Rechtsanwalt Darlehensgeber,<br />
so besteht die Gefahr, dass er seinem Mandanten<br />
nach dem Munde redet, um diesen nicht zu einer verzögerten<br />
Rückzahlung zu verleiten. Ist der Mandant<br />
Darlehensgeber, so besteht die Gefahr, dass der Rechtsanwalt,<br />
etwa um eine Fälligstellung des Darlehens zu vermeiden,<br />
den Wünschen des Mandanten allzu umfassend<br />
Rechnung trägt 9 . In einem Urteil des OLG Celle wird offen<br />
gelassen, ob die Hingabe eines Darlehens durch eine Steu-<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Aufsätze<br />
erberatersozietät an den Mandanten die Unabhängigkeit der<br />
Steuerberater beeinträchtigt10 . Für Rechtsanwälte stellt sich<br />
dieselbe Frage.<br />
Obwohl in den genannten Fällen eine gewisse Abhängigkeit<br />
nicht von der Hand zu weisen ist, erscheint mir die<br />
Ausformulierung eines entsprechenden Verbotes nicht angebracht.<br />
Nicht nur dass dann geklärt werden müsste, was<br />
als Kreditgewährung anzusehen ist – und die Judikatur zu<br />
§ 32a GmbHG zeigt, was für ein Fass ohne Boden sich bei<br />
diesem Versuch auftut –, m. E. gilt auch wiederum, dass der<br />
Mandant die Gefährdung der Unabhängigkeit seines Beraters<br />
erkennt und billigt. Auch in diesem Fall kann es also<br />
um seinen Schutz nicht gehen. Das Ansehen der Anwaltschaft<br />
als solcher leidet jedenfalls bislang ebenfalls nicht<br />
auf Grund solcher Darlehenshingaben. Im Übrigen müsste<br />
eine Relevanzschwelle entwickelt werden, von der ab eine<br />
Kreditgewährung erheblich wäre. Da dies wiederum von<br />
der wirtschaftlichen Lage des Anwalts abhinge, wären weitere<br />
Schwierigkeiten vorprogrammiert.<br />
Auch de lege lata kommt nach meinem Dafürhalten eine<br />
Subsumtion der Kreditgewährung unter § 43 a Abs. 1<br />
BRAO nicht infrage. Denn das schon angesprochene generelle<br />
Problem, das bei auf § 43 a Abs. 1 BRAO, § 113<br />
BRAO gestützten Sanktionen auftritt – die fehlende Schärfe<br />
des Tatbestandes und damit der drohende Verstoß gegen<br />
das Bestimmtheitsgebot –, wird aus den genannten Gründen<br />
bei der Darlehenshingabe besonders augenfällig.<br />
cc) Honorarzahlungen in Form von Geschäftsanteilen oder<br />
Verwertungsrechten<br />
Problematisch erscheint manchen auch die Bezahlung<br />
der Rechtsanwaltsvergütung durch Unternehmer in Anteilen<br />
an dem Rechtsträger, der das Unternehmen führt (also<br />
etwa in Aktien bei der einer Aktiengesellschaft11 ). Ich teile<br />
diese Ansicht nicht12 . Zwar führt das Halten der Anteile<br />
dazu, dass jeder wirtschaftliche Erfolg des Mandanten, also<br />
des Unternehmens, sich auch positiv auf das Vermögen des<br />
Anteilseigners, also des Rechtsanwalts, auswirkt. Die bloße<br />
Parallelität der Interessen von Mandant und Rechtsanwalt<br />
ist aber nicht untypisch für das Verhältnis zwischen Mandant<br />
und Berater und führt nicht dazu, dass man eine rechtlich<br />
relevante Abhängigkeit feststellen könnte13 . Insbesondere<br />
ist nicht zu befürchten, dass der Mandant den Anwalt<br />
bei der Beratung sachwidrig beeinflusst. Vielmehr führt gerade<br />
die Tatsache, dass der Anwalt Anteile an dem Unternehmen<br />
des Mandanten hält, zu einer Stärkung der Stellung<br />
des Rechtsanwalts in seinem Verhältnis zum Mandanten.<br />
Denn zumindest partiell sind die Interessen von Mandant<br />
und Rechtsanwalt übereinstimmend und eine gute Beratung<br />
5 So die Aufforderung von Henssler/Prütting/Eylmann BRAO 2. Aufl., § 43 a<br />
Rdz. 7, zu den Überlegungen der Satzungsversammlung Hartung/Holl BORA,<br />
2. Aufl., § 43 a BRAO Rdz. 18 ff.<br />
6 Siehe dazu Schautes, Anwaltliche Unabhängigkeit im deutschen und US-amerikanischen<br />
Berufsrecht, Diss. Köln 2004, D I 3 b bb) S. 165.<br />
7 Schautes (s.o. Fn. 6) D I 3 b bb) S. 165.<br />
8 So auch Hartung/Holl (s.o. Fn. 5) § 43 a Rdz. 10; Römermann/Hartung (s.o.<br />
Fn. 3) § 9 Rdz. 6; Feuerich/Weyland BRAO 6. Aufl., § 43 a Rdz. 11.<br />
9 Schilderung bei Schautes (s.o. Fn. 7) D I 3 b) cc) S. 177; für eine Beurteilung<br />
nach Lage des Einzelfalls Henssler/Prütting/Eylmann (s.o. Fn. 5) § 43 a<br />
Rdz. 22; die Darlehenshingabe an den Rechtsanwalt durch den Mandanten<br />
wird auch von Axmann in Axmann/Bischoff/Demuth/Diem/Dotten/Grams/<br />
Hauffe/Rothenbacher, Anwaltsrecht I, S. 30 kritisch beurteilt.<br />
10 OLG Celle NZG 2000, 834.<br />
11 de Lousanoff ZZP 115 (2002) 357, 374.<br />
12 Siehe Grunewald NZG 2001, 645.<br />
13 Anders wohl EGH Celle BRAK-Mitteilungen 1993, 225: Honorar war an dem<br />
Umsatz des Unternehmens ausgerichtet, das beraten werden sollte.
AnwBl 8 + 9/2004 465<br />
Aufsätze MN<br />
des Mandanten liegt damit auch im Interesse des Rechtsanwaltes.<br />
Dagegen scheint mir die Bezahlung von Rechtsanwälten<br />
mit Verwertungsrechten, konkret gesprochen eines Strafverteidigers<br />
mit den medialen Rechten an der Biografie seines<br />
Mandanten, nicht hinnehmbar. Das US-amerikanische Standesrecht<br />
verbietet eine solche Vergütungsweise – allerdings<br />
nur für den Fall, dass der Mandant nicht auf die Risiken<br />
hingewiesen wurde14 .<br />
Diese Risiken liegen darin, dass der Rechtsanwalt, um<br />
den Preis der Verwertungsrechte hoch zu treiben, die Verteidigung<br />
spektakulär statt effektiv ausgestalten könnte.<br />
Auch könnte er, um seinen Bekanntheitsgrad zu erhöhen,<br />
sich selbst mehr ins Szene setzen als es für die Verteidigung<br />
sinnvoll ist. Allein das Einverständnis des Mandanten<br />
mit dieser Art der Bezahlung könnte diese Gefährdung<br />
nicht legitimieren. Denn da es um das Auftreten der Anwaltschaft<br />
in der Öffentlichkeit geht, wird das Ansehen der<br />
gesamten Anwaltschaft – über das der Mandant selbstverständlich<br />
nicht verfügen kann – gefährdet. Eine Konkretisierung<br />
von § 43 a Abs. 1 BRAO wäre insoweit im Grundsatz<br />
also angezeigt. Vergleichbares könnte für die<br />
Doppelrolle als Verteidiger und Zeuge gelten15 . Doch scheinen<br />
diese Fallgestaltungen in Deutschland jedenfalls momentan<br />
nicht wirklich vorzukommen. Daher kann auch auf<br />
solche Regelungen wohl verzichtet werden.<br />
b) Unabhängigkeit gegenüber Dritten<br />
aa) Unabhängigkeit gegenüber dem Arbeitgeber<br />
Ein praktisch drängendes Problem ist die Unabhängigkeit<br />
des Rechtsanwaltes gegenüber seinem Arbeitgeber. Bei<br />
Rechtsanwälten angestellte Anwälte gibt es in Deutschland<br />
unzählige. Dass dies im Ausgangspunkt unproblematisch<br />
ist, ist unstreitig. Auch das Weisungsrecht des Arbeitgebers<br />
steht im Grundsatz außer Frage, wenn auch allein der Hinweis<br />
darauf, dass die Weisungsgebundenheit das Innen-,<br />
die Unabhängigkeit aber das Außenverhältnis betrifft16 ,<br />
wohl nicht überzeugt. Denn das Postulat der Unabhängigkeit<br />
bezieht sich ja nicht nur auf die Unabhängigkeit vom<br />
Mandanten.<br />
Im Übrigen ist die Festlegung der Grenze dieses Weisungsrechts<br />
zwar juristisch interessant, praktisch aber bedeutungslos.<br />
Jedenfalls sind Klagen auf weisungsgemäßes<br />
Verhalten eines angestellten Rechtsanwaltes oder Kündigungen<br />
wegen Verweigerung der Einhaltung von Weisungen<br />
nicht bekannt geworden. Man hilft sich hier offensichtlich<br />
auf weniger angreifbare Weise.<br />
Die Satzungsversammlung hat in § 26 BORA zum<br />
Schutz der Unabhängigkeit angestellter Rechtsanwälte niedergelegt,<br />
dass Rechtsanwälte nur zu angemessenen Bedingungen<br />
beschäftigt werden dürfen. Zugleich wurde versucht,<br />
den Begriff der Angemessenheit näher zu definieren.<br />
Diese Normierungen haben Folgen gehabt. Einige Arbeitsgerichte<br />
haben die Entgeltregelungen in Dienstverträgen<br />
mit angestellten Anwälten wegen zu geringer Höhe der<br />
Vergütung für unwirksam erklärt und das statt dessen geschuldete<br />
Entgelt unter Rückgriff auf die übliche Vergütung<br />
festgesetzt17 .<br />
Ein neues, aber tendenziell gleich liegendes Problem<br />
liegt in der Vorgabe einer bestimmten Anzahl von „billable<br />
hours“, die manche Sozietäten ihren Partnern und Mitarbeitern<br />
pro Tag, pro Woche oder pro Monat vorschreiben. Der<br />
Druck zur Abrechnung auch sinnlos aufgewandter Zeit, der<br />
auf diese Weise aufgebaut wird, kann riesig sein, zumal oft<br />
Gehalt und Aufstieg innerhalb der Sozietät von der Anzahl<br />
der billable hours abhängen 18 . § 26 BORA sagt dazu ausdrücklich<br />
nichts, und zwar zu Recht. Erfasst werden<br />
könnten nur extreme Vorgaben, die aber dann auch problemlos<br />
als unangemessen i. S. v. § 26 Abs. 1 BORA eingestuft<br />
werden können.<br />
Keine Regelung enthält § 26 BORA in Bezug auf die<br />
Frage, ob ein Angestelltenverhältnis zeitlich beschränkt<br />
sein muss. Dies wird in der Literatur zwar so vertreten 19 .<br />
Aber das macht keinen Sinn und sollte daher auch nicht in<br />
§ 26 BORA eingefügt werden. Denn anderenfalls müsste<br />
der angestellte Rechtsanwalt nach Ablauf der Zeit mit seiner<br />
Freisetzung rechnen, ein Faktum, das ihn sicherlich besonders<br />
willfährig die Weisungen seines Vorgesetzten wird<br />
ausführen lassen. Somit wäre eine zeitliche Schranke geradezu<br />
kontraproduktiv. Auch ist im Bereich der Ärzteschaft,<br />
wo entsprechende berufsrechtliche Regeln gelten, zu beobachten,<br />
dass die Seniorpartner die Rechtsstellung der Juniorpartner<br />
in einer geradezu als sittenwidrig einzustufenden<br />
Weise beschränken 20 .<br />
bb) Unabhängigkeit gegenüber einer Weltanschauung<br />
In der Literatur ist gesagt worden, ein Verstoß gegen § 1<br />
BRAO liege vor, wenn die Weltanschauung eines Rechtsanwalts<br />
nach außen in Beziehung zu seinem Beruf gebracht<br />
wird, so dass Zweifel an seiner Unabhängigkeit aufkommen.<br />
Als Beispiel wird ein Praxisschild mit dem Wortlaut „Sozialistisches<br />
Anwaltskollektiv“ genannt 21 . Nun würde ich zwar<br />
ebenfalls dieses Schild für unzulässig halten, aber nicht weil<br />
die Weltanschauung des Anwalts darin zum Ausdruck<br />
kommt, sondern weil dieses Praxisschild irreführend ist.<br />
Denn die Rechtsform des Kollektivs gibt es in der Bundesrepublik<br />
nicht. Mit dem Praxisschild „evangelischer Rechtsanwalt“<br />
hätte ich keine Probleme 22 , im Gegenteil, diese Information<br />
mag für den einen oder anderen Mandanten wichtig<br />
sein. Da niemand von einem Rechtsanwalt verlangt, weltanschaulich<br />
ungebunden zu sein, kann die Offenlegung einer<br />
Bindung schon deshalb nicht gegen § 1 BRAO verstoßen,<br />
weil sie die Bindung nicht begründet, sondern nur mitteilt.<br />
c) Ergebnis<br />
Das Ergebnis ist ernüchternd. Konkretisierungen von § 1<br />
BRAO bzw. § 43 a Abs. 1 BRAO durch die Satzungsversammlung<br />
wären zwar möglich, sind aber jedenfalls momentan<br />
nicht angezeigt.<br />
14 Schautes (s.o. Fn. 6) D II 3 b) aa) S. 196.<br />
15 Dazu Hartung/Holl (s.o. Fn. 5) § 43 a Rdz. 14 ff.<br />
16 Moll in Henssler/Streck, Handbund des Sozietätsrechts, G Rdz. 60 ff; LG Düsseldorf<br />
AnwBl. 2002, 600, 601; Fuhrmann, Rechtsstellung des angestellten<br />
Rechtsanwaltes, 1988, S. 127 ff unterscheidet zwischen sachlichen (unzulässigen)<br />
und organisatorischen (zulässigen) Weisungen; wie hier Kleine-Cosack<br />
(s.o. Fn. 3) § 1 Rdz. 18; Schautes (s.o. Fn. 6) D 3 a) bb) S. 272.<br />
17 Siehe ArbG Bad Hersfeld BRAK-Mitteilungen 2000, 147; LAG Hessen BRAK-<br />
Mitteilungen 2000, 151; weiterführend Seul NJW 2002, 197.<br />
18 de Lousanoff (s.o. Fn. 11) 357, 372 f. .<br />
19 Feuerich/Weyland (s.o. Fn. 8) § 1 Rdz. 26; kritisch auch de Lousanoff (s.o.F.<br />
11) 357, 375 f; Stürner/Bormann NJW 2004, 1481, 1490; dagegen Römermann/Hartung<br />
(s.o. Fn. 3) § 9 Rdz. 12; Schautes (s.o. Fn. 6) D II 3 a) bb)<br />
S. 277; zu freien Mitarbeiterverhältnissen LAG Düsseldorf AnwBl. 2002, 600:<br />
zulässig.<br />
20 BGH ZIP 2004, 903.<br />
21 Feuerich/Weyland (s.o. Fn. 8) § 1 Rdz. 10; Pfeiffer BRAK-Mitteilungen 1987,<br />
102, 104.<br />
22 Großzügig auch Römermann/Hartung (s.o. Fn. 3) § 9 Rdz. 5.
466<br />
MN 2. Konkretisierungen durch einen Kodex<br />
Konkretisierungen in anderer Form sind damit aber noch<br />
nicht ausgeschlossen. Man könnte beispielsweise daran<br />
denken, die geschilderten und weitere Regeln in einer Art<br />
Knigge der Anwaltschaft zusammenzufassen und den Anwälten,<br />
die sich zur Einhaltung dieser Regeln sanktionsbewährt<br />
verpflichten, ein besonderes Gütesiegel zusprechen.<br />
Von maßgeblicher Bedeutung könnte etwa der<br />
Nachweis besonderer Fortbildungsanstrengungen sein. Ob<br />
derartige Gütesiegel vom Markt angenommen und honoriert<br />
werden, ist schwer zu beurteilen. Der Vorteil läge darin,<br />
dass die Einhaltung dieser Regeln dann nicht breitflächig<br />
erzwungen, sondern für die Marktsegmente angeboten<br />
würde, für die sie von Bedeutung sind. Dass dies nichts<br />
völlig Ungewöhnliches ist, zeigen vergleichbare Güteregeln<br />
anderer Anbieter, etwa des Rings <strong>Deutscher</strong> Makler. Immerhin<br />
hat der Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer<br />
vor Jahren einmal eine Art Ehrenkodex für<br />
Strafverteidiger aufgestellt 23 .<br />
3. Konkretisierung durch Haftung<br />
Nicht de lege ferenda, sondern bereits de lege lata findet<br />
eine Konkretisierung der anwaltlichen Pflichten durch Haftung<br />
statt. Es steht fest, dass jede fehlerhafte Beratung zur<br />
Haftung führt. Die anwaltliche Unabhängigkeit soll zumindest<br />
auch den Mandanten schützen. Die Qualität des<br />
Rechtsrats hängt eben auch davon ab, ob der Rechtsanwalt<br />
sich seine Meinung unabhängig gebildet hat. Soweit es zu<br />
einer unzutreffenden Beratung kommt, sei es nun infolge<br />
fehlender Unabhängigkeit oder sei es infolge anderer Umstände,<br />
wird gehaftet. Das ist selbstverständlich. So gesehen<br />
führt die Realisierung der Gefahr, der die Unabhängigkeit<br />
begegnen soll, zur Haftung. Allerdings gilt dies nicht<br />
für Verstöße gegen die Pflicht zur Unabhängigkeit als solche.<br />
Denn ein solcher Verstoß kann zwar, muss aber nicht<br />
zu einer fehlerhaften Beratung und damit zu Schadensersatzansprüchen<br />
führen. Nur wenn sich die Gefährdung<br />
verwirklicht, droht die Haftung.<br />
Daher kann die Haftungsandrohung unabhängiges Handeln<br />
des Rechtsanwalts schon vom Grundsatz her nicht in<br />
jedem Fall sicher stellen. Hinzu kommt, dass das Schutzgut<br />
der anwaltlichen Unabhängigkeit über den Mandantenschutz<br />
hinausgeht. Denn es geht auch um das Ansehen der<br />
Rechtsanwaltschaft in der Öffentlichkeit. Soweit dieses gefährdet<br />
ist, hilft die Androhung von Schadensersatzansprüchen<br />
des Mandanten nur sehr eingeschränkt, da diese<br />
in den einschlägigen Fallgestaltungen (man denke an die<br />
Bezahlung mit Verwertungsrechten) nicht unbedingt bestehen.<br />
Gleichwohl erscheinen Konkretisierungen durch die<br />
Satzungsversammlung momentan nicht erforderlich. Denn<br />
die Hinnahme von kleineren Schutzlücken ist eher akzeptabel<br />
als die Schaffung von zwingendem Recht, das zwar im<br />
Einzelfall Abhilfe schafft, im Allgemeinen aber neben der<br />
Sache liegt.<br />
III. Ergebnis<br />
Der Satzungsversammlung ist momentan eine Konkretisierung<br />
des Begriffs der anwaltlichen Unabhängigkeit nicht<br />
zu empfehlen.<br />
23 Kritisch dazu Hamm NJW 1993, 289.<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Die Reform des<br />
Rechtsberatungsgesetzes<br />
Aufsätze<br />
Prof. Dr. Hanns Prütting, Universität zu Köln*<br />
Der Deutsche Juristentag wird am 22./23. September<br />
2004 über das Rechtsberatungsgesetz diskutieren. Der Autor<br />
ist Gutachter der Abteilung Rechtsberatung. Er plädiert<br />
in diesem Kurzbeitrag für eine Erneuerung des Rechtsberatungsgesetzes,<br />
spricht sich aber gegen eine Freigabe der<br />
Rechtsberatung für Diplom-Wirtschaftsjuristen (FH) aus.<br />
I. Einleitung<br />
Es ist allgemein bekannt, dass das Rechtsberatungsgesetz<br />
auf dem Prüfstand des Gesetzgebers steht. Die Bundesministerin<br />
der Justiz hat zuletzt auf dem 55. Deutschen<br />
Anwaltstag in Hamburg verkündet, sie wolle noch vor dem<br />
65. Deutschen Juristentag im September dieses Jahres einen<br />
ersten Diskussionsentwurf vorlegen. Änderungen zum geltenden<br />
Recht scheinen vor allem im Bereich der unentgeltlichen<br />
sowie der karitativen Rechtsberatung geplant zu sein,<br />
ferner soll außergerichtlicher Rechtsrat künftig möglicherweise<br />
in gewissem Umfang auch von Nicht-Anwälten erfolgen<br />
können. Ähnliches hatte im März 2004 der Parlamentarische<br />
Staatssekretär im Bundesministerium der<br />
Justiz Alfred Hartenbach verkündet und den zuletzt genannten<br />
Punkt konkretisiert: Auch Diplomjuristen von<br />
Fachhochschulen sollen danach künftig rechtliche Erstberatung<br />
durchführen können.<br />
Diese Ankündigung überrascht. In ihr könnte erheblicher<br />
Sprengstoff liegen. Besondere Schwierigkeiten bereitet<br />
das Thema auch deshalb, weil sich an ihm vielfältige<br />
Stimmen in auffallend emotionaler Weise reiben. Es soll<br />
hier nicht von jenen pensionierten OLG-Richtern und Fundamentalkritikern<br />
aus Braunschweig und anderswo gesprochen<br />
werden, von denen einer vorsätzlich gegen das geltende<br />
Recht verstoßen hat, um durch Selbstanzeige ein<br />
Verfahren auszulösen und es bis zum Bundesverfassungsgericht<br />
zu treiben, obgleich er sich jederzeit mühelos als<br />
Anwalt zulassen könnte. Es soll auch nicht näher über einen<br />
Lüneburger Rechtsanwalt diskutiert werden, der vor<br />
kurzem in einem NJW-Editorial (NJW Heft 47/2003) behauptete,<br />
der Kern des Streits lasse sich auf die Sorge um<br />
den Wettbewerb mit anderen Anbietern reduzieren und<br />
dann schrieb, hinsichtlich des Rechtsberatungsgesetzes<br />
bestünden verfassungsrechtliche Bedenken und dafür folgende<br />
Begründung gab: „Wie kann der Gesetzgeber einerseits<br />
neue Studiengänge wie etwa den Wirtschaftsjuristen<br />
einführen, den Absolventen dieser Studiengänge aber<br />
gleichzeitig die rechtsberatende Tätigkeit untersagen“. Dieser<br />
Autor hat noch nicht einmal erkannt, dass Studiengänge<br />
durch Hochschulen eingerichtet werden, während das<br />
Rechtsberatungsgesetz Bundesrecht ist.<br />
Besonders merkwürdig war vor kurzem der NJW-Leserbrief<br />
eines Münchener Rechtsanwalts (NJW Heft 23/2004),<br />
* Der Beitrag beruht auf dem Vortrag am 15.6.2004 aus Anlass der akademischen<br />
Feier der Universität zu Köln zum 70. Geburtstag von Rechtsanwalt Dr. h.c.<br />
Ludwig Koch.
AnwBl 8 + 9/2004 467<br />
Aufsätze MN<br />
der ausführte: „Bekanntlich sichert das Rechtsberatungsgesetz<br />
unsere Pfründe. Neutral betrachtet gibt es keinen<br />
sachlichen Grund dafür, dass unsere anwaltliche Rechtsberatungstätigkeit<br />
gesetzlich vor Konkurrenz von außen<br />
geschützt werden muss“. Dieser Leserbrief fährt sodann<br />
fort, die vollständige Freigabe des Rechtsberatungsmarktes<br />
sei als Chance für die Befreiung von allen Fesseln des Berufsrechts<br />
zu verstehen und endet mit dem Satz: „Denn was<br />
die BRAO und BORA noch verbieten, wird sich künftig<br />
dadurch umgehen lassen, dass der Anwalt kurzerhand seine<br />
Zulassung zurückgibt und statt dessen als freier Rechtsberater<br />
tätig wird“. Dass es auch wichtige berufsrechtliche Anwaltsprivilegien<br />
gibt, dass man die Anwaltszulassung für<br />
forensische Tätigkeit stets benötigen wird und dass anwaltliches<br />
Berufsrecht vielfältige Schutzfunktionen zu Gunsten<br />
der Rechtssuchenden, des Rechtsstaates und ebenso der<br />
Anwälte selbst enthält, gerät diesem Autor offenbar nicht<br />
ins Blickfeld.<br />
II. Thesen zu den Grundfragen<br />
Die rechtlichen und rechtspolitischen Probleme des<br />
Rechtsberatungsgesetzes sind sehr komplex. Der Autor der<br />
vorliegenden Zeilen hat hierzu ein Gutachten für den 65.<br />
Deutschen Juristentag im September 2004 in Bonn vorgelegt,<br />
in dem die Grundfragen auf ca. 70 Seiten näher behandelt<br />
sind. Darauf muss im Prinzip verwiesen werden.<br />
Um jedoch für die unter III. behandelte aktuelle Frage eine<br />
gewisse Basis zu haben, sollen im Folgenden einige wichtige<br />
Ergebnisse des Juristentagsgutachtens in Thesenform<br />
hier zusammengefasst werden. Für eine detaillierte Begründung<br />
dieser Thesen muss wiederum auf das Gutachten<br />
verwiesen werden1 .<br />
These 1: Das Rechtsberatungsgesetz ist in seiner Grundstruktur<br />
und seinen wesentlichen Regelungsbereichen weder<br />
verfassungswidrig noch europarechtswidrig.<br />
These 2: Dem Rechtsbeatungsgesetz liegen mehrere<br />
wichtige und anerkannte Schutzgüter und Schutzzwecke zu<br />
Grunde.<br />
a) Insbesondere dient das Gesetz dem Schutz des<br />
Rechtssuchenden vor unqualifiziertem Rechtsrat. Unter diesem<br />
Aspekt ist das Rechtsberatungsgesetz Teil des Verbraucherschutzes.<br />
Gewährleistet werden durch das Gesetz insbesondere<br />
die anwaltlichen Berufspflichten, die<br />
Anwaltshaftung sowie deren Absicherung durch eine Haftpflichtversicherung.<br />
b) Das Rechtsberatungsgesetz dient der reibungslosen<br />
Abwicklung des Rechtsverkehrs und damit dem Schutz der<br />
Rechtspflege.<br />
c) Darüber hinaus wird durch das Rechtsberatungsgesetz<br />
der Schutz der Rechtsentwicklung und insbesondere der<br />
Rechtsfortbildung unterstützt und gefördert.<br />
d) Soweit die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts<br />
den Schutz wirtschaftlicher Rahmenbedingungen<br />
von gesetzlich festgelegten Berufen für ein verfassungsgemäßes<br />
Gesetzesziel ansieht, kann das Rechtsberatungsgesetz<br />
auch diesem Schutze dienen.<br />
e) Schließlich steht das Rechtsberatungsgesetz im Zusammenhang<br />
mit dem Schutz des Rechtsstaates durch eine<br />
Rechtsanwaltschaft, die unstreitig ein außerordentlich wichtiger<br />
Teil der Garantie eines modernen Rechtsstaates darstellt.<br />
These 3: Das geltende Rechtsberatungsgesetz ist durch<br />
seine Entstehungsgeschichte historisch belastet. Dies muss<br />
auch derjenige einräumen, der die Rechtsgeltung und die<br />
Sinnhaftigkeit des Rechtsberatungsgesetzes in seiner heutigen<br />
Form durch historische Überlegungen nicht beeinträchtigt<br />
sieht und der weiß, dass die Wurzeln des Rechtsberatungsgesetzes<br />
in Wahrheit bis in die Weimarer Zeit<br />
zurückreichen. Eine Erneuerung des Rechtsberatungsgesetzes<br />
erscheint schon deshalb erforderlich.<br />
These 4: Die Ausgestaltung der Rechtsberatung ist in<br />
den verschiedenen Ländern der Europäischen Union und<br />
der Welt sehr unterschiedlich. Unrichtig ist allerdings die<br />
Behauptung, die deutsche Regelung einer gewissen Monopolisierung<br />
der Rechtsberatung sei weltweit einmalig. Bei<br />
Würdigung aller Unterschiede kann man eher von einer<br />
faktischen Entwicklung hin zu einer gewissen Monopolisierung<br />
der Rechtsberatung in Anwaltshand sprechen.<br />
These 5: Das Rechtsberatungsgesetz ist in seiner geltenden<br />
Fassung gesetzestechnisch höchst unzulänglich und<br />
unübersichtlich ausgestaltet. Es bedarf insofern einer grundlegenden<br />
Überarbeitung und Erneuerung.<br />
These 6: Die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts<br />
hat zu einer verfassungskonformen Auslegung<br />
des Rechtsberatungsgesetzes geführt. Insbesondere<br />
müssen Rechtsangelegenheiten von anderen Aspekten nach<br />
ihrem jeweiligen Kern und Schwerpunkt unterschieden werden.<br />
These 7: Auch die Annex-Kompetenz des bisherigen<br />
Art. 1 § 5 RBerG bedarf einer verfassungskonformen Auslegung,<br />
die dem Grundrecht der Berufsfreiheit gerecht<br />
wird. Insbesondere muss das gesetzliche Kriterium des unmittelbaren<br />
Zusammenhangs wirtschaftlich bewertet und<br />
weniger streng ausgelegt werden.<br />
These 8: Im Falle unentgeltlicher und karitativer Rechtsberatung<br />
erscheint eine Auflockerung durch gesetzgeberischen<br />
Eingriff erforderlich. Hier sollte jede Rechtsbesorgung<br />
zugelassen werden, die durch Volljuristen erfolgt.<br />
Allerdings müsste der Gesetzgeber diesen Personen die<br />
Wahrung gewisser grundlegender Berufspflichten zur Auflage<br />
machen.<br />
These 9: Bei der gesetzgeberischen Überarbeitung des<br />
Rechtsberatungsgesetzes sollten Extremlösungen wie die<br />
vollkommene Beseitigung oder die unveränderte Übernahme<br />
des Gesetzes ausgeschieden werden. Sinnvoll erscheint<br />
die Erarbeitung eines neuen Gesetzes mit klaren<br />
Strukturen unter Berücksichtigung der verfassungsgerichtlichen<br />
Vorgaben. Innerhalb der Neuregelung sollte im<br />
Grundsatz wiederum eine präventive Verbotslösung gewählt<br />
werden.<br />
III. Rechtsberatung durch Wirtschaftsjuristen<br />
(FH)<br />
Wie bereits zu Beginn der Überlegungen erwähnt, gibt<br />
es offenbar Planungen im Bundesjustizministerium, die an<br />
Fachhochschulen ausgebildeten Dipl.-Wirtschaftsjuristen<br />
zur Rechtsberatung zuzulassen. Dieser im März 2004 offengelegte<br />
Vorschlag wirft sehr unterschiedliche Fragen auf. Er<br />
soll hier wegen seiner rechtspolitischen Bedeutung und seiner<br />
möglicherweise weitreichenden Auswirkungen aufgegriffen<br />
werden.<br />
1 Verhandlungen des 65. Deutschen Juristentages Bonn 2004, Band I Gutachten<br />
Teil G, München 2004.
468<br />
MN<br />
1. Rückblick<br />
Zunächst ist es nicht ohne Reiz, einen kurzen Blick in<br />
die Vergangenheit zu werfen. Vor ca. 10 Jahren haben die<br />
Fachhochschule Nordost-Niedersachsen in Lüneburg sowie<br />
im Laufe der Zeit weitere ca. 20 Fachhochschulen begonnen,<br />
ein neues Diplomstudium aufzubauen und den <strong>Titel</strong><br />
Dipl.-Wirtschaftsjurist zu verleihen. Obwohl eigentlich jedem<br />
Juristen von Anfang an klar war, dass mit diesem <strong>Titel</strong><br />
ein krasser Etikettenschwindel 2 betrieben wurde, hat man<br />
es nach heftigen Diskussionen allenthalben bei der Versicherung<br />
durch die Protagonisten des Studiengangs bewenden<br />
lassen, diese Wirtschaftsjuristen würden von der privaten<br />
Unternehmenspraxis benötigt und niemand käme auf<br />
die Idee, sie in anwaltlicher oder sonst volljuristischer<br />
Funktion einzusetzen.<br />
Dass diese Versicherung heute nicht mehr gelten soll, ist<br />
dem offenkundigen Irrtum geschuldet, die Fachhochschulabsolventen<br />
würden gänzlich von privaten Unternehmungen<br />
als Arbeitskräfte absorbiert. Daher häufen sich schon<br />
seit einiger Zeit Stimmen, die für diese Fachhochschulabsolventen<br />
die Öffnung des Rechtsberatungsmarktes fordern.<br />
Damit ist die letzte legitimatorische Behauptung entfallen,<br />
mit der damals die neue Fachhochschulausbildung<br />
begonnen hatte. Von den weiteren Überlegungen wie z. B.<br />
einer Entlastung der Universitäten ist bekanntlich seit langer<br />
Zeit nicht mehr die Rede.<br />
2. Rechtspolitische Konsequenzen<br />
Würde der Gesetzgeber solchen Forderungen nachgeben,<br />
so hätten wir künftig Rechtsberater mit einem sieben-<br />
oder achtsemestrigen Studium, die außer im Zivil- und<br />
Wirtschaftsrecht nur eine ganz schmale Ausbildung im Öffentlichen<br />
Recht und im Strafrecht genießen und bei denen<br />
die vielgepriesenen Grundlagenfächer sowie das Prozessrecht<br />
völlig auf der Strecke bleiben. Auch international-privatrechtliche<br />
und rechtsvergleichende Rechtsfragen sind in<br />
vielen Fällen in diesen Studiengängen nur sehr schwach<br />
ausgebildet. Da Teil des Fachhochschulstudiums vernünftigerweise<br />
aber auch in erheblichem Umfang die Betriebswirtschaftslehre<br />
sowie die Volkswirtschaftslehre sind, bleibt<br />
letztlich die juristische Ausbildung hinter der eines Kandidaten<br />
mit erstem Staatsexamen zwangsläufig gravierend<br />
zurück.<br />
Nun ist soweit ersichtlich bisher noch niemand mit dem<br />
Vorschlag an die Öffentlichkeit getreten, allen juristischen<br />
Universitätsabsolventen (also den geprüften Rechtskandidaten)<br />
die Rechtsberatungserlaubnis zu erteilen. Müsste dies<br />
aber nicht notwendigerweise schon im Hinblick auf den<br />
Gleichheitssatz künftig geschehen? Schon diese Fragestellung<br />
zeigt, wohin ein solcher Weg der Öffnung des Rechtsberatungsgesetzes<br />
zwangsläufig führen müsste. Die einheitliche<br />
juristische Ausbildung an Universitäten und erst recht<br />
die zweite Stufe der Ausbildung im Referendariat würden<br />
weithin obsolet. Das Leitbild des Einheitsjuristen und die<br />
im Ausland vielfach gerühmte deutsche Juristenausbildung<br />
wären verloren. Ob dies von den Justizministerien des Bundes<br />
und der Länder sowie der Gesellschaft gewollt sein<br />
kann, möge sich jedermann selbst beantworten.<br />
3. Das Kernproblem<br />
Die Diskussion um die Auflockerung des Rechtsberatungsgesetzes<br />
für Nichtanwälte wird im öffentlichen Raum<br />
leider fast immer nur unter dem angeblichen Konkurrenzschutzproblem<br />
gesehen. Wenn aber künftig Rechtsberatung<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Aufsätze<br />
durch Diplomjuristen und geprüfte Rechtskandidaten in<br />
großem Umfang zugelassen und übernommen würde, entfiele<br />
in diesem Bereich zwangsläufig auch das anwaltliche<br />
Berufsrecht. Dessen Schutzkomponenten für den Mandanten,<br />
für den Gegner sowie für Dritte, aber auch für die<br />
Rechtspflege und den Rechtsstaat insgesamt, und schließlich<br />
auch für den Rechtsanwalt selbst, werden oft nicht gesehen<br />
oder stark unterschätzt. Es kann kein wünschenswertes<br />
Ergebnis sein, wenn künftig in großem Umfang<br />
Rechtsberater ohne anwaltliche Berufshaftung und gesetzliche<br />
Haftpflichtversicherung, ohne Verschwiegenheitspflicht<br />
und Sachlichkeitsgebot, ohne die Garantie anwaltlicher Unabhängigkeit<br />
und das Verbot der Beratung im widerstreitenden<br />
Interesse, aber mit uferloser Werbung auftreten<br />
würden.<br />
Nur hingewiesen werden soll auf weitere rechtliche<br />
Konsequenzen: Es müsste wohl die Möglichkeit beruflicher<br />
Kooperation von Rechtsanwälten mit nichtanwaltlichen Beratern<br />
deutlich ausgeweitet werden. Unterlaufen werden<br />
könnten gebührenrechtliche Regelungen wie z. B. das Verbot<br />
des Erfolgshonorars oder die quota litis. Insgesamt<br />
würden damit berufs- und gebührenrechtliche Regelungen<br />
teils unterlaufen sowie teils abgeschwächt und entwertet<br />
werden. Gefährdet würden dadurch gerade die sozial<br />
schwächeren und rechtlich ahnungslosen Mandanten, denen<br />
der Gesetzgeber in anderen Bereichen besonders weitgehenden<br />
Verbraucherschutz zukommen lässt.<br />
IV. Fazit<br />
Eine Erneuerung und Überarbeitung des Rechtsberatungsgesetzes<br />
erscheint notwendig und sinnvoll. Veränderungen<br />
sind insbesondere im Bereich unentgeltlicher und<br />
karitativer Rechtsberatung erforderlich. Dabei sollten wir<br />
aber beachten, dass wir sozial schwächeren Gruppen der<br />
Gesellschaft nicht den durch anwaltliches Berufsrecht abgesicherten<br />
hohen Beratungsstandard nehmen. Anderenfalls<br />
würde der Weg wohl zwangsläufig künftig in eine Zwei-<br />
Klassen-Rechtsberatung führen. Die richtige Antwort auf<br />
finanzielle Probleme bei der Einholung von rechtlicher Beratung<br />
sind die Gewährung von Beratungshilfe und Prozesskostenhilfe,<br />
nicht eine Absenkung der Qualität.<br />
Sollte der Gesetzgeber die Rechtsberatung für Dipl.-<br />
Wirtschaftsjuristen (FH) öffnen, so muss ihm entweder Ahnungslosigkeit<br />
bezüglich der entstehenden riesigen Probleme<br />
vorgeworfen werden oder die geplante Reform des<br />
Rechtsberatungsgesetzes wäre nur ein übler Trick auf dem<br />
verdeckten Weg der Beseitigung der beiden juristischen<br />
Staatsexamina (und damit des einheitlichen Volljuristen)<br />
hin zur Schaffung einer inhaltlich weithin beliebigen Diplom-<br />
bzw. künftigen Bachelor- und Master-Ausbildung.<br />
2 Auch 10 Jahre nach dem Beginn dieser Studiengänge wird in der gesamte Fachwelt<br />
unter einem Wirtschaftsjuristen weiterhin ein Volljurist mit zusätzlicher<br />
wirtschaftsrechtlicher Fortbildung oder Spezialisierung durch längerfristige einschlägige<br />
Praxiserfahrung verstanden. So gibt es heute an verschiedenen Universitäten<br />
für Volljuristen einen Weiterbildungsstudiengang Wirtschaftsjurist.
AnwBl 8 +9/2004 469<br />
KOMMENTA R<br />
Das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz<br />
(RVG) enthält wichtige strukturelle<br />
Änderungen des alten Gebührenrechtes<br />
sowie die Abschaffung des 10 %igen<br />
„Gebührenabschlags Ost“. Das RVG<br />
war überfällig. Deshalb war die –<br />
wenn auch nur verhaltene – Freude der<br />
Anwaltschaft über das RVG verständlich.<br />
Weniger erfreulich war dann die<br />
Lektüre meiner morgendlichen Post,<br />
mit der Vorschläge von Versicherungsgesellschaften<br />
zu Rationalisierungsabkommen<br />
unterbreitet wurden.<br />
Soll der Anwalt im Sinne freier<br />
Advokatur der Garant dafür sein, dass<br />
der Bürger seine Rechte vor Gericht<br />
und staatlichen Behörden geltend machen<br />
und durchsetzen kann, so ist die<br />
Das RVG ist nicht Basis für<br />
das Kostenmanagement der<br />
Versicherungswirtschaft<br />
dafür erforderliche Unabhängigkeit<br />
nur gesichert, wenn eine ausreichende<br />
wirtschaftliche Grundlage vorhanden<br />
ist. Wir verstehen das RVG nicht als<br />
Garantieversprechen für sicheres und<br />
ausreichendes Einkommen. Wir verstehen<br />
das RVG aber auch nicht als<br />
Basis für das Kostenmanagement der<br />
Versicherungswirtschaft.<br />
In der amtlichen Begründung zum<br />
RVG heißt es, dass der <strong>Entwurf</strong> zu einer<br />
Anpassung der Gebühren an die<br />
wirtschaftliche Entwicklung führe.<br />
Maßstab soll die Einkommensentwicklung<br />
in anderen Berufen sein. In der<br />
Stellungnahme des Gesamtverbandes<br />
der Deutschen Versicherungswirtschaft<br />
(GDV) zum Regierungsentwurf des<br />
Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes<br />
wird zwar eingeräumt, „dass die<br />
Rechtsschutzversicherungen eine Anpassung<br />
der Rechtsanwaltsgebühren an<br />
die Einkommensentwicklung in anderen<br />
Berufen grundsätzlich für gerechtfertigt<br />
halten“, um dann aber auf mehr<br />
als 6 Seiten zu begründen, „dass die<br />
durch das RVG zu erwartende Gebührenerhöhung<br />
jedoch über eine Angleichung<br />
weit hinaus gehen und zu<br />
unverhältnismäßigen Einkommenssteigerungen<br />
der Rechtsanwälte führe“.<br />
Konsequent wird die vor der Verkündung<br />
des Gesetzes eingenommene<br />
Haltung nach dem 1. Juli 2004 aufrechterhalten<br />
mit der Tartarenmeldung, die<br />
Gebührensteigerung betrage 21 %.<br />
Unseriös werden Extrempositionen<br />
aus der BRAGO und dem RVG miteinander<br />
verglichen, ohne die Auswirkungen<br />
des Gesetzes auf das gesamte<br />
Gebührenaufkommen zu berücksichtigen.<br />
Man kann sich des Eindrucks<br />
nicht erwähren, dass die Begleitmusik<br />
zum RVG offensichtlich die bereits<br />
beschlossene Prämienerhöhung vorbereiten<br />
und rechtfertigen soll.<br />
Im Sinne eines fairen partnerschaftlichen<br />
Miteinander sollte man<br />
zur Kenntnis nehmen, dass die Einkommen<br />
der Rechtsanwälte seit 1994<br />
immer nur in eine Richtung gingen:<br />
nach unten, und dass die längst überfällige<br />
Anpassung nach seriösen Berechnungen<br />
des Bundesjustizministeriums<br />
zu einer Steigerung von 14 %<br />
führt, wohl gemerkt nach 10 Jahren.<br />
Zurück zu meiner morgendlichen<br />
Post und den Vorschlägen zum Abschluss<br />
von Rationalisierungsabkommen.<br />
Natürlich begrüßt die Anwaltschaft<br />
jede Form einer unbürokratischen<br />
rationellen Zusammenarbeit,<br />
aber diese macht doch nur dann Sinn,<br />
wenn die durch das RVG vorgesehene<br />
Verbesserung nicht in dem Wunsch,<br />
unbürokratisch abzurechnen, völlig untergeht.<br />
Bei Angeboten, die die<br />
Rechtsberatung für alle Rechtsbereiche<br />
auf 60,00 E beschränkt, die Geschäftsgebühr<br />
(Nr. 2400 VV) mit einer 0,8<br />
Gebühr in Ansatz bringt, die Einigungsgebühr<br />
(Nr. 1000 VV) für die<br />
außergerichtliche Einigung auf 1,0 begrenzt<br />
und die Anrechnungsvorschriften<br />
zum Nachteil der Rechtsanwälte<br />
abändert, kann man – salopp formuliert<br />
– nur feststellen „Schluss mit lustig“.<br />
Das stellt eine Null-Prozent-Lösung<br />
dar.<br />
Nicht nachvollziehbar ist, wie sich<br />
mancher über Vorgaben des Gesetzes<br />
hinwegsetzt. Eherner Grundsatz sollte<br />
immer noch die Wiedergabe des „Originals“<br />
sein, und nicht dessen, was<br />
man fantasievoll hineininterpretiert.<br />
Die Lektüre einer Handwerkerrechnung<br />
mit dem Stundensatz eines Gesellen<br />
öffnet den Blick für die ökonomische<br />
Wirklichkeit des Jahres 2004.<br />
Die Anwaltschaft kann nicht als zentrale<br />
Stellschraube für das Wohlergehen<br />
der Versicherungswirtschaft dienen.<br />
Den Rechtsanwälten des Jahres<br />
2004 bietet sich mit dem RVG die<br />
MN<br />
Schluss mit lustig,<br />
liebe Versicherer<br />
Rechtsanwalt Justizrat Friedrich Jansen<br />
aus Neuwied ist Vorsitzender des Ausschusses<br />
für Gebührenrecht/Gebührenstruktur<br />
des DAV.<br />
Chance – vielleicht in Form eines heilsamen<br />
Zwanges – endlich bei der Organisation<br />
und dem Management des<br />
Unternehmens „Anwaltskanzlei“ wie<br />
Unternehmer zu denken. Die Anwälte<br />
sind auf partnerschaftlicher Grundlage<br />
bereit, mit der Versicherungswirtschaft<br />
zu sprechen und Lösungen zu suchen,<br />
die der Interessenlage beider Seiten<br />
gerecht werden. Bedingungen, die uns<br />
auf den Stand vor dem 1. Juli 2004 zurückwerfen,<br />
kann es nicht geben.
470<br />
MN THEMA<br />
Wie hält es die Politik mit dem<br />
Rechtsberatungsgesetz?<br />
<strong>Anwaltsblatt</strong>-Umfrage bei den rechtspolitischen Sprechern der im<br />
Bundestag vertretenen Fraktionen<br />
Die Novellierung des Rechtsberatungsgesetzes<br />
ist ein Gesetzgebungsvorhaben,<br />
das ausdrücklich in der Koalitionsvereinbarung<br />
von SPD und<br />
Bündnis 90/Die Grünen für die laufende<br />
Legislaturperiode genannt ist.<br />
Das Bundesjustizministerium wünscht<br />
eine breite Diskussion. Der DAV hat<br />
schon im Frühjahr seinen <strong>Entwurf</strong> vorgelegt<br />
(AnwBl 2004, 269). Im Juli hat<br />
die BRAK ihrerseits Vorschläge unterbreitet.<br />
Der Deutsche Juristentag wird<br />
am 22. und 23. September 2004 über<br />
die Neufassung des Rechtsberatungsgesetzes<br />
beraten. Im Bundesjustizministerium<br />
hatte es geheißen, dass<br />
rechtzeitig vorher ein Diskussionsentwurf<br />
kommt. Dieser <strong>Entwurf</strong> ist nun<br />
für Ende August/Anfang September<br />
(nach Redaktionsschluss für dieses<br />
Heft) angekündigt.<br />
Das <strong>Anwaltsblatt</strong> wollte vorher<br />
schon wissen, wie es die Politik mit der<br />
Novellierung des Rechtsberatungsgesetzes<br />
hält. Das Ergebnis ist aus Sicht<br />
der Anwaltschaft erfreulich. Keine<br />
Fraktion will die Rechtsberatung generell<br />
frei geben – und alle sind der Meinung,<br />
dass Rechtsberatung im Kern anwaltliche<br />
Beratung sein muss. nil<br />
Frage 1: Welchen Bedarf gibt es<br />
nach Ihrer Auffassung für die Novellierung<br />
des Rechtsberatungsgesetzes?<br />
Frage 2: Der Vorschlag des DAV<br />
sieht die teilweise Freigabe der unentgeltlichen<br />
Rechtsbesorgung vor,<br />
z. B. aus Gefälligkeit oder für karitative<br />
Einrichtungen. Ihre Meinung<br />
dazu?<br />
Frage 3: Soll die Rechtsberatung<br />
auch für Rechtsschutzversicherer<br />
und Fachhochschuljuristen freigegeben<br />
werden?<br />
Frage 4: Gilt für Sie, dass Rechtsberatung<br />
anwaltliche Beratung ist?<br />
Joachim Stünker,<br />
rechtspolitischer<br />
Sprecher der<br />
SPD-Fraktion.<br />
Dr. Norbert Röttgen,rechtspolitischer<br />
Sprecher<br />
der CDU/CSU-<br />
Fraktion.<br />
Jerzy Montag,<br />
rechtspolitischer<br />
Sprecher<br />
der Fraktion<br />
Bündnis 90/Die<br />
Grünen.<br />
Rainer Funke,<br />
rechtspolitischer<br />
Sprecher<br />
der FDP-Fraktion.<br />
Joachim Stünker<br />
(SPD-Fraktion)<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Frage 1: Die Überarbeitung des<br />
Rechtsberatungsgesetzes ist dringend geboten.<br />
Die restriktiven Bestimmungen<br />
des geltenden Rechts sind nicht mehr<br />
zeitgemäß. Wir stehen daher vor der<br />
schwierigen Aufgabe, auf der einen Seite<br />
Deregulierungen vorzunehmen sowie andererseits<br />
eine geordnete Rechtspflege<br />
zu bewahren und die Rechtssuchenden<br />
vor den Folgen unqualifizierter Beratung<br />
zu schützen.<br />
Frage 2: Ich unterstütze den Vorschlag,<br />
die unentgeltliche altruistische Rechtsberatung<br />
durch Freunde und Bekannte<br />
zukünftig zuzulassen. Da die Rechtssuchenden<br />
hier wissentlich auf professionelle<br />
Hilfe verzichten, entfällt das Schutzbedürfnis.<br />
Auch karitativ tätigen<br />
Organisationen sollte auf gesetzlicher<br />
Grundlage die Möglichkeit der unentgeltlichen<br />
Rechtsberatung eingeräumt werden.<br />
Zur Sicherstellung der Beratungsqualität<br />
sollten die Verbände jedoch<br />
verpflichtet werden, die Beratung durch<br />
juristisch qualifizierte Personen oder zumindest<br />
unter deren Aufsicht zu erbringen.<br />
Frage 3: Ich halte es für problematisch,<br />
Fachhochschuljuristen die<br />
Möglichkeit zur selbstständigen Rechtsbesorgung<br />
zu gewähren. Eine derartige<br />
Erlaubnis wäre im Übrigen nicht auf Absolventen<br />
dieses Abschlusses beschränkbar,<br />
andere juristische Berufe würden die<br />
Genehmigung gleichermaßen für sich<br />
beanspruchen, obwohl die Qualität ihrer<br />
Ausbildung nicht mit zwei juristischen<br />
Staatsexamen vergleichbar ist. Zudem<br />
unterliegt nur der Rechtsanwalt einer<br />
Fülle von Verpflichtungen, die dem<br />
Schutz des Rechtssuchenden dienen. Bei<br />
der Beratung durch Rechtsschutzversicherer<br />
sehe ich die Gefahr der Interessenkollision.<br />
Unsere Meinungsbildung<br />
ist diesbezüglich jedoch noch nicht abgeschlossen.<br />
Frage 4: Dem kann ich nicht ohne<br />
Einschränkung zustimmen. Neben den<br />
bereits erwähnten Beratungsbefugnissen<br />
sollte bestimmten Berufsgruppen die<br />
Möglichkeit der sog. Annex-Beratung erhalten<br />
bleiben. Hier ist im Übrigen auch<br />
eine Ausweitung der Befugnisse denkbar.<br />
Die allgemeine Erlaubnis zur Rechtsbesorgung<br />
sollte meines Erachtens jedoch<br />
nur Rechtsanwälten erteilt werden.<br />
Es muss gewährleistet sein, dass Fragen<br />
von hoher juristischer Relevanz bzw. materiell-<br />
oder verfahrensrechtlicher Komplexität<br />
Personen mit einer qualifizierten<br />
und umfassenden Ausbildung vorbehalten<br />
bleiben.
AnwBl 8 + 9/2004 471<br />
Thema MN<br />
Dr. Norbert Röttgen<br />
(CDU/CSU-Fraktion)<br />
Frage 1: Das Rechtsberatungsgesetz<br />
hat sich im Grundsatz bewährt. Pauschale<br />
und vordergründige Kritik mit<br />
dem Ziel der Abschaffung des Gesetzes<br />
ist fehl am Platze und auch nicht mit europäischen<br />
Zwängen begründbar. Allerdings<br />
spiegelt das Rechtsberatungsgesetz<br />
die Wirklichkeit der Rechtsberatung<br />
bspw. im Hinblick auf die Problematik<br />
der unentgeltlichen Rechtsbesorgung<br />
nicht mehr in jeder Hinsicht adäquat<br />
wieder und Bedarf einer zeitgemäßen<br />
Anpassung. Wer das Gesetz abschaffen<br />
oder mehr als notwendig verändern will,<br />
muss zudem gleichzeitig eine Antwort<br />
auf die offenen Fragen der juristischen<br />
Ausbildung geben.<br />
Frage 2: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion<br />
begrüßt, dass der Deutsche<br />
<strong>Anwaltverein</strong> die Forderung nach einer<br />
Freigabe der unentgeltlichen Rechtsbesorgung<br />
teilweise aufgegriffen hat und<br />
unterstützt dieses Anliegen. Entscheidend<br />
ist jedoch, dass die Freigabe tatsächlich<br />
nur rein altruistische Sachverhalte<br />
erfasst und die Qualität auch der<br />
unentgeltlichen Rechtsberatung sichergestellt<br />
wird.<br />
Frage 3: Das rechtswissenschaftliche<br />
Studium und das Referendariat gewährleisten<br />
gemeinsam den derzeitigen hohen<br />
Qualitätsstandard der Rechtsberatung in<br />
Deutschland. Die Freigabe der Rechtsberatung<br />
für Fachholschuljuristen würde<br />
eine Absenkung dieses Qualitätsstandards<br />
bedeuten, die für den rechtsuchenden<br />
Bürger kein Fortschritt wäre. Die<br />
Qualität der Rechtsberatung ist ein vorrangiges<br />
Allgemeininteresse gegenüber<br />
den an einem möglichst breiten Berufszugang<br />
orientierten Einzelinteressen.<br />
Eine Freigabe der Rechtsberatung<br />
durch Rechtsschutzversicherer lehnt die<br />
CDU/CSU-Bundestagsfraktion schon<br />
wegen der drohenden Kollision zwischen<br />
wirtschaftlichem Eigeninteresse der Versicherer<br />
und den Interessen der Versicherten<br />
ab.<br />
Frage 4: Im Grundsatz eindeutig ja.<br />
Ausnahmen sind im Rechtsberatungsgesetz<br />
normiert und bedürfen auch künftig<br />
einer eindeutigen gesetzlichen Regelung.<br />
Die Ausbildung zum Volljuristen<br />
stellt die erforderliche fachliche Eignung<br />
sicher, gewährleistet eine qualitativ<br />
hochwertige Beratung der Rechtsuchenden<br />
und schützt diese vor unqualifiziertem<br />
Rechtsrat. Die berufs- und standesrechtlichen<br />
Regelungen der Anwaltschaft<br />
sind gleichzeitig Gewähr für bestmöglichen<br />
Schutz und Absicherung der Mandanten.<br />
Jerzy Montag<br />
(Fraktion Bündnis 90/Die Grünen)<br />
Frage 1: Das Rechtsberatungsgesetz<br />
ist veraltet. Es entstand in einer Zeit,<br />
in der typischer weise nur gerichtsnahe<br />
oder gerichtliche Sachverhalte der<br />
Rechtsberatung zugeordnet wurden.<br />
Heute sind fast alle Bereiche des privaten<br />
und öffentlichen Lebens rechtsdurchwirkt<br />
und somit beratungsnahe.<br />
Auch haben die Rechtsprechung und<br />
Literatur zum alten Rechtsberatungsgesetz<br />
Berge von Problemen aufgetürmt,<br />
die abgetragen werden sollten.<br />
Nicht zu vergessen ist auch die Tatsache,<br />
dass das Gesetz aus dem Jahre<br />
1935 stammt und unter anderem auch<br />
dazu diente, jüdischen Rechtsanwälten<br />
ihre beruflche Existenz zu vernichten.<br />
Diese Vorschriften sind längst gelöscht,<br />
aber eine komplette moderne Neuauflage<br />
würde auch hier einen notwendigen<br />
Schlussstrich ziehen.<br />
Frage 2: Bei Gefälligkeitsverhältnissen<br />
sollte eine unentgeltliche Rechtsberatung<br />
möglich sein. Gleiches gilt für<br />
die Beratung im Bereich gemeinnütziger<br />
Organisationen und Vereine. Der Vorschlag<br />
des DAV, wonach dies nur durch<br />
in den Organisationen tätige Rechtsanwälte<br />
möglich sein soll, greift zu kurz.<br />
Ich denke daran, z. B. auch pensionierten<br />
Richtern oder Hochschullehrern solche<br />
Beratung im karitativen Bereich zu<br />
ermöglichen.<br />
Frage 3: Nein. Ich bin strikt gegen<br />
eine Öffnung des Rechtsberatungsmarktes<br />
für kommerzielle Anbieter wie Versicherer<br />
und Unternehmensberater. Das<br />
Rechtsberatungsgesetz dient dazu, die<br />
Qualität der Rechtsberatung möglichst<br />
hoch zu halten. Das muss auch in<br />
Zukunft so bleiben. Die Stellung des<br />
Rechtsanwalts als einseitiger Interessenvertreter<br />
und eigenständiges Organ der<br />
Rechtspflege ist die Gewähr dafür, dass<br />
nicht das Eigeninteresse des Beraters<br />
Vorrang erhält vor den Interessen des<br />
Ratsuchenden. Eine Öffnung für Fachhochschuljuristen<br />
bedarf einer sorgfältigen<br />
Prüfung.<br />
Frage 4: Im Kern ganz sicher ja. Es<br />
gibt aber Bereiche, in denen auch nichtanwaltliche<br />
Rechtsberatung sinnvoll ist<br />
und möglich sein sollte. Diese Bereiche<br />
klar vom Kernbereich der rechtsanwaltlichen<br />
Rechtsberatung zu scheiden, wird<br />
eine der wichtigsten Aufgaben bei der<br />
Formulierung des neuen Rechtsberatungsgesetzes<br />
werden.<br />
Rainer Funke<br />
(FDP-Fraktion)<br />
Frage 1: Die europäische Öffnung<br />
des Rechtsberatungsmarktes führt zu einem<br />
erhöhten Konkurrenzdruck durch einen<br />
ständig steigenden Beratungsbedarf.<br />
Änderungsbedarf beim Rechtsberatungsgesetz<br />
ergibt sich daher in erster Linie<br />
aufgrund der europäischen Harmonisierung<br />
im Bereich der freien Berufe. Des<br />
Weiteren ist zu überlegen, wie ein einheitlicher<br />
Rechtsrahmen für den großen<br />
Bereich der unentgeltlichen bzw. caritativen<br />
Rechtsberatung geschaffen werden<br />
kann.<br />
Frage 2: Aus Sicht der FDP sind die<br />
Vorschläge des Deutschen <strong>Anwaltverein</strong>s<br />
sachgerecht. Damit bleiben die bisherigen<br />
Rahmenbedingungen im Wesentlichen<br />
bestehen, die die<br />
Leistungsfähigkeit des Anwaltsberufs<br />
und die Qualität der Rechtsberatung erhalten.<br />
Frage 3: Bei der Rechtsberatung<br />
durch Rechtsschutzversicherungen kann<br />
eine Kollision zwischen den Interessen<br />
des Mandanten und den Interessen der<br />
Versicherung im Hinblick auf eine spätere<br />
Leistungspflicht nicht gänzlich ausgeschlossen<br />
werden. Wichtig für den<br />
Mandanten ist jedoch der unabhängige<br />
Rechtsrat, frei von Eigeninteressen. Gerade<br />
die Unabhängigkeit des Rechtsanwalts<br />
bildet die Grundlage für das Vertrauensverhältnis<br />
zwischen ihm und dem<br />
Mandanten.<br />
Skepsis besteht auch gegenüber der<br />
Rechtsberatung durch Fachhochschuljuristen.<br />
Dabei muss sichergestellt werden,<br />
dass der beratende Fachhochschuljurist<br />
seinen Fachhochschulabschluss dem<br />
Mandanten gegenüber offenbart und er<br />
darüber hinaus den gleichen Pflichten unterworfen<br />
wird, wie der Rechtsanwalt.<br />
Eine Ungleichbehandlung würde nicht<br />
nur zu Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten<br />
des Rechtsanwalts führen, sondern<br />
auch zu erheblichen Risiken für den<br />
rechtssuchenden Mandanten.<br />
Frage 4: Rechtsberatung ist in erster<br />
Linie anwaltliche Beratung. Nur der<br />
Rechtsanwalt hat eine fundierte Ausbildung<br />
mit zwei Staatsexamen. Nur der<br />
Rechtsanwalt ist zur Verschwiegenheit<br />
verpflichtet. Nur der Rechtsanwalt hat<br />
ein Zeugnisverweigerungsrecht. Nur der<br />
Rechtsanwalt ist verpflichtet, eine Berufshaftpflichtversicherungabzuschließen.<br />
Das anwaltliche Standesrecht und<br />
das Rechtsberatungsgesetz garantieren<br />
damit für einen größtmöglichen Schutz<br />
des Mandanten und für die Qualität der<br />
Rechtsberatung.
472<br />
MN INTERVIEW<br />
Fortbildung: „Eine Kontrolle der<br />
Pflichterfüllung erscheint zur<br />
Qualitätssicherung erforderlich“<br />
Hauptversammlung der BRAK für Sanktionsbewehrung der<br />
Fortbildungspflicht<br />
Der Rechtsanwalt ist verpflichtet,<br />
sich fortzubilden. Der Wortlaut von<br />
§ 43 Abs. 6 BRAO, seit 1994 im Gesetz,<br />
ist schlicht. Das Wie ist nicht geregelt.<br />
Kontrolle und Sanktion gibt es<br />
nicht. Was Fachanwälte schon kennen,<br />
nämlich eine konkretisierte Fortbildungsverpflichtung<br />
mit Kontrolle und<br />
Sanktion (bis hin zur Rücknahme des<br />
<strong>Titel</strong>s), könnte bald für alle Rechtsanwälte<br />
gelten. Die Hauptversammlung<br />
der BRAK hat Anfang Mai den<br />
Gesetzgeber aufgefordert, den Weg<br />
für die sanktionsbewehrte Fortbildungspflicht<br />
frei zu machen. Darüber<br />
sprach das <strong>Anwaltsblatt</strong> mit Rechtsanwalt<br />
und Notar Johann Günter<br />
Knopp, Präsident der Rechtsanwaltskammer<br />
Frankfurt am Main.<br />
<strong>Anwaltsblatt</strong>: Warum ist eine Kontrolle<br />
der Fortbildungsverpflichtung<br />
nötig?<br />
Knopp: Damit<br />
9 das sehr hohe Qualitätsniveau der<br />
von den Rechtsanwältinnen und<br />
Rechtsanwälten angebotenen Dienstleistungen<br />
auch im Bewusstsein der<br />
Rechtsuchenden, des „Verbrauchers“,<br />
gesichert ist und bleibt und sich damit<br />
9 deutlich abhebt von den Dienstleistungsangeboten<br />
anderer Berater, die<br />
nach der angekündigten weiteren Öffnung<br />
des Rechtsberatungsmarktes<br />
durch das angekündigte neue „Rechtsberatungsgesetz“<br />
in einen verschärften<br />
Wettbewerb mit den Rechtsanwälten<br />
treten werden.<br />
Dieser Wettbewerb kann von uns<br />
nur über die Qualität unserer Leistungen<br />
gewonnen werden. Ein wichtiges<br />
Marketingargument muss für uns deshalb<br />
sein, dass wir ständig aktualisierte<br />
und geprüfte Kenntnisse des<br />
Rechts haben.<br />
Das Mandatsverhältnis zwischen<br />
Rechtsanwalt und Rechtsuchendem ist<br />
„asymmetrisch“ in Bezug auf die<br />
Rechtskenntnis. Der Mandant kann ge-<br />
Rechtsanwalt und Notar Johann Günter<br />
Knopp ist Präsident der Rechtsanwaltskammer<br />
Frankfurt am Main und gewähltes<br />
Mitglied der Satzungsversammlung.<br />
rade die Tätigkeit des Rechtsanwalts<br />
nicht überprüfen und einschätzen, ob<br />
es sich bei dem Rechtsanwalt um einen<br />
auf der Höhe der aktuellen Gesetze<br />
und Rechtsprechung ausgebildeten<br />
Rechtsanwalt handelt oder nicht.<br />
Das Aktualitätsniveau kann also nicht<br />
durch vertragsimmanente Mechanismen<br />
geklärt werden, es muss viel<br />
mehr durch andere, außerhalb des Vertragsverhältnisses<br />
liegende Mechanismen<br />
gesichert werden. Die Fortbildungsverpflichtung<br />
des § 43a Abs. 6<br />
BRAO allein reicht hierzu, wie die<br />
Praxis zeigt, nicht aus. Eine Kontrolle<br />
der Pflichterfüllung erscheint zur Qualitätssicherung<br />
erforderlich.<br />
<strong>Anwaltsblatt</strong>: Wie soll die Kontrolle<br />
aussehen?<br />
Knopp: Dies sollte der Gesetzgeber<br />
zur näheren Ausgestaltung der Sat-<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
zungsversammlung übertragen. Nach<br />
meiner Meinung wäre es ausreichend,<br />
wenn die Rechtsanwaltskammern ermächtigt<br />
würden, stichprobenartig aus<br />
ihnen geboten erscheinendem Anlass<br />
Nachweise dazu anzufordern, ob der<br />
Rechtsanwalt sich in den Rechtsgebieten,<br />
in denen er tätig ist, gleichsam<br />
„auf dem Laufenden hält.“<br />
<strong>Anwaltsblatt</strong>: Welche Sanktionen<br />
wird es geben? Kann der Verlust der<br />
Zulassung drohen?<br />
Knopp: Auch dies sollte die Satzungsversammlung<br />
erörtern. Meines<br />
Erachtens reichen die bestehenden<br />
Möglichkeiten des Kammervorstandes<br />
aus, der das Recht zur Belehrung und<br />
zur Rüge auch in diesem Zusammenhang<br />
ausüben könnte.<br />
<strong>Anwaltsblatt</strong>: Wie soll die Fortbildung<br />
aussehen?<br />
Knopp: Ohne auch hier der Satzungsversammlung<br />
vorgreifen zu wollen:<br />
Jeder muss für sich entscheiden<br />
können, wie er sich fortbildet, ob das<br />
in bürointernen Qualitätszirkeln, in Seminaren<br />
hörend oder dozierend oder<br />
in der Vorbereitung auf eigene Veröffentlichungen<br />
geschieht. Er sollte es<br />
nur so einrichten, dass er auf Aufforderung<br />
einen nachvollziehbaren Beleg<br />
für seine Fortbildung vorlegen kann.<br />
<strong>Anwaltsblatt</strong>: Wer bestimmt die<br />
Rechtsgebiete der Fortbildung?<br />
Knopp: Jeder Rechtsanwalt bestimmt,<br />
auf welchen Gebieten er tätig<br />
bleibt oder künftig tätig wird. Seine<br />
Fortbildungspflicht kann sich immer<br />
nur hierauf beziehen.<br />
<strong>Anwaltsblatt</strong>: Zum Schluss eine<br />
persönliche Frage: Wann und wie haben<br />
Sie sich zuletzt fortgebildet?<br />
Knopp: Aktuell, das ist nahe liegend,<br />
zum RVG in einem Seminar in<br />
Frankfurt a. M.<br />
Die Fragen stellte Rechtsanwalt<br />
Dr. Nicolas Lührig, Berlin.
AnwBl 8 + 9/2004 473<br />
u<br />
Eigentlich hätten es die Rechtschutzversicherer<br />
gar nicht besser treffen<br />
können. Haben ihnen doch Anwaltschaft<br />
und Bundesregierung<br />
gerade ganz kostenlos ein perfektes<br />
Werbeinstrument verschafft, für dass<br />
sie einer Marketing-Agentur viel Geld<br />
hätten zahlen müssen: Die Änderung<br />
der Rechtsanwaltsgebühren.<br />
Gibt es eine bessere Entschuldigung<br />
für die nächste Prämienerhöhung,<br />
als die, die ihr hier quasi auf<br />
dem Silbertablett serviert wird? Liebe<br />
Kunden, erklärt die Branche mit demonstrativer<br />
Betroffenheit, leider<br />
können wir nicht anders. Denn kostet<br />
der Anwalt mehr, drohen uns im Schadensfall<br />
ja auch höhere Kosten.<br />
Und nicht nur das. Die Gebührenänderung<br />
hilft auch, neue Kunden zu<br />
gewinnen. Die Versicherer müssten<br />
den Verbraucher nur davon überzeugen,<br />
dass er auf sich allein gestellt die<br />
hohen Anwaltskosten kaum noch bezahlen<br />
kann. So ist die Rede von einem<br />
Zwei-Klassen-Recht, zu dem die<br />
drastisch erhöhten Anwaltsgebühren<br />
führen würden. Nur noch derjenige<br />
könne zum Anwalt gehen, der über<br />
ein entsprechend hohes Einkommen<br />
verfügt – oder eine Rechtschutzversicherung<br />
hat. Aha.<br />
Doch ganz so dramatisch ist es<br />
nicht. Im Schnitt werden sich die Gebühren<br />
zwar erhöhen, es gibt aber auch<br />
Bereiche und Konstellationen, in denen<br />
die Prozesse billiger werden<br />
können – wie etwa im Ehescheidungsrecht.<br />
Ein Blick auf die äußerst unterschiedlichen<br />
Höhen der Versicherungsbeiträge,<br />
die FINANZtest in einer Untersuchung<br />
von 33 Rechtschutzversicherungen zu<br />
Jahresbeginn festgestellt hat, zeigt außerdem,<br />
dass die Anbieter bei ihren<br />
Beiträgen durchaus noch Spielraum zu<br />
haben scheinen. So kostet das Paket<br />
aus Privat-, Berufs-, und Verkehrsrechtschutz<br />
ohne Selbstbeteiligung<br />
beim günstigsten Anbieter WGV 170<br />
Euro im Jahr und beim teuersten Anbieter<br />
Allianz 293 Euro. Bei solchen<br />
Preisspannen stellt sich die Frage, ob<br />
umfangreiche Prämienerhöhungen<br />
nicht vielleicht doch vermeidbar sind.<br />
In jedem Fall bieten die großen Beitragsunterschiede<br />
den Kunden aber<br />
Ausweichmöglichkeiten.<br />
Und überhaupt: Auch – oder gerade<br />
– mit einer Rechtsschutzversicherung<br />
muss der Verbraucher es sich dreimal<br />
überlegen, zum Anwalt zu gehen.<br />
Denn da Rechtschutzversicherer dazu<br />
da sind, die Prozesskosten ihrer Kunden<br />
zu übernehmen, sehen sie es naturgemäß<br />
nicht gerne, wenn diese zu sehr<br />
ihr Recht suchen. Wer zuviel klagt,<br />
fliegt daher raus. So will beispielsweise<br />
die ARAG voraussichtlich mehr<br />
als 80.000 „Prozesshanseln“ bis Ende<br />
2005 kündigen. Wer die Versicherung<br />
während seiner gesamten Laufzeit<br />
Bei den Beiträgen der<br />
Versicherer scheint noch<br />
Spielraum zu sein<br />
dreimal in Anspruch nahm und mehr<br />
gekostet als eingezahlt hat, muss dran<br />
glauben. Nur Kunden, die noch andere<br />
Versicherungen bei der ARAG haben,<br />
dürfen vielleicht bleiben.<br />
Der Gang zum Anwalt ist für den<br />
Rechtschutz-Kunden, der seine Police<br />
behalten will, anscheinend nicht die<br />
beste Alternative. Braucht er auch<br />
nicht, meint die Versicherungsbranche.<br />
Ihr Lösungsvorschlag: Die Anbieter<br />
leisten in Zukunft selbst Rechtsberatung.<br />
Doch das ist bedenklich. Denn<br />
wenn derjenige rechtlich berät, der<br />
später vielleicht die Prozesskosten<br />
zahlen muss, droht ein handfester Interessenkonflikt.<br />
Könnte es dann nicht<br />
sein, dass die Versicherungsanwälte<br />
aus Angst vor hohen Kosten ihrer – im<br />
Übrigen ihnen gegenüber weisungsbefugten<br />
– Brotgeber eher von einem<br />
Rechtsstreit abraten? Das Gegenteil ist<br />
für den Verbraucher in der Praxis jedenfalls<br />
kaum nachprüfbar. Der freie<br />
Anwalt ist zwar auch insoweit an den<br />
Rechtstreiten interessiert, als er aus ihnen<br />
sein Einkommen bezieht, er ist<br />
aber per Gesetz unabhängig und nur<br />
seinem Mandanten und dem Recht<br />
verpflichtet. Für den Verbraucher ist<br />
das der bessere Weg.<br />
Der Otto-Normal-Verbraucher<br />
sollte sich also gut überlegen, ob er<br />
eine Police wirklich benötigt. Schließlich<br />
können Ratsuchende die anwaltliche<br />
Erstberatung meist aus eigener<br />
Tasche bezahlen. Wenn alle Stricke<br />
reißen, gibt es noch die Möglichkeit<br />
der staatlichen Prozesskostenhilfe.<br />
Zwar kann eine Rechtschutzversicherung<br />
nützlich sein, sie gehört je-<br />
Rechtschutzversicherungen<br />
–<br />
Kein Muss für<br />
den Verbraucher<br />
Johannes Plott, FINANZtest.<br />
MN<br />
doch nicht zu den Versicherungen, bei<br />
denen die Existenz derjenigen bedroht<br />
sein kann, die sie nicht abgeschlossen<br />
haben. So wie etwa bei der Kranken-,<br />
der Renten- oder der Haftpflichtversicherung.<br />
Auch ist wichtig, den eigenen<br />
Bedarf genau auszuloten. Wer<br />
nicht Auto fährt, braucht schließlich<br />
keinen Verkehrsrechtschutz, Gewerkschaftsmitglieder<br />
keinen Berufsrechtschutz.<br />
Und auch bei Preis und Angebot<br />
gibt es große Unterschiede.<br />
Eine Rechtschutzversicherung um<br />
jeden Preis ist also nicht die allein selig<br />
machende Lösung. Auch nicht bei<br />
steigenden Anwaltsgebühren.
474<br />
MN ANWALTSTAG 2004<br />
Sicherheit und Ordnung auf<br />
Kosten der Freiheit?<br />
Festvortrag von Dr. Heiner Geißler,<br />
Bundesminister a.D., auf der<br />
Zentralveranstaltung des 55. Deutschen<br />
Anwaltstags am 21. Mai 2004 in Hamburg<br />
Sehr geehrter Herr Kilger,<br />
meine sehr verehrten Damen und Herren,<br />
ich bedanke mich für die Begrüßung und für die Einladung.<br />
Ich fühle mich wohl bei Ihnen, nicht nur als einer<br />
der schon mehrfach zitierten Einheitsjuristen, zu denen ich<br />
mich auch zähle. Ich bin, wie der eine oder andere von Ihnen<br />
weiß, auch noch Vorsitzender des Kuratoriums Sport<br />
und Natur, zu dem alle Sportverbände, die Sport in der Natur<br />
ohne Motorhilfe treiben, gehören. Einer der führenden<br />
und tragenden Verbände dieser über fünf Millionen zählenden<br />
Dachorganisation ist der DAV, allerdings nicht Ihr DAV,<br />
sondern der Deutsche Alpenverein. Ich habe natürlich nie<br />
den Deutschen Alpenverein mit dem Deutschen <strong>Anwaltverein</strong><br />
verwechselt. Aber auch beim Klettern und Bergsteigen<br />
sind alle drei Begriffe unseres Themas von Bedeutung:<br />
Man braucht Sicherheit, man muss bestimmte Regeln beachten,<br />
man braucht auch die Freiheit. Die Freiheit z. B.<br />
umzukehren, wenn das Wetter schlecht wird.<br />
Die Dringlichkeit der Frage unseres Themas hat seit der<br />
Eskalation des Terrorismus am 11. September 2001 dramatisch<br />
zugenommen. Die indische Bestseller-Autorin Arundhati<br />
Roy hat zum großen Ärger der Amerikaner und vieler<br />
anderer untersucht, ob der Terrorismus nicht ganz andere<br />
Ursachen habe. Ist er nicht tatsächlich die Antwort auf eine<br />
schon vorher in Unordnung geratene Welt, eine Welt der<br />
Armut, mit 2,6 Milliarden Menschen, die pro Tag weniger<br />
zum Leben haben als den Gegenwert von 2 $, und deren<br />
Zahl nicht abnimmt, sondern zu, – eine Welt eines kapitalistischen<br />
Wirtschaftssystems, eine Welt der Unterdrückung<br />
und Diskriminierung von Milliarden von Menschen, einer<br />
kriminellen Ausbeutung der Natur, aber auch einer Welt der<br />
Überforderung von Milliarden von Menschen durch die<br />
technologische Revolution, die auch mangels Information<br />
von Ihnen nicht als Segen sondern als Bedrohung der westlichen<br />
Zivilisation empfunden wird.<br />
Das ist eine nur unzureichende Umschreibung der Situation,<br />
in der wir uns befinden. Die so auch nicht geeignet<br />
ist, für die Zukunft große Erwartungen und Hoffnungen zu<br />
begründen, wenn wir so weitermachen. Und gerade weil<br />
viele junge Menschen auch zu Ihrem Verein gehören, junge<br />
Anwälte, sollten Sie sich darüber im Klaren sein, dass ihre<br />
Zukunft davon abhängt, wie sich die Weltpolitik, aber davon<br />
abhängig auch die nationale Politik, weiterentwickelt.<br />
Das ist kein Naturgesetz, sondern hängt davon ab, wie politisch<br />
entschieden wird.<br />
Die Soziale Marktwirtschaft ist im Zonenwirtschaftrat<br />
1947 mit einer Stimme Mehrheit durchgesetzt worden. Mit<br />
einer Stimme! Es hätte genauso gut andersherum gehen<br />
können. Jeder von Ihnen kann sich ausrechnen, wie dann<br />
die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland gewesen<br />
wäre. Es war die Kombination eines richtigen Konzepts<br />
AnwBl 8 +9/2004<br />
verbunden mit dem Mut derjenigen, die die Verantwortung<br />
hatten, eine solchen Entscheidung auch durchzusetzen. Wir<br />
sind nicht die Gefangenen irgendwelcher Naturgesetze, denen<br />
wir ausgeliefert wären.<br />
Die Antwort der westlichen Demokratien auf das, was<br />
ich gerade zugegebenermaßen noch unzureichend beschrieben<br />
habe, lautet im Moment ökonomisch: shareholder value,<br />
geopolitisch: Krieg und innenpolitisch: Einschränkung<br />
des Rechtsstaats. Der langjährige Berater von Bill Clinton,<br />
Professor an der University of Maryland Benjamin Barber,<br />
hat in einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“<br />
unlängst die globalisierte Ökonomie „eine Welt der Anarchie“<br />
genannt. „Eine Welt ohne Regeln, ohne Gesetz, ohne<br />
soziale Übereinkünfte. Eine Welt in der Unternehmen, Finanzinstitute<br />
und der gesamte private Sektor völlig unreguliert<br />
agieren können. Aber auch eine Welt, in der Terroristen,<br />
Kriminelle und Drogendealer frei und ungebunden<br />
Die wirtschaftlichen Verhältnisse<br />
spiegeln die Anarchie der globalen<br />
Ordnung wider<br />
arbeiten“, ja sogar die Terroristen sind Teil dieses gigantischen<br />
Finanzsystems mit einem börsentäglichen Umsatz<br />
von 2 Billionen Dollar, wobei das noch gar nicht ausdrückt,<br />
was eigentlich los ist, vielmehr werden innerhalb dieses einen<br />
Tages noch einmal Hunderte von Milliarden Dollar<br />
hin- und hergeschoben, innerhalb von wenigen Stunden,<br />
um noch einmal Hundertstel von Prozentpunkten Gewinne<br />
herauszuholen. In rechtsstaatlichen Verhältnissen, so sagt<br />
Barber, wäre dies unmöglich. Aber diese Verhältnisse wirken<br />
massiv auch in unsere Gesellschaft hinein. Sie spiegelt<br />
die Anarchie der globalen Ordnung wider, die eigentlich<br />
eine Unordnung ist.<br />
Sie bedeutet aber die Zerstörung der Freiheit von immer<br />
mehr Menschen. Die amerikanische und die britische Regierung<br />
haben im Irak-Krieg fast alle völkerrechtlichen<br />
Grundsätze, die bisher für die Anwendung von Gewalt zwischen<br />
den Staaten maßgeblich war, aufgegeben. Die<br />
größten Geister der Menschheit von Cicero bis Kant haben<br />
sich mit der Frage beschäftigt: Wann darf ein Staat gegen<br />
den anderen Gewalt anwenden?<br />
Es muß eine „justa causa“ vorliegen, die Anwendung<br />
muss die „ultima ratio“ sein, man braucht eine „recta intentio“<br />
und ein „jus in bello“. Das war die vierte Bedingung.<br />
Zur „justa causa“: Also die Massenvernichtungswaffen<br />
sind nicht gefunden worden, dafür wurde ein Diktator beseitigt.<br />
Das ist sicherlich ein ordentlicher Grund. Ein Diktator<br />
weniger ist immer besser als ein Diktator zuviel. „Ultima<br />
ratio“ war es mit Sicherheit nicht, wie wir jetzt<br />
wissen. Man hätte die UNO ja noch weiterarbeiten lassen<br />
können. Man wollte es nicht.<br />
Zur „recta intentio“: Eine politische Konzeption war<br />
überhaupt nicht vorhanden, wie wir wissen. Die alten Jesuiten<br />
haben beim Tyrannenmord, den sie begründet haben,<br />
auch unter ähnlichen Bedingungen gesagt, es müsse eine<br />
Wahrscheinlichkeit bestehen, dass, wenn der Tyrann tot ist,<br />
die Bedingungen für die betroffenen Menschen wenigstens
AnwBl 8 + 9/2004 475<br />
Anwaltstag 2004 MN<br />
ein bisschen besser sind als vorher. Keine politische Lösung<br />
lag als Konzept diesem Krieg zugrunde.<br />
Und zum „jus in bello“: Auch im Krieg müssen noch<br />
Rechtsgrundsätze eingehalten werden, welche in der Haager<br />
Landkriegsordnung oder der Genfer Konvention ihren<br />
Niederschlag gefunden haben. Aber dieses „jus in bello“<br />
gilt offenbar auch nicht mehr, weil in ihrem Allmachtswahn<br />
die amerikanische Administration glaubt, sie könne<br />
sich über diese völkerrechtlichen Grundsätze hinwegsetzen.<br />
Einige Regierungsmitglieder der amerikanischen Regierung<br />
haben sogar die Frage gestellt: Genfer Konvention, was ist<br />
das eigentlich? Nun ist zwar Saddam Hussein weg, aber inzwischen<br />
wird es immer fraglicher, ob es mehr Menschenrechte<br />
geben wird als vorher. Millionen von Frauen z. B.<br />
werden dies möglicherweise anders sehen, wenn sie unter<br />
der Schiitenherrschaft in einem Gottesstaat leben müssen.<br />
Die rechtsstaatlichen Normen und<br />
damit die Freiheitsrechte der Bürgerinnen<br />
und Bürger verändern sich<br />
Unter diesen Bedingungen verändern sich auch bei uns<br />
die rechtsstaatlichen Normen und damit auch die Freiheitsrechte<br />
der Bürgerinnen und Bürger. Die Antiterrorgesetze –<br />
rasch und schnell verabschiedet nach dem 11. September –<br />
innerhalb von zwei Monaten Ende des Jahres 2001 – sind<br />
Ergebnis dieser Entwicklung. Der große Lauschangriff war<br />
ein vorweggenommener Teil derselben und ist unlängst<br />
vom Bundesverfassungsgericht zu zwei Drittel als verfassungswidrig<br />
erklärt worden. Es ist unschwer zu vermuten,<br />
dass für die Antiterrorgesetze dasselbe Urteil gelten würde.<br />
Und wenn die Bundesjustizministerin jetzt darangeht, aufgrund<br />
des Urteils des Bundesverfassungsgerichts, eine Novellierung<br />
des großen Lauschangriffs vorzunehmen, sollte<br />
sie gleich auch die Novellierung der Antiterrorgesetze mit<br />
in Bearbeitung nehmen und nicht darauf warten, bis das<br />
Dr. Heiner Geißler ist Volljurist<br />
und hat u. a. als Richter<br />
gearbeitet. Von 1977 bis 1989<br />
war er Generalsekretär der<br />
CDU, von 1982 bis 1985 auch<br />
Bundesminister für Jugend, Familie<br />
und Gesundheit. Seit 2002<br />
gehört er dem Bundestag nicht<br />
mehr an.<br />
Bundesverfassungsgericht diese Gesetze wieder so beurteilt<br />
wie den großen Lauschangriff.<br />
An dieser Beurteilung, das muss ich gleich fairerweise<br />
hinzufügen, ändert sich nichts dadurch, dass diese Gesetze<br />
auch von meiner Partei initiiert, mitgetragen, ja zum Teil<br />
sogar verschärft worden sind, dass ich sogar als Abgeordneter<br />
zugestimmt habe, als ich noch im Bundestag war,<br />
darüber bin ich mir auch im Nachhinein klar geworden.<br />
Wenn man sich zu den Grundsätzen seiner Partei bekennt,<br />
dann muss man nicht jede Entscheidung für richtig halten.<br />
Wenn ich meinen Hund liebe, muss ich nicht auch seine<br />
Flöhe lieben.<br />
Die Demokratien antworten auf die Bedrohung ihrer<br />
Ordnung mit immer größerer Einschränkung der Menschen-<br />
und der Grundrechte und damit eben auch der Freiheit<br />
und zerstören dadurch selber die Ordnung, die sie verteidigen<br />
wollen.<br />
Das Ergebnis ist aber nicht mehr Sicherheit, sondern<br />
eine immer größere Verunsicherung der Menschen: sozial,<br />
ökonomisch, rechtlich, möglicherweise sogar verbunden<br />
mit einer Verschärfung radikaler Vorstellungen, auf jeden<br />
Fall mit einem Verlust an Glaubwürdigkeit. Mit anderen<br />
Worten, die Menschen in dieser Demokratie haben den<br />
ethischen Kompass verloren. An dessen Stelle treten vom<br />
Frühstücksfernsehen bis zu den Abendmeldungen die<br />
Börsennachrichten über DAX, Dow Jones, Nikkei-Index.<br />
Das heißt, die westlichen Demokratien und ihre Bürgerinnen<br />
und Bürger und ihre führenden Leute tanzen um das<br />
goldenen Kalb und haben die Gesetzestafeln verloren. Warum<br />
ist dies so und was ist zu tun?<br />
Nach Aristoteles ist die Politik nichts anderes als das<br />
Bemühen, das geordnete Zusammenleben der Menschen zu<br />
ermöglichen. Nun ist die interessante Frage, nach welcher<br />
Ordnung? Wegen dieser Frage sind unzählige Kriege<br />
geführt worden, wahrscheinlich haben Millionen von Menschen<br />
ihr Leben verloren. Die Philosophen aller Zeiten haben<br />
sich mit dieser Frage beschäftigt. Was ist die richtige<br />
Ordnung? Eine Antwort hat z. B. Immanuel Kant gegeben<br />
mit dem kategorischen Imperativ: „Handle so, dass die Ma-
476<br />
MN<br />
xime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen<br />
Gesetzgebung gelten könnte.“ Nur hilft das nicht<br />
viel weiter, weil die Frage, ob die Maxime, die ich für richtig<br />
halte, auch geeignet ist, von anderen als allgemeiner<br />
Grundsatz akzeptiert zu werden, möglicherweise der Bundesinnenminister<br />
anders beantworten wird als Heribert<br />
Prantl von der Süddeutschen Zeitung, Alice Schwarzer anders<br />
als die Taliban, der Papst anders als der amerikanische<br />
Präsident und Matthias Herdegen zu Art. 1 im Maunz-<br />
Dürig-Kommentar anders als vor 40 Jahren mein Doktorvater<br />
Günter Dürig.<br />
Aber all diesen unterschiedlichen Antworten liegen unterschiedliche<br />
Antworten zugrunde auf die Frage: Was ist<br />
der Mensch, oder wer ist überhaupt ein Mensch?<br />
Was ist der Mensch? Je nach Antwort<br />
hat dies politische Konsequenzen<br />
Von der Antwort darauf bestimmt sich die Ordnung, in<br />
der wir leben. Und denken Sie ja nicht, das sei eine Diskussion<br />
würdig eines Rechtsseminars oder einer philosophischen<br />
Vorlesung. Je nachdem, wie diese Frage beantwortet<br />
wird, hat dies knallharte politische Konsequenzen.<br />
Karl Marx hat in einer seiner frühen Schriften zur Judenfrage<br />
gesagt: Der Mensch wie er geht und steht sei<br />
nicht der eigentliche Mensch, sondern er müsse das richtige<br />
gesellschaftliche Bewusstsein haben und der richtigen<br />
Klasse angehören. Die Nazis meinten, der richtigen Rasse.<br />
Die Nationalisten, die National- und Neokonservativen,<br />
z. B. in den Vereinigten Staaten, glauben, er müsse der richtigen<br />
Nation angehören, bei uns natürlich dem deutschen<br />
Volk, sonst kann man ihn durch eine Glastür jagen, wo er<br />
verblutet oder in einer Jauchegrube lebendig versenken.<br />
Die Fundamentalisten meinen, er müsse die richtige Religion<br />
haben, sonst wird er ausgepeitscht wie in Saudi-Arabien<br />
oder wie bei uns vor vierhundert Jahren auf dem<br />
Scheiterhaufen verbrannt.<br />
Diese Fundamentalisten sind auch der Überzeugung, der<br />
Mensch müsse das richtige Geschlecht haben, dürfe ja<br />
keine Frau sein: sonst könne man diese Menschen z. B. von<br />
den von Männern und ihren Herrschaftssystemen errichteten<br />
Bildungseinrichtungen ausschließen und rechtlich diskriminieren.<br />
Von einer Milliarde Analphabeten auf dieser<br />
Erde sind 800 Millionen, also 80 Prozent, Frauen, aber<br />
nicht, weil sie dümmer sind als die Männer, sondern weil<br />
sie nicht in die Schule gehen dürfen: Man darf ihnen deswegen<br />
auch die Geschlechtsteile verstümmeln: 100 Millionen<br />
auf dieser Erde sind davon betroffen, jedes Jahr kommen<br />
4 Millionen dazu. In Deutschland sind es 40 000 und<br />
es gibt inzwischen genügend deutsche Arzte, die sich gegen<br />
Euro an dieser Barbarei beteiligen.<br />
Beschneidung von Frauen kann weder unter dem Namen<br />
Allahs oder anderen Normen gebilligt werden. Sie ist<br />
schwere Körperverletzung, ein Verstoß gegen Artikel 2 des<br />
Grundgesetzes und muss von Amts wegen verfolgt werden.<br />
Bis vor kurzem haben Vertreter meiner Partei im Vermittlungsausschuss<br />
die absurde Auffassung vertreten, geschlechtsspezifische<br />
Verfolgung aus bestimmten Ländern<br />
könne niemals politische Verfolgung sein. Aber wenn eine<br />
aufgeklärte Mutter aus Kenia ihr neugeborenes Kind vor<br />
der Barbarei der Beschneidung bewahren will und sie dann<br />
in Deutschland aus diesem Grunde kein Asyl bekommt, ist<br />
dies eben eine völlige Verkennung der rechtlichen Situation,<br />
denn die Beschneidung wird in Kenia von den Behörden de<br />
facto geduldet. Die Verantwortlichen bekommen keine<br />
Bestrafung. Wenn die Diskriminierung von Frauen in der<br />
Rechtsordnung verankert ist, wie das in vielen islamischen<br />
Ländern der Fall ist, und diese Diskriminierung zu schweren<br />
Menschenrechtsverletzungen führt, dann ist dies politische<br />
Verfolgung.<br />
Neuerdings gehört zu den Kriterien, die die Menschenwürde<br />
verletzen, auch das richtige Alter; eine neue Kategorie.<br />
In England kriegen Leute, die älter sind als 80 Jahre,<br />
keine Bypassoperation und kein künstliches Hüftgelenk, sie<br />
werden vom Dialyseapparat abgeschaltet, es sei denn, sie<br />
haben genügend privaten Bimbes, wie man in der Pfalz sagt,<br />
um das aus der eigenen Tasche bezahlen zu können.<br />
Wir sind heute in Deutschland genauso weit. Die Lebensrisiken<br />
sollen weitgehend privatisiert werden. Mein<br />
Parteifreund Philipp Missfelder, Bundesvorsitzender der<br />
Jungen Union, hat gemeint, Leute, die älter sind als<br />
85 Jahre, sollten auch kein künstliches Hüftgelenk mehr bekommen,<br />
sie sollten gefälligst Krücken verwenden. Nun<br />
wollen wir über einen jungen Mann mit 23 Jahren keinen<br />
Die Lebensrisiken<br />
sollen weitgehend<br />
privatisiert werden<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Anwaltstag 2004<br />
Stab brechen. In dem Alter kann man auch mal einen<br />
Blödsinn erzählen. Ich bin froh, dass nicht alle wissen, was<br />
ich mit 23 Jahren gesagt habe. Aber man darf ihm nicht<br />
noch auf die Schulter klopfen und sagen, du hast ein richtiges<br />
Problem aufgeworfen, den Finger in eine klaffende<br />
Wunde gelegt. Sondern höchstens sagen, ja was soll denn<br />
der anders reden, wenn schon leibhaftige Professoren erklären,<br />
Leute, die älter sind als 75 Jahre, sollten keine lebenserhaltenden<br />
Medikamente mehr bekommen. Alles unter<br />
Kostengesichtspunkten. Einer dieser Professoren war sogar<br />
offizieller Berater der Deutschen Bischofskonferenz, er<br />
wurde am anderen Tag suspendiert. À la Bonheur, die Kirche<br />
hat mal rasch reagiert, ausnahmsweise.<br />
Aber wir können sehen, wohin wir mit der Kategorisierung<br />
der Menschen kommen. Wenn die Leute das Pech hatten<br />
und das Pech haben, dass sie zur falschen Klasse,<br />
Rasse, Nation, Religion, zum falschen Geschlecht, zum falschen<br />
Alter gehören, dann werden oder wurden sie liquidiert,<br />
vergast, gesteinigt, zu Tode gefoltert, in die Luft gesprengt<br />
oder sonst wie umgebracht. Die falschen<br />
Menschenbilder waren und sind die Ursache für die<br />
schwersten Verbrechen, die die Menschen begangen haben.<br />
Aber auch für die schwerwiegendsten politischen Fehlentscheidungen,<br />
die Menschen getroffen haben.<br />
Und deswegen ist die Frage nach dem richtigen Menschenbild<br />
entscheidend. Kann das richtige Menschenbild<br />
nach den Erfahrungen, die wir mit den anderen Menschenbildern,<br />
diesen kategorisierenden Menschenbildern, gemacht<br />
haben, ein Abklatsch dieser falschen Menschenbilder<br />
sein? Ich glaube wohl nicht. Der Mensch wie er geht und<br />
steht ist der eigentliche Mensch, unabhängig davon, ob er<br />
jung oder alt ist, Mann oder Frau, krank oder gesund und<br />
unabhängig davon, ob jemand <strong>Deutscher</strong> ist oder Ausländer,<br />
Christ oder Jude, Weißer oder Schwarzer. Mit diesem Menschenbild<br />
müssen sich zivilisierte Nationen, und müssen<br />
sich vor allem auch die Deutschen, unterscheiden von den
AnwBl 8 + 9/2004 477<br />
Anwaltstag 2004 MN<br />
Menschenbildern der Nazis, der Kommunisten, der Nationalisten<br />
und der Fundamentalisten, weil sie sonst den Anspruch<br />
für eine rechtsstaatliche Demokratie verlieren.<br />
Natürlich gehört dazu auch, dass der Mensch seine Würde<br />
behält, wenn er zu meinen Feinden gehört. Es kann daher<br />
kein spezielles „Feindstrafrecht“ geben.<br />
Wir haben zur Zeit eine etwas künstliche Diskussion<br />
zwischen Wolfgang Böckenförde und Matthias Herdegen<br />
hinsichtlich der Frage, ob der Artikel 1 des Grundgesetzes<br />
noch uneingeschränkt gilt oder nicht. Deswegen etwas<br />
künstlich, weil auch Herdegen betont, dass die Menschenwürde<br />
nicht von geistigen und körperlichen Fähigkeiten oder<br />
sozialen Merkmalen abhängt. Mit der Verknüpfung<br />
Der Disput zwischen Böckenförde<br />
und Herdegen zur Menschwürde<br />
der Menschenwürde an die Spezies Mensch stehe zugleich<br />
fest, dass eine Einschränkung der Menschenwürde auf Personen,<br />
verstanden als Menschen mit einem Mindestmaß<br />
psychischer und kommunikativer Fähigkeiten, mit der Verfassung<br />
nicht zu vereinbaren ist. Dies trifft auch auf die<br />
Diskussionen im Europarat über die Bioethikkonvention zu,<br />
in denen versucht wurde, menschenrechtsrelevant zwischen<br />
Personen und human beings zu unterscheiden. Die Besorgnisse<br />
sind nicht aus der Welt gegriffen, sondern es sind Gedanken<br />
und Überlegungen, die im politischen Raum stattgefunden<br />
haben.<br />
Was Herdegen und Böckenförde diskutieren, bezieht<br />
sich auf den pränatalen Bereich. Dazu will ich jetzt nicht<br />
abschließend Stellung nehmen. Das ist ein wichtiger Bereich,<br />
das ist gar keine Frage. Aber ob der Vierzeller in der<br />
Petrischale den Schutz des Artikel 1 genießt, kann, mit Verlaub<br />
gesagt, niemand hinsichtlich der Frage endgültig beantworten,<br />
ob das ein Mensch ist oder nicht. Das kann sein,<br />
kann aber auch nicht sein. Niemand weiß es, kein Papst,<br />
kein Kardinal und kein Professor. Aber weil wir es nicht<br />
wissen, müssen wir den Schutz vorsichtshalber so weit wie<br />
möglich nach vorne verlagern. Das ist die Konsequenz, die<br />
man ziehen kann. Aber Artikel 1 des Grundgesetzes, „Die<br />
Würde des Menschen ist unantastbar“, darf aus diesen Erwägungen<br />
heraus nicht generell infrage gestellt werden.<br />
Das Grundgesetz lässt im Artikel 1 offen, ob diese unantastbare<br />
Menschenwürde von Gott stammt oder vom Staat<br />
gegeben ist. Darauf gibt es im Grundgesetz keine Antwort.<br />
Aber Artikel 1 ist vorgegeben. Er liegt der Gründung unseres<br />
Gemeinwesens zugrunde. Er ist positives Verfassungsrecht<br />
und ist mit Ewigkeitsgarantie versehen. Nach Artikel<br />
79 Absatz 3 kann der Artikel 1 nie mehr abgeschafft werden,<br />
von keiner irgendwie gearteten Mehrheit im Deutschen<br />
Bundestag oder Bundesrat.<br />
Eine Relativierung, entnommen aus der Problematik des<br />
pränatalen Würdeschutzes und übertragen auf den postnatalen<br />
oder prämortalen Menschen, ist ein untauglicher Versuch,<br />
dem Grundgesetz den nun wirklich uralten Hut des<br />
Rechtspositivismus wieder aufzusetzen. Der Präsident des<br />
Bundesverfassungsgerichts hat völlig zu Recht gesagt, über<br />
diese Frage entscheidet nicht eine wissenschaftliche Meinung<br />
oder irgendjemand, sondern wenn Not am Mann<br />
kommt, eben das Bundesverfassungsgericht und dieses hat<br />
sich nun ganz eindeutig geäußert. „Die Menschenwürde ist<br />
tragendes Konstitutionsprinzip und oberster Verfassungswert“,<br />
hat das Bundesverfassungsgericht in seinem letzten<br />
Urteil zum großen Lauschangriff noch mal ausdrücklich betont<br />
und den Dürigschen Begriff wiederholt, dass es mit<br />
der Würde des Menschen nicht vereinbar ist, ihn zum bloßen<br />
Objekt der Staatsgewalt zu machen, „zu einer vertretbaren<br />
Größe zu minimieren“, wie Dürig gesagt hat.<br />
Diese Geltung des Artikel 1 ist die Voraussetzung der<br />
Freiheit. Und das Bundesverfassungsgericht hat in dem<br />
schon von mir genannten Urteil klar gemacht, dass die Art<br />
der ergriffenen Maßnahme entscheidend ist, wenn durch sie<br />
die Subjektqualität des Betroffenen grundsätzlich infrage<br />
gestellt wird. Das ist mit ein Grund, warum die Folter gegen<br />
den Artikel 1 verstößt, wenn nämlich die Behandlung durch<br />
die öffentliche Gewalt die Achtung des Wertes vermissen<br />
lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen zukommt.<br />
Und das Gericht sagt, dass – die Frau Justizministerin<br />
hat es vorhin auch zitiert –, dass ein unantastbarer Kernbereich<br />
privater Lebensgestaltung zu wahren ist. Es spricht<br />
vom verfassungsrechtlichen Gebot unbedingter Achtung einer<br />
Sphäre des Bürgers für eine ausschließlich private, eine<br />
höchst persönliche Entfaltung. Im Einzelnen soll das Recht,<br />
in Ruhe gelassen zu werden, auch in den eigenen Wohnräumen<br />
gesichert sein. Und dass zur Entfaltung der Persönlichkeit<br />
im Kernbereich privater Lebensgestaltung auch die<br />
Möglichkeit gehört, innere Vorgänge wie Empfindungen<br />
und Gefühle, Überlegungen und Ansichten, Erlebnisse<br />
höchst persönlicher Art zum Ausdruck zu bringen und zwar<br />
ohne Angst, dass staatliche Stellen dies überwachen. Und<br />
noch etwas: dieser Schutz, so das Bundesverfassungsgericht,<br />
darf nicht durch Abwägung mit den Strafverfolgungsinteressen<br />
nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeits-<br />
Es darf keine Sicherheit auf Kosten<br />
der Freiheit geben, wenn es um die<br />
Menschenwürde geht<br />
grundsatzes relativiert werden. Zwar wird es stets Formen<br />
von besonders gravierender Kriminalität und entsprechende<br />
Verdachtssituationen geben, die die Effektivität der Strafrechtspflege<br />
als Gemeinwohlinteresse manchem wichtiger<br />
erscheinen lässt als die Wahrung der menschlichen Würde<br />
des Beschuldigten. (Anm.: Infolgedessen ist es völlig unverständlich,<br />
dass die Ministerin in der Novelle zum Großen<br />
Lauschangriff diesen auf bisher noch geschützte Personen<br />
wie Anwälte, Priester und Journalisten ausdehnen will.)<br />
Eine solche Wertung ist dem Staat jedoch durch<br />
Artikel 1 Absatz 1 und Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes<br />
verwehrt. Das ist die Rechtslage. Das heißt, um<br />
daraus jetzt die Konsequenz zu ziehen, dass es keine Sicherheit<br />
geben darf auf Kosten der Freiheit, wenn es um<br />
die Menschenwürde geht. Der große Lauschangriff ist zum<br />
Teil verfassungswidrig. Kommt jetzt der große Gen-Angriff?<br />
Das ist die Frage. Wobei wir uns dabei im Klaren<br />
sein müssen, dass die Gen-Identifizierungsmuster, die da<br />
registriert werden sollen, natürlich etwas anderes bedeuten<br />
als der normale simple Fingerabdruck bei der Polizei. Bei<br />
diesen Mustern, wenn sie zur Grundlage gemacht werden,<br />
ist dann eben der ganze Mensch erfasst vom Bankkonto bis<br />
zur Erbkrankheit. Aber die Bundesrepublik Deutschland<br />
darf nicht vom Rechtsstaat übergehen in den Sicherheitsund<br />
Präventionsstaat.<br />
Datenschutz wird diskriminiert als Täterschutz, das hört<br />
man ununterbrochen, vor allem, wenn es um die organisierte<br />
Kriminalität geht. Aber Datenschutz ist Persönlich-
478<br />
MN<br />
keitsschutz, das heißt das Recht jedes Einzelnen, grundsätzlich<br />
darüber selbst entscheiden zu können, wer, wann, was<br />
über ihn, über mich, wissen darf. Das ist Datenschutz und<br />
nicht Täterschutz. Leider bleibt von diesem Persönlichkeitsschutz<br />
immer weniger übrig. Die Antiterrorgesetze, die verabschiedet<br />
worden sind, gehören noch einmal auf den<br />
Prüfstand. Selten war ein Gesetzentwurf so vernichtend beurteilt<br />
worden, wie der für dieses Gesetz. Die juristische<br />
Prüfung durch das dafür zuständige Bundesjustizministerium<br />
war vernichtend. „Rechtsstaatlich problematisch“,<br />
„verfassungsrechtlich bedenklich“ lautete fast durchgängig<br />
die Beurteilung. Bisherige unverzichtbare rechtsstaatliche<br />
Grundsätze werden unter der geistigen Führung der amerikanischen<br />
Administration gefährdet. Dieses Denken findet<br />
inzwischen seinen Niederschlag auch in der Novellierung<br />
des Ausländerrechts. Welche Grundsätze werden in Frage<br />
gestellt? Öffentlichkeit des Strafverfahrens, die Trennung<br />
von Sicherheitsbehörden und geheimen Sicherheitsinstitutionen.<br />
Dabei wollten wir doch niemals mehr eine geheime<br />
Staatspolizei haben. Der Unterschied zwischen Polizei und<br />
Geheimdiensten besteht eben darin, dass die Polizei von<br />
der Justiz kontrolliert wird, der Geheimdienst aber von einem<br />
geheim tagenden Parlamentarischen Miniausschuss,<br />
der aber seinerseits zum Schweigen verurteilt ist.<br />
Was wird nicht mehr gewährleistet sein, wenn wir diesem<br />
Trend folgen? Die alsbaldige Kontrolle von Verhaftungen<br />
und sonstigen Grundrechtseingriffen durch unabhängige<br />
Richter. Das Recht auf Akteneinsicht. Das Recht auf<br />
freie Wahl eines Verteidigers. Das Recht, überhaupt einen<br />
Verteidiger zu haben. Die öffentliche Beweisführung. Der<br />
Grundsatz, im Zweifel für den Angeklagten, bei den Ausländern<br />
schon umgedreht. Die Gleichheit vor dem Gesetz.<br />
Das Verbot bestimmter Vernehmungsmethoden, wie wir ja<br />
jetzt erfahren haben. Der Grundsatz des fairen Verfahrens.<br />
Die Genfer Konvention über die Behandlung von Gefangenen.<br />
Weltweit wird damit begonnen, all das unter Vorbehalt<br />
zu stellen und dieser Vorbehalt lautet: Der rechtsstaatliche<br />
Katalog ist schön und gut, aber nur solange er die Bekämpfung<br />
des Terrorismus nicht behindert. Vogelfrei nannte man<br />
eine solche Situation im Mittelalter und in den Vereinigten<br />
Staaten ist dieser Zustand bereits eingeführt. Acht, Bann<br />
und Rechtlosigkeit für verdächtige Ausländer – wollen wir<br />
das auch? Guantanamo ist das schreckliche Beispiel für institutionalisierte<br />
Rechtlosigkeit, die allerdings jetzt (sehr<br />
spät) durch das oberste amerikanische Gericht korrigiert<br />
worden ist. Was die Foltervorwürfe betrifft, wird jetzt einzelnen<br />
Soldaten der Prozess gemacht. Aber die Legitimierung<br />
des rechtslosen Zustandes der Gefangenen in Guantanamo<br />
und in anderen Gefängnissen, die Legitimierung<br />
dieses Bruchs der amerikanischen Verfassung und der Genfer<br />
Konvention, die Verwendung einer brutalen Jäger- und<br />
Kriminellensprache in den Reden führender Vertreter der<br />
amerikanischen Regierung unter Übernahme von Texten<br />
aus dem Mafia-Millieu aus Chicago von Al Capone, und<br />
das Aufheizen eines nationalistischen Klimas durch die<br />
konservative Presse, sie alle haben in Amerika, wie die aufmerksamen<br />
und objektiven Beobachter inzwischen übereinstimmend<br />
festgestellt haben, einen Geisteszustand in der<br />
amerikanischen Öffentlichkeit geschaffen, in dem Soldaten<br />
und Polizisten unten an der Front bei ihren Misshandlungen<br />
jedes Unrechtsbewusstsein abhanden gekommen ist, soll<br />
man sagen, abhanden kommen musste.<br />
Nicht die Einzeltäter, die jetzt angeklagt werden, sondern<br />
die politischen und journalistischen Meinungsführer<br />
tragen die Verantwortung für das moralische Desaster, das<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Anwaltstag 2004<br />
durch diese Vorgänge die gesamte westliche Welt erfasst<br />
hat. Das müssen Sie natürlich nicht übernehmen, was ich<br />
jetzt sage, aber der größte Triumph der Terroristen besteht<br />
ja nun darin, dass sich die westliche Führungsmacht, zumindest<br />
in den Augen der Öffentlichkeit, auf eine Stufe mit<br />
den Schurkenstaaten gestellt hat, die sie angeblich bekämpfen<br />
will. Aber wir brauchen eine Rettung. Und die Rettung<br />
kann eigentlich nur vom amerikanischen Volk selber kommen.<br />
Die Amerikaner müssen im Herbst die jetzige Regierung<br />
abwählen.<br />
Die Repressionspolitik der US-Administration führt ja<br />
auch intern zu keinen großen Ergebnissen. Auf 100.000<br />
Einwohner kommen in Amerika inzwischen zwölf Kapitalverbrechen.<br />
In Deutschland sind es noch zwei. Das amerikanische<br />
Erziehungsministerium hat neulich bekannt gegeben,<br />
dass 25 % der Amerikaner Analphabeten sind und<br />
das hat natürlich seine Gründe. Eine Zwei-Drittel-Gesellschaft<br />
produziert Kriminalität und Analphabetentum. In<br />
den USA ist die Inhaftierungsquote in den letzten 20 Jahren<br />
um 400 % gestiegen. Über 5 Millionen Amerikaner sitzen<br />
in Haft oder stehen unter Bewährungsaufsicht. Der Kriminologe<br />
Michael Lindenberg hat einmal ausgerechnet, dass,<br />
wenn die Inhaftierungsrate in Amerika linear weiter anstiege,<br />
im Jahre 2050 die Hälfte der US-Bürger hinter Gittern<br />
säße und von der anderen Hälfte bewacht würde.<br />
Was ist zu tun? Ich glaube, wir sollten bei der Bekämpfung<br />
des Terrorismus nicht auf polizeiliche Maßnahmen<br />
verzichten, das wäre völlig falsch. Ich habe auch dafür gestimmt<br />
und halte das nach wie vor für richtig, dass deutsche<br />
Soldaten in Afghanistan sind, und den Terrorismus dort bekämpfen<br />
als eine Art Weltpolizei. Aber es wird nichts<br />
nützen, wenn sich die politischen und ökonomischen Bedingungen<br />
nicht verändern. Ich war der erste Abgeordnete, der<br />
nach dem 11. September in Kabul war. Als ich zurückkam,<br />
haben die Kolleginnen und Kollegen mich in Berlin gefragt:<br />
Sagen Sie mal, lebt der Osama Bin Laden noch? Das kann<br />
ich nicht sagen, war meine Antwort, ich bin ihm nicht begegnet.<br />
Aber ich weiß das eine, dass der Osama Bin Laden<br />
in den Köpfen und in den Herzen von Hunderten von Millionen<br />
Menschen lebt, in den Armutsvierteln und in den<br />
Was ist zu tun? Die politischen<br />
und ökonomischen Bedingungen<br />
müssen sich ändern<br />
Elendsquartieren von Indonesien, Pakistan, Bangladesch,<br />
Afghanistan, Iran, Irak, Jemen, Palästina, Jordanien, Somalia,<br />
Sudan, Ägypten bis nach Algerien, wo 90 % der jungen<br />
Leute arbeitslos sind. Und wenn 90 % der jungen Leute<br />
null Perspektive haben für ihr irdisches Leben, um mal einen<br />
Mullah-Begriff zu verwenden, werden sie leicht das<br />
Opfer der islamistischen Heilsversprechen. Die Amerikaner<br />
können noch einen Krieg führen. Wir können noch<br />
mehr Soldaten nach Kabul schicken. Es wird keinen Wert<br />
haben. Warum? Weil nur Narren und Lügner uns weismachen<br />
können, man könne auf Dauer Hunderte von Millionen<br />
Menschen ausgrenzen, ohne dafür nicht irgendwann einen<br />
politischen Preis zahlen zu müssen.<br />
Es gibt in der Politik keine überflüssigen Menschen, sie<br />
haben alle eine Stimme. Wenn sie in keiner Demokratie leben<br />
und keine Stimme haben, dann werden sie oder ihre<br />
geistigen Führer sich Waffen besorgen, und wenn es fliegende<br />
Kerosinbomben sind oder Handgranaten, die dann
AnwBl 8 + 9/2004 479<br />
Anwaltstag 2004 MN<br />
per Handy in Vorortzügen gezündet werden. Was sich auf<br />
der Welt heute abspielt, ist ein Szenario der Willkür und<br />
der Ungerechtigkeit. Wir haben heute auf der Welt die Unordnung,<br />
wie sie Benjamin Barber beschrieben hat. Wir haben<br />
keine Soziale Marktwirtschaft, keinen geordneten Wettbewerb.<br />
Das Kennzeichen der sozialen Marktwirtschaft war<br />
das Bündnis zwischen dem Ordoliberalismus der Freiburger<br />
Schule (Wilhelm Röpke, Walter Eucken, Adolf Müller-<br />
Armack, später Ludwig Ehrhard), ein Bündnis des Ordoliberalismus<br />
– nicht des Neoliberalismus, das bringen die<br />
heutigen Liberalen dauernd auseinander – mit, so können<br />
wir sagen, dem Evangelium, mit der katholischen Sozialehre,<br />
mit der evangelischen Sozialethik. Die Folge war die<br />
erfolgreichste Wirtschafts- und Sozialphilosophie, die die<br />
Wirtschaftsgeschichte je gekannt hat. Die gibt es nicht<br />
mehr. Sie ist verschwunden im Zuge der Globalisierung,<br />
die nicht aufzuhalten ist, die gut ist, wenn sie in der richtigen<br />
Ordnung erfolgt. Geordneter Wettbewerb war das<br />
Kennzeichen der sozialen Marktwirtschaft und Ludwig Ehrhardt<br />
war der Erfinder der Kartellgesetzgebung, des Bundeskartellamtes,<br />
der Fusionskontrolle.<br />
Wenn sie keine Kontrolle des Wettbewerbs haben, keine<br />
Ordnung, gibt es als Ergebnis nur noch Oligopole und Monopole.<br />
Dies ist genau die Entwicklung, in der wir uns be-<br />
Anstelle der Sozialen<br />
Marktwirtschaft ist<br />
shareholder value getreten<br />
finden. Kleine und mittelständische Unternehmen haben<br />
immer weniger Chancen. Anstelle der Sozialen Marktwirtschaft<br />
ist shareholder value getreten. Laut Weltbank leben<br />
auf der Erde 225 Menschen mit einem Vermögen von einer<br />
Billion Dollar. Das ist genauso viel, wie die Hälfte der<br />
Menschheit, nämlich 3 Milliarden an jährlichem Einkommen,<br />
haben. Dies ist nicht, wie man manchmal im Wirtschaftsteil<br />
der einen oder anderen Zeitung lesen kann, die<br />
Folge von Faulheit und Dummheit, sondern die Folge von<br />
massiven politischen Fehlern. Cancún war das Beispiel der<br />
WTO. Die amerikanische Baumwolle wird durch Steuersubventionen<br />
so billig gemacht, dass die Baumwolle aus<br />
Afrika auf dem Weltmarkt keine Chance hat, mit dem<br />
Rübenzucker aus Europa ist es genauso im Verhältnis zum<br />
Rohrzucker, der auf den Philippinen oder in Mittelamerika<br />
hergestellt wird. Der Kongo, das reichste Land der Erde –<br />
Gold, Silber, Mangan, alles gibt es da – wird durch europäische<br />
und amerikanische Großkonzerne ausgebeutet. Die<br />
Erlöse fließen zu einem kleinen Teil in die Taschen der<br />
Machthaber in Kinshasa, der Rest in die Tresore dieser<br />
Konzerne.<br />
Den Menschen, denen diese Schätze gehören, sehen<br />
nicht einen müden Dollar. Und wenn Sie einmal die Verlautbarungen<br />
des Osama Bin Laden genau lesen, dann<br />
macht er dies zum Punkt seiner Auseinandersetzung, vor<br />
allem mit der saudi-arabischen Regierung. Das ist die Situation,<br />
in der wir leben. Sie ist die Folge von politischen<br />
Fehlentscheidungen. Das Fazit lautet: wir brauchen wieder<br />
Ordnung in der Globalen Wirtschaft, eine Internationale<br />
Soziale Marktwirtschaft. Nicht dadurch, dass wir die Lebensstandards<br />
von Bangladesch anheben auf unsere, aber<br />
dadurch, dass wir einige Regeln durchsetzen: Internationale<br />
Banken- und Börsenaufsicht, wir brauchen eine Spekulationssteuer,<br />
die Schließung der Off-Shore-Center, damit es<br />
endlich aufhört, dass die Finanzindustrie ihre Gelder steuerfrei<br />
dort parken kann. Wir brauchen eine Demokratisierung<br />
der Weltinstitutionen, der Weltbank, der WTO, des internationalen<br />
Währungsfonds, des IWF, der bis zum Amtsantritt<br />
von Horst Köhler nichts anderes war als der Schuldeneintreiber<br />
für die westlichen Demokratien und der Großbanken<br />
zulasten der Schwellen- und der Entwicklungsländer.<br />
Auch auf der nationalen Ebene ist keine Ordnung mehr<br />
vorhanden. Das sage ich auch in Anwesenheit der Kolleginnen<br />
und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag. Die<br />
Agenda 2010 mit der Zusammenlegung von Sozialhilfe und<br />
Arbeitslosenhilfe bedeutet, dass einer, der jahrzehntelang<br />
Freiheit braucht Regeln –<br />
Die Freiheit ist die Voraussetzung<br />
für den Frieden<br />
gearbeitet hat – die Übergangsregelungen einmal weggelassen<br />
–, nach einem Jahr Arbeitslosigkeit auf das Sozialhilfe-<br />
Niveau, genannt Arbeitslosengeld II, gesetzt wird. Und das<br />
kriegt er erst dann, wenn er fast alles versilbert hat, was er<br />
sich in seinem Leben erarbeitet hat – eine verfassungswidrige<br />
Enteignung. Es wird dazu führen, dass wir zu den<br />
3 Millionen Sozialhilfeempfängern im Laufe der Zeit noch<br />
einmal ein paar Millionen zusätzlich bekommen. Die Lohnnebenkosten<br />
werden dadurch nicht gesenkt, wohl aber die<br />
Binnennachfrage noch einmal vermindert.<br />
Wenn wir wieder Sicherheit und Ordnung bekommen<br />
wollen, brauchen wir erstens international die Wiederherstellung<br />
des Völkerrechts – eine große Aufgabe der Europäer<br />
– und der Anerkennung der Menschenwürde und der<br />
Menschenrechte durch die westlichen Demokratien, vor allem<br />
die USA. Und wir brauchen eine Internationale Soziale<br />
Marktwirtschaft. Wir brauchen Regeln. Das ist die Voraussetzung<br />
für die Freiheit.<br />
Wir hatten eine Auseinandersetzung in den 80er-Jahren<br />
über den Frieden. Egon Bahr sagte damals, der Friede sei<br />
der oberste Grundwert. Aber der Friede ist kein oberster<br />
Grundwert. Er ist überhaupt kein Grundwert, sondern er ist<br />
ein politischer Zustand, der dann eintritt, wenn in einer Gesellschaft<br />
die aus der Menschenwürde resultierenden wirklichen<br />
Grundwerte der Freiheit, Gleichheit, und Solidarität<br />
realisiert sind. Thomas von Aquin hat es in klassischer<br />
Kürze lateinisch auf einen Nenner gebracht: „Opus justitiae<br />
pax.“ Der Friede ist das Werk der Gerechtigkeit. „Opus libertatis<br />
pax.“ Die Freiheit ist die Voraussetzung für den<br />
Frieden. Ordnung und Sicherheit sind auch keine Grundwerte,<br />
sondern sie treten dann ein, wenn die wirklichen<br />
Grundwerte in einem Land und auf der Welt realisiert sind.<br />
Die Länder dieser Welt sind umso sicherer und umso geordneter,<br />
je mehr Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in ihnen<br />
verwirklicht sind. Das gilt auf der ganzen Welt, das gilt<br />
auch für uns in Deutschland.
480<br />
MN<br />
DAV-Rednerwettstreit<br />
Sind Anwälte wirklich<br />
„Edel und Star(c)k“?<br />
Kein leichtes Thema für den 1. Preisträger des Rednerwettstreites<br />
auf dem Deutschen Anwaltstag. Zum fünften<br />
Mal hatte der DAV junge Kollegen (Altersgrenze 39 Jahre)<br />
eingeladen. „Die Rhetorikkultur ist bei den Anwälten noch<br />
entwicklungsfähig. Der große Zuspruch zum Rednerwettstreit<br />
zeigt aber, dass bei der jungen Anwaltschaft das Interesse<br />
daran wächst“, sagte Rechtsanwalt Georg Prasser,<br />
Vizepräsident des DAV und Vorsitzender der Jury, in Hamburg.<br />
Den ersten Platz sicherte sich Rechtsanwalt Dr.<br />
Friedrich Blase (Frankfurt am Main). Auf den zweiten Platz<br />
kam Rechtsanwalt Michael Wappner (Düsseldorf), gefolgt<br />
von Rechtsanwalt Chan-jo Jun (Würzburg). Die Preise sind<br />
mit 2 500 E, 1 000 E und 500 E dotiert. Zur Jury gehörten<br />
neben Prasser: Rechtsanwältin Dr. Lore Peschel-Gutzeit<br />
(Ex-Justizsenatorin in Hamburg sowie in Berlin), Rechtsanwalt<br />
Dr. Bernd Hirtz (Köln), Rechtsanwalt Dr. Ulrich<br />
Scharf (Celle, Vizepräsident der BRAK), Rhetorik-Prof. Dr.<br />
Gert Ueding (Universität Tübingen) und Dr. Thilo von<br />
Trotha (Präsident des Verbandes der Redenschreiber).<br />
Das <strong>Anwaltsblatt</strong> dokumentiert die Rede des 1. Preisträgers<br />
aus der Zentralveranstaltung des 55. Deutschen<br />
Anwaltstags in Hamburg:<br />
Eigentlich war es ja schon absehbar, als Barbara Salesch<br />
als Richterin über unsere Bildschirme flimmerte. In Kürze<br />
würde die sinnreduzierende Medienwelt hierzulande auch<br />
unseren Berufsstand entdecken. Pearsons? ???? konnte man<br />
ja noch als nicht repräsentative „Importware“ abstempeln.<br />
Ally McBeal war dann schon „Kultware“ mit gefährlichen<br />
Speerspitzen, die zu Vergleichen nötigten – sind deutsche<br />
Anwältinnen auch so emotional?? Die Herren blieben aber<br />
noch verschont.<br />
Und nun – seit etwas über einem Jahr – ist es geschehen:<br />
Unsere Schonzeit, meine Damen und Herren, ist<br />
endgültig abgelaufen. Wir werden beobachtet, durchleuchtet,<br />
transparent gemacht. Sie lächeln – warten Sie, das wird<br />
Ihnen vergehen.<br />
Sie haben vielleicht auch nicht gedacht, dass Sie einmal<br />
einen Mandanten hochkantig wieder aus der Kanzlei<br />
schmeißen mussten, weil er reinkam und forsch-fordernd<br />
rumposaunte: „Hier ist meine AdvoCard. Wo ist mein Anwalt?“.<br />
Und wer hat nicht noch gelächelt, als der gerichtsbekannte<br />
und sichtlich noch mitten in seiner letzten BTM-<br />
Straftat verharrende Angeklagte den tapferen Strafrichter<br />
mit „Euer Ehren“ ansprach.<br />
Jetzt warte ich auf den ersten Mandanten, der enttäuscht<br />
eine Kanzlei verlässt, weil er dort nicht die Anwalts-Wahl<br />
zwischen charmant-lässig und selbstbewusst-schlagfertig<br />
hat und schon gar nicht die lockeren Sprüche einander nur<br />
so jagen. Die Menschen in diesem Land – oder jedenfalls<br />
die, für die Montags, 21.15 h zur heiligen Zeit gehört –<br />
werden uns an Felix Edel und Sandra Starck messen.<br />
Aber sind wir wirklich edel und stark? Meine Damen<br />
und Herren, die Antwort kann nur lauten: NEIN. Mit allem<br />
Nachdruck: NEIN. Anwälte sind nicht edel und stark. Ich<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Anwaltstag 2004<br />
werde Ihnen das nun begründen – in guter juristischer Manier:<br />
Meine Argumentation basiert auf wörtlichen, systematischen,<br />
historischen und schließlich teleologischen Untersuchungen:<br />
Was heißt denn edel und stark? Diese Eigenschaftswörter<br />
werden im Duden definiert als ... Beschreibt das einen<br />
Anwalt? Ich weiß es nicht. Ist aber auch egal – denn seit<br />
der leidigen Diskussion um die Rechtschreibreform wissen<br />
wir Juristen ja: der Duden ist ein privates Werk – ohne jeden<br />
Normsetzungscharakter. Bleibt daher die Frage anders<br />
herum zu stellen: Was ist ein Anwalt? Nun hat der Duden<br />
in seiner alltäglich gebräuchlichen Taschenbuchausgabe<br />
Wir sind Organe der Rechtspflege –<br />
verbinden Sie damit jemanden, der<br />
edel und stark ist?<br />
hierfür keine Definition. Dafür aber unser Berufsrecht: Wir<br />
sind Organe der Rechtspflege. Ja, meine Damen und Herren;<br />
verbinden Sie mit dem „Organ der Rechtspflege“ jemand<br />
der edel und stark ist. Seit wann kann ein Organ einen<br />
edlen Charakter haben? Und wie soll es stark sein? Ein<br />
Organ ist ein Funktionsteil. Da bekommen Sie keine Emo-<br />
Rechtsanwalt Dr. Friedrich Blase aus Frankfurt am Main:<br />
1. Preisträger des DAV-Rednerwettstreites.<br />
tion hinein. Conlusio: aus dem Wortlaut ist kein Reim zu<br />
machen.<br />
Systematisch – ja, die systematische Untersuchung erscheint<br />
bei dieser Fragestellung auf den ersten Blick ein<br />
schwieriges Unterfangen. Da systematisch von System<br />
kommt, habe ich mich für die Empirie entschieden und bin<br />
mit Stift und Bogen bewaffnet auf die Suche nach anderen<br />
System-Vertretern gegangen. Auf dem Plan standen – das<br />
mag Sie jetzt nervös machen – Richter und Mandanten.<br />
Kaum hatte ich mir den Zugang zu unserem Gerichtsgebäude<br />
in Frankfurt am Main durch Übersteigen einiger<br />
Panzerkrallen, Stacheldrahtzäune und Polizeisperren geebnet,<br />
sollte mein Forschungsausflug bei den Sicherheitsbediensteten<br />
an der Eingangskontrolle jäh enden – was ich<br />
denn hier wolle? Alles Erklären und der Verweis auf die<br />
Forschungsfreiheit in Artikel 5 half nichts. Dem Einfall sei
AnwBl 8 + 9/2004 481<br />
Anwaltstag 2004 MN<br />
dank, dass durch die Befragung des Sicherheitspersonals<br />
die Studie wertneutral neu ausgerichtet werden konnte. Das<br />
Ergebnis jedoch ließ sich nicht eindeutig einorden. Auf die<br />
Frage, wie sie denn die Damen und Herren Anwälte beschreiben<br />
würden, folgten neben einigen weniger schmeichelhaften<br />
Ausdrücken allerlei – nur leider nie edel und<br />
stark. Auch die Gegenfrage brachte nicht weiter: „Sind<br />
denn Anwälte Ihrer Meinung nach edel und stark?“ Die<br />
hierdurch ausgelösten körperlichen Ertüchtigungsbewegungen<br />
unter lautstarkem Prusten waren leider empirisch als<br />
Antworten nicht verwertbar.<br />
Keine Sorge – die Mandanten habe ich nicht mehr befragt.<br />
Stattdessen habe ich mich der Geschichte gewidmet.<br />
Diese nun kennt allerlei Edle und Starke.<br />
Heinrich I. Der Starke war Markgraf und Begründer Österreichs.<br />
Stark war er, weil er für Kaiser Heinrich II. gegen<br />
den Herzog von Polen Krieg führte. Ob er Anwalt war, ist<br />
zwar nicht bekannt. Da aber die ersten juristischen Fakultäten<br />
des Mittelalters erst ab 1215 in Bologna und andernorts<br />
entstanden, kann dies im Wege des Umkehrschlusses verneint<br />
werden.<br />
Dann kommt natürlich der zu Zeiten Goethes regierende<br />
Kurfürst von Sachsen, Friedrich August I. Der Starke, in<br />
den Sinn. Seinen Beinamen erhielt er allerdings nicht, weil<br />
er sich in das Getümmel geschmissen hat, sondern vor allem,<br />
weil er ein herrisches Wesen hatte – schon eine bedenkenvolle<br />
Begründung für den Beinamen. Glücklicherweise<br />
hatte aber auch er kein Jura studiert, sondern verbrachte<br />
seine Jugend mit Soldatenausbildung und Europareisen.<br />
Auch die Edlen gibt es in der Geschichte – doch auch<br />
sie mögen nicht als Vorbild, als Referenz zu überzeugen.<br />
Der Edle ist sich für die<br />
Schlammschlacht, die wir uns<br />
manchmal liefern müssen, zu proper<br />
Nehmen wir Prinz Eugen, den Edlen Ritter, der um die<br />
Wende des 17. zum 18. Jahrhundert für Österreich jeden<br />
Gegner in die Knie zwang. Nur, wie war Eugen zu den<br />
Habsburgern gekommen? Er war ein gebürtiger Prinz aus<br />
Savoyen und bot sich – wie das der Stand damals gebot –<br />
zunächst seinem König Ludwig XIV. in Versailles als soldatischer<br />
Diener an. Doch dieser lehnte ihn ab – weil Eugen<br />
der Edle zu klein und zu schmächtig war. Na? Wollen Sie<br />
immer noch edel sein ... ???? Nur zu gut, dass Eugen von<br />
Hause aus auch kein Jurist war.<br />
Nun fragt man in der Geschichte leider lange nach<br />
Frauen, die den Beinamen „die Starke“ oder „die Edle“<br />
führen. Sicher gab es sie, doch wo sind sie in der von Männern<br />
dominierten Dokumentation verzeichnet? In einem<br />
kürzlich entdeckten Beitrag werden „Starke Frauen in Geschichte,<br />
Kunst und Legenden“ beschrieben. Darunter befinden<br />
sich Ayla, die Frau im Clan des Bären aus der Steinzeit,<br />
Scarlett O’Hara aus dem amerikanischen Bürgerkrieg,<br />
Xena, die Amazonenprinzessin und einige Frauen der Kelten,<br />
die als Stamm schon damals als recht fortschrittlich in<br />
puncto Gleichberechtigung waren. Nur auch hier gilt: keine<br />
Juristin weit und breit.<br />
Folglich lässt sich zusammenfassend feststellen: auch<br />
die historische Analyse vermag der Lösung keinen zielfüh-<br />
renden Impuls zu liefern. Ob Anwälte wirklich edel und<br />
stark sind, bleibt daher durch teleologische Überlegungen<br />
zu entscheiden.<br />
Teleologisch deduzieren, meine Damen und Herren,<br />
heißt ja bekanntlich nach dem Sinn zu forschen. Was aber<br />
soll der Sinn sein, wenn wir Anwältinnen und Anwälte alle<br />
edel und stark sind? Was heißt das denn für die Praxis?<br />
Sind wir edel, streiten wir dann noch? Wohl kaum, denn<br />
der Edle ist sich für die Schlammschlacht, die wir uns<br />
manchmal liefern müssen, zu proper. Der Edle sucht den<br />
Ausgleich im vorgerichtlichen Stadium. Er lässt es zum<br />
Streit nicht kommen. Ist das ein Anwalt? Ist das eine An-<br />
Nein, wir wollen auch nicht stark<br />
sein, denn das wäre der größte<br />
Rückschritt für unser Rechtssystem<br />
wältin? Wären wir alle so, was wäre dann mit unserer Justiz?<br />
Mit den vielen schönen Zeitschriften, die immerfort Urteile<br />
abdrucken können, die jeder kennen soll? Mit den<br />
Gerichtsgebäuden, die kein Mensch mehr braucht – einschließlich<br />
des Wachpersonals ...? Was ist dann mit Justitia,<br />
wenn sie nichts mehr auf die Waage bekommt? Nein, wir<br />
sind nicht edel – wir wollen es ja auch nicht sein; viel mehr<br />
noch: wir dürfen es nicht sein, weil dann der anwaltliche<br />
Berufsstand neu erschaffen werden müsste – als der Stand<br />
der Interessenvertreter, die alle Register des Rechtsmittelrechts<br />
ziehen.<br />
Und sind wir stark? Streiten wir dann nicht zu viel? Das<br />
Recht des Stärkeren gilt gemeinhin nicht im Rechtsstaat.<br />
Wollen wir denn, dass unser Recht gilt? Nein, wir wollen<br />
auch nicht stark sein, denn das wäre der größte Rückschritt<br />
für unser Rechtssystem – und welche Rückschritte ein stolzes<br />
Rechtssystem in kurzer Zeit machen kann, sehen wir ja<br />
nun gerade auf der anderen Seite des Atlantik. Da wollen<br />
wir nicht hin – und dürfen da nicht hin – kein Guantanamo<br />
Bay, kein Homeland Security, keine No-Fly-Listen. Das verbietet<br />
uns unsere Verpflichtung als Diener im liberalen, positiv-freiheitlichen<br />
Rechtsstaat.<br />
Es steht somit final zu konstatieren: Wir Anwälte snd<br />
nicht edel und nicht stark. Es wäre sogar schlimm, wenn<br />
wir es wären.<br />
Das Ergenis verwundert denn auch nicht, gibt es doch so<br />
unendlich viele Eigenschaften, mit denen man die Anwältinnen<br />
und Anwälte beschreiben kann. Sie sind einfühlsam,<br />
aufbrausend, wirr und verwirrend, genial und genau, verschroben<br />
und leidenschaftlich, menschlich und – mehr als<br />
alles – andere individuell. Diese schier unerschöpfliche<br />
Vielfalt ist Quelle jeden Fortschritts. Kein mediales Simplifizierungsbestreben,<br />
auch einer noch so amüsanten und erfolgreichen<br />
Fernsehserie, mag das beseitigen können.<br />
Dr. Friedrich Blase, Frankfurt/Main
482<br />
MN<br />
Zwischenruf<br />
Einsatz für<br />
verfolgte Berufskollegen<br />
*<br />
Rechtsanwälte sind weltweit in<br />
der Menschenrechtsbewegung besonders<br />
aktiv und darum auch besonders<br />
gefährdet. Sie übernehmen<br />
aktive Rollen in den Nichtregierungsorganisationen<br />
und Oppositionsgruppen<br />
in Unrechtsstaaten und<br />
sie verteidigen in vielen Fällen deren<br />
Opfer. Unterstützung von ihren meist<br />
gleichgeschalteten und regierungstreuen<br />
Standesorganisationen haben<br />
sie nicht zu erwarten. Umso mehr<br />
sind sie auf Hilfe von Außen angewiesen.<br />
Ganz generell gilt: In Sachen<br />
Demokratie werden wir weltweit<br />
nur weiterkommen, wenn wir<br />
uns mit denen verbinden, die in diesen<br />
Staaten für diese Ziele kämpfen.<br />
Anwälte sind für Unrechtsregime<br />
in besonderer Weise gefährlich und<br />
unangenehm, weil sie sich auf<br />
Rechte berufen, die die Regime<br />
zwar stolz vor sich hertragen, aber<br />
nicht anwenden. Wir in Mitteleuropa<br />
können hier alle Erfahrungen<br />
einbringen, die wir mit den osteuropäischen<br />
Diktaturen gemacht haben.<br />
In vielen Fällen werden Anwälte,<br />
wenn sie sich für Opfer einsetzen,<br />
selbst zum Opfer. Der sudanesische<br />
Anwalt Ghazi Suleiman z. B. wurde<br />
etwa 30-mal in den letzten Jahren<br />
verhaftet und gefoltert – und kämpft<br />
weiter. In nicht seltenen Fällen verschwinden<br />
Anwälte ohne Gerichtsverfahren.<br />
Ihre Berufsausübung<br />
wird ihnen verboten. Sie sind ganz<br />
auf sich allein gestellt. Hilfe durch<br />
öffentliche Meinung und freie<br />
Presse sind nicht zu erwarten. Neben<br />
Journalisten gehören Anwälte zu<br />
den gefährdesten Personen in<br />
Unrechtsstaaten. Viele von ihnen<br />
verstehen sich als „Menschenrechtsverteidiger“<br />
im Sinne der wichtigen<br />
VN-Revolution von 1998.<br />
Wir sollten ihnen Unterstützung<br />
und Hilfe leisten, auch unter Inanspruchnahme<br />
des Internets. Es ist<br />
schon wichtig, wenn sie Gesprächspartner<br />
haben, mit denen sie sich<br />
austauschen können. Auch die<br />
Nichtregierungsorganisationen, wie<br />
Amnesty, unterhalten zahlreiche<br />
Kontakte zu Anwälten in vielen<br />
Rechtsanwalt Gerhart R. Baum, Bundesminister<br />
a. D., war bis 1994 Bundestagsabgeordneter,<br />
von 1993 bis 1998<br />
Leiter der Deutschen Delegation in der<br />
VN-Menschenrechtskommission sowie<br />
Berichterstatter für Menschenrechte im<br />
Sudan der VN (2001 bis 2003).<br />
Ländern. Diese Kontakte sollten genutzt<br />
werden – vor allem auch durch<br />
einzelne Anwälte in den Demokratien<br />
(Patenschaften!).<br />
Immer wieder stoße ich bei den<br />
Menschenrechtsverteidigern auf Unverständnis,<br />
dass in den westlichen<br />
Demokratien – insbesondere nach<br />
dem 11. September – die Rechte von<br />
verdächtigen Personen, Angeklagten<br />
und Verteidigern eingeschränkt werden,<br />
und zwar dergestalt, dass die<br />
Grundprinzipien des Rechtsstaats verletzt<br />
werden. Hier werden die deutschen<br />
Sicherheitspakete ebenso erwähnt,<br />
wie der Patriot-Act in den<br />
USA und andere Gesetze in anderen<br />
Ländern. Wir können den Diktaturen<br />
in aller Welt keinen größeren Gefallen<br />
tun, als dass wir selbst beginnen, die<br />
Menschenrechte und das Völkerrecht<br />
zu relativieren und das Strafrecht<br />
durch Kriegsrecht zu ersetzen. Damit<br />
werden die Menschenrechtsverteidiger<br />
noch schutzloser!<br />
Rechtsanwalt Gerhart R. Baum,<br />
Köln<br />
* Kurzstatement in dem Expertengespräch<br />
„Rechtsanwälte im Einsatz für die Menschenrechte“<br />
am 21.5.2004 auf dem Deutschen Anwaltstag<br />
in Hamburg.<br />
Expertengespräch<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Anwaltstag 2004<br />
Rechtsanwälte<br />
und Menschenrechte<br />
Unter dem Motto „Rechtsanwälte<br />
im Einsatz für verfolgte Berufskollegen“<br />
stand auf dem 55. Deutschen<br />
Anwaltstag am 21. Mai 2004 ein Expertengespräch<br />
der Freiburger Kommission<br />
für Menschenrechte des Vereins<br />
der Richter und Staatsanwälte und<br />
des <strong>Anwaltverein</strong>s Freiburg.<br />
Mord, Angriffe gegen die eigene<br />
Person und gegen Familienangehörige<br />
sowie die Verweigerung der Aufklärung<br />
solcher Verbrechen kennzeichnen<br />
weltweit den Berufsalltag von zahlreichen<br />
Kollegen und Kolleginnen, die<br />
sich für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen<br />
einsetzen. Der positiven<br />
Entwicklung einer verstärkten<br />
Strafverfolgung von Menschenrechtsverbrechen<br />
steht die erhöhte Gefährdung<br />
von Rechtsanwälten, Richtern<br />
und Staatsanwälten gegenüber, die die<br />
Verantwortung von Regierungen, Militär<br />
und Polizei für diese Verbrechen<br />
aufdecken.<br />
Bericht von Rechtsanwältin<br />
Estela Lopez<br />
Die Freiburger Kommission für<br />
Menschenrechte des Vereins der Richter<br />
und Staatsanwälte und des <strong>Anwaltverein</strong>s<br />
Freiburg hat beim Deutschen<br />
Anwaltstag in Hamburg zum zweiten<br />
Mal eine Veranstaltung mit einer verfolgten<br />
Berufskollegin durchgeführt:<br />
Rechtsanwältin Estela Lopez aus Guatemala<br />
hat die gefährliche Anwaltstätigkeit<br />
in Strafverfahren gegen<br />
höchste Verantwortliche der früheren<br />
Regierungen geschildert. Nach einem<br />
Mordversuch gegen ihren Vater und<br />
Angriffen gegen sie selbst musste sie<br />
das Land verlassen. Durch die Unterstützung<br />
von Kollegen in Spanien fand<br />
sie dort Aufnahme und die Möglichkeit<br />
einer Tätigkeit an der Universität.<br />
Bereits am 09.12.1998 hat die Vollversammlung<br />
der Vereinten Nationen<br />
eine Erklärung verabschiedet, in welcher<br />
Regierungen, Nichtregierungsorganisationen,<br />
Institutionen und Einzelpersonen<br />
aufgerufen werden,<br />
konkrete Maßnahmen zum Schutz von<br />
Menschenrechtsverteidigern zu ergreifen.
AnwBl 8 + 9/2004 483<br />
Anwaltstag 2004 MN<br />
Menschenrechtsverteidiger sind oft<br />
Rechtsanwälte, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen<br />
vertreten.<br />
Ihre Tätigkeit kann vor Ort politisch,<br />
diplomatisch und finanziell unterstützt<br />
werden, damit sie so lange wie<br />
möglich ihren Einsatz für Menschenrechte<br />
fortsetzen können. Für solche<br />
Kollegen, die an Leib und Leben bedroht<br />
sind, sollten jedoch Bedingungen<br />
in den Nachbarländern und auch bei<br />
uns geschaffen werden, unter denen<br />
sie zeitweilig Zuflucht finden und ihre<br />
menschenrechtlichen Aktivitäten fortsetzen<br />
können.<br />
Umsetzung der Resolution<br />
der Vereinten Nationen<br />
Die Menschenrechtsbeauftragte der<br />
Bundesregierung, Claudia Roth, hat<br />
angekündigt, zur Umsetzung der Resolution<br />
der Vereinten Nationen Bund,<br />
Länder und Kommunen zur Unterstützung<br />
von Menschenrechtsverteidigern<br />
aufzurufen.<br />
Die Podiumsteilnehmer der Hamburger<br />
Veranstaltung, der Präsident<br />
des Deutschen <strong>Anwaltverein</strong>s Hartmut<br />
Kilger, die ehemaligen Minister Sabine<br />
Leutheusser Schnarrenberger und<br />
Gerhart Baum sowie der Direktor des<br />
Deutschen Instituts für Menschenrechte<br />
Heiner Bielefeldt haben ihre<br />
Unterstützung für dieses Projekt zugesagt.<br />
Aktive Solidarität von Berufskollegen<br />
bedeutet eine wichtige persönliche<br />
Stärkung für deren Arbeit und in Extremfällen<br />
die Rettung des Lebens der<br />
Kollegen.<br />
Rechtsanwalt Dr. Konstantin Thun,<br />
Freiburg<br />
Kollegen und Kolleginnen, die auf<br />
örtlicher Ebene Interesse an der Unterstützung<br />
des Projektes haben,<br />
können weitere Informationen beim<br />
Autor (Gartenstraße 30, 79098 Freiburg;<br />
RA.Dr.Thun@beckert-thun.de)<br />
erhalten. Die Dokumentation der<br />
Menschenrechtsveranstaltung ist auf<br />
der Website des Freiburger <strong>Anwaltverein</strong>s<br />
eingestellt (www.freiburgeranwaltver<br />
ein.de)<br />
Pressearbeit<br />
Anwaltstag 2004<br />
mit großer<br />
Medienresonanz<br />
Der 55. Deutsche Anwaltstag in<br />
Hamburg wurde durch eine intensive<br />
Pressearbeit begleitet. Dies ist notwendig,<br />
da sich so die Anwaltschaft<br />
mit ihren Themen einer breiten Öffentlichkeit<br />
darstellen kann. Aus diesem<br />
Grund wurden Journalistinnen<br />
und Journalisten, insbesondere die,<br />
die sich der Rechtspolitik widmen und<br />
die Korrespondenten der Tageszeitungen<br />
und Agenturen vor Ort eingeladen,<br />
am DAT teilzunehmen, sowie<br />
eine Pressekonferenz angeboten.<br />
Bei der diesjährigen Pressekonferenz<br />
wurden die Vorstellungen des<br />
DAV zu einem Rechtsberatungsgesetz,<br />
die Situation der Anwaltschaft mit der<br />
Forderung einer eigenen echten<br />
Anwaltsausbildung und die Forderung,<br />
dass es keine Terrorismusbekämpfung<br />
durch Ausländerrecht geben dürfe,<br />
thematisiert. Diese Themen erlangten<br />
umfangreichen Eingang in die Berichterstattung.<br />
Das ausländerrechtliche Thema war<br />
von höchster Aktualität, da während<br />
des DAT die Diskussion um dieses<br />
Thema in die Endphase des Ringens<br />
um einen Kompromiss im Zuwanderungsgesetz<br />
stattfand und ein Treffen<br />
der CDU-Vorsitzenden und des<br />
Bundeskanzlers in der Folgewoche anstand.<br />
Live-Übertragung auf Phoenix<br />
Intensiv wurde, so die Schau der<br />
Themen der Berichterstattung, über die<br />
„Themenblöcke“ „Zukunft der Anwaltschaft“<br />
bei diesem DAT ebenso berichtet,<br />
wie über einzelne Veranstaltungen<br />
der Arbeitsgemeinschaften und der<br />
Ausschüsse. Vor allem wurde von der<br />
Zentralveranstaltung berichtet, die live<br />
von Phoenix – ebenso wie das aktuelle<br />
Thema „Terrorismusbekämpfung durch<br />
Ausländerrecht“ – übertragen wurde.<br />
Auf Grund der Auswertung wissen<br />
wir, dass explizit auf den Deutschen<br />
Anwaltstag in 580 Artikeln im Mai<br />
und 47 Online-Meldungen im Juni Bezug<br />
genommen wurde. Dabei wurde<br />
der DAT in 13.050.397 Exemplaren<br />
von Zeitungen und Zeitschriften wiedergegeben.<br />
Dies ergibt einen Anzeigen-Äquivalenzwert<br />
von nahezu<br />
300.000 E. Bei diesem Wert handelt es<br />
sich um die Kosten, die entstehen<br />
würden, wenn man Anzeigen buchen<br />
würde, um die gleiche Öffentlichkeitswirkung<br />
zu erzielen.<br />
Neben diesen Print- und Online-<br />
Meldungen konnten wir feststellen,<br />
dass über den DAT in 46 TV-Sendungen<br />
und 113 Hörfunkbeiträgen berichtet<br />
wurde. So informierte nahezu jede<br />
Tagesschau an allen Tagen über die<br />
Themen des DAT und zahlreiche<br />
„heute“-Sendungen des ZDF sowie die<br />
Tagesthemen und das heute-Journal.<br />
Hinzu kamen Beiträge in den „Dritten<br />
Programmen“ der ARD.<br />
Beim DAT waren insgesamt 92<br />
Journalistinnen und Journalisten aller<br />
großen überregionalen und regionalen<br />
Tageszeitungen und Magazine akkreditiert.<br />
Die Hörfunkberichterstattung<br />
wurde vom Norddeutschen Rundfunk,<br />
dem Bayerischen Rundfunk und dem<br />
Westdeutschen Rundfunk gewährleistet,<br />
die ihre Beiträge auch ARD-weit<br />
angeboten haben. Auch der Deutschlandfunk<br />
berichtete über die Themen.<br />
Über Agenturmeldungen von “Bloomberg<br />
news“ in englischer Sprache<br />
wurde auch die ausländische Presse<br />
über die wichtigen und zentralen Themen<br />
der Anwaltschaft in Deutschland<br />
informiert.<br />
Auch die Nachrichtenagenturen ddp,<br />
dpa und AP berichteten in zahlreichen<br />
Meldungen über den DAT.<br />
Gut besuchte Pressekonferenz: Am Rednerpult DAV-Präsident Hartmut Kilger.
484<br />
MN<br />
Von besonderem Interesse war<br />
auch, dass der CDU-Politiker Heiner<br />
Geißler die Antiterrorpolitik der USA<br />
in seinem Festvortrag in diesem Heft<br />
während der Zentralveranstaltung, der<br />
unter dem <strong>Titel</strong> „Sicherheit und Ordnung<br />
auf Kosten der Freiheit“ stand,<br />
scharf kritisierte.<br />
Pressespiegel<br />
Über die Situation der Anwaltschaft<br />
schreibt beispielsweise die FAZ<br />
am 19. Mai: „Wenn der Deutsche <strong>Anwaltverein</strong><br />
(DAV) vom Himmelfahrtstag<br />
an in Hamburg zum 55. Deutschen<br />
Anwaltstag bittet, dann geht es um<br />
nichts Geringeres als die Zukunft der<br />
Anwaltschaft. Bröckelnde Einnahmen,<br />
die bevorstehende Novelle des Rechtsberatungsgesetzes,<br />
Brüssler Attacken<br />
gegen staatliche Gebührenregelungen<br />
– zu Zeiten habe man ,schon mit mehr<br />
Optimismus in die Zukunft gesehen<br />
als jetzt‘, sagte DAV-Präsident Hartmut<br />
Kilger dieser Zeitung.“<br />
Eine Möglichkeit, eine Lösung herbeizuführen,<br />
wäre, den Berufsnachwuchs<br />
besser auszubilden, meldet die<br />
Nachrichtenagentur ddp am 20. Mai:<br />
„Die deutschen Rechtsanwälte wollen<br />
mit einer einjährigen Zusatzausbildung<br />
das Können ihres beruflichen Nachwuchses<br />
verbessern. ,Auf dem sich verengenden<br />
Markt sind viele junge Anwälte<br />
nicht für ihren Beruf hinreichend<br />
ausgebildet‘, sagte der Präsident des<br />
Deutschen <strong>Anwaltverein</strong>s (DAV), Hartmut<br />
Kilger, am Donnerstag auf dem 55.<br />
Deutschen Anwaltstag in Hamburg.“<br />
Zum gleichen Thema meldet AP<br />
am selben Tag: „Um die Zahl der<br />
Rechtsanwälte in Deutschland langfristig<br />
zu vergrenzen, hat der Deutsche<br />
<strong>Anwaltverein</strong> eine eigene Berufsausbildung<br />
gefordert. Von 1972 bis heute<br />
habe sich die Zahl der Rechtsanwälte<br />
auf 130.000 verfünffacht, sagte DAV-<br />
Präsident Hartmut Kilger am Donnerstag<br />
beim Deutschen Anwaltstag in<br />
Hamburg.“<br />
Das Rechtsberatungsgesetz und der<br />
DAV-Vorschlag hierzu fand ebenfalls<br />
Eingang in die Berichterstattung. So<br />
schreibt die Süddeutsche Zeitung am<br />
21. Mai: „Der DAV hat Wiederstand<br />
gegen eine radikale Liberalisierung der<br />
Rechtsberatung angekündigt. Die rechtliche<br />
Beratung müsse grundsätzlich der<br />
Anwaltschaft vorbehalten bleiben,<br />
sagte DAV-Präsident Hartmut Kilger<br />
zum Beginn des Anwaltstages in Hamburg.<br />
Vor den etwa 1.500 Teilnehmern<br />
wandte sich Kilger vor allem gegen<br />
die Wünsche von Banken und Versicherungen,<br />
bei der anstehenden Re-<br />
form des Rechtsberatungsgesetzes eigene<br />
Befugnisse zu bekommen.“<br />
Ähnlich berichtet die FAZ am selben<br />
Tag: „Widerstand kündigte Kilger gegen<br />
Pläne der Bundesregierung an, das gesetzliche<br />
Rechtsberatungsmonopol zu<br />
lockern. Dies dürfe nicht auf die Vertretung<br />
vor Gericht beschränkt werden.“<br />
Dass der DAV sich gegen eine pauschale<br />
Ausweitung der Rechtsberatung<br />
in Deutschland wehrt, vermeldeten die<br />
Agenturen.<br />
Die Kritik des DAV am Zuwanderungsgesetz<br />
wurde ebenfalls zahlreich<br />
wiedergegeben. So zum Beispiel<br />
die Süddeutsche Zeitung: „Der Deutsche<br />
<strong>Anwaltverein</strong> hat die geplante<br />
Verschärfung des Ausländerrechts zur<br />
leichteren Ausweisung von Terrorverdächtigen<br />
scharf kritisiert. ,Das vorhandene<br />
rechtliche Instrumentarium<br />
für die Ausweisung verurteilter Straftäter<br />
reicht aus‘, sagt Rechtsanwalt<br />
Victor Pfaff, Mitglied des DAV-Ausschusses<br />
,Ausländer- und Asylrecht‘<br />
am Donnerstag beim Deutschen Anwaltstag<br />
in Hamburg. Die geplante<br />
Abschiebungsanordnung durch das<br />
Bundesinnenministerium auf Grund einer<br />
„Terrorprognose“ bedeute eine Abkehr<br />
von rechtsstaatlichen Prinzipien.“<br />
Zum gleichen Thema meldet das<br />
Handelsblatt am 21. Mai: „Die Juristen<br />
sind zunehmend besorgt, dass der<br />
Rechtsstaat immer weiter ausgehöhlt und<br />
das Leben von Ausländern in Deutschland<br />
ohne Grund erschwert wird.<br />
,Deutschland brauche kein Guantanamo,<br />
auch nicht im Ausländerrecht‘, teilte der<br />
Präsident des Deutschen <strong>Anwaltverein</strong>s<br />
(DAV) Hartmut Kilger, gestern in einer<br />
Presseerklärung mit.“<br />
Der innenpolitische Sprecher der<br />
SPD-Bundestagsfraktion, Dieter Wiefelspütz,<br />
hat beim DAT die Ausweisung<br />
Motassadeq und Mzoudi gefordert,<br />
vermeldeten u. a. Die Welt am<br />
22. Mai und die dpa am 21. Mai.<br />
Insbesondere die Berichterstattung<br />
über die „Anwaltschwemme“, die Juristen-<br />
und Anwaltsausbildung und die<br />
Diskussion um das Rechtsberatungsgesetz<br />
zeigt, dass mit Hilfe des jährlichen<br />
DAT es möglich ist, die Themen,<br />
die die Anwaltschaft besonders beschäftigen,<br />
der Öffentlichkeit zu vermitteln.<br />
Schon in der Vorberichterstattung<br />
gab der DAV-Präsident Interviews<br />
der Süddeutschen Zeitung, der FAZ,<br />
dem Handelsblatt und der Financial Times<br />
Deutschland.<br />
Rechtsanwalt Swen Walentowski,<br />
Berlin<br />
Zentralveranstaltung<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Anwaltstag 2004<br />
Treffpunkt<br />
Anwaltstag 2004<br />
Sehen und gesehen werden. Auch<br />
das gehört zum Deutschen Anwaltstag.<br />
Doch der Anwaltstag ist keinesfalls<br />
nur für Anwälte und Anwältinnen<br />
ein Forum. Auch Vertreter der Politik,<br />
der Justiz und der Presse kommen.<br />
Die Bilder auf dieser Seite sind am<br />
Rande der Zentralveranstaltung am<br />
22. Mai 2004 entstanden. Die Eröffnungsrede<br />
von DAV-Präsident Hartmut<br />
Kilger sowie das Grußwort von<br />
Bundesjustizministerin Brigitte Zypries<br />
hat das <strong>Anwaltsblatt</strong> im Juli-<br />
Heft veröffentlicht. Den Festvortrag<br />
von Dr. Heiner Geißler finden Sie in<br />
diesem Heft<br />
DAV-Vizepräsident Dr. Hans C. Lühn (r.)<br />
hörte aufmerksam dem ehemaligen DAV-<br />
Präsidenten Dr. Günter Schardey zu.<br />
DAV-Vizepräsidentin Verena Mittendorf<br />
(r.) traf Prof. Dr. Ninon Colneric, Richterin<br />
am Europäischen Gerichtshof Luxemburg.<br />
Gut gelaunt: Bundesjustizministerin<br />
Brigitte Zypries und DAV-Vizepräsident<br />
Georg Prasser.
AnwBl 8 + 9/2004 485<br />
Anwaltstag 2004 MN<br />
Im Gespräch: DAV-Präsident Hartmut Kilger (rechts) mit Jerzy<br />
Montag, rechtspolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die<br />
Grünen.<br />
DAV-Vizepräsident Rembert Brieske (r.)<br />
sprach mit Rainer Funke, rechtspolitischer<br />
Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion.<br />
Tauschten Gedanken aus: Die Justizministerin aus Schleswig-<br />
Holstein Anne Lütkes (Bündnis90/Die Grünen) und Generalbundesanwalt<br />
Kay Nehm.<br />
Bundesjustizministerin Brigitte<br />
Zypries (rechts) wurde<br />
nicht nur von DAV-Präsident<br />
Hartmut Kilger (hinten rechts)<br />
begrüßt, sondern auch von DAV-<br />
Vizepräsidentin Verena Mittendorf<br />
(links) und Sibylle Kilger,<br />
Ehefrau des DAV-Präsidentin.<br />
Gelassen kämpferisch in Hamburg: Festredner Dr. Heiner Geißler (links) mit Dr. Norbert<br />
Röttgen, rechtspolitischer Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion, und mit dem <strong>Anwaltsblatt</strong>-Herausgeber<br />
und ehemaligen DAV-Präsidenten Felix Busse (rechts).
486<br />
MN<br />
5 %<br />
Diskussion über Vergütungsordnungen<br />
und Rechtsberatungsgesetz<br />
Spitzengespräch mit den Präsidien von FDP und des<br />
Bundesverbandes der Freien Berufe (BFB)<br />
Der Deutsche <strong>Anwaltverein</strong> ist<br />
Mitglied im Bundesverband der Freien<br />
Berufe (BFB) und arbeitet dort aktiv<br />
mit. Ende Juni 2004 nahmen DAV-Präsident<br />
Hartmut Kilger und DAV-Vorstandsmitglied<br />
Dr. Wolfgang Ewer, zugleich<br />
Vizepräsident des BFB, an<br />
einem Spitzengespräch mit dem Präsidium<br />
der FDP teil.<br />
Bei dem Spitzengespräch ging es<br />
um Themen, die die Freien Berufe derzeit<br />
besonders bewegen.<br />
Im Fokus des Gespräches standen<br />
u. a. die Honorar- und Gebührenordnungen<br />
der Freien Berufe, welche bei<br />
der FDP differenziert gesehen werden:<br />
Im Bereich der rechtsanwaltlichen<br />
Gebührenordnungen hält man diese<br />
bei der FDP in allen gerichtlichen Angelegenheiten<br />
für erforderlich. DAV-<br />
Präsident Hartmut Kilger und BFB-Vizepräsident<br />
Dr. Wolfgang Ewer<br />
stellten heraus, dass die rechtsanwaltliche<br />
Gebührenordnung gerade dem<br />
Verbraucher einen entsprechenden<br />
Schutz gewährt, indem er die für ihn<br />
entstehenden Kosten im Vorhinein abschätzen<br />
könne. Auch wenn die FDP<br />
entsprechend ihren liberalen Grundsätzen<br />
generell mehr Wettbewerb und<br />
Freiheit bei den Honorarvereinbarungen<br />
forderte, betonte ihr Vorsitzender<br />
Westerwelle, dass man gleichwohl keine<br />
„amerikanischen Verhältnisse“ in<br />
Deutschland wolle.<br />
Im Zuge der sich anschließenden<br />
Diskussion um das neue Rechtsberatungsgesetz<br />
warnte die BFB-Seite eindringlich<br />
vor der Gefahr einer Auflösung<br />
der freiberuflichen Beratung und<br />
appellierte an die Gesprächspartner,<br />
dass der Verbraucherschutz und die Gewähr<br />
eines unparteiischen Rechtsrates<br />
nicht zugunsten der Liberalität aufgegeben<br />
werden dürfe. Dr. Wolfgang Gerhardt<br />
wies darauf hin, dass sich die Gesellschaft<br />
– und so auch die Freien<br />
Berufe – in einem konstanten Veränderungsprozess<br />
befänden, bei dem der<br />
Erwerbsgedanke mehr und mehr in den<br />
Vordergrund rücke.<br />
Dr. Ewer betonte gegenüber der<br />
FDP, dass sich die Freien Berufe selbst<br />
nicht als „Zunftmeister“ verstanden<br />
wissen wollten, aber sie gäben eine<br />
Gewähr für die Qualität ihrer Dienstleistungen,<br />
verbunden mit weiteren<br />
positiven Attributen wie Verschwiegenheit<br />
und Unabhängigkeit. Dabei<br />
würden sich die Freien Berufe selbst<br />
in ihren internen Strukturen die Frage<br />
stellen, welches Maß an Regulierung<br />
für den Leistungserbringer auf der einen<br />
und den Verbraucher auf der anderen<br />
Seite aufrechterhalten werden<br />
müsse. Auf dieses Statement hin ermunterte<br />
Rainer Brüderle die Freien<br />
Berufe zu einem offensiven Vorausgehen<br />
an Stelle eines „Abwehrkampfes“.<br />
Kurz nach den Europawahlen stand<br />
natürlich das Thema Europa auch ganz<br />
oben auf der Tagesordnung: In seinen<br />
Ausführungen nahm BFB-Präsident<br />
Dr. Ulrich Oesingmann, der Allgemeinmediziner<br />
ist, insbesondere Bezug<br />
auf die europäischen Richtlinienentwürfe<br />
zur Berufsanerkennung und<br />
zu den Dienstleistungen im europäischen<br />
Binnenmarkt, welche die Freien<br />
Berufe in vielerlei Hinsicht betreffen.<br />
Speziell zu Letzterer stellte er heraus,<br />
dass die Freien Berufe in Deutschland<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
von Ihren beruflichen Qualifikationsniveaus<br />
im europäischen Vergleich<br />
führend sind und warnte vor Qualitätsverlusten<br />
oder einer Inländerdiskriminierung.<br />
Kritisch nahm er überdies die generelle<br />
und übergangslose Geltung des<br />
Ursprungslandprinzips ins Visier, bei<br />
dem auch die FDP entsprechende<br />
Klarstellungen für erforderlich hält.<br />
Wenn es bei dem uneingeschränkten<br />
Ursprungslandprinzip bliebe, so Dr.<br />
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,<br />
Europaexpertin der FDP, bliebe die<br />
mögliche Einheitlichkeit der Qualifikationsniveaus<br />
bei den Leistungserbringern<br />
auf der Strecke, die letztlich<br />
zulasten des Verbrauchers gehen<br />
könne. Wegen der von beiden Seiten<br />
gesehenen Dringlichkeit dieser Fragen<br />
regte Parteichef Westerwelle eine vertiefende<br />
Behandlung der europarelevanten<br />
Themen mit den neugewählten<br />
Europapolitikern der FDP möglichst<br />
noch vor der konstituierenden Sitzung<br />
des europäischen Parlaments an.<br />
Das Zusammentreffen leistete einen<br />
weiteren Beitrag, die guten Beziehungen<br />
zwischen FDP und Freien Berufen<br />
auf nationaler Ebene zu festigen<br />
und bot gleichzeitig die Perspektive,<br />
sie auf der europäischen Ebene auszubauen.<br />
Neben den Gesprächen auf<br />
der Sachebene wurde eine Fortsetzung<br />
des Austauschs auf präsidialer Ebene<br />
im Winter diesen Jahres vereinbart.<br />
Janine Kley, Berlin<br />
Rainer Brüderle, Dieter Ulrich (BFB), Dr. Klaus Heilgeist (BFB), Dr. Wolfgang Ewer<br />
(BFB-Vizepräsident), Cornelia Pieper, Dr. Ulrich Oesingmann (BFB-Präsident), Dr. Guido<br />
Westerwelle, Hartmut Kilger (DAV-Präsident), Dr. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,<br />
Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Dr. Hermann-Otto Solms (v. l. n. r.)
AnwBl 8 + 9/2004 487<br />
Aus der Arbeit des DAV MN<br />
Pressemitteilungen<br />
Anwälte lehnen Großen<br />
Lauschangriff kategorisch<br />
ab!<br />
Missachtung des<br />
Bundesverfassungsgerichts<br />
Das Bundesministerium der Justiz<br />
will den Großen Lauschangriff bei<br />
Rechtsanwälten, Ärzten, Priestern und<br />
Journalisten ermöglichen. Der Deutsche<br />
<strong>Anwaltverein</strong> (DAV) lehnt diese<br />
Pläne kategorisch ab. Der Staat habe<br />
kein Recht, sich in das Vertrauensverhältnis<br />
zwischen Anwälten und Mandanten<br />
einzumischen. Zeugnisverweigerungsberechtigte<br />
Berufe müssen<br />
vom Lauschangriff ausgenommen werden,<br />
damit Rat suchende Menschen in<br />
dieser Gesellschaft eine letzte<br />
Rückzugsmöglichkeit haben. Nach<br />
Ansicht des DAV geht es hier allein<br />
um die Rechte der Mandanten, um die<br />
Erhaltung von Bürgerrechten. Rat suchende<br />
Menschen müssen sich darauf<br />
verlassen können, dass sie sich ihrem<br />
anwaltlichen Berater rückhaltlos anvertrauen<br />
können. Zudem stellt der Referentenentwurf<br />
des Bundesjustizministeriums<br />
vom 23. Juni 2004 eine grobe<br />
Missachtung des Bundesverfassungsgerichtsurteils<br />
vom 3. März 2004 zum<br />
Großen Lauschangriff dar.<br />
Zwar greife der Referentenentwurf<br />
auf Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts,<br />
die diese zum Schutz der Intimsphäre<br />
der Bürger gemacht hat,<br />
auf. Generell geht die Tendenz des Referentenentwurfs<br />
aber dahin, dass der<br />
Große Lauschangriff (würde er Gesetz)<br />
gegenüber der bestehenden – in<br />
weiten Teilen verfassungswidrigen –<br />
Gesetzeslage ausgeweitet würde.<br />
„Damit pervertiert der <strong>Entwurf</strong> geradezu<br />
die vom Bundesverfassungsgericht<br />
getroffene Grundsatzentscheidung<br />
zu Gunsten eines unantastbaren<br />
Kerns privater Intimsphäre und damit<br />
der Menschenwürde“, erklärt Rechtanwalt<br />
Georg Prasser, Vizepräsident<br />
des DAV. „Es ist kaum zu glauben,<br />
dass der Referentenentwurf aus dem<br />
Bundesjustizministerium, das schließlich<br />
auch Verfassungsministerium ist,<br />
stammt“, so Prasser weiter. Er greife<br />
zwar den Buchstaben des Bundesverfassungsgerichtsurteils<br />
auf, ignoriere<br />
der Sache nach aber das Bundesverfassungsgericht.<br />
Quelle: DAV-Pressemitt. v. 8.7.2004<br />
(siehe auch den Bericht aus Berlin auf<br />
Seite IV in diesem Heft)<br />
Bremischer <strong>Anwaltverein</strong><br />
Bürgermeister gratulierte<br />
zum 125-jährigen<br />
Jubiläum<br />
Einsatz bei der kostenlosen<br />
Rechtsberatung gewürdigt<br />
Am 4. Juli 2004 wurde der Bremische<br />
Anwaltsverein 125 Jahre alt.<br />
Die Feierlichkeiten aus diesem Anlass<br />
– darunter ein Festakt – fanden<br />
am 2. Juli 2004 statt.<br />
Zu dem Festakt, der in der Kunsthalle<br />
zu Bremen stattfand, waren<br />
viele Gäste aus der gesamten Bundesrepublik<br />
Deutschland erschienen.<br />
Der DAV war zahlreich vertreten.<br />
An der Spitze der Delegation standen<br />
Präsident Hartmut Kilger und<br />
der Hauptgeschäftsführer Dr. Dierk<br />
Mattik. Die Ansprache hielt der bremische<br />
Bürgermeister und Senator<br />
für Justiz und Verfassung Dr. Henning<br />
Scherf. Er würdigte dabei insbesondere<br />
den Einsatz der Mitglieder<br />
des Bremischen Anwaltsvereins<br />
im Rahmen der kostenlosen Rechtsberatung<br />
für bedürftige Bürgerinnen<br />
und Bürger, den anwaltlichen Notdienst<br />
und die Mitwirkung in der<br />
Referendarausbildung. Der Präsident<br />
des Deutschen Anwalt Vereins, Hartmut<br />
Kilger, der Präsident des Hanseatischen<br />
Oberlandesgerichts Bremen,<br />
Dr. Jörg Bewersdorf, und der<br />
Präsident der Hanseatischen Rechtsanwaltskammer<br />
Bremen, Erich Joes-<br />
ter, richteten Grußworte an die in der<br />
Kunsthalle versammelten Gäste. Sie<br />
wiesen u. a. darauf hin, dass der Bremische<br />
Anwaltsverein einer der ältesten<br />
deutschen <strong>Anwaltverein</strong>e sei.<br />
Den Festvortrag mit der Überschrift<br />
„Der Anwalt im Wandel der<br />
Zeiten“ hielt das langjährige Mitglied<br />
des Vorstandes des Bremischen<br />
Anwaltsvereins und Vizepräsident<br />
des DAV, Herr Rechtsanwalt Rembert<br />
Brieske. Er präsentierte den Gedanken,<br />
Richter und Staatsanwälte<br />
könnten in Verfahren mit Prozesskostenhilfe<br />
bzw. Pflichtverteidigun-<br />
Feierten das 125-jährige Jubiläum: Der Bremer Bürgermeister Dr. Henning<br />
Scherf, DAV-Präsident Hartmut Kilger, der Vorsitzende des Bremischen Anwaltsvereins<br />
Dieter Janßen und DAV-Vizepräsident Rembert Brieske (v.l.n.r.).<br />
gen auf Teile ihres üblichen Gehaltes<br />
verzichten, ebenso wie die in<br />
solchen Verfahren tätigen Rechtsanwälte<br />
auf Teile der sonst für sie<br />
üblichen Vergütung verzichten<br />
müssten. Begleitet wurde der Festakt<br />
durch das Trio „Passing Time“, das<br />
zwischen den einzelnen Teilen des<br />
Festaktes einen musikalischen Streifzug<br />
durch die letzten 125 Jahre lieferte.<br />
Nach dem kommunikativen Ausklang<br />
im Foyer der Kunsthalle und<br />
einer Zeit zur Erholung am NachmittagfolgteamAbendindemimGebäude<br />
des Landgerichts Bremen befindlichen<br />
Restaurationsbetriebes<br />
Salomon’s der „gemütliche Teil“ des<br />
Tages. Auch hier waren wiederum<br />
viele – auch auswärtige – Gäste erschienen.<br />
Rechtsanwalt Dieter Janssen, Vorsitzender<br />
des Bremischen Anwaltsvereins
488<br />
MN<br />
Pressemitteilungen<br />
DAVgegen<br />
Zusammenlegung von<br />
Gerichtsbarkeiten<br />
Anwälte zur Justizministerkonferenz<br />
Der Deutsche <strong>Anwaltverein</strong> (DAV)<br />
sieht die Überlegungen der Justizministerkonferenz<br />
(JuMiKo), die Sozial-,<br />
Finanz- und Verwaltungsgerichte<br />
zusammenzulegen, mit großer Skepsis.<br />
Dies gelte insbesondere dann, wenn es<br />
mit organisatorischen Maßnahmen<br />
ohne die Schaffung einer einheitlichen<br />
Prozessordnung kommt.<br />
Das Grundgesetz differenziere in<br />
Artikel 95 zwischen Verwaltungs-, Finanz-,<br />
Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit.<br />
Auch daraus werde deutlich, dass<br />
die einzelnen Gerichtszweige sich<br />
bundesweit voneinander unterscheiden.<br />
Es sei leider festzustellen, dass<br />
alle Länder auch im Bereich der Justizhaushalte<br />
Einsparungen vornehmen<br />
wollen. Dies dürfe nach Ansicht des<br />
DAV allerdings nicht auf Kosten eines<br />
effektiven Rechtsschutzes für die<br />
Bürger geschehen.<br />
Gegen eine Zusammenlegung spreche<br />
auch, dass auf die Sozialgerichtsbarkeit<br />
nicht nur mehr Klagen zukommen,<br />
sondern auch immer mehr<br />
Verfahren von grundsätzlicher Bedeutung.<br />
Die mit der Agenda 2010 eingeleiteten<br />
Reformschritte und zum Teil<br />
nachhaltigen Einschnitte provozieren<br />
Gerichtsverfahren: Gerichtsverfahren,<br />
in denen jenseits der Einzelfallproblematik<br />
grundsätzliche Fragen der Sozialstaatlichkeit,<br />
der Gleichbehandlung,<br />
der Berufsfreiheit, der Eigentumsfreiheit<br />
bis hin zu EU-Standards zur Diskussion<br />
stehen. Die Sozialgerichtsbarkeit<br />
hat nun die Aufgabe, nicht nur<br />
hochkomplizierte, sondern zum Teil<br />
auch widersprüchliche gesetzliche<br />
Neuregelungen einer sehr gründlichen<br />
Überprüfung zu unterziehen.<br />
„Aus sozialstaatlicher Sicht macht<br />
es daher Sinn, diese den Reformprozess<br />
begleitende Rechtssprechung einer<br />
Fachgerichtsbarkeit mit dem Namen<br />
,Sozialgerichtsbarkeit‘ weiterhin<br />
zu übertragen“, so Dr. Dierk Mattik,<br />
Hauptgeschäftsführer des DAV in einer<br />
ersten Stellungnahme. In einer solchen<br />
Situation, diese Gerichtsbarkeit durch<br />
die Zusammenlegung mehrerer Gerichtsbarkeiten<br />
zu schwächen, sei mehr<br />
als kontraproduktiv.<br />
Quelle: DAV-Pressemitt. v. 17.6.2004<br />
<strong>Anwaltverein</strong> Stuttgart<br />
Per Knopfdruck<br />
ins Landgericht<br />
Konstanz<br />
Pilotprojekt in Stuttgart und<br />
Rottweil gestartet<br />
Seit 1. Januar 2002 muss das kein<br />
Wunschdenken mehr sein. Mit der<br />
Zivilprozessreform wurden die gesetzlichen<br />
Voraussetzungen für die Videokonferenztechnik<br />
im Rahmen mündlicher<br />
Verhandlungen in allen Prozessordnungen<br />
(bis auf den Strafprozess)<br />
geschaffen. Beim <strong>Anwaltverein</strong> Stuttgart<br />
läuft ein Projekt, das Vorbild für<br />
andere Vereine werden könnte.<br />
Kostenersparnis, Verfahrensbeschleunigung<br />
und -vereinfachung – da<br />
will der <strong>Anwaltverein</strong> Stuttgart ansetzen.<br />
Von der Videokonferenztechnik<br />
verspricht man sich deutliche Effektivitätsgewinne<br />
für alle Verfahrensbeteiligten.<br />
Kostendruck ist in der Anwaltschaft<br />
das Thema Nummer eins. Durch<br />
weniger Reisen und eine optimale Ausnutzung<br />
der Zeitressourcen lassen sich<br />
Kosten reduzieren. Verfahren werden<br />
beschleunigt, da ausschließlich die<br />
reine Besprechungszeit bei der Terminierung<br />
berücksichtigt werden muss,<br />
nicht aber die oft stundenlangen Anund<br />
Abreisezeiten – Zeiten, zu denen<br />
nicht gearbeitet, also kein Umsatz erzielt<br />
werden kann.<br />
Auf Initiative des <strong>Anwaltverein</strong>s<br />
Stuttgart fand im Frühjahr 2004 in den<br />
Geschäftsräumen des Vereins ein<br />
Workshop zum Thema „Juristen-Breitbandnetz“<br />
statt. Teilnehmer waren die<br />
Alcatel SEL Stiftung, das Justizministerium<br />
Baden-Württemberg, das Fraunhofer-Institut<br />
für Arbeitswirtschaft und<br />
Organisation Stuttgart sowie die MediaKomm<br />
Begleitforschung. Die Praxisberichte<br />
sowohl aus richterlicher<br />
wie auch aus anwaltlicher Sicht standen<br />
anhand des Projektes „Virtuelles<br />
Verwaltungsgericht Sigmaringen“ –<br />
der Abschlussbericht (sehr lesenswert!)<br />
ist unter www.justiz.baden.wuerttem<br />
berg.de/vg/VGSIG/VKAbschlussbericht.<br />
doc abrufbar – im Mittelpunkt der Diskussion.<br />
Welche Verfahren sind für Videokonferenzen<br />
geeignet?<br />
„Welche Verfahren eignen sich<br />
überhaupt für die Videokonferenztech-<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Aus der Arbeit des DAV<br />
nik?“, fragten sich die Teilnehmer. Jedenfalls<br />
in verwaltungsgerichtlichen<br />
Verfahren, in denen sich die mündliche<br />
Verhandlung in der Regel auf den<br />
sachlichen Austausch der Argumente<br />
ohne Selbstdarstellung der Parteien beschränkt,<br />
hat sich die moderne Technik<br />
bereits bewährt. Auch in zivilrechtlichen<br />
Routineverfahren spricht nichts<br />
gegen „den Knopfdruck zum Gericht“.<br />
Es lässt sich darüber streiten, ob sich<br />
das Videoconferencing für Beweisaufnahmen<br />
eignet, wobei es sicher vorzugswürdig<br />
ist, einen Zeugen in der<br />
mündlichen Verhandlung zu hören als<br />
ihn im Wege der Rechtshilfe vernehmen<br />
zu lassen. In den USA werden<br />
Anhörungen von Untersuchungsgefangenen<br />
per Videokonferenz vorgenommen.<br />
In Italien ist das Videoconferencing<br />
auch im Strafverfahren zugelassen.<br />
Zumindest in einfachen Ordnungswidrigkeitenverfahren<br />
könnte die<br />
Technik viele unnötige Reisen ersparen.<br />
Musterverfahren vor LG Rottweil<br />
Was will der <strong>Anwaltverein</strong> Stuttgart<br />
tun? Auf Dauer möchte er seinen<br />
Mitgliedern in der Geschäftsstelle des<br />
Vereins eine Videokonferenzanlage<br />
zur Nutzung zur Verfügung stellen.<br />
Für eine Übergangszeit von etwa einem<br />
Jahr ist mit der EnBW, die einen<br />
Videokonferenzraum in Stuttgart hat,<br />
eine Vereinbarung über die Nutzung<br />
der dortigen Anlage für die Mitglieder<br />
getroffen. Eine Auftaktveranstaltung<br />
in Form einer öffentlichen Verhandlung<br />
per Videokonferenz bei Anwesenheit<br />
interessierter Mitglieder und<br />
der Presse wird die Vorteile moderner<br />
Medientechnik im gerichtlichen Bereich<br />
unter Beweis stellen. Der Präsident<br />
des Landgerichts Rottweil hat<br />
sich bereit erklärt, eine solche Veranstaltung<br />
durchzuführen. Die Verhandlung<br />
wird nach der Sommerpause<br />
unter Einsatz der Videokonferenztechnik<br />
zwischen Rottweil und Stuttgart,<br />
von wo aus ein Kollege verhandeln<br />
wird, stattfinden.<br />
Umfrage zur Bedarfsermittlung<br />
Zur Zeit führt das Fraunhofer-Institut<br />
Arbeitswirtschaft und Organisation<br />
im Auftrag der Alcatel SEL Stiftung<br />
eine Bedarfsanalyse bei den Mitgliedern<br />
des <strong>Anwaltverein</strong>s Stuttgart<br />
durch. In Zusammenarbeit mit dem<br />
Verein wurde ein Fragebogen entworfen,<br />
der beispielsweise beantworten<br />
soll, wie häufig auswärtige Termine in<br />
einer Kanzlei vorkommen und in wel-
AnwBl 8 + 9/2004 489<br />
Aus der Arbeit des DAV MN<br />
Anwaltverband Sachsen<br />
13. Sächsischen<br />
Anwaltstage waren<br />
ein voller Erfolg<br />
Die Resonanz war enorm: Rund<br />
300 Anwältinnen und Anwälte sowie<br />
mehr als 200 Rechtsanwaltsfachangestellte<br />
nahmen an den diesjährigen<br />
Sächsischen Anwaltstagen<br />
vom 11. Juni und 12. Juni in Leipzig<br />
teil. Der Zuspruch bewies: Es war<br />
ein attraktives Programm. Auf der<br />
Tagesordnung standen die Fortbil-<br />
Staatssekretär Gerhard Mackenroth<br />
(Mitte) zusammen mit Rechtsanwältin<br />
Manuela M. Gerhard (rechts), Vorsitzende<br />
des Leipziger <strong>Anwaltverein</strong>s und<br />
Susanne Schlichting, Präsidentin des<br />
Verwaltungsgerichts Leipzig.<br />
dung zum neuen Rechtsanwaltsvergütungsgesetz,<br />
Vorträge zu den Neuregelungen<br />
im Arbeitsrecht sowie zu<br />
strafrechtlichen Risikofaktoren bei<br />
der Beratung von Geschäftsführern<br />
von Kapitalgesellschaften. Abgerundet<br />
wurde das Fachprogramm durch<br />
ein „Galli-Training für Anwälte“.<br />
Der Beitrag vom Galli-Theater Freiburg<br />
vermittelte im künstlerisch-psy-<br />
cher durchschnittlichen Entfernung<br />
diese Mandate liegen.<br />
Der <strong>Anwaltverein</strong> Stuttgart fordert<br />
dazu auf, die gesetzlichen Rahmenbedingungen<br />
zu nutzen und die Durchführung<br />
der mündlichen Verhandlung<br />
per Videokonferenz zu beantragen.<br />
Das Gericht wird diese Möglichkeit<br />
dann in Erwägung ziehen und entsprechend<br />
laden. Die in den Gerichten vorhandenen<br />
Videokonferenzanlagen sollten<br />
nicht ungenutzt „im Keller“<br />
schlummern, sondern für Kostenersparnis,<br />
Verfahrensbeschleunigung<br />
chologischen „Paket“ und als praktisches<br />
Seminar souveränes Auftreten,<br />
fesselnde Rhetorik und glänzende<br />
Umgangsformen in unterhaltsamlehrreicher<br />
Art. Auf starkes Interesse<br />
stieß ebenfalls die umfangreiche<br />
Bürofachausstellung diverser<br />
Anbieter.<br />
Aktueller Diskussionsstoff prägte<br />
auch den eher gesellschaftlichen Teil<br />
zu den Sächsischen Anwaltstagen<br />
2004. Beim festlichen Abendessen<br />
bezog Staatssekretär Gerhard Mackenroth<br />
vom Landesjustizministerium<br />
Sachsen in seinem Grußwort<br />
Standpunkt zur Neugestaltung des<br />
Rechtsberatungsgesetzes. Die DAV-<br />
Position erläuterte DAV-Vizepräsident<br />
Rembert Brieske in seiner Erwiderung.<br />
Unabhängig von den<br />
unterschiedlichen Auffassungen<br />
sagte Staatssekretär Mackenroth<br />
dem Sächsischen Anwaltverband zu,<br />
darüber im Gespräch bleiben zu<br />
wollen. Die Meinung der Sächsischen<br />
Anwaltschaft beim künftigen<br />
Gesetzgebungsprozess zu dieser<br />
Frage sei wichtig und wertvoll.<br />
Seit „Geburt“ der Anwaltstage in<br />
Sachsen 1992 ist es guter Brauch,<br />
dass die Veranstaltung reihum von<br />
einem der lokalen <strong>Anwaltverein</strong>e in<br />
Sachsen am jeweiligen Standort organisiert<br />
wird. Damit stellt sich auch<br />
eine bessere Wahrnehmung von Anwaltschaft<br />
und ihre Vernetzung in<br />
der Region ein. In Würdigung seines<br />
125-jährigen Gründungsjubiläums<br />
war diesmal der Leipziger <strong>Anwaltverein</strong><br />
Ausrichter. Den Staffelstab<br />
für 2005 hat er an den Zwickauer<br />
<strong>Anwaltverein</strong> in Westsachsen übergeben.<br />
Rechtsanwalt Svend-Gunnar Kirmes,<br />
Präsident des Anwaltverbandes<br />
Sachsen, Grimma<br />
und -vereinfachung sorgen. Es gibt<br />
Unternehmen, bei denen Reiseanträge<br />
dahingehend zu begründen sind, weshalb<br />
nicht die Videokonferenztechnik<br />
genutzt wird. Auch wir Anwälte sollten<br />
von moderner Kommunikationstechnik<br />
profitieren.<br />
Rechtsanwältin Anke Haug, Stuttgart<br />
Auslandsvereine<br />
Gründung eines<br />
Deutschen <strong>Anwaltverein</strong>s<br />
in Großbritannien<br />
Vor einiger Zeit hat David Holt, in<br />
England praktizierender deutscher<br />
Rechtsanwalt und englischer Solicitor,<br />
nach Rücksprache mit dem Präsidium<br />
des DAV die Initiative zur Gründung<br />
eines deutschen <strong>Anwaltverein</strong>s in<br />
Großbritannien übernommen. Vorbild<br />
dafür war auch der bereits seit einiger<br />
Zeit bestehende <strong>Anwaltverein</strong> in Paris.<br />
Aufgrund der deutlich positiven<br />
Resonanz fand sich schnell eine Runde<br />
interessierter Rechtsanwälte und<br />
Rechtsanwältinnen in London zusammen,<br />
um den Deutschen AnwaltVerein<br />
in Großbritannien in der Rechtsform<br />
einer Company Limited by Guarantee<br />
zu gründen, was dann auch bereits am<br />
14. Mai 2004 geschah.<br />
Neben der Möglichkeit des Erfahrungsaustausches,<br />
der Bildung eines<br />
Netzwerksystems und der Durchführung<br />
von Fortbildungsveranstaltungen<br />
direkt in Großbritannien bietet die<br />
Mitgliedschaft beim Deutschen AnwaltVerein<br />
in Großbritannien natürlich<br />
den Bezug des <strong>Anwaltsblatt</strong>s, der DAV-<br />
Depesche, der wöchentlichen elektronischen<br />
Informationsschrift des DAV,<br />
Büro Brüssel „Europa im Überblick“<br />
und natürlich aller anderen vom DAV<br />
angebotenen Dienstleistungen. Weiterhin<br />
sind die Einrichtung einer Webseite<br />
und die Herausgabe eines regelmäßig<br />
erscheinenden Newsletters geplant.<br />
Der Verein wendet sich an in Großbritannien<br />
tätige Assessoren und<br />
Rechtsanwälte, an in Großbritannien<br />
praktizierende Solicitors und Barristers,<br />
die am grenzüberschreitenden<br />
Rechtsverkehr mit Deutschland interessiert<br />
sind sowie an in Deutschland<br />
praktizierende Anwälte und Anwältinnen,<br />
die am Rechtsverkehr mit Großbritannien<br />
interessiert sind.<br />
Auch eine bestehende Mitgliedschaft<br />
bei einem örtlichen deutschen<br />
<strong>Anwaltverein</strong> steht einer Mitgliedschaft<br />
beim Deutschen AnwaltVerein<br />
in Großbritannien nicht im Wege, da<br />
eine Doppelmitgliedschaft bei einfacher<br />
Beitragsleistung möglich ist.<br />
Interessenten wenden sich bitte an<br />
David Holt unter davidholt@bateswells-sudbury.co.uk<br />
oder an die im DAV<br />
für den Verein zuständige Geschäftsführerin<br />
Dr. Malaika Ahlers unter ahlers@anwaltverein.de.
490<br />
MN<br />
DAV-Gesetzgebungsausschüsse<br />
Stellungnahmen zu<br />
Gesetzesvorhaben<br />
Der Deutsche <strong>Anwaltverein</strong> begleitet<br />
aktuelle Gesetzgebungsvorhaben sowohl<br />
auf nationaler als auch auf europäischer<br />
und internationaler Ebene kontinuierlich.<br />
Stellungnahmen des DAV<br />
werden von seinen 31 Gesetzgebungsausschüssen<br />
erarbeitet. Das <strong>Anwaltsblatt</strong><br />
wird zukünftig auf wichtige<br />
Stellungnahmen hinweisen. Alle Stellungnahmen<br />
der Gesetzgebungsausschüsse<br />
finden Sie unter http://www.<br />
anwaltverein.de/03/05/index.html.<br />
Handelsrechtsausschuss<br />
9 Stellungnahme zum Anlegerschutzverbesserungsgesetz<br />
Die Bundesregierung hat am 21. April<br />
2004 den Regierungsentwurf eines Gesetzes<br />
zur Verbesserung des Anlegerschutzes<br />
(AnSVG) vorgelegt. Durch<br />
den Gesetzentwurf soll vor allem die<br />
EU-Marktmissbrauchsrichtlinie durch<br />
Änderung des Wertpapierhandelsgesetzes<br />
(WpHG) umgesetzt und eine Prospektpflicht<br />
für nicht in Wertpapieren<br />
verbriefte Anlageformen des sog.<br />
„Grauen Kapitalmarkts“ durch Ergänzung<br />
des Verkaufsprospektgesetzes<br />
(VerkProspG) eingeführt werden. Der<br />
Handelsrechtsausschuss des Deutschen<br />
<strong>Anwaltverein</strong>s setzt sich in seiner<br />
Stellungnahme 26/04 ausführlich<br />
mit den Regelungen dieses Gesetzentwurfes<br />
auseinander.<br />
9 Stellungnahme zu dem Regierungsentwurf<br />
eines Gesetzes zur Einführung<br />
der Europäischen Gesellschaft<br />
(SEEG)<br />
Mit EU-Verordnung wird zum 8.<br />
Oktober 2004 als neue Gesellschaftsform<br />
nach europäischen Gemeinschaftsrecht<br />
die Europäische Gesellschaft<br />
(Societas Europaea, SE)<br />
eingeführt. Die EU-Verordnung gilt unmittelbar<br />
in Deutschland. Ein Einführungsgesetz<br />
steht noch aus. Der Handelsrechtsausschuss<br />
hat nun zu dem<br />
Regierungsentwurf Stellung genommen,<br />
in dem viele Anregungen aus seiner<br />
früheren Stellungnahme aufgegriffen<br />
wurden.<br />
Sozialrechtsausschuss<br />
9 Stellungnahme zum 7. SGG-Änderungsgesetzes<br />
Die Bundesregierung hat den <strong>Entwurf</strong><br />
eines Siebenten Gesetzes zur Ände-<br />
rung des Sozialgerichtsgesetzes (BR-<br />
Drs. 302/04) vorgelegt, der es den<br />
Ländern ermöglichen soll, bei den Verwaltungsgerichten<br />
besondere<br />
Spruchkörper für die Angelegenheiten<br />
der Sozialhilfe und der Grundsicherung<br />
zu bilden. Der Sozialrechtsausschuss<br />
lehnt den Gesetzentwurf insgesamt<br />
ab. Eine Regelung, die es den<br />
Ländern gestattet, die Sozialgerichtsbarkeit<br />
in Angelegenheiten der Sozialhilfe<br />
und der Grundsicherung für Arbeitssuchende<br />
durch „besondere<br />
Spruchkörper der Verwaltungsgerichte<br />
und Oberverwaltungsgerichte“ wahrnehmen<br />
zu lassen, provoziere bürokratische<br />
Hemmnisse innerhalb der Gerichtsverwaltung.<br />
Die auch für<br />
Außenstehende schon heute offensichtlich<br />
vorhandenen Probleme der<br />
Gerichtsverwaltung werden durch eine<br />
solche Öffnungsklausel nur noch verschärft.<br />
9 Stellungnahme zum Anhörungsgesetz<br />
Das Bundesjustizministerium hat<br />
den <strong>Entwurf</strong> eines Anhörungsrügengesetzes<br />
vorgelegt, das den Gesetzgebungsauftrag<br />
des Bundesverfassungsgerichts<br />
aus dem Plenarbeschluss<br />
vom 30. April 2003 (1 PBvU 1/02)<br />
umsetzen soll. Dem Gesetzgeber<br />
wurde bis zum 31.12.2004 aufgegeben,<br />
fachgerichtliche Rechtsbehelfe<br />
zur Rüge von in gerichtlichen Verfahren<br />
erfolgten Anhörungsverstößen zur<br />
Verfügung zu stellen. Der Ausschuss<br />
Sozialrecht äußert sich, soweit die Sozialgerichtsbarkeit<br />
betroffen ist. Er<br />
schlägt vor, die Rüge auf alle Fälle<br />
von Verfahrensverstößen vor Gericht<br />
zu erstrecken, die für die Entscheidung<br />
erheblich sein können.<br />
Zivilverfahrensausschuss<br />
9 Stellungnahme zum Anhörungsgesetz<br />
Der Ausschuss begrüßt den <strong>Entwurf</strong><br />
für den Bereich des Zivilrechts.<br />
Erforderlich sind jedoch Änderungen<br />
insbesondere bei den kurzen Fristen<br />
für die Begründung der Rüge und die<br />
Notwendigkeit, das Verhältnis einer<br />
Anhörungsrüge zu einem von Prozessgegner<br />
eingelegten Rechtsmittel zu regeln.<br />
Strafrechtsausschuss<br />
9 Stellungnahme zum Anhörungsgesetz<br />
Für den Bereich des Strafrechts erhebt<br />
der Ausschuss keine Bedenken<br />
gegen den <strong>Entwurf</strong>.<br />
AG Anwaltsmanagement<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Aus der Arbeit des DAV<br />
Corporate<br />
Governance der<br />
Rechtsanwälte<br />
Empfiehlt es sich, nach dem Vorbild<br />
des Corporate Governance Kodex für<br />
börsennotierte Kapitalgesellschaften,<br />
auch Anwaltsunternehmen mit einem<br />
solchen Kontrollszenarium zu führen?<br />
Die für die außergerichtliche<br />
Rechtsberatung verbindlichen Gebühren<br />
des RVG entfallen ab 2006, also<br />
in etwa 1 1/2 Jahren. Damit entfallen für<br />
viele Anwälte wesentliche bisher bekannte<br />
Kalkulationsgrundlagen. Es<br />
wird für jeden Anwalt von ganz entscheidender<br />
Bedeutung sein, mit einer<br />
betriebswirtschaftlich sehr intensiven<br />
Nachkalkulation spätestens ab Übernahme<br />
des RVG die neue wirtschaftliche<br />
Situation der Kanzlei zu untersuchen.<br />
Auf dieser Grundlage kann sich<br />
eine freie Preisbildung, insbesondere<br />
eine vernünftige Gestaltung von Zeithonoraren<br />
entwickeln. Niemand darf<br />
das aber überschätzen: Es dauert erfahrungsgemäß<br />
eine Weile, bis man<br />
sich von einem Taxensystem, wie es<br />
die BRAGO war und das RVG ansatzweise<br />
noch sein wird, wirklich auf<br />
eine (vermutlich) rein zeitbasierte Berechnung<br />
umstellt.<br />
Leitlinien für Rechnungslegung<br />
In einer solchen Lage werden sich<br />
die Anwaltsbüros darauf besinnen<br />
müssen, die ihnen einzig bekannte Art<br />
der Rechnungslegung, nämlich diejenige<br />
für steuerliche Zwecke, so zu nutzen,<br />
dass sie auch Kennzahlen für die<br />
betriebswirtschaftliche Betrachtung<br />
liefert. Dabei ist die einheitliche Rechnungslegung<br />
im Berufsstand unerlässlich,<br />
weil sich nur so zuverlässiges<br />
Zahlenmaterial erzeugen lässt. Daraus<br />
lassen sich für die Rechnungslegung<br />
der Rechtsanwälte beispielhaft folgende<br />
Leitlinien ableiten:<br />
9 Die berufsrechtlich gebotene wirtschaftliche<br />
Unabhängigkeit zwingt<br />
dazu, regelmäßig und zeitnah, auch<br />
unterjährig, im Rahmen der ordnungsgemäßen<br />
Rechnungslegung den wirtschaftlichen<br />
Erfolg des Anwaltsunternehmens<br />
zu messen und (intern) zu<br />
berichten – BWA, betriebswirtschaftlicher<br />
Kurzbericht.<br />
9 Eine zügige Weiterleitung von<br />
Fremdgeld, wie sie §§ 43 a Abs. 5<br />
BRAGO, 23 und 4 BORA fordern,
AnwBl 8 + 9/2004 491<br />
Aus der Arbeit des DAV MN<br />
Deutsche Anwaltakademie<br />
Klein, aber fein:<br />
Seminar<br />
für Weinrecht<br />
Die Deutsche Anwaltakademie<br />
organisiert jedes Jahr mehr als 600<br />
Tagesseminare, Sommer-Intensivkurse,<br />
Wochenseminare und Fachlehrgänge.<br />
Zum Angebot gehören<br />
auch Seminare in ausgefallenen<br />
Rechtsgebieten. Das <strong>Anwaltsblatt</strong><br />
stellt in der Serie „Klein, aber fein“<br />
exklusiv Veranstaltungen vor. In diesem<br />
Heft das Weinrechtsseminar.<br />
Es gibt kein Lebensmittel, das so<br />
„verrechtlicht“ ist wie Wein. Vom<br />
Anbau über die Mengenregulierung,<br />
die Herstellung, Etikettierung, amtliche<br />
Prüfung, Buchführung bis zur<br />
Weinkontrolle ist alles reglementiert.<br />
Weinrecht ist europäisches Recht.<br />
Die vom Rat oder der Kommission<br />
erlassenen Verordnungen gelten unmittelbar<br />
in jedem Mitgliedsstaat der<br />
EU. Die Brüsseler Verordnungs-<br />
Bürokratie ist – gerade auf dem Gebiete<br />
des Weinrechts – schon oft beklagt<br />
worden. Doch auch die Reform<br />
der Weinmarktordnung im Jahr 1999<br />
war nicht im Stande, der Weinwirtschaft<br />
die gebotene Transparenz und<br />
Rechtssicherheit zu vermitteln. Der<br />
Beratungsbedarf in der Weinbranche<br />
ist unverändert groß.<br />
Der Weinliebhaber, für welchen<br />
der Wein Gegenstand höchster Freuden<br />
und Genüsse sein kann, weiß in<br />
der Regel nicht, dass Wein nicht nur<br />
ein Produkt der Rebe sondern auch<br />
ein solches der Bürokratie ist. Erst<br />
recht ist selbst weintrinkenden<br />
Rechtsanwälten oft nicht bekannt,<br />
dass es Kolleginnen und Kollegen<br />
gibt, die sich sogar beruflich mit<br />
lässt sich ohne eine zeitnahe Erfassung<br />
des gesamten Geldflusses der<br />
Anwaltskanzlei im Rahmen einer ordnungsgemäßen<br />
Rechnungslegung nicht<br />
realisieren – Ausweis des Bestandes<br />
BWA, betriebswirtschaftlicher Kurzbericht.<br />
Ein Anwaltsbüro sollte mit kurzer<br />
Frist auf den jeweiligen Stichtag, in<br />
der Regel den Monatsschluss, zusammenfassend<br />
nach innen berichten können,<br />
dass und wie sämtliche Fremdgelder<br />
der Berichtsperiode weitergeleitet<br />
(bzw. auf Anderkonten verwahrt) sind.<br />
Wein und seinem Recht befassen.<br />
Dabei ist das Gebiet des Weinrechts<br />
einzigartig, weil es wie kein anderes<br />
dem Juristen die Möglichkeit eröffnet,<br />
die Theorie des Rechts mit der<br />
Praxis des Weingenusses zu verbinden<br />
und hiermit auch noch Geld zu<br />
verdienen. Im Wein liegt nicht nur<br />
die sprichwörtliche Wahrheit, sondern<br />
auch das Recht.<br />
Eine Symbiose zwischen Wein<br />
und Recht wollten auch die leider zu<br />
früh verstorbenen Gründer des Weinrechtsseminars<br />
schaffen: Justizrat Dr.<br />
H. Hieronimi, Koblenz, der bekannte<br />
Weingesetzkommentator und Rechtsanwalt<br />
Dr. Brangsch, damaliger Ge-<br />
Weinprobe mitten in den Weinbergen<br />
beim 36. Weinrechtsseminar 2003 in Deidesheim<br />
schäftsführer des DAV haben im<br />
Jahre 1967 das Weinrechtsseminar<br />
„erfunden“. Seitdem hat das Weinrechtsseminar<br />
36-mal getagt, und<br />
zwar jedes Jahr eine Woche lang,<br />
Anfang September, jeweils in den<br />
bekanntesten Weinbauregionen in<br />
Deutschland, Frankreich, Italien,<br />
Spanien, Österreich, Schweiz und<br />
Ungarn. Seit 1985 obliegt die Organisation<br />
und Leitung des Weinrechtsseminars<br />
Rechtsanwalt Hans-Hermann<br />
Hieronimi, Koblenz.<br />
Das Weinrechtsseminar beschränkt<br />
sich keineswegs darauf, sei-<br />
Solange Geld über Anwaltskonten<br />
fließt, das für Dritte bestimmt ist,<br />
bleibt es bei der Weiterleitungspflicht<br />
(§§ 43 a Abs. 5 BRAGO, 23 und 4<br />
BORA) und dem entsprechenden Reporting<br />
dazu.<br />
Die Unternehmensleitung des Anwaltsbüros<br />
soll von sich aus nach innen<br />
den Partnern über die Weiterleitungsfrequenz<br />
pp. berichten können. In<br />
der „Anwalts-Betriebswirtschaftlichen<br />
Auswertung“, die mit dem Anwaltskontenrahmen<br />
(Standardkontenrahmen<br />
03 und 04 der DATEV) erzeugt wird,<br />
nen Teilnehmern weinrechtliche Erkenntnisse<br />
zu vermitteln. An den<br />
Vormittagen der Seminarwoche werden<br />
zwar den – immer sehr zahlreichen<br />
– Teilnehmern weinrechtliche<br />
Vorträge und Veranstaltungen auf hohem<br />
fachlichen Niveau geboten.<br />
Viele dieser Vorträge finden sich später<br />
als Publikationen und Aufsätze in<br />
Fachzeitschriften wieder. Die wahre<br />
Attraktion des Seminars sind jedoch<br />
die „praktischen Übungen“, welche<br />
an den Nachmittagen und Abenden<br />
stattfinden. Durch Exkursionen in die<br />
jeweilige Region, Weinverkostungen<br />
bei den besten Weingütern und Weinkellereien,<br />
Besichtigungen von Sehenswürdigkeiten<br />
und durch gemeinsame<br />
festliche, kulinarische Abendveranstaltungen<br />
erleben die Teilnehmer,<br />
in welcher Weise Wein im<br />
Stande ist, Land, Leute und Kultur<br />
zu prägen.<br />
Das Weinrechtsseminar hat sich in<br />
seiner langen Tradition zu einer Institution<br />
entwickeln können, die sich<br />
nicht nur durch ein anspruchsvolles<br />
Programm, sondern vor allem durch<br />
die angenehm beschwingte und sympathische<br />
Geselligkeit und Heiterkeit<br />
seiner Teilnehmer von anderen Seminaren<br />
unterscheidet. Neu hinzukommende<br />
Seminaristen werden schnell<br />
– spätestens bei der ersten gemeinsamen<br />
Weinprobe – die besondere Integrationskraft<br />
des Weines und des<br />
Weinrechtsseminars erfahren.<br />
Rechtsanwalt Hans-Hermann Hieronimi,<br />
Koblenz<br />
Das 37. Weinrechtsseminar 2004<br />
wird vom 5.–11.9.2004 in Bozen<br />
stattfinden. Anmeldungen sind noch –<br />
je nach Verfügbarkeit von Hotelbetten<br />
– bei der Deutschen Anwaltakademie<br />
möglich: Tel.-Nr. 0 30 / 7 26 15 31 24,<br />
Fax-Nr. 0 30 / 7 26 15 31 11.<br />
Im nächsten Heft: Das Agrarrechtsseminar.<br />
wird der Fremdgeldfluss dargestellt.<br />
Die Abrechnung des Fremdgeldkontos<br />
auf den Stichtag belegt dort, ob und<br />
wie das Fremdgeld weitergeleitet ist.<br />
Es ist also den Anwälten sehr zu<br />
empfehlen, in die Offensive zu gehen<br />
und deutlich zu machen, dass sie sich<br />
einer derartigen freiwilligen Berichtspflicht<br />
unterwerfen. Dies ist ein gutes<br />
Beispiel, wie man die Quasi-Sanktion,<br />
den geplanten Vermögensschadenfonds<br />
(siehe dazu Streck, AnwBl 2004, 212)<br />
durch eine Eigenkontrolle entbehrlich<br />
machen kann.
492<br />
MN<br />
Ebenso kann die unterjährige BWA<br />
als Monats- bzw. Quartalsbericht die<br />
wirtschaftliche Unabhängigkeit des<br />
Anwalts in der Berichtsperiode belegen.<br />
Sie kann zugleich auch dazu dienen,<br />
auf bewährter Grundlage Information<br />
für Fusionsgespräche von<br />
Anwaltsbüros pp. zu sein. All das lässt<br />
sich auf sämtliche finanzielle Berichtsobliegenheiten<br />
in Anwaltsunternehmen<br />
anwenden.<br />
Viele der Anwälte lässt die Buchhaltung<br />
von Steuerberatern mit dem<br />
DATEV System ausführen. Dort ist in<br />
Kooperation mit dem DAV für Rechtsanwälte<br />
der Anwaltskontenrahmen geschaffen<br />
worden, mit dem neben einer<br />
ordnungsgemäßen Buchhaltung auch<br />
die nötigen Berichte vergleichbar erzeugt<br />
werden können. Die Speicherung<br />
im Rechenzentrum der DATEV erfüllt<br />
die Anforderungen für die „elektronische<br />
Betriebsprüfung“ (§§ 146 ff.<br />
AO) und ermöglicht mit Zustimmung<br />
des Anwalts die anonymisierte Auswertung<br />
für den „Anwaltsbetriebsvergleich“,<br />
der dem einzelnen Anwalt und<br />
dem Berufsstand aktuelle Zahlen für<br />
eine präzise Lagebeurteilung liefert.<br />
Für die Anwender anderer Verfahren<br />
wird noch eine vergleichbare Lösung<br />
gefunden werden müssen.<br />
Daraus abgeleitet drängt sich eine<br />
vergleichbare Dokumentation auf einheitlicher<br />
Grundlage für wesentliche<br />
Elemente der eigentlichen Anwaltsarbeit<br />
auf: Die Fristenkontrolle als<br />
Zahlenquelle der zuverlässigen – fristgerechten<br />
– Abarbeitung der Mandate,<br />
aus der auch für die Kalkulation nötige<br />
Zeitdaten abgeleitet werden können.<br />
Denkbar wäre, auf dieser Grundlage<br />
auch eine Qualitätskontrolle zu entwickeln.<br />
Kodex zur Sicherung von<br />
Qualitätsstandards<br />
Ein durchschaubarer Kodex könnte<br />
der Rahmen sein, auch für kleine Büros<br />
Qualitätsstandards in Einzelbereichen<br />
zu sichern und umzusetzen mit<br />
dem Ziel, ein zertifizierbares Gesamtbild<br />
nach gewisser Zeit zu beschreiben.<br />
Dazu könnten u. a. gehören:<br />
9 Eine Buchhaltung nach den Grundsätzen<br />
des Anwaltskontenrahmens<br />
auf der Basis der SKR 03 oder 04<br />
mit den vielfältigen Berichtsmöglichkeiten<br />
dieser Rechnungslegung<br />
und auch den Auswertungen des<br />
Zahlenmaterials in betriebswirtschaftlichen<br />
Betrachtungen,<br />
9 Berichtswesen über die Abwicklung<br />
der Mandate, bisher nur als „Fristen-<br />
kontrolle“ bekannt. Auch zu diesem<br />
Punkt gibt es längst ein ausgefeiltes<br />
Berichtswesen, durch Rechtsprechung<br />
geprägt, das geradezu aufdrängt,<br />
den Gesamtablauf eines<br />
Mandats auch in diesem Rahmen zu<br />
erfassen und zu belegen,<br />
9 Umgang mit „Insiderwissen“,<br />
9 Inventarisierung des Vermögensschadensrisikos<br />
etc.<br />
9 Fortbildung von Anwalt und Personal.<br />
So kann dem einzelnen Mandanten<br />
und letztlich dem gesamten Markt<br />
nicht allein die bestehende Leistungsfähigkeit<br />
der Rechtsanwälte, sondern<br />
auch ihre Fähigkeit, Qualität der juristischen<br />
Kernarbeit systematisch zu erarbeiten,<br />
belegt werden.<br />
Konsequenz<br />
Ein Kodex des Corporate Governance<br />
der Rechtsanwälte wäre letztlich<br />
eine knappe Zusammenfassung verstreuter,<br />
teilweise auch erneuerungsbedürftiger<br />
Berichtsobliegenheiten. Der<br />
Kodex hätte den großen Vorteil, dass<br />
mit einem klaren Ziel – Kodex –<br />
längst bekannte Elemente zu diesem<br />
Gesamtwerk zusammengeführt und<br />
neue (Insiderwissen, Vermögensschaden<br />
Risiko) aufgenommen werden<br />
können. Er soll bereits im Rahmen<br />
von BRAO und BORA ein praktischer<br />
Handlungsrahmen sein, der insbesondere<br />
die Qualität und Leistungsfähigkeit<br />
einzelner Büros deutlich herausstellt<br />
und vorbereiten, dass elementare<br />
Qualitätsgrundsätze der Anwälte selbst<br />
dann fortbestehen, wenn BRAO und<br />
BORA von der Deregulierung hinweggefegt<br />
werden sollten.<br />
Der Kodex soll in der Arbeitsgemeinschaft<br />
Anwaltsmanagement erarbeitet<br />
und betreut werden. Wir bitten alle Kolleginnen<br />
und Kollegen, die dazu einen Beitrag<br />
leisten wollen, sich zu beteiligen.<br />
Werden Sie Mitglied und melden sich<br />
bitte bei unserer Geschäftsstelle: AG Anwaltsmanagement,<br />
Projekt Corporate<br />
Governance, Littenstraße 11, 10179<br />
Berlin, Telefon: 0 30-7 26 15 21 35, Telefax:<br />
030-726152194, Allmendinger<br />
@anwaltverein.de<br />
Rechtsanwalt Jürgen Schneider,<br />
Hamburg<br />
AG Internationaler<br />
Rechtsverkehr<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Aus der Arbeit des DAV<br />
2. Deutsch-Italienisches<br />
Seminar<br />
Nach der überaus gelungenen Premiere<br />
im letzten Jahr fand Ende März<br />
nunmehr das zweite deutsch-italienische<br />
Seminar in der Nähe des Starnberger<br />
Sees, in Niederpöcking bei<br />
München statt. Erfreulicherweise<br />
konnten die ersten freundschaftlichen<br />
Kontakte, die im vergangenen Jahr in<br />
der Villa Vigoni nahe des Comer Sees<br />
geschlossen worden sind, wieder aufgefrischt<br />
werden. Wie im letzten Jahr<br />
folgten auch in diesem Jahr die Veranstalter<br />
dem Prinzip eines interessanten<br />
und abwechslungsreichen Potpourris.<br />
Referenten waren hier: Zum<br />
Insolvenrecht Rechtsanwalt/Avvocato<br />
David Einhaus von der Kanzlei Einhaus<br />
aus Denzlingen und seine italienische<br />
Kollegin Avvocato Claudia<br />
Longi, Studio Legale Associato Brandstätter,<br />
Bozen, u. a. unter Bezugnahme<br />
zum brisanten Parmalat-Verfahren in<br />
Italien. Zu Corporate Governance in<br />
der italienischen Praxis Herr Kollege<br />
Avvocato Girolamo Abbatescianni,<br />
Studio Legale Abbatescianni, Mailand,<br />
und zur deutschen Praxis Rechtsanwalt/Avocat<br />
à la Cour Lutz Hartmann,<br />
Heide Rechtsanwälte, Frankfurt.<br />
Zum Europäisches Gesellschaftsrecht<br />
Herr Rechtsanwalt Prof. Dr. Hanns-<br />
Christian Salger, SALGER Rechtsanwälte,<br />
Frankfurt/M., und sein italienischer<br />
Counterpart, Prof. Avv. Alberto<br />
Lotti, Studio Legale Associato Lotti<br />
Sovieni, Modena. Am zweiten Tag lag<br />
der Schwerpunkt auf dem Familienrecht.<br />
Herr Kollege Avv./RA Dr. Matthias<br />
Alessandro Strauß, Rechtsanwaltskanzlei/Studio<br />
Legale Strauß,<br />
München/Rom, und seine Koreferentin<br />
Caterina Tarantino Rechtsanwaltskanzlei/Studio<br />
Legale Strauß, München/<br />
Rom, berichteten ausführlich zu den<br />
Rechtsgrundlagen im internationalen<br />
Familienrecht. Herr Kollege Avv. Carlo<br />
Malossi, Dolce & Lauda, Modena, referierte<br />
aus italienischer Sicht zur Vermarktung<br />
medialer Rechte im Sport<br />
und aus deutscher Sicht referierte<br />
Rechtsanwalt Dr. Thomas Summerer,<br />
DFL Deutsche Fußball Liga GmbH,<br />
Frankfurt/M., zu dem sportrechtlichen<br />
Thema.<br />
Das 3. deutsch-italienische Seminar<br />
wird am 15./16. April 2005 in Italien<br />
stattfinden. Ah
AnwBl 8 + 9/2004 493<br />
Aus der Arbeit des DAV MN<br />
Kurz vorgestellt: Die Arbeitsgemeinschaft<br />
Internationaler Rechtsverkehr<br />
Die 1989 gegründete Arbeitsgemeinschaft für internationalen Rechtsverkehr<br />
im DAV bündelt diejenigen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, die<br />
sich auf den Bereich „Internationales“ spezialisiert haben. Gegenwärtig gehören<br />
ihr etwa 600 Mitglieder aus über 20 verschiedenen europäischen und außereuropäischen<br />
Staaten an. Wie alle DAV-Arbeitsgemeinschaften ist sie neben<br />
Informationen über aktuelle rechtspolitische Entwicklungen im Mitteilungsblatt<br />
und auf der Homepage besonders im Bereich Fort- und Weiterbildung aktiv<br />
und bietet hier Veranstaltungen im In- und Ausland an. Gerade die sog. bilateralen<br />
Veranstaltungen ermöglichen hervorragende Möglichkeiten zum<br />
Informations- und Erfahrungsaustausch, wie sich auch beim Deutsch-Italienischen<br />
(Semiarbericht auf der linken Seite) und beim Deutsch-Französischen<br />
Seminar (Seminarbericht unten) zeigt.<br />
Rechtsanwältin Dr. Maleika Ahlers, LLM, Berlin<br />
8. Deutsch-<br />
Französisches<br />
Seminar<br />
Diese traditionelle Jahresveranstaltung<br />
der ARGE Internationaler Rechtsverkehr<br />
und der Section Internationale<br />
der Association des Avocats Conseils<br />
d’Entreprises (ACE) fand Ende April/<br />
Anfang Mai vor prachtvoller Kulisse<br />
in Toulouse statt. Der Bedeutung der<br />
Metropole als Zentrum der französischen<br />
Luftfahrtindustrie und Standort<br />
einer Vielzahl von Hochtechnologie-<br />
Unternehmen entsprechend, war Auftakt<br />
eine Besichtigung des Produktionsstandortes<br />
der Airbus-Industrie in<br />
Colomiers.<br />
Inhaltlich ging es zunächst um Neuheiten<br />
bei der Unternehmensgründung<br />
in Frankreich und Deutschland,<br />
wobei Dr. Michael Brauch,<br />
Schwarz Kelwing Wicke Westpfahl,<br />
München, das Konzept der „kleinen<br />
AG“ in Deutschland beleuchtete. Das<br />
Thema Freiheit der Unternehmensgründung<br />
in Europa (Bestimmung des<br />
Gesellschaftssitzes wurde anschließend<br />
von Kellegin Amsa Augustin, Cabinet<br />
BMH, Paris/Brüssel, behandelt. Das<br />
Gegenstück bildeten die Erläuterungen<br />
von Christian Connor, LMT Avocats,<br />
Paris, zu dem Gesetz „Dutreil 1“ und<br />
dem Gesetzesentwurf „Dutreil 2“. Dr.<br />
Thomas Försterling, Salger Rechtsanwälte,<br />
Frankfurt, schilderte im Anschluss<br />
die in Deutschland aus der<br />
„Inspire Art“-Rechtsprechung folgenden<br />
Konsequenzen. Die Societas<br />
Europaea stand auch im Mittelpunkt<br />
der Referate von Louis-Bernard Buchman,<br />
Caubet Chouchana Meyer, Paris,<br />
und Lutz Hartmann, beide Rechtsanwälte,<br />
Frankfurt. Zum Abschluss des<br />
Komplexes „Gesellschaftsgründung“<br />
konnten die Teilnehmer einen Beitrag<br />
von Michel Fabre, Direktor des Bereichs<br />
„Steuern und Zölle“ bei Airbus in<br />
Toulouse, verfolgen.<br />
Der Themenkomplex „Schutz und<br />
Erhaltung von Unternehmen“, wurde<br />
durch Christophe Leguevaques, Clé<br />
Réseau d’Avocats, Paris, eingeleitet.<br />
Hier ging es um die in Frankreich anstehende<br />
Reform des Insolvenzrechts<br />
auf der Grundlage des Gesetzesentwurfes<br />
„loi Perben“ – Den Erfahrungen<br />
mit dem neuen deutschen Insolvenzrecht<br />
widmete sich das<br />
ausführliche Referat von Dr. Karl Robert<br />
Kranemann, LL. M., Kranemann<br />
Rechtsanwälte, Köln. Der Auftakt des<br />
zweiten Konferenztages stand im Zeichen<br />
des europäischen Insolvenzverfahrens.<br />
Dr. Frank Kebekus, Kebekus<br />
& Zimmermann Rechtsanwälte, Düsseldorf,<br />
gab einen Bericht über seine<br />
Erfahrungen mit der Europäischen Insolvenzordnung<br />
im Zuge der so genanntenISA-Daisytek-Entscheidungen.<br />
Das Seminar widmete sich dann in<br />
Gesprächsrunden beruflichen und berufsrechtlichen<br />
Aspekten. Marc Frilet,<br />
Vorsitzender der Section Internationale<br />
der ACE, Paris, stellte eine<br />
Initiative der Section Internationale<br />
der ACE zur Förderung der Werte der<br />
kontinentalen Civil-Law-Länder gegenüber<br />
dem Common-Law-Rechtssystem<br />
vor. – In seiner anschließenden<br />
Analyse stellte Prof. Dr. Friedrich<br />
Graf von Westphalen den Civil Law/<br />
Common Law-Konflikt als typischen<br />
Ausdruck des Spannungsverhältnisses<br />
zwischen Macht und Recht dar. Um<br />
die Auswirkungen der neueren wettbewerbsrechtlichen<br />
Vorstöße der EU-<br />
Kommission auf den Anwaltsberuf<br />
und -markt ging es in den folgenden<br />
Kurzberichten von Louis-Bernard<br />
Buchman und – in Vertretung für DAV-<br />
Geschäftsführerin Dr. Malaika Ahlers,<br />
LL.M. – Thomas Krümmel, Meyer-<br />
Köring v. Danwitz Privat, Berlin.<br />
Den Abschluss des zweiten Seminartages<br />
bildeten Referate zu der Rolle<br />
des Syndikusanwalts in Frankreich<br />
und Deutschland von Hans-Peter Benckendorff,<br />
Syndikus der Deutschen<br />
Bank AG, Frankfurt, und Jean-Jacques<br />
Uettwiller, UCCG & Associés, Paris.<br />
Nach einem gemeinsamen Mittagessen<br />
rundete eine Führung zu den bedeutenden<br />
Sehenswürdigkeiten der<br />
Stadt, insbesondere zur Basilique de<br />
Saint-Sernin und dem Jakobinerkloster,<br />
den Tag und diese Veranstaltung ab,<br />
die von allen Teilnehmern nicht nur als<br />
interessant und erfolgreich, sondern erneut<br />
als eine äußerst willkommene Gelegenheit<br />
empfunden wurde, alte Kontakte<br />
und Freundschaften zu pflegen<br />
und neue zu knüpfen.<br />
Das 9. Deutsch-Französische Seminar<br />
2005 wird turnusgemäß wieder<br />
in Deutschland stattfinden, und zwar<br />
in Rottach-Egern am Tegernsee.<br />
Rechtsanwalt Thomas Krümmel,<br />
Berlin<br />
Deutsch-Baltisches und Deutsch-Spanisches Seminar im Oktober<br />
Die nächsten bilateralen Seminare werden das deutsch-baltische Seminar<br />
am 8./9.10.04 in Riga und das erste deutsch-spanische Seminar am 6.11.2004<br />
in Düsseldorf sein. Weitere Informationen hierzu und zu der ARGE im Allgemeinen<br />
entnehmen Sie bitte der Website der Arbeitsgemeinschaft unter<br />
www.anwaltverein.de/05/06/01.html. Der Jahresmitgliedsbeitrag beträgt 100 E.<br />
Weitere Auskünfte zur Arbeitsgemeinschaft erhalten Sie über die für die Arbeitsgemeinschaft<br />
zuständige Geschäftsführerin Rechtsanwältin Dr. Malaika<br />
Ahlers, LL.M. (ahlers@anwaltverein.de).
494<br />
MN<br />
AG Verkehrsrecht<br />
Geschäftsbericht<br />
2003/2004<br />
In der Mitgliederversammlung der<br />
Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht im<br />
DAV am 30. April 2004 hat der Vorsitzende<br />
der Arbeitsgemeinschaft Rechtsanwalt<br />
JR Hans-Jürgen Gebhardt<br />
über die Arbeit des Geschäftsführenden<br />
Ausschuss seit Mai 2003 berichtet.<br />
Der ausführliche Geschäftsbericht<br />
wird im Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft<br />
erscheinen. Das <strong>Anwaltsblatt</strong><br />
dokumentiert Auszüge zu<br />
wichtigen Punkten:<br />
Fachanwalt für Verkehrsrecht<br />
Seit mehr als 10 Jahren plädiert die<br />
Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht für<br />
die Einführung einer Fachanwaltschaft<br />
für Verkehrsrecht. Den entsprechenden<br />
Antrag hat die Satzungsversammlung<br />
bisher mit den unterschiedlichsten Be-<br />
Rechtsanwalt JR<br />
Hans-Jürgen Gebhardt<br />
ist Vorsitzender<br />
des GeschäftsführendenAusschusses<br />
der AG<br />
Verkehrsrecht.<br />
gründungen abgelehnt. Dahinter verbirgt<br />
sich in Wahrheit wohl die Sorge,<br />
mit der Einführung weiterer Fachanwaltschaften<br />
gerieten die Allgemeinanwälte<br />
ungerechtfertigt ins Hintertreffen.<br />
Eine solche Betrachtung greift<br />
jedoch viel zu kurz, wird es doch<br />
künftig – das gilt namentlich für das<br />
Verkehrsrecht – nicht mehr um den<br />
Wettbewerb zwischen Anwälten untereinander<br />
sondern alleine darum gehen,<br />
ob bestimmte Tätigkeitsfelder der Anwaltschaft<br />
verloren gehen oder nicht.<br />
Wie Sie wissen, wurde die Satzungsversammlung<br />
im vergangenen<br />
Jahr neu gewählt. Die 3. Satzungsversammlung<br />
hat sich im November 2003<br />
neu konstituiert. Von den Mitgliedern<br />
der Satzungsversammlung gehören 33<br />
Kolleginnen und Kollegen der Arbeitsgemeinschaft<br />
Verkehrsrecht an. Stellvertretend<br />
für alle möchte ich unseren<br />
Regionalbeauftragten, Frau Kollegin<br />
Eifler, Neubrandenburg und Dr. Reitenspiess,<br />
Nürnberg sowie unserem<br />
Ausschussmitglied Dr. Burmann, Erfurt<br />
für ihre Arbeit in der Satzungsversammlung<br />
alles Gute wünschen.<br />
Gemeinschaftswerbung der Arbeitsgemeinschaft<br />
Im Jahre 2001 hat die Mitgliederversammlung<br />
der Arbeitsgemeinschaft<br />
Verkehrsrecht beschlossen, den Mitgliedsbeitrag<br />
zum Zwecke der Einrichtung<br />
und Bewerbung eines Call-Centers<br />
zu erhöhen. Der Werbeausschuss<br />
der Arbeitsgemeinschaft, besetzt durch<br />
die Kollegen Elsner (Vorsitzender),<br />
Hillmann, Dr. Hörl, Roth und Stiewe,<br />
hat Beachtliches geleistet. Die Werbeaktivitäten<br />
der Arbeitsgemeinschaft<br />
hatten begonnen als Bewerbung eines<br />
Telefon-Call-Centers zur Vermittlung<br />
von Anwälten. Die Bewerbung der<br />
Rufnummer des Telefon-Call-Centers<br />
ist inzwischen aus dem Vordergrund<br />
der Werbung herausgerückt. Auch vor<br />
dem Hintergrund der beabsichtigten<br />
Novellierung des Rechtsberatungsgesetzes<br />
hat der Werbeausschuss entschieden,<br />
eine allgemeine Imagewerbung<br />
für die im Verkehrsrecht tätige<br />
Anwaltschaft durchzuführen.<br />
Zentraler Punkt der Werbemaßnahmen<br />
ist der Internetauftritt der Arbeitsgemeinschaft,<br />
dessen Neugestaltung<br />
wir Ihnen bei der letzten Mitgliederversammlung<br />
vorgestellt haben. Die<br />
Besucherzahlen auf unserer Internetseite<br />
haben sich seit dem Neuauftritt<br />
von 6.700 Besuchern im April 2004<br />
mit über 27.000 mehr als vervierfacht.<br />
Besonders interessieren wird Sie, dass<br />
die auf der Internetseite enthaltene Anwaltsuchfunktion,<br />
bei der ausschließlich<br />
die Mitglieder unserer Arbeitsgemeinschaft<br />
benannt werden,<br />
monatlich über 8.000 x von Interessierten<br />
aufgerufen wird. Hinweisen<br />
möchte ich noch auf das Forum, in<br />
dem interessierte und potenzielle Mandanten<br />
die Möglichkeit haben, Fragen<br />
zu stellen und eine erste Einschätzung<br />
von einem Verkehrsanwalt zu erhalten.<br />
Dieses Forum kann und soll keine qualifizierte<br />
Rechtsberatung ersetzen. Die<br />
Interessierten, die sich hier gut aufgehoben<br />
finden, werden aber im Falle<br />
eines wirklichen Problems wieder auf<br />
unsere Seite zurückkehren und dann<br />
den wirklichen Rechtsrat eines unserer<br />
Mitglieder in Anspruch nehmen.<br />
Eine neue Strategie im Bereich der<br />
Werbung ist die direkte Einbeziehung<br />
des Kfz-Gewerbes. Den unmittelbar<br />
vom Schadensmanagement der Versicherer<br />
betroffenen Betrieben des<br />
Kfz-Gewerbes kann am besten dadurch<br />
geholfen werden, dass die Unfallgeschädigten<br />
zur Schadenregulierung<br />
einen Anwalt einschalten. Nur<br />
dann, wenn der Geschädigte umfassend<br />
über seine Rechte aufgeklärt ist,<br />
wird es den Versicherern nicht möglich<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Aus der Arbeit des DAV<br />
sein, die Fahrzeuge zur Reparatur in<br />
ihre Partnerwerkstätten zu lenken und<br />
auch ansonsten die Rechte der Geschädigten<br />
zu beschneiden.<br />
Pressearbeit<br />
Ein weiterer Bereich der Öffentlichkeitsarbeit<br />
ist die Pressearbeit der<br />
Arbeitsgemeinschaft. Der regelmäßig<br />
12x im Jahr erscheinende Pressedienst,<br />
hat zu einer hervorragenden Medienpräsenz<br />
der Arbeitsgemeinschaft<br />
geführt. Die im Pressedienst als Verbrauchertipps<br />
aufbereiteten Urteile<br />
werden besonders von regional erscheinenden<br />
Zeitungen sehr gerne<br />
übernommen. Wie auch in den Vorjahren<br />
hat die Arbeitsgemeinschaft den<br />
Verkehrsgerichtstag 2004 in Goslar<br />
mit einer umfangreichen Pressearbeit<br />
begleitet. Zu den verschiedenen Arbeitskreisen<br />
des Verkehrsgerichtstags<br />
wurden insgesamt 6 Pressemitteilungen<br />
herausgegeben. Welche Beachtung<br />
unser Presseservice findet, zeigt unsere<br />
Presseerklärung „Vorsicht bei<br />
Hinweisen auf Bußgeldbescheiden“,<br />
die dazu geführt, dass das Thüringische<br />
Innenministerium die irreführenden<br />
Erläuterungen auf seinen Bußgeldbescheiden<br />
geändert hat.<br />
Zusammenarbeit mit<br />
Sachverständigen<br />
In den vergangenen Jahren wurde<br />
an dieser Stelle (vgl. AnwBl 2002,<br />
585 ff.) auf die besorgniserregende<br />
Entwicklung in der Verbandsführung<br />
des Bundesverbandes der freiberuflichen<br />
und unabhängigen Sachverständigen<br />
für das Kraftfahrzeugwesen<br />
(BVSK) hingewiesen, die – namentlich<br />
wegen der der BGH-Rechtsprechung<br />
zuwiderlaufenden BVSK-Richtlinie –<br />
nicht ohne Auswirkungen auf die Gutachtenerstellung<br />
durch BVSK-Sachverständige<br />
geblieben ist.<br />
Die Unterlassungsklage mit der sowohl<br />
der BVSK als auch sein Präsident<br />
dem Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft,<br />
Justizrat Gebhardt,<br />
unter anderem die Aussage verbieten<br />
lassen wollten, BVSK-Gutachter, die<br />
den Empfehlungen ihres Verbandes<br />
folgten, könnten nicht als unabhängige<br />
Gutachter angesehen werden, hat das<br />
Landgericht Berlin mit Urteil vom<br />
20.2.2003 abgewiesen.<br />
Besonders aufschlussreich ist ein<br />
Zitat aus den Urteilsgründen: „Die<br />
Kläger stellen vorliegend nicht in Abrede,<br />
mit der von ihnen herausgegebenen<br />
Restwertrichtlinie, nach der Kraftfahrzeugsachverständige<br />
bei der Überprüfung<br />
und Bewertung der Angebote
AnwBl 8 + 9/2004 495<br />
Aus der Arbeit des DAV MN<br />
des relevanten allgemeinen Marktes<br />
Angebote aus dem Bereich des Sondermarktes<br />
berücksichtigen soll, von<br />
der ständigen BGH-Rechtsprechung<br />
abzurücken, nach der der Sachverständige<br />
den Wert auf dem allgemeinen<br />
Markt, nicht dagegen auf einem Sondermarkt<br />
durch spezialisierte Restwerteaufkäufer<br />
zu ermitteln hat (vgl.<br />
BGH NJW 1993, 1849, 1850; NJW<br />
2000, 800, 801)“.<br />
Die von den beiden Klägern eingelegte<br />
Berufung haben sie zwischenzeitlich<br />
zurückgenommen. In dem von<br />
BVSK-Geschäftsführer Fuchs persönlich<br />
angestrengten weiteren Klageverfahren<br />
wurde ein Vergleich mit einem<br />
Inhalt geschlossen, der mit den<br />
ursprünglichen Unterlassungsanträgen<br />
nichts mehr zu tun hatte. Die Kosten<br />
trug freilich Herr Fuchs.<br />
Wie berechtigt unsere Warnungen<br />
sind, zeigt schließlich auch die neuere<br />
Entwicklung: Derzeit versuchen Versicherer<br />
und BVSK über den so genannten<br />
Mobile.de-Marktpreis erneut<br />
die Rechtsprechung des BGH anzugreifen.<br />
Über Internet-Marktpreise soll<br />
jetzt der Geschädigte auf Wiederbeschaffungswerte<br />
verwiesen werden,<br />
die er beim Gebrauchtwagenhändler<br />
seiner Region regelmäßig nicht realisieren<br />
kann. Gutachten von BVSK-<br />
Sachverständigen, die sich an den<br />
Empfehlungen ihres Verbandes orientieren,<br />
müssen deshalb nach wie vor<br />
besonders kritisch betrachtet werden.<br />
Im Zusammenhang mit dem BVSK<br />
lässt ein weiterer Vorgang aufhorchen:<br />
Vor kurzem wurden die Mitarbeiter<br />
der GTÜ Stuttgart angewiesen, dort<br />
eingehende Aufträge für Schadensgutachten<br />
direkt an die Schadensschnellhilfe<br />
weiterzuleiten. Diese Anweisung<br />
erfolgte auf einstimmigen Gesellschafterbeschluss;<br />
bekanntlich ist eine<br />
BVSK-Tochter eine der drei GTÜ-Gesellschafter.<br />
Auf die enge Verbindung<br />
führender BVSK-Mitglieder zu den<br />
von Versicherungsunternehmen beherrschtenSchadensschnellhilfestationen<br />
hatten wir bei anderer Gelegenheit<br />
bereits hingewiesen.<br />
E-Mail-Newsletter<br />
Im Berichtsjahr hat die Arbeitsgemeinschaft<br />
ihre Aktivitäten im Bereich<br />
der modernen elektronischen Kommunikation<br />
verstärkt. Seit Mai 2004<br />
erhalten die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft,<br />
monatlich das E-Mail-<br />
Newsletter der Arbeitsgemeinschaft<br />
„Verkehrsanwälte Info“. Der Newsletter<br />
informiert kurz über aktuelle Entschei-<br />
dungen, über Neuigkeiten rund um das<br />
Verkehrsrecht und die Arbeitsgemeinschaft.<br />
Wenn Sie diesen Newsletter noch<br />
nicht beziehen, können Sie ihn auf unserer<br />
Internetseite www.verkehrsrecht.de<br />
in der Rubrik Newsletter bestellen. Neben<br />
Rechtsanwälten wird der Newsletter<br />
von der Presse, dem ADAC, dem AvD<br />
sowie verschiedenen Versicherungen<br />
und Sachverständigenorganisationen<br />
gerne gelesen. Der Newsletter gibt uns<br />
die Möglichkeit, auf sehr kostengünstigem<br />
Wege sehr schnell Informationen<br />
auszutauschen. Wie die gesamte Tätigkeit<br />
der Arbeitsgemeinschaft lebt auch<br />
der Newsletter von der Mitarbeit der in<br />
der Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossenen<br />
Kolleginnen und Kollegen.<br />
Empfehlung zur Abwicklung<br />
von Kfz-Haftpflichtschäden<br />
(Modell Gebhardt/Greißinger)<br />
Mit dem In-Kraft-Treten des<br />
Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes zum<br />
1. Juli 2004 werden die genannten Abrechnungsvorschläge<br />
obsolet. Die dortige<br />
Gebührenpauschalisierung beruht<br />
auf den Regelungen der BRAGO. Eine<br />
direkte Übertragung der 15/10 bzw.<br />
1,5 Pauschalgebühr erscheint gerade<br />
vor dem Hintergrund der künftigen Einigungsgebühr,<br />
die erheblich weiter<br />
als die bisherige Vergleichsgebühr gefasst<br />
ist, aber auch der Tatsache, dass<br />
künftig die Geschäftsgebühr nur teilweise<br />
auf die Verfahrensgebühr angerechnet<br />
wird, als für die Anwaltschaft<br />
untragbar. Wir führen zwar Gespräche<br />
mit dem Ziel zu einer Nachfolgeregelung<br />
zu kommen, eine solche wird jedoch<br />
erst dann möglich sein, wenn auf<br />
beiden Seiten ausreichende Erfahrung<br />
mit dem neuen Gesetz besteht.<br />
25-jähriges Jubiläum der<br />
Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht<br />
In diesem Jahr feiert die Arbeitsgemeinschaft<br />
Verkehrsrecht ihr 25-jähriges<br />
Bestehen; sie wurde 1979 während<br />
eines Verkehrsrechtslehrganges in Meran<br />
gegründet. Ein solches Jubiläum<br />
gibt gleichzeitig auch Gelegenheit zu einem<br />
Ausblick: Wir haben im Geschäftsführenden<br />
Ausschuss gerade erst mit einem<br />
Generationswechsel begonnen der<br />
bald abgeschlossen sein wird. Dennoch<br />
sind wir davon überzeugt, dass die<br />
Schwerpunkte der Arbeitsgemeinschaft<br />
auch in Zukunft Fortbildung, Fachanwaltschaft<br />
und Gemeinschaftswerbung<br />
sein werden. In diesem Sinne, auf<br />
weitere 25 erfolgreiche Jahre!<br />
Rechtsanwalt JR Hans-Jürgen<br />
Gebhardt, Homburg/Saar<br />
ARGE Mietrecht und WEG<br />
Mietrecht, Mietprozess<br />
und Reformbedarf im<br />
Wohnungseigentumsrecht<br />
Die ARGE Mietrecht und WEG im<br />
Deutschen <strong>Anwaltverein</strong> veranstaltet seit<br />
einigenJahrenimRahmendesAnwaltstages<br />
ihre Frühjahrstagung und die Jahresmitgliederversammlung.<br />
Am 20. Mai<br />
2004 war in den 55. Deutschen Anwaltstag<br />
in Hamburg integriert ein Fachprogramm<br />
für etwa 100 Teilnehmer mit zwei<br />
Vorträgen und dem „Rechtsprechungsfenster<br />
für Miet- und WEG-Recht“.<br />
Dr. Werner Hinz, Richter am Amtsgericht<br />
aus Pinneberg begann den Reigen<br />
mit dem Thema „Mietrecht und<br />
Mietprozess – die häufigsten Fehler“.<br />
Der Vortrag befasste sich mit einer Reihe<br />
typischer Fehlerkonstellationen aus dem<br />
Mietrecht und dem Mietprozessrecht.<br />
Behandelt wurden u. a. die Bereiche:<br />
Mieterhöhung bis zur ortsüblichen Vergleichmiete,<br />
Vertragsklauseln über<br />
Schönheitsreparaturen, Formalien der<br />
ordentlichen und der außerordentlichen<br />
Kündigung. Auch Probleme aus dem<br />
Prozessrecht, etwa der Umfang der gerichtlichen<br />
Hinweispflicht und die Berufungszulassung,<br />
wurden thematisiert.<br />
Nach der einstündigen ordentlichen<br />
Mitgliederversammlung referierte am<br />
Nachmittag Professor Dr. Armbrüster<br />
von der Freien Universität Berlin zum<br />
Thema „Reformbedarf im Wohnungseigentumsrecht?“.<br />
Anlass für diese<br />
Themenstellung sind eine Vielzahl von<br />
Problemen aus der bisherigen Gesetzeslage<br />
und Novellierungsbestrebungen im<br />
Bundesjustizministerium.<br />
Im „Rechtsprechungsfenster zum<br />
Miet- und WEG-Recht“ informierten<br />
Rechtsanwalt Dr. Michael Drasdo zu<br />
aktuellen Entscheidungen im WEG-<br />
Recht und Rechtsanwalt Jan-Hendrik<br />
Schmidt sowie Rechtsanwalt Hans-<br />
Christian Schwarzmeier, zu mietrechtlichen<br />
und sonstigen Themen.<br />
Im Vorfeld der Tagung kamen die<br />
Mitglieder des Geschäftsführenden<br />
Ausschusses in Hamburg zusammen<br />
und besprachen die wichtigsten Themen<br />
(Fachanwaltsbezeichnung, Namensführung)<br />
und die Vorbereitung der nächsten<br />
Veranstaltungen in Würzburg (Herbsttagung<br />
2004 am 24./25.9.2004), Dresden<br />
(Frühjahrstagung und MV 2005 im<br />
Rahmen des 56. DAT im Mai 2005) und<br />
Potsdam (Herbsttagung 2005 am<br />
23./24.9.2005).<br />
Rechtsanwalt Udo Henke, Berlin
496<br />
MN<br />
AG Sozialrecht<br />
Einladung zur<br />
Mitgliederversammlung<br />
und Herbsttagung 2004<br />
Der Geschäftsführende Ausschuss<br />
der Arbeitsgemeinschaft Sozialrecht<br />
im DAV lädt alle Mitglieder ein zur<br />
Herbsttagung am 5. und 6. November<br />
2004 und zur Mitgliederversammlung<br />
am Freitag, den 5. November 2004,<br />
11.00 Uhr, in Aachen, Dorint Hotel<br />
Quellenhof, Monheimsallee 52, 52062<br />
Aachen.<br />
Vorschlag zur Tagesordnung:<br />
TOP 1 Geschäftsbericht des Geschäftsführenden<br />
Ausschusses<br />
TOP 2 Bericht des Schatzmeisters<br />
TOP 3 Bericht des Kassenprüfers<br />
TOP 4 Allgemeine Aussprache zu<br />
1–3<br />
TOP 5 Entlastung des Geschäftsführenden<br />
Ausschusses<br />
TOP 6 Neuwahl des Geschäftsführenden<br />
Ausschusses<br />
TOP 7 Wahl eines Kassenprüfers<br />
TOP 8 Festsetzung des Mitgliedsbeitrages<br />
TOP 9 Verschiedenes<br />
Anträge von Mitgliedern sind auf<br />
die Tagesordnung zu setzen, wenn sie<br />
spätestens 21 Tage vor der Mitgliederversammlung<br />
dem geschäftsführenden<br />
Ausschuss vorliegen und von mindestens<br />
10 Mitgliedern unterstützt werden.<br />
Bitte richten Sie die Anträge an<br />
den Deutschen <strong>Anwaltverein</strong> Arbeitsgemeinschaft<br />
Sozialrecht, Littenstr. 11,<br />
10179 Berlin<br />
Herbsttagung<br />
Folgenden Themen für die Herbsttagung<br />
sind vorgesehen:<br />
9 „Übergangsrecht bei Reformen“,<br />
Richter am BSG Dr. Rainer Schlegel<br />
9 „Das neue Gebührenrecht“, Rechtsanwältin<br />
Bettina Schmidt, Bonn<br />
9 „Beurteilungskriterien für die Erwerbsminderung<br />
unterer Berücksichtigung<br />
von Belastungstests“, Dr.<br />
med. Michael Körner, Münster<br />
9 „Kündigung von Betriebsrenten –<br />
Rechtschutzmöglichkeiten, Vertrauens-<br />
und Bestandsschutz“, Richter<br />
am Bundesarbeitsgericht Klaus<br />
Bepler, Erfurt<br />
9 „Patientenrechte“, Rechtsanwältin<br />
Sabine Vollrath, Kiel<br />
9 „Anwaltliches Marketing – Neue<br />
Beratungsfelder“<br />
– Krankenhausrecht, Rechtsanwältin<br />
Bettina Schmidt, Bonn<br />
– Heimrecht, Rechtsanwalt Ronald<br />
Richter, Hamburg<br />
– Jugendhilfe SGB VIII, Rechtsanwalt<br />
Michael Klatt, Oldenburg<br />
Der Teilnehmerbeitrag beträgt für<br />
Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft<br />
Sozialrecht oder anderer Arbeitsgemeinschaften<br />
des DAV einschließlich<br />
des Forums Junge Anwaltschaft 220,–<br />
EURO, für Mitglieder des DAV 300,–<br />
EURO und für sonstige Teilnehmer<br />
370,– EURO.<br />
Anmeldungen und Anfragen für die<br />
Herbsttagung sind zu richten an das<br />
Veranstaltungsbüro der AG Sozialrecht<br />
bei der Deutschen Anwaltakademie,<br />
Frau Anja Hoffmann, Littenstraße 11,<br />
10179 Berlin, Tel.: 0 30 / 72 61 53 -1 83,<br />
Fax.: 0 30 / 72 61 53 - 1 88.<br />
AG Strafrecht<br />
Mitgliederversammlung<br />
beim Strafverteidiger-<br />
Kolloquium<br />
Das diesjährige Strafverteidiger-<br />
Kolloquium findet am 12. und 13. November<br />
2004 in München statt. Tagungshotel<br />
ist das Arabella Sheraton<br />
GrandHotel, Arabellastr. 6, 81925<br />
München. Dort findet am Freitag,<br />
12. November 2004 ab 17.30 Uhr die<br />
Mitgliederversammlung statt, zu der<br />
der Geschäftsführende Ausschuss der<br />
Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des<br />
Deutschen <strong>Anwaltverein</strong> seine Mitglieder<br />
hiermit herzlich einlädt.<br />
Der Geschäftsführende Ausschuss<br />
gibt die Tagesordnung wie folgt bekannt:<br />
1. Begrüßung durch den Vorsitzenden<br />
des Geschäftsführenden Ausschusses<br />
2. Tätigkeitsbericht des Vorsitzenden<br />
3. Kassenbericht des Schatzmeisters<br />
4. Prüfungsbericht des Kassenprüfers<br />
5. Diskussion des Tätigkeitsberichtes<br />
und des Kassenberichtes<br />
6. Entlastung des Vorstandes<br />
7. Wahl des Geschäftsführenden Ausschusses<br />
8. Wahl des Kassenprüfers<br />
9. Verschiedenes.<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Aus der Arbeit des DAV<br />
AG Familien- und Erbrecht<br />
Einladung zur<br />
Mitgliederversammlung<br />
und Herbsttagung 2004<br />
Vom 25. bis 27. November 2004<br />
findet die Mitgliederversammlung und<br />
Herbsttagung der Arbeitsgemeinschaft<br />
Familien- und Erbrecht in Augsburg<br />
statt. Tagungsort sind die Kongresshalle<br />
Augsburg und das direkt daneben<br />
liegende Dorint Hotel.<br />
Die Herbsttagung beginnt am Donnerstag<br />
mit einem Streitgespräch über<br />
den Einfluss verfassungsrechtlicher<br />
Entscheidungen auf das Familien- und<br />
Erbrecht. Sie wird fortgesetzt mit parallel<br />
stattfindenden Themen zum Erbund<br />
zum Familienrecht. Der Freitag<br />
steht ganz unter dem Motto der „beruflichen<br />
und wirtschaftlichen Situation<br />
der Rechtsanwälte im Familienund<br />
Erbrecht“. Das Thema wird in einem<br />
Referat und insgesamt drei Workshops<br />
behandelt. Die Aktuelle Stunde<br />
am Samstag befasst sich mit „Eheverträgen“.<br />
Eine Anzeige mit dem vorläufigen<br />
Programm finden Sie in AnwBl 7/04;<br />
eine weitere Anzeige mit dem ergänzten<br />
Programm werden Sie in AnwBl<br />
10/04 finden. Für die Teilnahme an der<br />
Herbsttagung wird eine Bescheinigung<br />
gem. § 15 FAO über 10 Stunden erteilt.<br />
Der Geschäftsführende Ausschuss<br />
der Arbeitgemeinschaft lädt hiermit<br />
zur Mitgliederversammlung ein, die<br />
am Samstag, 27. November 2004,<br />
11.30 Uhr im Dorint Hotel Augsburg,<br />
Imhofstraße 12, 86159 Augsburg,<br />
0821/50 14 0, Fax 0821/ 59 74 100,<br />
stattfinden wird und gibt die Tagesordnung<br />
wie folgt bekannt:<br />
TOP 1 Geschäftsbericht des Geschäftsführenden<br />
Ausschusses<br />
TOP 2 Bericht des Schatzmeisters<br />
TOP 3 Bericht der Kassenprüferin<br />
TOP 4 Berichte<br />
tragten<br />
der Regionalbeauf-<br />
TOP 5 Aussprache<br />
TOP 6 Entlastung des Geschäftsführenden<br />
Ausschusses<br />
TOP 7 Wahl der Kassenprüferin/des<br />
Kassenprüfers<br />
TOP 8 Verschiedenes.
AnwBl 8 + 9/2004 497<br />
Aus der Arbeit des DAV MN<br />
Personalien<br />
Ehrung für Dr. h.c.<br />
Ludwig Koch<br />
Rechtsanwalt Dr. h.c. Ludwig<br />
Koch, Vorstand der Hans-Soldan-Stiftung<br />
und langjähriger Präsident des<br />
Deutschen <strong>Anwaltverein</strong>s, wurde am<br />
15. Juni 2004 aus Anlass seines 70.<br />
Geburtstages mit einem berufsrechtlichen<br />
Symposion geehrt. Die Rechts-<br />
Rechtsanwalt Dr.<br />
h. c. Ludwig Koch<br />
wurde im Juni 70<br />
Jahre alt.<br />
wissenschaftliche Fakultät der Universität<br />
zu Köln, die Dr. h. c. Koch im<br />
Jahr 1998 aufgrund seiner Verdienste<br />
um das Anwaltsrecht und die anwaltsbezogene<br />
Juristenausbildung mit der<br />
Ehrendoktorwürde ausgezeichnet hat,<br />
richtete die Veranstaltung gemeinsam<br />
mit dem Institut für Anwaltsrecht an<br />
der Universität zu Köln aus. Die Anwesenheit<br />
zahlreicher Weggefährten<br />
Dr. h. c. Ludwig Kochs aus dem Kollegenkreis,<br />
aus Verbänden, Kammern,<br />
der Wissenschaft und Ministerien<br />
spiegelte die fachliche und persönliche<br />
Wertschätzung, die der Jubilar genießt,<br />
eindrucksvoll wider.<br />
Das Fachprogramm, das nach Grußworten<br />
des Dekans der Rechtswissenschaftlichen<br />
Fakultät, Prof. Dr. Hanns<br />
Prütting, des Aufsichtsratsvorsitzenden<br />
der Hans-Soldan Stiftung, Hans-Georg<br />
Curtze und durch Dr. Bernd Hirtz für<br />
das Institut für Anwaltsrecht mit einer<br />
Laudatio des DAV Präsidenten Hartmut<br />
Kilger eröffnet wurde, griff einen<br />
Teil der breit gefächerten berufsrechtlichen<br />
Interessen des Jubilars auf: Prof.<br />
Dr. Barbara Grunewald sprach zur anwaltlichen<br />
Unabhängigkeit und damit<br />
zu einem Thema, das Koch als Kommentator<br />
der einschlägigen Vorschriften<br />
im BRAO-Kommentar Henssler/<br />
Prütting seit vielen Jahren beschäftigt.<br />
Prof. Dr. Martin Henssler referierte zu<br />
„Anwalt und Europa“ und jüngsten<br />
Entwicklungen auf europarechtlicher<br />
Ebene – eine Thematik, die dem Jubilar<br />
als Mitbegründer des Dokumentationszentrums<br />
für Europäisches Anwalts-<br />
und Notarrecht an der<br />
Universität zu Köln gewidmet war.<br />
Prof. Dr. Christoph Hommerich, Vorstand<br />
des Soldan-Instituts für Anwaltmanagement,<br />
das von Dr. h.c. Koch<br />
zur Förderung der rechtstatsächlichen<br />
Anwaltsforschung mit aus der Taufe<br />
gehoben worden ist, beleuchtete den<br />
Modernisierungszwang, unter dem die<br />
Anwaltschaft steht. Prof. Dr. Hanns<br />
Prütting griff in seinem abschließenden<br />
Beitrag „Die Reform des Rechtsberatungsgesetzes“<br />
eine aktuelle Reformdiskussion<br />
auf, die Koch als<br />
Vorsitzender des Berufsrechtsausschusses<br />
viele Jahre kritisch begleitet hat<br />
(die Fachbeiträge des Symposions sind<br />
in diesem Heft des <strong>Anwaltsblatt</strong>s auf<br />
den Seiten 453 bis 469 abgedruckt).<br />
Rechtsanwalt Dr. Matthias Kilian,<br />
Köln<br />
Neue Vorsitzende in den<br />
Ortsvereinen<br />
<strong>Anwaltverein</strong> Frankreich: Neue<br />
Vereinsvorsitzende ist<br />
Rechtsanwältin Dr. Jutta<br />
Laurich, Bordeaux, die<br />
Rechtsanwalt Heinz<br />
Weil, Paris, ablöst.<br />
<strong>Anwaltverein</strong> Gifhorn: Rechtsanwältin<br />
Christine Engel,<br />
Gifhorn, hat den<br />
Vorsitz übernommen.<br />
Sie löst damit Rechtsanwältin<br />
und Notarin<br />
Elisabeth Winzer, Gifhorn, nach siebenjähriger<br />
Amtszeit ab.<br />
Herforder Anwaltsverein: Rechtsanwalt<br />
Manfred Utesch<br />
aus Herford wurde zum<br />
neuen Vereinsvorsitzenden<br />
gewählt. Sein Vorgänger<br />
war Rechtsanwalt<br />
Achim Depenbrock, Herford,<br />
der den Verein sieben Jahre führte.<br />
Cottbuser <strong>Anwaltverein</strong>: Rechtsanwalt<br />
Bengt Kanzler, Vetschau, hat<br />
seinen Vorgänger Rechtsanwalt Ulrich<br />
Böhme, Cottbus, als Vereinsvorsitzenden<br />
abgelöst.<br />
Auszeichnung von<br />
Anwälten<br />
Der Bundespräsident hat Herrn<br />
Rechtsanwalt und Notar Friedrich Carl<br />
Rein, München, das Verdienstkreuz<br />
1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik<br />
Deutschland verliehen.<br />
Der Bundespräsident hat Herrn<br />
Rechtsanwalt und Notar Michael<br />
Pappe, Haifa, das Verdienstkreuz am<br />
Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik<br />
Deutschland verliehen.<br />
Der Bundespräsident hat Herrn<br />
Rechtsanwalt Klaus Zehner, Fürstenzell,<br />
das Verdienstkreuz am Bande des<br />
Verdienstordens der Bundesrepublik<br />
Deutschland verliehen.<br />
Der Bundespräsident hat Frau<br />
Rechtsanwältin Frauke Ancker,<br />
München, das Verdienstkreuz am<br />
Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik<br />
Deutschland verliehen.<br />
Der Bundespräsident hat Herrn<br />
Rechtsanwalt Dr. Heinz-Siegmund<br />
Thieler, Dortmund, das Verdienstkreuz<br />
am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik<br />
Deutschland verliehen.<br />
Dr. Ullrich Kirchhoff geehrt<br />
Für seine Verdienste um die berufsständische<br />
Versorgung wurde der Vorsitzende<br />
der Arbeitsgemeinschaft BerufsständischerVersorgungseinrichtungen<br />
(ABV) Rechtsanwalt Dr. jur.<br />
Ulrich Kirchhoff (Hannover) mit dem<br />
Verdienstkreuz am Bande des niedersächsischen<br />
Verdienstordens ausgezeichnet.<br />
Seiner Initiative war wesentlich<br />
die Gründung der Rechtsanwaltsversorgung<br />
Niedersachsen zu verdanken.<br />
BFB ehrt Rechtsanwalt<br />
Der Bundesverband der Freien Berufe<br />
(BFB) hat den langjährigen Europaparlamentarier<br />
Rechtsanwalt Willi<br />
Rothley aus Rheinland-Pfalz mit seiner<br />
höchsten Ehrung, der Wilhelm von<br />
Humboldt-Plakette, ausgezeichnet. Der<br />
BFB würdigt damit – wie es in einer<br />
Presseerklärung heißt – den Einsatz des<br />
Sozialdemokraten für die Grundprinzipien<br />
der Freiberuflichkeit. Rothley gehörte<br />
dem Europäischen Parlament seit<br />
1979 an, hatte bei der jüngsten Wahl im<br />
Juni aber nicht mehr kandidiert.<br />
Neues Amt<br />
Rechtsanwalt und Notar Dr. Ulrich<br />
Scharf ist als erster deutscher Rechtsanwalt<br />
zum Präsidenten des Verbandes<br />
Europäischer Rechtsanwaltskammer<br />
(FBE) gewählt worden. Scharf ist<br />
Präsident der Rechtsanwaltskammer<br />
Celle und Vizepräsident der BRAK.<br />
Geburtstag<br />
Rechtsanwalt Adolf Mayer ist am<br />
27. Juli 2004 80 Jahre alt geworden.<br />
Mayer war nach der Wiedergründung<br />
des Pirmasenser <strong>Anwaltverein</strong>s 1955<br />
längere Zeit Mitglied des Vorstandes.
498<br />
MN DAV-ANWALTAUSBILDUNG<br />
Ausbilden zum Anwalt:<br />
wichtig und richtig<br />
Warum eine Kanzlei an der DAV-Anwaltausbildung teilnimmt –<br />
ein Erfahrungsbericht<br />
Rechtsanwalt Heinrich Potthast, Köln<br />
Die Anwaltschaft ist auf guten<br />
Nachwuchs angewiesen. Deshalb gibt<br />
es die DAV-Anwaltausbildung. Auf dem<br />
55. Deutschen Anwaltstag in Hamburg<br />
hat ein Anwalt berichtet, warum er<br />
nach DAV-Ausbildungskonzept Referendare<br />
betreut. Das <strong>Anwaltsblatt</strong> dokumentiert<br />
den Beitrag aus der Veranstaltung<br />
„Zukunft der Anwaltschaft“<br />
(siehe AnwBl 2004, 411 ff.).<br />
Seit über 20 Jahren bilde ich Referendare<br />
im Rahmen ihrer Anwaltsstage<br />
aus. Fast immer beschränkte sich diese<br />
Ausbildung in der Erstellung von den<br />
notwendigen Pflichtarbeiten und der<br />
Übertragung von einigen wenigen stets<br />
unproblematischen Terminswahrnehmungen.<br />
Selbstkritisch muss man sagen,<br />
dass diese „Ausbildung“ nicht geeignet<br />
ist, Referendare auf den<br />
Anwaltsberuf vorzubereiten. Warum ist<br />
es also erforderlich, sich am DAV-Ausbildungskonzept<br />
zu beteiligen?<br />
Rechtsberatungsgesetz<br />
Wie wir alle wissen, steht das<br />
Rechtsberatungsgesetz zur Überprüfung.<br />
Das in weiten Bereichen für Anwälte<br />
geltende Beratungsmonopol und<br />
die Prozessvertretung wird zukünftig<br />
deshalb auch anderen Berufen eröffnet<br />
sein. Es steht uns also ein erweiteter<br />
Wettbewerb mit anderen Berufssparten<br />
bevor und wir werden uns als Anwälte<br />
in diesem Wettbewerb nur behaupten<br />
können, wenn wir unseren möglichen<br />
Kunden nachvollziehbar unter Beweis<br />
stellen, dass sie in Rechtsangelegenheiten<br />
durch Rechtsanwälte wesentlich<br />
qualifizierter beraten und vertreten<br />
werden als durch die nichtanwaltliche<br />
Konkurrenz. Negative Erfahrungen<br />
mit einem Anwalt publizieren sich<br />
zehnmal häufiger und schneller als positive<br />
Erfahrungen. Dies ist statistisch<br />
erwiesen. Es darf also gar nicht erst zu<br />
negativen Erfahrungen mit Anwälten<br />
kommen. Nur qualifiziert und gut ausgebildete<br />
Anwälte können diesem Anspruch<br />
gerecht werden. Ein junger Anwalt,<br />
der ohne eine qualifizierte<br />
Rechtsanwal Heinrich Potthast ...<br />
Ausbildung ins kalte Wasser geworfen<br />
wird, wird zwangsläufig auf Kosten<br />
der Mandanten „aus Fehlern lernen“.<br />
Wie die Anwaltschaft dann vor dem<br />
Mandanten dasteht, brauche ich nicht<br />
näher auszuführen. Die Sicherung der<br />
Qualität der Rechtsberatung liegt also<br />
in unserem ureigensten Interesse.<br />
Eigener Nachwuchs<br />
In allen Anwaltsbüros steht irgendwann<br />
einmal die Frage der Einstellung<br />
neuer Mitarbeiter oder die Suche nach<br />
einem Nachfolger an. Auf eine Anzeige<br />
in den einschlägigen Fachzeitschriften<br />
folgen Bewerbungszuschriften<br />
im dreistelligen Bereich. Kleine<br />
oder mittlere Kanzleien können das<br />
Risiko der Einstellung mehrerer Kandidaten<br />
nicht eingehen, um dann nach<br />
einer gewissen Überprüfungszeit den<br />
geeigneten Kandidaten auszuwählen.<br />
Für solche Kanzleien ist deshalb die<br />
Auswahl aus der Vielzahl der Bewerbungen<br />
ein Lotteriespiel. Anwälte, die<br />
die DAV-Ausbildung vollzogen haben<br />
bieten jedoch in erheblichem Umfang<br />
eine Gewähr, dass sie nicht nur aus<br />
der Not heraus Anwalt werden wollen,<br />
sondern den Anwaltsberuf als ihr tatsächliches<br />
Berufsziel ansehen verbunden<br />
mit der dafür bereits nachgewiesenen<br />
Qualifikation. Das Risiko einer<br />
Fehlprognose bei einer solchen Ein-<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
stellung sinkt also ganz erheblich.<br />
Auch ist ein Ausbildungskollege, den<br />
man im Zweifelsfall vor der Einstellung<br />
anspricht viel besser geeignet, ein<br />
qualifiziertes Urteil abzugeben als ein<br />
Anwalt, der einen Referendar nur in<br />
der „normalen“ Stage irgendwann einmal<br />
kurz gesehen hat.<br />
Netzwerk<br />
Bei einer guten Ausbildung durch<br />
den DAV-Ausbilder stellen die ausgebildeten<br />
Referendare nach meiner<br />
Erfahrung sehr gute Werbeträger für<br />
die eigene Kanzlei dar. Das Argument,<br />
man bilde die zukünftige Konkurrenz<br />
aus und gefährde deshalb seine eigene<br />
berufliche Situation kann ich deshalb<br />
nicht nachvollziehen. Die von uns ausgebildeten<br />
Referendare werden im<br />
Zweifelsfall also Anwalt werden. In<br />
den Gebieten, in denen Sie anwaltlich<br />
nicht tätig sind, in Fällen der Interessenkollision<br />
usw. wird der junge Anwalt<br />
deshalb seine Mandanten gerne<br />
an die Kanzlei weiterempfehlen, die<br />
ihn ausgebildet hat. Dort weiß er, dass<br />
seine Mandanten gut aufgehoben sind.<br />
Aus meiner eigenen Erfahrung kann<br />
ich nur betonen, dass von mir ausgebildete<br />
Referendare, die heute in der<br />
Verwaltung, der Justiz oder gar in Anwaltsbüros<br />
sitzen, immer noch Mandate<br />
kommen, weil diese von mir<br />
früher ausgebildeten Referendare wissen,<br />
wen sie empfehlen.<br />
Unterstützung<br />
Die Referendarinnen und Referendare,<br />
die an der DAV-Ausbildung teilnehmen,<br />
sind schon sehr bald auch für<br />
das ausbildende Büro eine qualifizierte<br />
Hilfe. Anders als der „normale“ Referendar<br />
treten die nach unserem Modell<br />
ausgebildeten Referendare mit einem<br />
ganz anderen Engagement, mit einem<br />
wesentlich höheren Pflichtgefühl und<br />
schon sehr schnell mit dem von ihnen<br />
gelernten „Anwaltsdenken“ an ihre<br />
Arbeit heran. Die Teilnahme an Beratungen,<br />
Prozessterminen und dem<br />
sonstigen Anwaltsalltag zeigt dem Referendar<br />
sehr schnell, welche Denkweise,<br />
Organisation, welche Ziele und<br />
Strategien der Anwalt beherrschen<br />
muss, um erfolgreich zu arbeiten. Einem<br />
Referendar, der einige Monate in<br />
diesem Umfang im Büro mitgearbeitet<br />
hat, übertrage ich wesentlich sicherer<br />
und beruhigter eine Arbeit.
AnwBl 8 + 9/2004 499<br />
DAV-Anwaltsausbildung MN<br />
Kompetenz<br />
Die Auseinandersetzung mit dem<br />
Ausbildungscurriculum erhöht nicht zuletzt<br />
aber auch die eigene Kompetenz,<br />
auch der Lehrende lernt. Auch bei regelmäßiger<br />
Teilnahme an Weiterbildungsveranstaltungen<br />
ist es nicht auszuschließen,<br />
dass auch Anwälte<br />
irgendwann einmal betriebsblind werden<br />
und es kann nichts schaden, wenn<br />
man an bestimmte Ausbildungsinhalte<br />
noch einmal erinnert wird. Ich gebe zu,<br />
dass auch mir beim Studium des Curriculums<br />
einige Dinge in Erinnerung gerufen<br />
wurden, über die nachzudenken<br />
sich lohnt und die schon Gegenstand<br />
von Sozietätsbesprechungen waren.<br />
Verband<br />
Der DAV bildet aus. Der DAV hat ein<br />
qualifiziertes Ausbildungsmodell erstellt.<br />
Als Mitglied eines Ortsvereins<br />
... und seine DAV Anwaltsreferendarin<br />
Isabelle Leinbrock<br />
des DAV bin ich also ebenfalls gefordert,<br />
mich an der Tätigkeit des DAV zu<br />
beteiligen. Ich kann nicht nur die Funktionsträger<br />
arbeiten lassen und nachher<br />
an Fehlschlägen herummäkeln. Der<br />
DAV hat sich ein hohes Ziel gesetzt.<br />
Dieses Ziel kann nur erreicht werden,<br />
wenn die Mitglieder des DAV auch mitarbeiten.<br />
Insoweit halte ich es für eine<br />
Selbstverständlichkeit, als Mitglied des<br />
DAV dessen Arbeit zu unterstützen.<br />
Freude<br />
Ausbildung macht Spaß. Die Vermittlung<br />
von Wissen, von Erfahrungen,<br />
von Erlebnissen und Erkenntnissen beweist<br />
uns selber, welch wunderschönen<br />
Beruf wir haben. Wir setzen uns für<br />
Recht ein, wir helfen Menschen, wir<br />
helfen der Gemeinschaft. Wenn ein<br />
ausgebildeter Referendar diese Er-<br />
kenntnis und Motivation neben der<br />
fachlichen Qualifikation erlangt, so ist<br />
dies auch ein Erfolg des Ausbilders.<br />
Und Erfolg macht bekanntlich Spaß.<br />
Anwaltsausbildung<br />
Am Schluss möchte ich auf den allerwichtigsten<br />
Punkt hinweisen, den<br />
wir gar nicht genug betonen können.<br />
Die bisherige Ausbildung hatte als<br />
Ziel die Befähigung zum Richteramt.<br />
Dies war das Ergebnis des zweiten<br />
Staatsexamens. Die Befähigung zum<br />
Anwaltsberuf ist nirgendwo erwähnt<br />
gewesen.<br />
Wie wichtig diese Befähigung zum<br />
Anwaltsberuf ist, wissen wir alle. Wir<br />
dürfen die Ausbildung zum Rechtsanwalt<br />
nicht Richtern und Staatsanwälten<br />
oder gar der Verwaltung überlassen.<br />
Es gibt eine notwendige Ausbildung für<br />
die, die Rechtsanwalt werden wollen<br />
und diese Ausbildung können natürlich<br />
nur Rechtsanwälte erbringen. Wie oft<br />
würden wir es begrüßen, wenn der zu<br />
einer Entscheidung berufene Richter<br />
einmal vor seiner Richtertätigkeit für<br />
ein Jahr Anwalt gewesen wäre. In den<br />
wenigen Fällen, in denen dies so war,<br />
erntet man fast immer bei den Richtern<br />
mehr Verständnis für die Mandanten<br />
oder für die Tätigkeit als Anwalt. Selbst<br />
wenn also der nach dem DAV-Modell<br />
ausgebildete Referendar später nicht<br />
Anwalt sondern Richter wird, wird er<br />
die anwaltliche Tätigkeit aus einem<br />
ganz anderen Blickwinkel sehen, weil<br />
er diese anwaltliche Tätigkeit intensiv<br />
kennen gelernt hat.<br />
Schluss<br />
Immer noch sieht die weitaus überwiegende<br />
Zahl der Referendare den<br />
Anwaltsberuf nur als Notlösung für den<br />
Fall an, dass eine andere Stelle in Justiz<br />
oder Verwaltung nicht erreicht wird.<br />
Die ersten Erfahrungen mit der DAV-<br />
Ausbildung beweisen, dass die AbsolventInnen<br />
nach diesem Modell unvergleichlich<br />
bessere Berufsaussichten<br />
haben werden, nicht nur im Anwaltsberuf,<br />
sondern sicher auch in der Industrie<br />
und Justiz. Es bleibt abzuwarten, ob<br />
sich diese Prognose auch tatsächlich bewahrheitet,<br />
wenn ich aber meine „Ausbildung“<br />
zum Anwalt mit derjenigen<br />
des DAV-Modells vergleiche, so bin ich<br />
von der Richtigkeit überzeugt. Ich habe<br />
den Anwaltsberuf erst als bereits zugelassener<br />
Anwalt kennen gelernt und<br />
hätte sicherlich viel Lehrgeld gezahlt,<br />
wenn ich nicht in meinem damaligen<br />
Seniorpartner einen hervorragenden<br />
Ausbilder gehabt hätte.<br />
Informationen<br />
Punktgenau informiert<br />
mit dem Newsletter für<br />
DAV-Ausbildungskanzleien<br />
DAV-Ausbilderinnen und DAV-Ausbilder<br />
werden jetzt umfassend und aktuell<br />
über Neuigkeiten zur DAV-Anwaltausbildung<br />
informiert: Der<br />
Newsletter „DAV-Anwaltausbildung<br />
aktuell“ erscheint mehrmals jährlich.<br />
Themen waren bisher unter anderem<br />
„Warum DAV-Ausbildungskanzlei werden?“,<br />
„Der theoretische Kurs zur<br />
DAV-Anwaltausbildung“, „Ausbildung<br />
international“ oder „FAQ – häufig gestellte<br />
Fragen“. Kolleginnen und Kollegen,<br />
die in den Listen ausbildungsbereiter<br />
Kanzleien stehen, erhalten den<br />
Newsletter im pdf-Format per E-Mail.<br />
Die DAV-Anwaltausbildung<br />
9 12-monatige Praxisausbildung<br />
während des Referendariats<br />
9 Theoretischer Kurs zur DAV-Anwaltausbildung<br />
in Kooperation mit<br />
der FernUniversität Hagen<br />
9 Nach erfolgreichem Abschluss:<br />
das DAV-Ausbildungszertifikat<br />
Der Einstieg ist für Referendare und<br />
Kanzleien laufend möglich.<br />
Weitere Informationen: <strong>Deutscher</strong><br />
<strong>Anwaltverein</strong>, Rechtsanwalt Cord<br />
Brügmann (Sekretariat Frau Baehr),<br />
Tel.: 030-72 61 52-188, Fax: -163,<br />
anwaltausbildung@anwaltverein.de,<br />
www.dav-anwaltausbildung.de.
500<br />
MN<br />
9<br />
Anwalt – Priester – Arzt<br />
Die Sinnkrise der Institutionen<br />
geht auch an der Anwaltschaft nicht vorbei<br />
Alle sind sie Teil einer Institution<br />
und hehren Idealen verpflichtet. Der<br />
Priester ist Statthalter Gottes und hat<br />
kraft Berufung ein Amt, das – jedenfalls<br />
nach katholischem Verständnis –<br />
göttlichen Ursprungs ist. Der Arzt ist<br />
seit alters her dem hippokratischen Eid<br />
verpflichtet, Heilen und Fürsorgen ist<br />
sein Metier. Dem Anwalt wird kraft<br />
Gesetzes bescheinigt, aber auch als<br />
Pflicht auferlegt, dass er „Organ der<br />
Rechtspflege“ sei, Mittler zugunsten<br />
des Bürgers, dem Unrecht geschehen<br />
Rechtsanwalt Prof.<br />
Dr. Friedrich Graf<br />
von Westphalen ist<br />
Mitglied des Vorstandes<br />
des Deutschen<strong>Anwaltverein</strong>s.<br />
ist. Und es sind die essenziellen Werte<br />
des anwaltlichen Berufsstandes, die<br />
sein Bild zeichnen sollen: Die Unabhängigkeit,<br />
die Verschwiegenheit und<br />
das Gebot, keine widerstreitenden Interessen<br />
zu vertreten.<br />
Doch alle Institutionen, als deren<br />
Repräsentanten Anwalt, Priester oder<br />
Arzt in der Öffentlichkeit erscheinen,<br />
haben inzwischen mehr oder weniger<br />
nachhaltig ihre Sinnkrise erlebt. Sie<br />
sind brüchig geworden, weil der<br />
Bürger, geprägt von den Anforderungen<br />
des „Aufstandes der Massen“ (Ortega<br />
y Gasset) den langen Weg zur „Individualisierung<br />
der Massen“<br />
(Meinhard Miegel) zurückgelegt hat,<br />
an dessen Wegziel das „Ende des Individualismus“<br />
sich abzeichnet, wie die<br />
treffliche Zeitkritik von Miegel/Wahl<br />
lautet, mit dem – gültigen – Untertitel:<br />
„Die Kultur des Westens zerstört sich<br />
selbst“ (Bonn 1994). Und mit der Krise<br />
der Institution, mit dem Verlust der damit<br />
einhergehenden Amtsautorität ist<br />
ganz zwingend auch eine Einbuße der<br />
dem jeweiligen Amtsträger zufließenden<br />
Autorität, aber auch an fraglos ihm<br />
zuteil werdendem Vertrauen verbunden.<br />
Kaum ein Berufsstand erlebte dieses<br />
Zerbrechen der Institutionen, den<br />
Verlust an Ansehen und Prestige wie<br />
die Universitätslehrer. Gegenwärtig<br />
sind vor allem die Kirche und die in<br />
ihr dienenden Priester erfasst. Die erschreckend<br />
weiter sinkende Zahl der<br />
sonntäglichen Messbesuche ist hierfür<br />
ein untrügliches Indiz. Schon lange<br />
wird der Priester nicht mehr als Träger<br />
eines Weiheamtes verstanden, wertgeschätzt<br />
oder auch in dieser Funktion<br />
überhaupt noch gesehen. Es ist allein<br />
oder doch zumindest in erster Linie<br />
nur die Person des einzelnen Priesters,<br />
die – wenn denn überhaupt – Ansehen<br />
und Anerkennung kraft der seiner Person<br />
zufließenden Autorität erfährt, Vertrauen<br />
und Zuwendung eingeschlossen.<br />
Es ist eine Abstimmung mit den<br />
Füßen, die sich Sonntag für Sonntag in<br />
den Gemeinden vollzieht, weil die alles<br />
entscheidende Frage nur noch dahin<br />
lautet: Was nützt es mir, der Priester,<br />
der Gottesdienst, die Predigt und<br />
damit auch die Kirche, ihre caritativen<br />
Dienste eingeschlossen?<br />
In der Person des Arztes wird diese<br />
Diskrepanz zwischen Institution –<br />
staatliche Gesundheitsvorsorge – und<br />
dem Ansehen des einzelnen Mediziners<br />
auch sehr deutlich. Als Teil des<br />
staatlichen Gesundheitssystems hat der<br />
Arzt jegliche Anerkennung und auch<br />
fast jedes Prestige eingebüßt. In dem<br />
Dreieck zwischen Kassen, Pharmaindustrie<br />
und Politik ist seine Autorität<br />
weithin zerrieben worden; vor allem<br />
das Zerrbild des Funktionärs und des<br />
Lobbyisten überlebt hier. Derweilen<br />
konstatiert der Bürger missmutig, dass<br />
es offenbar zum staatlichen Gesundheitssystem<br />
und seinen horrenden Kosten<br />
keine preiswerte Alternative gibt.<br />
Doch der „Hausarzt“ vor Ort genießt<br />
Vertrauen, oft das ganz und gar uneingeschränkte<br />
Vertrauen seiner Patienten,<br />
erst recht der gefragte, der weithin<br />
gesuchte Spezialist. Und auch die Reputation<br />
eines Krankenhauses ist nur<br />
die Summe des Rufs der dort tätigen<br />
Ärzte, selektiv vor allem, keineswegs<br />
kollektiv für alle Krankheiten und<br />
Sparten gleichermaßen.<br />
Man mag darüber streiten, ob es<br />
einmal so etwas gab, was als Institution<br />
Anwaltschaft überhaupt zu erkennen<br />
war. Vielleicht früher einmal (sieht<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
man von der NS-Zeit einmal gründlich<br />
ab) war es anders: Der Anwalt wurde<br />
als Teil der „Rechtspflege“, als deren<br />
„Organ“, aber auch als Antipode der<br />
Justiz wahrgenommen. Daher war die<br />
anwaltliche Unabhängigkeit – lange<br />
umkämpft und als später Erfolg des<br />
Rechtsstaats gefeiert – immer auch<br />
und notwendigerweise Staatsferne,<br />
Gegnerschaft zum Staat und seinem<br />
Machtanspruch, der im Sinn des<br />
Rechts und des Gesetzes zugunsten<br />
des Bürgers zu mäßigen und zu maßregeln<br />
war. Inzwischen aber ist es offenkundig<br />
so, dass die Sinnkrise der<br />
Institutionen – Staat, Schule, Universität,<br />
Kirche, Familie und Ehe – auch<br />
an der Anwaltschaft nicht vorbeigegangen<br />
ist, sozusagen sie verschont<br />
hat. Diese Entwicklung freilich färbt<br />
unmittelbar auf das eigene Selbst- und<br />
Es geht um<br />
Fortbildungspflicht und<br />
Spezialisierung,<br />
es geht um Qualität<br />
Wertverständnis der Anwälte ab, nicht<br />
minder aber auch auf das Vertrauen<br />
und auf den Respekt, der ihnen der<br />
Bürger in der Öffentlichkeit entgegenbringt.<br />
Denn sie verkörpern die den anwaltlichen<br />
Beruf prägenden Werte –<br />
Unabhängigkeit, Verschwiegenheit und<br />
keine Vertretung widerstreitender Interessen<br />
– nicht mehr im Kollektiv ihres<br />
Standes, sondern nur noch als je handelnde<br />
Personen, als Individuen eben,<br />
und dies notwendigerweise in unterschiedlicher<br />
Deutlichkeit, oft auch<br />
mit nachlassender Überzeugungskraft.<br />
Zwangsläufig ist daher der Befund:<br />
Nicht mehr dem anwaltlichen Berufsstand<br />
in seiner Gesamtheit bringt der<br />
Bürger Vertrauen und Respekt entgegen,<br />
sondern nur noch dem je einzelnen<br />
Anwalt, auch wenn Verfassungsrecht<br />
und Politologie uns lehren, dass<br />
die Funktion der freien und unabhängigen<br />
Anwaltschaft für einen freiheitlichen<br />
Rechtsstaat konstitutiv ist.<br />
Es ist eben so – unabänderlich fürs<br />
erste sicherlich – , die ungefragte und<br />
aus sich selbst heraus legitimierte<br />
Amtsautorität einer Institution gibt es<br />
nicht mehr, weder in der Kirche noch<br />
im Staat, weder bei den politischen<br />
Parteien noch bei der Wirtschaft. Kein<br />
Berufsstand kann sich aus dieser<br />
Schlinge befreien. Nur noch die Auto-
AnwBl 8 + 9/2004 501<br />
Meinung & Kritik MN<br />
rität zählt, die der Person, dem je Einzelnen<br />
zuteil wird, kraft seiner Persönlichkeit,<br />
seiner Verdienste, kraft seines<br />
erworbenen Rufs, der jeweiligen Leistung<br />
und ihrer Integrität wegen. Gerade<br />
wenn man das Bild der Anwaltschaft<br />
als ein Massenphänomen umschreibt,<br />
wird man diesen Zusammenhang<br />
schwerlich leugnen können. Diese Erkenntnis<br />
jedoch gebiert ganz zwangsläufig<br />
einen weiteren Befund, als Teil<br />
der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Es<br />
ist der Verlust an Vertrauen.<br />
Im Zeichen der Globalisierung und<br />
der Macht des Kapitals wird, wie<br />
der amerikanische Soziologe Richard<br />
Sennett treffend festgestellt hat, nur<br />
noch der „flexible Mensch“ gefordert.<br />
Es ist einer, dem permanente Mobilität<br />
und der Verzicht auf Sekurität und den<br />
Erhalt von Bindungen, die prägen und<br />
dauern, abverlangt wird, der persönliche<br />
Freundschaften den „connections“<br />
und dem aufzubauenden „Netzwerk“<br />
bereitwillig opfert und die Ehe auf Lebenszeit<br />
den zweifelhaften Vorteilen<br />
wechselnder „Beziehungen“. Der Verlust<br />
an Vertrauen und Verlässlichkeit ist<br />
eben der Tribut, den wir alle wegen der<br />
„Individualisierung der Massen“ (Miegel)<br />
zu entrichten haben. Statt der erhofften<br />
Selbstbestimmung des je Einzelnen<br />
macht sich ein Gefühl der<br />
Ohnmacht und der Sinnlosigkeit breit,<br />
die Angst vor der Isolation eingeschlossen;<br />
der bekannte Stress des Wochenendes<br />
belegt das Gemeinte. Der Anwalt<br />
und sein Mandant sind eben Teil der gesellschaftlichen<br />
Wirklichkeit.<br />
Wenn aber die unverzichtbaren<br />
Werte – Unabhängigkeit, Verschwiegenheit<br />
und keine Vertretung widerstreitender<br />
Interessen – nur noch als<br />
Attribute der Tätigkeit des je Einzelnen<br />
Anwalts zu verstehen und zu erringen<br />
sind, dann fordert der damit einhergehende<br />
Verlust an originärem Vertrauen<br />
des Bürgers in die Kompetenz<br />
des Anwalts ein Gegensteuern. Es geht<br />
dann um die Verbesserung der Qualität<br />
der rechtlichen Beratung des Bürgers,<br />
es geht um Fortbildungspflicht und um<br />
Spezialisierung. Beides ist natürlich<br />
aufwendig. Beides fordert und fördert<br />
in den Grenzen der Unabhängigkeit,<br />
aber sie ausfüllend, dann auch die Ungleichheit,<br />
in Autorität, Prestige und<br />
Einkommen gleichermaßen. Doch Richard<br />
Sennett hat gezeigt, dass „im<br />
Zeitalter der Ungleichheit“ der „Respekt“<br />
gegenüber dem je anderen die<br />
einzig zutreffende und für eine freie<br />
Gesellschaft zuträgliche Antwort ist<br />
(Berlin 2002). Denn der „Respekt“ vor<br />
dem Anliegen des Rechtssuchenden<br />
führt immer dann zum Vertrauen des<br />
Rechtssuchenden, wenn der Anwalt in<br />
völliger Unabhängigkeit darauf verzichtet,<br />
die Rechtsposition seines Mandanten<br />
einfach zu stärken, um den<br />
Streit zuzuspitzen.<br />
Vertrauen wird im Gegenteil vor allem<br />
dann erworben, wenn und weil der<br />
Anwalt das haftungsrechtliche Diktat<br />
des Rates des „sicheren Weges“ gnadenlos<br />
im Interesse des Mandanten befolgt.<br />
Genau wie ein Chirurg, der nie<br />
vom Erfolg seiner Operationen spricht,<br />
sondern zunächst pflichtgemäß den Patienten<br />
aufklärt, ihm die Risiken und<br />
nichts als die Risiken, die häufigen und<br />
die selten eintretenden, erläutert und<br />
just damit Vertrauen schafft. Genauso<br />
muss und sollte der Anwalt vorgehen,<br />
die vielfältigen Risiken im Rechtlichen<br />
wie im Tatsächlichen immer wieder aufzeigend,<br />
nicht ängstlich, sondern fachkundig<br />
und realistisch-mutig, mit Augenmaß<br />
den Ausgleich der Interessen<br />
anstrebend, aber vor allem auch bescheiden<br />
und maßvoll, im Rat wie in<br />
der Stellung der Rechnung.<br />
Rechtsanwalt Prof. Dr. Friedrich Graf<br />
von Westphalen, Köln<br />
Anwaltsmonopol,<br />
Verbraucherschutz,<br />
Verschwiegenheit<br />
Worum geht es bei der Reform<br />
des Rechtsberatungsgesetzes?<br />
In der Diskussion um das Rechtsberatungsgesetz<br />
stehen sich zwei Lager<br />
gegenüber: Die einen sprechen<br />
von einem „Beratungsmonopol“ der<br />
Anwälte, einer „Bevormundung“ der<br />
Kunden und „ständischen Vorrechten“.<br />
Rechtsanwalt Niko<br />
Härting aus Berlin<br />
ist Mitglied des Berufsrechtausschusses<br />
des DAV<br />
Die anderen fürchten um die Rechtskultur<br />
und sehen „Schmalspurjuristen“<br />
am Horizont, die den Verbraucher<br />
schlecht und billig beraten und Anwälte<br />
in den Ruin treiben.<br />
Wer hat das Rechtsberatungsgesetz<br />
in Misskredit gebracht? Zum erheblichen<br />
Teil die Anwälte und Kammern<br />
selbst. Die unendliche Weite des Be-<br />
griffs der Rechtsberatung hat manche<br />
von ihnen dazu verleitet, gegen Unternehmensberater,<br />
Fernsehsender, Erbensucher,<br />
karitative Verbände oder auch<br />
pensionierte Richter gerichtlich vorzugehen<br />
und ihnen unerlaubte Rechtsberatung<br />
vorzuwerfen. Dies erweckte<br />
den fatalen (und nicht immer verkehrten)<br />
Eindruck, hier seien „Monopolisten“<br />
am Werk, die unter der Flagge<br />
eines alten Gesetzes fragwürdige Besitzstände<br />
verteidigen.<br />
Es geht nicht um<br />
„Privilegien“, sondern um<br />
Bürgerrechte<br />
Sieht man das Rechtsberatungsgesetz<br />
durch die Brille der Marktwirtschaft,<br />
so ergeben die Beschränkungen<br />
wenig Sinn. Wenn die Anwälte – mehr<br />
oder minder qualifizierte – Konkurrenz<br />
bekommen, mag der Kunde je<br />
nach Bedarf entscheiden, ob er den<br />
Gang zum Anwalt wählt oder sich mit<br />
den Diensten eines anderen „Rechtsdienstleisters“<br />
begnügt. Der Verbraucher<br />
kommt dabei nach den Vorstellungen<br />
der Marktwirtschaftler nicht zu<br />
kurz: „Informationsmodelle“ sollen<br />
ihn zur Unterscheidung zwischen anwaltlichem<br />
Qualitätsrat und sonstigen<br />
„Rechtsdienstleistungen“ befähigen.<br />
Wer hat den Einzug der Marktwirtschaft<br />
in den Anwaltsmarkt an vorderster<br />
Front gefordert und umgesetzt?<br />
Ein erheblicher Teil der Anwaltschaft,<br />
der sich daran zu gewöhnen begann,<br />
dass der Erfolg der eigenen Arbeit an<br />
Umsatzzahlen und „billable hours“ gemessen<br />
wird. Man fragte zunehmend,<br />
ob die gesetzliche Stellung als „Organ<br />
der Rechtspflege“ nicht doch ein alter<br />
Zopf und eine sinnlose Fessel sei; die<br />
übernommenen Grundpflichten des eigenen<br />
Berufs wurden als „Pathoskatalog“<br />
belächelt. Man gewöhnte sich an<br />
einen hemdsärmligen Umgang mit der<br />
Verschwiegenheitspflicht und schmückte<br />
sich nach erfolgreichen Prozessen und<br />
„Deals“ mit selbstbewussten Presseerklärungen.<br />
Interessenkonflikte in der<br />
eigenen Kanzlei löste man durch „Chinese<br />
Walls“ und sprach sich für eine<br />
Zusammenarbeit mit Wirtschaftsprüfern<br />
und Unternehmensberatern aus,<br />
die per Formular schnell unterschreiben<br />
sollten, dass sie sich den anwaltlichen<br />
Berufspflichten unterwerfen.<br />
Sind die Berufspflichten also ein<br />
Relikt aus alten Zeiten? Und was unterscheidet<br />
eigentlich den Anwalt von<br />
einem x-beliebigen „Dienstleister“?<br />
Die wichtigsten Berufspflichten sind<br />
die Pflicht zur Verschwiegenheit und
502<br />
MN<br />
Unabhängigkeit, das strikte Verbot der<br />
Vertretung widerstreitender Interessen<br />
sowie die gesetzliche Pflicht zur Übernahme<br />
von Pflichtverteidigungs- und<br />
Beratungshilfemandaten. Diese Pflichten<br />
werden ergänzt durch Schweigerechte<br />
und Beschlagnahmeverbote.<br />
Dies alles sind keine „Privilegien“ des<br />
Anwalts. Wenn jetzt Lauschangriffe<br />
auf Anwälte gefordert werden, geht<br />
es nicht um Anwaltsrechte, sondern<br />
um Bürgerrechte. Die Sonderstellung<br />
der Anwälte dient dazu, dem Bürger<br />
bestmöglich zu seinem Recht zu verhelfen.<br />
Bürgerrechte oder freie Marktwirtschaft:<br />
Zwischen diesen beiden Polen<br />
bewegt sich der Anwaltsberuf. Der<br />
Alltag des kleinstädtischen Hausanwalts<br />
hat nur noch wenig gemein<br />
mit dem Berufsleben eines Wirtschaftsjuristen<br />
in einer internationalen<br />
Großkanzlei. Je mehr die Gesetze des<br />
Marktes die eigene Berufsausübung<br />
prägen, desto schattenhafter werden<br />
die Gemeinwohlinteressen, denen der<br />
Anwalt (auch) dienen soll.<br />
Wer dem Bürger künftig die freie<br />
Wahl geben möchte zwischen einem<br />
Anwalt und einem Berater, der weder<br />
unabhängig noch verschwiegen ist,<br />
setzt klare Prioritäten: Marktwirtschaft<br />
vor Bürgerrechte; freie Entfaltung der<br />
Marktkräfte vor der Gewährleistung<br />
des Rechts. Wer zudem Gemeinwohlbelange<br />
als „hohles Pathos“ oder als<br />
„Lobby-Geschäft“ der Anwälte gering<br />
schätzt, hat die Prioritäten bereits gesetzt,<br />
bevor er sie ernsthaft erwogen<br />
hat. Besonders hervorgetan beim vorschnellen<br />
Reden haben sich Anwälte,<br />
die die Berufpflichten ebenso forsch<br />
wie modisch als „Marketing-Instrumente“<br />
anpreisen. Für Anwälte und<br />
Politik heißt es Abschied nehmen. Abschied<br />
von der Vorstellung eines einheitliche<br />
Berufsbildes, das es in der<br />
Wirklichkeit schon lange nicht mehr<br />
gibt. Internationale Großkanzleien arbeiten<br />
marktwirtschaftlich. Sie werden<br />
damit leben können (und müssen), in<br />
zunehmendem Maße der Konkurrenz<br />
anderer Dienstleister ausgesetzt zu<br />
sein. Die kleine Anwaltskanzlei „vor<br />
Ort“ ist mit anderen Maßstäben zu<br />
messen, da sie kein mittelständisches<br />
Unternehmen ist wie jedes andere<br />
auch. Wie immer das neue Gesetz<br />
heißen mag, das an die Stelle des<br />
Rechtsberatungsgesetzes tritt: Differenzierte<br />
Lösungen sind gefragt. Dabei<br />
darf nicht in Vergessenheit geraten,<br />
dass es bei der Sonderstellung der Anwälte<br />
nicht um „Privilegien“ der Anwälte,<br />
sondern um Bürgerrechte geht.<br />
Rechtsanwalt Niko Härting, Berlin<br />
Vertrauensschadensfonds:<br />
Es geht nicht um bewusst<br />
kriminell tätige Kollegen<br />
Leserzuschrift zu dem Kommentar<br />
„Vertrauensschadensfonds der Rechtsanwälte<br />
für kriminelle Kollegen?“<br />
von Rechtsanwalt Dr. Michael Streck<br />
in AnwBl 2004, 212:<br />
Nur so lässt sich ein begründeter<br />
Vertrauensverlust gegenüber den Organen<br />
der Rechtspflege, zu deren Inanspruchnahme<br />
den Einzelnen keine<br />
Alternative zur Verfügung steht, verhindern“.<br />
Mit diesem Kernsatz empfiehlt<br />
der Petitionsausschuss der Bundesregierung<br />
die Einrichtung eines<br />
gesetzlich vorgesehenen Vertrauensschadensfonds<br />
für Rechtsanwälte. Der<br />
Rechtsanwalt Matthias<br />
Schollen aus<br />
Freiburg ist Vorsitzender<br />
des Vertrauensschadensfonds<br />
bei der Rechtsanwaltskammer<br />
Freiburg e. V. Der<br />
Fonds wird gespeist<br />
durch Bußgeldzahlungen,<br />
Ordnungs- und<br />
Geldstrafen, Spenden<br />
sowie Mitgliedsbeiträge.<br />
Petitionausschuss hält für die Ausgestaltung<br />
der obligaten Berufshaftpflichtversicherung<br />
eine ergänzende<br />
Regelung für erforderlich, die auch bei<br />
vorsätzlicher Pflichtverletzung Versicherungsschutz<br />
bietet.<br />
Michael Streck wendet sich mit<br />
seinem Kommentar in AnwBl. 2004,<br />
212 zu Recht und mit guten Gründen<br />
gegen diese Form der Vertrauensschadenvorsorge.<br />
Er „schüttet das Kind jedoch<br />
mit dem Bade aus“, wenn er<br />
auch den bei der Rechtsanwaltskammer<br />
Freiburg als gemeinnützigen Verein<br />
eingerichteten Vertrauensschadenfonds<br />
auf gleiche Ebene mit der<br />
gesetzlichen Vertrauensschadenversicherung<br />
stellt und mit Bausch und<br />
Bogen ablehnt. Die Zielrichtung des<br />
Freiburger Fonds hat ebenso wie übrigens<br />
die des bei der Rechtsanwaltskammer<br />
München eingerichteten Vertrauensschadenfonds<br />
eine wesentlich<br />
andere Nuance als die der gesetzlichen<br />
Vertrauensschadenversicherung.<br />
Persönliches und dem Berufsstand<br />
entgegengebrachtes Vertrauen wird<br />
ramponiert, zukünftiges Vertrauen gefährdet,<br />
wenn Mandanten vorsätzlich<br />
geschädigt werden. Das eher hohe Ansehen<br />
des Berufsstandes mag im<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Meinung & Kritik<br />
Großen und Ganzen noch nicht allgemein<br />
gelitten haben, doch tickt unseres<br />
Erachtens für jeden, der dies<br />
hören wollte, unüberhörbar eine Zeitbombe.<br />
Es geht uns in erster Linie<br />
nicht um bewusst kriminell tätige Kollegen,<br />
sondern um die alltäglichen<br />
Grenzfälle unzulänglicher Berufsausübung.<br />
Viel zu viele Kollegen<br />
führen z. B. gar kein Fremdgeldkonto<br />
oder die Organisation ihrer Konten ist<br />
unzureichend. Die Trennung zwischen<br />
fremdem und eigenem Geld ist gefährlich<br />
unscharf. Erkrankt ein solcher<br />
Kollege und kann seinen Amtsgeschäften<br />
nicht mehr nachgehen, rächen<br />
sich diese organisatorischen<br />
Mängel fürchterlich. In der Not wird<br />
von fremdem Geld gelebt. Der Kollege<br />
wird straffällig, ist jedoch einem<br />
bewusst kriminell Tätigen nicht<br />
gleichzustellen.<br />
Solche Fälle, vor deren Existenz<br />
leider viel zu häufig Augen verschlossen<br />
werden, hat unser Fonds im Sinn.<br />
In solchen Fällen können wir helfen.<br />
Darüber hinaus antworten wir in einer<br />
Art berufsständischem Beschwerdemanagement<br />
rasch auf Beanstandungen.<br />
Den Beschwerdeführern widmen<br />
wir ein offenes Ohr und damit, was<br />
nicht zu unterschätzen ist, Zeit. Wir<br />
sind durch persönlichen Einsatz<br />
bemüht, für den Berufsstand verspieltes<br />
Vertrauen wiederzugewinnen.<br />
Nicht zuletzt mildert der Fonds in Härtefällen<br />
materiellen Schaden, wenn der<br />
Geschädigte anderweitig, insbesondere<br />
vom Schädiger selbst, keinen Ersatz<br />
erhalten hat und er hilfsbedürftig<br />
i. S. d. AO ist. Einen Rechtsanspruch<br />
auf materielle Hilfe gibt es hingegen<br />
nicht. Die Mittel, die von uns zur<br />
Hilfe verwendet werden, werden von<br />
den schwarzen Schafen der Zunft z. B.<br />
durch gegen sie verhängte Geldbußen<br />
aufgebracht.<br />
Um bei der Bildsprache von Streck<br />
zu bleiben: Wir meinen nicht, die<br />
Schwester müsse zwangsläufig für den<br />
Bruder haften. Wir denken jedoch,<br />
dass es richtig ist, der Schwester Instrumente<br />
an die Hand zu geben, auf<br />
dass sie in geeigneten Fällen für den<br />
Bruder einstehen kann. Dies ist Ausdruck<br />
einer intakten Familie, die von<br />
Dritten gerade, weil sie füreinander<br />
einsteht, für vertrauenswürdig erachtet<br />
wird. Von Vertrauen leben wir alle.<br />
Was ist hiergegen zu sagen? Nichts,<br />
der freiwillige Vertrauensschadenfonds<br />
ist zur Nachahmung empfohlen!<br />
Rechtsanwalt Matthias Schollen,<br />
Freiburg/Breisgau
AnwBl 8 + 9/2004 503<br />
MITTEILUNGEN<br />
Zivilprozessrecht<br />
Modernes<br />
Zivilverfahrensrecht?<br />
Zivilprozessuale Änderungen des Ersten<br />
Justizmodernisierungsgesetz<br />
Rechtsanwalt Dr. Bernd Hirtz, Köln<br />
Das erste Justizmodernisierungsgesetz wird zum 1. September<br />
2004 in Kraft treten. Der Autor stellt die wichtigsten<br />
Änderungen für den Zivilprozess dar.<br />
1. Einführung<br />
Wird die Justiz jetzt modern? Ist der Zivilprozess durch<br />
das am 9.7.2004 verabschiedete JuMoG moderner geworden?<br />
Wie lange bleibt er – auf diesem Niveau – modern,<br />
wenn der Gesetzgeber weiteren Modernisierungsbedarf bereits<br />
wittert und deshalb das Gesetz als erstes JuMoG bezeichnet<br />
hat?<br />
Unmittelbar nachdem das Gesetz zur Reform des Zivilprozesses<br />
(ZPO-RG) in Kraft getreten war, begannen bereits<br />
weitere Versuche des Bundes und der Länder, Verfahrensgesetze<br />
zu „modernisieren“ und Verfahren zu<br />
„beschleunigen“. Die Bundesregierung legte den <strong>Entwurf</strong><br />
eines Gesetzes zur Modernisierung der Justiz vor, Abgeordnete<br />
der Fraktion der CDU/CSU und der Bundesrat erarbeiteten<br />
Gesetzesentwürfe zu einem Justizbeschleunigungsgesetz,<br />
während andere Abgeordnete beabsichtigen, Fehler<br />
beim neuen Revisionsrecht zu korrigieren und die Entscheidungsfähigkeit<br />
des Bundesgerichtshofs wieder herzustellen.<br />
War denn die gerade erst reformierte ZPO schon zu unmodern<br />
geworden und war das in ihr reformierte Verfahren so<br />
langsam? Beurteilen konnte das keiner der Initiatoren neuer<br />
Gesetzentwürfe, da zum Zeitpunkt der Vorlage der<br />
Entwürfe, und daran hat sich bis heute nichts geändert,<br />
keine gesicherten Erfahrungen zur Anwendung des neuen<br />
Rechts vorlagen. Wissenschaft und Praxis hatten gehofft,<br />
dass vor der Evaluation der ZPO-Reform, die Gegenstand<br />
des vom Bundesjustizministerium an Hommerich und<br />
Prütting vergebenen Forschungsvorhabens ist, an den Verfahrensordnungen<br />
nicht abermals herumreformiert wird.<br />
Eine abschließende Bewertung der Evaluation wird nicht<br />
vor Ende 2005 zu erwarten sein.<br />
Gewiss hatten sich einzelne durch die ZPO-Reform eingeführte<br />
Neuerungen als dringend korrekturbedürftig herausgestellt,<br />
sodass dringender Reparaturbedarf bestand.<br />
Vor allem aber war eine Atempause notwendig. Dennoch<br />
setzte sich – fraktionsübergreifend – die Auffassung durch,<br />
man müsse in der Justiz weiter sparen, dies aber als Justizmodernisierung<br />
tarnen. Verfahrensordnungen haben aber<br />
nicht nur die Funktion, effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten,<br />
sondern dienen auch der Freiheitssicherung. Häufige<br />
Änderungen des Verfahrensrechts führen zur Unübersichtlichkeit<br />
und machen die Einübung eines bewährten<br />
Verfahrensablaufs unmöglich. Deshalb müssen die Neuregelungen<br />
auf erhebliche Skepsis stoßen.<br />
Der Rechtsausschuss hat in seinen Beschlussempfehlungen<br />
die verschiedenen Entwürfe zusammengeführt. Der Einigungszwang<br />
hat schlimmstes verhindert. Die Bedenken<br />
MN<br />
der Praxis, unter anderem artikuliert durch die Stellungnahme<br />
des Zivilverfahrensrechtsausschusses des DAV, wurden<br />
teilweise gehört. So ist die gerade erst eingeführte Dokumentationspflicht<br />
richterlicher Hinweise (§ 139 Abs. 4<br />
und Abs. 5 ZPO) nicht aufgehoben worden. Das obligatorische<br />
Güteverfahren ist (noch) nicht abgeschafft worden.<br />
Die Ersetzung von Zeugenvernehmungen durch Verwertung<br />
richterlicher Vernehmungsniederschriften ohne Einverständnis<br />
der Parteien ist nicht Gesetz geworden. Der abwegige<br />
Vorschlag, dass rechtskräftige Urteile über Straftaten<br />
und Ordnungswidrigkeiten den vollen Beweis der darin für<br />
erwiesen erachteten Tatsachen auch im Zivilprozess begründen<br />
sollten, konnte sich nicht durchsetzen. Erfreulich<br />
ist, dass einige Regelungen die Kritik von Wissenschaft<br />
und Praxis aufnehmen und zur Vereinfachung des Verfahrensablaufs<br />
führen werden. Die Praxis hat sich abermals<br />
auf eine Vielzahl neuer (überwiegend sofort wirkender)<br />
Rechtsänderungen einzustellen. Die wichtigsten werden<br />
nachstehend vorgestellt. *<br />
2. Unaufschiebbare Amtshandlungen des abgelehnten<br />
Richters<br />
Gem. § 47 Abs. 2 ZPO kann jetzt, wenn ein Richter<br />
während der Verhandlung abgelehnt wird und die Entscheidung<br />
über die Ablehnung eine Vertagung der Verhandlung<br />
erfordern würde, der Termin unter Mitwirkung des abgelehnten<br />
Richters fortgesetzt werden. Wird allerdings die<br />
Ablehnung (später) für begründet erklärt, so ist der nach<br />
Anbringung des Ablehnungsgesuchs liegende Teil der Verhandlung<br />
zu wiederholen. Damit soll missbräuchlichen Ablehnungsgesuchen<br />
vorgebeugt werden, indem ein Verzögerungseffekt<br />
des Ablehnungsgesuchs vermieden wird. Im<br />
Zivilprozess sind missbräuchliche Ablehnungsgesuche<br />
weitgehend unbekannt. Erst recht gibt es keine Erfahrung,<br />
dass dadurch Verzögerungen provoziert werden. Nicht nur<br />
deshalb ist die Relevanz der Neuregelung gering. Hinzu<br />
kommt, dass der Richter nicht zu Entscheidungen ermächtigt<br />
ist. Es bleibt als Anwendungsfall etwa eine begonnene<br />
Beweisaufnahme.<br />
3. Rückfestsetzung überzahlter Prozesskosten<br />
Durch § 91 Abs. 4 ZPO ist eine Streitfrage von großer<br />
Praxisrelevanz gesetzlich entschieden worden. Es ist nicht<br />
selten, dass aufgrund eines vorläufig vollstreckbaren Urteils<br />
auch eine Festsetzung und Zahlung der Prozesskosten erfolgt.<br />
Nunmehr ist eine Rückfestsetzung im Kostenfestsetzungsverfahren<br />
möglich, weil zu den Kosten des Rechtsstreits,<br />
die die unterlegene Partei zu tragen hat, auch die<br />
Kosten gehören, die die obsiegende Partei der unterlegenen<br />
Partei im Verlaufe des Rechtsstreits gezahlt hat. Offen ist,<br />
ob wegen dieses einfachen Weges einer Rückforderungsklage,<br />
die auf § 717 Abs. 2 ZPO gestützt wird, nunmehr<br />
das Rechtsschutzbedürfnis fehlt.<br />
4.Wiedereinsetzungsfrist bei Rechtsmittelbegründung<br />
§ 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO verlängert die Frist für den Antrag<br />
für Wiedereinsetzung und für die Nachholung der versäumten<br />
Prozesshandlung von zwei Wochen auf einen Mo-<br />
* Eine Vorstellung aller Normen des JuMoG und eine Kommentierung sämtlicher<br />
strafverfahrensrechtlicher und zivilverfahrensrechtlicher Änderungen enthält<br />
Hirtz/Sommer, JuMoG, Haufe 2004.
504<br />
MN<br />
nat nach Wegfall des Hindernisses, wenn die Partei verhindert<br />
war, eine Rechtsmittelbegründungsfrist einzuhalten.<br />
Das gilt für die Begründung der Berufung, der Revision,<br />
der Nichtzulassungsbeschwerde, der Rechtsbeschwerde und<br />
der Beschwerde nach §§ 621e, 629a Abs. 2 ZPO. Durch die<br />
Änderung soll z. B. sichergestellt werden, dass ein Rechtsmittelführer,<br />
dem Prozesskostenhilfe nach Ablauf der<br />
Rechtsmittelbegründungsfrist gewährt worden ist, einen<br />
Monat Zeit für die Rechtsmittelbegründung hat, sodass er<br />
nicht schlechter gestellt wird als die vermögende Partei.<br />
Die ZPO-Reform hat u. a. dadurch, dass Rechtsmittelbegründungsfristen<br />
seit Zustellung der angefochtenen Entscheidungen<br />
laufen, neue Probleme im Wiedereinsetzungsrecht<br />
gebracht, die auch darauf zurückzuführen sind, dass<br />
der Vorsitzende ohne Zustimmung des Gegners die Begründungsfristen<br />
nur noch einmal verlängern kann. Wer<br />
ohne sein Verschulden verhindert war, Rechtsmittelfristen<br />
zu wahren, konnte nach der bisherigen Fassung von § 234<br />
Abs. 1 ZPO in eine Fristnot hinsichtlich der Rechtsmittelbegründungsfrist<br />
geraten, die entweder bereits abgelaufen<br />
war oder nicht angemessen verlängert werden konnte. Die<br />
Rechtsprechung hat Bemühungen unternommen, zur Vermeidung<br />
einer Benachteiligung der mittellosen Partei eine<br />
Begründungsfrist von einem Monat ab Zustellung der PKH-<br />
Entscheidung zur Verfügung zu stellen (vgl. die Nachweise<br />
bei Zöller/Greger, ZPO, 24. Aufl., § 236 Rz. 8a). Daran<br />
lehnt sich die Neuregelung an, löst aber die zahlreichen<br />
praktischen Probleme nur unvollkommen. So fehlen Verlängerungsmöglichkeiten<br />
für die Begründungsfristen. Die Neufassung<br />
hilft auch nicht weiter, wenn zum Zeitpunkt der<br />
Zustellung der Prozesskostenhilfeentscheidung die Begründungsfrist<br />
noch nicht abgelaufen ist. Zweifelhaft ist, ob<br />
die Regelung sich auch auf die Anschlussberufung bezieht,<br />
wie die Begründung des Regierungsentwurfs meint. Eine<br />
Begründungsfrist für die Anschlussberufung gibt es nämlich<br />
nicht.<br />
5. Kostenentscheidung bei Klagerücknahme<br />
Durch das ZPO-RG wurde die Möglichkeit geschaffen,<br />
über die Kosten einer zurückgenommenen Klage, deren<br />
Anlass vor Rechtshängigkeit weggefallen war, nach billigem<br />
Ermessen durch Beschluss zu entscheiden. In Praxis<br />
und Literatur entstand der Streit, ob eine Kostenentscheidung<br />
auch dann möglich ist, wenn die Klage noch vor der<br />
Zustellung zurückgenommen wurde. Vielfach wurde dies<br />
wegen des Fehlens eines Prozessrechtsverhältnisses verneint<br />
(eine Übersicht über den Streitstand findet sich bei<br />
Deckenbrock/Dötsch, Der Prozessrechtsberater 2003, Seite<br />
152 sowie bei Zöller/Greger, a.a.O., § 269 Rz. 8b). Nun ist<br />
klar, dass eine Zustellung der Klage für die entsprechende<br />
Kostenentscheidung nicht erforderlich ist.<br />
6. Gerichtlicher Vergleich im schriftlichen Verfahren<br />
Durch die Neufassung des § 278 Abs. 6 ZPO wird der<br />
Anwendungsbereich des Vergleichs im schriftlichen Verfahren<br />
erweitert. Auch der von den Parteien unterbreitete<br />
Vergleichsvorschlag kann zum Gegenstand des gerichtlichen<br />
Vergleichs werden. Wenn die Parteien einen gemeinsamen<br />
schriftlichen Vergleichsvorschlag vorlegen, stellt das<br />
Gericht durch Beschluss, der insoweit den Vollstreckungstitel<br />
im Sinne von § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO bildet, den Vergleich<br />
fest.<br />
7. Beweisaufnahme (Freibeweis)<br />
Durch die Neufassung von § 284 ZPO wird dem Gericht<br />
die Möglichkeit eröffnet, im Einverständnis beider Parteien<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Mitteilungen<br />
von den Strengbeweisregeln abzusehen. Dieses Einverständnis,<br />
das auf einzelne Beweiserhebungen beschränkt<br />
werden kann, kann nur bei einer wesentlichen Änderung<br />
der Prozesslage vor Beginn der Beweiserhebung, auf die es<br />
sich bezieht, widerrufen werden.<br />
Diese Vorschrift ist von erheblicher Brisanz. Bislang<br />
war die Beweisaufnahme auf die Beweisart des Strengbeweises<br />
beschränkt und stellte als Beweismittel nur Augenschein,<br />
Zeugen, Sachverständigengutachten, Urkunden<br />
und Parteivernehmung zur Verfügung. Nur im Bereich verfahrensrechtlich<br />
relevanter Tatsachen war der Freibeweis<br />
zugelassen, der auf die gesetzlichen Beweismittel nicht beschränkt<br />
ist (Zöller/Greger, a.a.O., vor § 284 Rz. 6 u. Rz. 7).<br />
Der Strengbeweis macht die Beweisführung im Zivilprozess<br />
kalkulierbar. Er liefert die Basis für die Anwendung<br />
der Beweislastregeln. Indem jetzt von den Strengbeweisregeln<br />
Ausnahmen möglich sind, werden nicht nur die<br />
Grundsätze der Mündlichkeit und der Unmittelbarkeit der<br />
Beweisaufnahme tangiert, sondern auch der Gerechtigkeitsgehalt<br />
der Beweislastregeln berührt.<br />
Der Rechtsausschuss hat die Einschränkung der Widerruflichkeit<br />
mit der Erwägung begründet, es bestünde die<br />
Gefahr, dass die Partei, die mit dem Verlauf der freibeweislichen<br />
Beweiserhebung nicht zufrieden ist, versuchen wird,<br />
deren Fortsetzung durch einen Widerruf Ihres Einverständnisses<br />
zu vereiteln. Weil z. B. bei einer ergänzenden Befragung<br />
eines Zeugen oder Sachverständigen über Handy oder<br />
E-Mail nicht einmal die Identität des Angerufenen einwandfrei<br />
bewiesen werden kann, sind entsprechende Aussagen,<br />
die nicht einmal parteiöffentlich gemacht werden<br />
können, von höchst eingeschränktem Beweiswert. Nicht<br />
nur daraus ergibt sich die dringende Empfehlung an die<br />
Praxis, ein Einverständnis zum Freibeweis nicht zu erteilen.<br />
8. Schriftliches Anerkenntnis<br />
Nach der Neufassung von § 307 ZPO ist der Erlass eines<br />
Anerkenntnisurteils nicht mehr abhängig von der Durchführung<br />
einer mündlichen Verhandlung. Da jetzt die schriftsätzliche<br />
Anerkenntniserklärung zum Erlass eines Anerkenntnisurteils<br />
führen kann, muss deren Abgabe sorgfältig<br />
erwogen werden. Die Rechtsanwälte trifft hier eine besondere<br />
Belehrungspflicht. Zu prüfen ist, ob es schon (schriftliche)<br />
Hinweise des Gerichts gibt. Abzuwägen ist auch, inwieweit<br />
das Anerkenntnis vor mündlicher Verhandlung<br />
Kosten sparen hilft.<br />
9. Gehörsrügen<br />
Zu den Zentralbereichen der ZPO-Reform gehörte die<br />
Einführung des Abhilfeverfahrens in § 321a ZPO (vgl. zu<br />
§ 321a ZPO und zum neuen <strong>Entwurf</strong> des Anhörungsrügengesetzes:<br />
Nassall ZRP 2004, 164 ff.). Dessen Anwendungsbereich<br />
war zu eng, sodass das BVerfG Erweiterung aufgegeben<br />
hat (Plenarentscheidung vom 30.4.2003, NJW<br />
2003, 1924). Ein Referentenentwurf eines Anhörungsrügengesetzes<br />
liegt vor. Das Gesetz soll noch vor Ende 2005 in<br />
Kraft treten. Es ist nicht verständlich, dass in dieser Übergangszeit<br />
eine nicht gebotene Einschränkung des Bereichs<br />
der Anhörungsrüge versucht wird.<br />
Die Neufassung von § 321a Abs. 5 Satz 1 ZPO soll dazu<br />
führen, dass nach einer begründeten Gehörsrüge der Prozess<br />
in dem Umfang fortgesetzt wird, soweit dies aufgrund der<br />
Rüge geboten ist. Im Gesetz fand die Auffassung, dass es<br />
nach erfolgter Anhörungsrüge nur noch um den Streitgegenstand<br />
gehen könne, der von der Verletzung des Anspruchs<br />
auf rechtliches Gehör betroffen ist, bislang keine<br />
Stütze. Vielmehr wird der Prozess in die Lage zurückver-
AnwBl 8 + 9/2004 505<br />
Mitteilungen MN<br />
setzt, in der er sich vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung<br />
befand. Dass die Gewährung rechtlichen Gehörs<br />
für die eine Partei auch dazu führen kann, dass die andere<br />
Partei ihr eigenes Vorbringen vertieft, müsste eigentlich<br />
selbstverständlich sein (Zöller/Vollkommer, ZPO, a.a.O.,<br />
§ 321a Rz. 18). Insoweit dürfte auch die jetzt Gesetz gewordene<br />
Einschränkung „soweit dies aufgrund der Rüge<br />
geboten ist“ nicht zu einer Reduzierung des Prozessstoffs<br />
des fortgesetzten Verfahrens führen, weil es eben durchaus<br />
geboten sein kann, auch dem Prozessvortrag der Gegenseite<br />
nachzugehen.<br />
10. Verwertung von gerichtlichen Sachverständigengutachten<br />
Durch den neu eingeführten § 411a ZPO kann die<br />
schriftliche Begutachtung durch einen Sachverständigen<br />
durch die Verwertung eines gerichtlich eingeholten Sachverständigengutachtens<br />
aus einem Verfahren ersetzt werden.<br />
Bislang war die Verwertung eines Sachverständigengutachtens<br />
aus einem anderen Verfahren im Wege des<br />
Urkundenbeweises möglich. Nunmehr soll das bereits vorliegende<br />
Gutachten als Sachverständigengutachten im<br />
Sinne des § 405 ff. ZPO verwendet werden können. Die<br />
praktischen Auswirkungen sind schon deshalb gering, weil<br />
§ 411a ZPO es dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts<br />
überlässt, ob nicht doch ein neues Sachverständigengutachten<br />
eingeholt werden muss. Auch werden die Mitwirkungsund<br />
Beteiligungsrechte der Parteien aus dem § 402 ff. ebensowenig<br />
angetastet wie das Recht auf mündliche Erläuterung<br />
(§ 411 Abs. 3 ZPO).<br />
11. Anschlussberufung<br />
Die bedeutsame Neufassung von § 524 Abs. 2 ZPO ändert<br />
zunächst die Anschlussberufungsfrist. Die Anschlussberufung<br />
ist jetzt nicht mehr innerhalb eines Monats nach<br />
Zustellung der Berufungsbegründung einzulegen und zu begründen.<br />
Vielmehr ist die Anschlussberufung spätestens<br />
mit der Berufungserwiderung einzulegen und gleichzeitig<br />
zu begründen. Außerdem gilt die Regelung über die Anschlussberufungsfrist<br />
nicht, wenn die Anschließung eine<br />
Verurteilung zu künftig fällig werdenden wiederkehrenden<br />
Leistungen (§ 323 ZPO) zum Gegenstand hat. Insbesondere<br />
im Bereich des Unterhaltsrechts hatte es sich als unpraktikabel<br />
erwiesen, dass das Berufungsgericht eine Veränderung<br />
der tatsächlichen Verhältnisse zu Gunsten des Berufungsbeklagten<br />
nach Ablauf der Anschließungsfrist in<br />
seiner Entscheidung nicht mehr berücksichtigen konnte.<br />
Die Änderungen haben erhebliche praktische Auswirkungen.<br />
Zwar ist die Anschlussberufungsfrist nach wie vor eigentlich<br />
nicht verlängerbar. Da aber die Frist zur Berufungserwiderung<br />
verlängerbar ist, wird mittelbar auch die<br />
Anschlussberufungsfrist verlängert werden. Die Berufungsbeklagte<br />
hat jetzt in den meisten Fällen mehr Zeit zur Entscheidung<br />
und Vorbereitung, ob Anschlussberufung eingelegt<br />
und begründet werden soll. Kommt es nach Ablauf der<br />
Anschließungsfrist zu erheblichen Veränderungen, die (z. B.<br />
Unterhalt) für eine Verurteilung zu künftig fällig werdenden<br />
Leistungen von Bedeutung sein können, kann ohne Fristbegrenzung<br />
Anschlussberufung bis zum Schluss der letzten<br />
mündlichen Verhandlung eingelegt und begründet werden.<br />
Das gilt auch für zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes<br />
schon anhängige Berufungsverfahren.<br />
12.Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist<br />
Durch § 551 Abs. 2 Satz 6 ZPO wird die Möglichkeit,<br />
die Frist zur Revisionsbegründung zu verlängern, erweitert.<br />
Diese Regelung gilt über § 544 Abs. 2 Satz 2 ZPO auch für<br />
die Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde.<br />
Vorausgesetzt wird, dass dem Revisionskläger innerhalb<br />
der verlängerten Revisionsfrist die Prozessakten nicht für<br />
einen angemessenen Zeitraum zur Verfügung gestellt werden<br />
konnten. Der Vorsitzende kann jetzt auf Antrag die<br />
Frist um bis zu zwei Monate nach Übersendung der Prozessakten<br />
verlängern. Leider ist trotz dringender Anregungen<br />
aus der Praxis eine entsprechende Regelung für die Berufungsbegründungsfrist<br />
nicht Gesetz geworden.<br />
13. Revisionszurückweisungsbeschluss<br />
Der neue § 552a ZPO gibt die Möglichkeit, eine vom<br />
Berufungsgericht zugelassene Revision durch einstimmigen<br />
Beschluss zurückzuweisen, wenn das Revisionsgericht davon<br />
überzeugt ist, dass die Voraussetzungen für die Zulassung<br />
der Revision nicht vorliegen und die Revision keine<br />
Aussicht auf Erfolgt hat. Das Revisionsgericht oder der<br />
Vorsitzende muss die Parteien zuvor auf die in Aussicht genommene<br />
Zurückweisung der Revision und die Gründe<br />
hierfür hinweisen.<br />
Nach Auffassung des BGH ist von der durch das ZPO-<br />
RG geschaffenen Möglichkeit der Revisionszulassung<br />
durch die Landgerichte auch in solchen Fällen Gebrauch<br />
gemacht worden, in denen Zulassungsvoraussetzungen fehlten.<br />
Der BGH verlangte nach Entlastung, die er jetzt erhält.<br />
Bemerkenswert ist, dass § 552a ZPO das Kriterium der Erfolgsaussicht<br />
der Revision in das Gesetz aufnimmt. Dieses<br />
Kriterium fand sich im bisherigen Gesetzestext zur Frage<br />
der Begründetheit einer Nichtzulassungsbeschwerde nicht.<br />
Inwieweit es in der Revisionsinstanz um Einzelfallgerechtigkeit<br />
geht, ist seitdem umstritten (vgl. etwa Zöller/Gummer,<br />
ZPO, a.a.O., § 543 Rz. 10 ff.). Die Neufassung des<br />
§ 552a ZPO legt nahe, dass das Kriterium der Richtigkeitsgewähr<br />
auch im Revisionsrecht hohen Stellenwert hat. Es<br />
wäre aus verfassungsrechtlichen Gründen problematisch<br />
(Gleichbehandlungsgebot), wenn in den Fällen der von den<br />
Berufungsgerichten zugelassenen Revisionen die Erfolgsaussicht<br />
das entscheidende Kriterium ist, während dieses<br />
Kriterium im Falle der Nichtzulassungsbeschwerde keine<br />
Bedeutung hätte.<br />
14. Änderungen des Rechtspflegergesetzes<br />
Insbesondere durch § 19 RPflG werden erweiterte sachliche<br />
Zuständigkeiten der Rechtspflege dort vorgesehen, wo<br />
bislang Richtervorbehalte gelten. Diese Richtervorbehalte<br />
wurden aber nicht abgeschafft. Vielmehr wurde lediglich<br />
durch § 19 RPflG den Landesregierungen die Ermächtigung<br />
erteilt, durch Rechtsverordnungen die Richtervorbehalte<br />
ganz oder teilweise aufzuheben, soweit bestimmte Angelegenheiten<br />
betroffen sind. Dadurch besteht die Gefahr einer<br />
Rechtszersplitterung im Bereich der Zuständigkeit.<br />
15. Schlussbemerkung<br />
Einige (hier überwiegend nicht behandelte) Regelungen<br />
des ersten JuMoG sind reine Reparaturmaßnahmen, andere<br />
Regelungen sind durchaus sinnvoll. Höchst problematisch<br />
ist die weitere Einschränkung des Ablehnungsrechts, sind<br />
Tendenzen, die Mündlichkeit einzuschränken, sind insbesondere<br />
die Neuregelungen zur Beweisaufnahme (Freibeweis<br />
und Sachverständigengutachten) und zur Anhörungsrüge.<br />
Moderner wird das Zivilverfahren durch das<br />
Gesetz nicht. Die Bezeichnung „erstes“ JuMoG legt die<br />
Gefahr nahe, dass ein weiteres Spargesetz als „zweites“ Ju-<br />
MoG schon erdacht wird. Dagegen muss sich Widerstand<br />
regen. Die Evaluation der ZPO-Reform ist abzuwarten.
506<br />
MN<br />
Strafprozessrecht<br />
Moderne<br />
Strafverteidigung<br />
Strafprozessuale Änderungen des Ersten<br />
Justizmodernisierungsgesetzes<br />
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht Dr. Ulrich<br />
Sommer, Köln<br />
Das Erste Justizmodernisierungsgesetz wird zum 1.<br />
September 2004 in Kraft treten. Der Autor stellt die wichtigsten<br />
Änderungen für den Strafprozess dar.<br />
Der moderne Strafprozess zeichnet sich durch Sparsamkeit<br />
aus. Sein primäres Ziel ist die schnelle Erledigung. Die<br />
geeigneten Mittel hierfür sind verzögerliche Terminierungen,<br />
die althergebrachte Inquisition und die geheime Kabinettsjustiz.<br />
Das vermittelt jedenfalls die erste Lektüre des<br />
Justizmodernisierungsgesetzes, die den Strafrechtler eher in<br />
vergangene Zeiten des Strafprozesses führt.<br />
Schon der moderate äußere Umfang der Änderung signalisiert,<br />
dass der Gesetzgeber nicht zu einem großen Wurf<br />
ausholen wollte. Dies ist offensichtlich den noch aktuell beratenen<br />
Gesetzesentwürfen vorbehalten. Die nunmehr erfolgten<br />
Änderungen deuten allerdings Tendenzen an, deren<br />
weitere Verfolgung schwerwiegende Konsequenzen für die<br />
überkommene Struktur des Strafverfahrens haben können.<br />
Nach häufig ergebnislosen Diskussionen im Bundestag<br />
schon in den 90er Jahren hatte das Bundesjustizministerium<br />
im vergangenen Jahr den <strong>Entwurf</strong> zum Justizmodernisierungsgesetz<br />
eingebracht. Nahezu parallel entwickelte sich<br />
eine Gesetzesinitiative des Bundesrates. In vielen Vorschlägen<br />
war man sich einig. Die sachlich fundierte Kritik von<br />
Berufsverbänden, insbesondere auch vom Strafrechtsausschuss<br />
des DAV, hatte gegen die breite Front eines politischen<br />
Veränderungswillens keine Chance.<br />
Bei zahlreichen anderen Punkten überwogen die rechtsstaatlichen<br />
Bedenken im Parlament, so dass insbesondere<br />
einige Ideen der Ländervertretung (vorläufig?) keinen Eingang<br />
in die Gesetzesänderung fanden. Unberücksichtigt<br />
blieben so z. B. Vorstellungen zur Ausweitung des Strafbefehls<br />
auf Verfahren vor dem Land- und Oberlandesgericht,<br />
die Bestellung von Pflichtverteidigern in Ermittlungsverfahren<br />
durch die Staatsanwaltschaft, die<br />
Ausdehnung der Beweiskraft rechtskräftiger Strafurteile auf<br />
Zivilprozesse, die Einführung eines Wahlrechtsmittels gegen<br />
amtsgerichtliche Urteile, Erweiterungen zur Ablehnung<br />
von Beweisanträgen wegen angeblicher Prozessverschleppung<br />
oder die gesetzliche Konstituierung einer Erscheinensund<br />
Aussagepflicht von Zeugen bei der Polizei.<br />
Dennoch ist der Katalog der geänderten Vorschriften beachtlich.<br />
Die bedeutsamsten seien hier vorgestellt: *<br />
I. Hilfsbeamte werden zu Ermittlungspersonen<br />
Den größten gesetzestechnischen Aufwand erforderte<br />
eine – von den Entwürfen zunächst nicht vorgesehene –<br />
Änderung von Begriffen ohne unmittelbare inhaltliche Relevanz.<br />
Die Bezeichnung der Hilfsbeamten der Staatsanwalt-<br />
schaft, seit mehr als hundert Jahren der gesetzgeberische<br />
Kompromiss für die in Ermangelung einer eigenen staatsanwaltlichen<br />
Ermittlungsorganisation herangezogenen Polizeibeamten,<br />
hat ausgedient. Ohne dass ihr rechtlicher Status<br />
hierdurch berührt wird, werden die für die Staatsanwaltschaft<br />
tätigen Polizeibeamten nunmehr zu „Ermittlungspersonen“.<br />
II.Wegfall der Regelvereidigung (§§ 59 ff. StPO)<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Mitteilungen<br />
Mit einem minimalen Begründungsaufwand wird ein<br />
zentraler Punkt der Beweisaufnahme im Strafprozess geändert:<br />
Während Zeugen in der Regel bislang nach ihrer Vernehmung<br />
zu vereidigen waren und gesetzessystematisch<br />
das Absehen von der Vereidigung die Ausnahme blieb,<br />
wird dieses Verhältnis nunmehr umgekehrt. Zeugen bleiben<br />
regelmäßig unvereidigt. Vereidigungen sollen nur erfolgen,<br />
wenn es das Gericht wegen der ausschlaggebenden Bedeutung<br />
der Aussage oder zur Herbeiführung einer wahren<br />
Aussage für notwendig hält. Selbst wenn das Gericht von<br />
dieser Ausnahme Gebrauch machen will, wird es von der<br />
Last einer überprüfbaren Begründung durch das Gesetz befreit.<br />
Der Grund für die Vereidigung braucht im Protokoll<br />
nicht angegeben zu werden. Die Vereidigungsverbote des<br />
bisherigen § 60 StPO bleiben unberührt.<br />
Der Grund für diese Gesetzesänderung ist eine diffuse<br />
Vorstellung des Gesetzgebers von der Modernität für den<br />
Bereich der formalen Bekräftigung einer Zeugenaussage.<br />
Selbst wenn man der Idee folgen wollte, dass der Eid angesichts<br />
einer veränderten gesellschaftlichen Wertschätzung<br />
nicht mehr zeitgemäß ist, hätte man Veränderungen in<br />
Richtung auf eine zeitgemäßere Bekräftigungsform erwartet.<br />
Tatsächlich wird der Eid allerdings grundsätzlich nicht<br />
abgeschafft, sondern lediglich Ausnahmefällen vorbehalten.<br />
Damit werde das Gesetz der Rechtswirklichkeit angepasst,<br />
heißt es in der Begründung des Justizministeriums. Tatsächlich<br />
hat aber der Gesetzgeber nicht nur vor einer der ursprünglichen<br />
gesetzgeberischen Idee widersprechenden<br />
Praxis in den Gerichtssälen kapituliert. Der gleichzeitig gegebene<br />
Hinweis auf die Anpassung an die Vorschriften des<br />
OWiG zeigt, dass der Gesetzgeber letztlich dem auch durch<br />
ihn selbst verursachten Massencharakter von Strafverfahren<br />
Rechnung tragen und die Anzahl formaler Fesseln für den<br />
Strafrichter reduzieren wollte. Man hielt es offensichtlich<br />
mit Schopenhauer, der schon den Eid als metaphysische<br />
Eselsbrücke der Juristen disqualifizierte, die diese so selten<br />
als irgend möglich betreten sollten.<br />
Der Verteidiger wird seine Prozessstrategien neu ausrichten<br />
müssen. Die Chancen, ein sogenanntes Schuldinterlokut<br />
durch Diskussion über ein Vereidigungsverbot eines<br />
der Teilnahme verdächtigten Zeugen zu erreichen, sind<br />
drastisch gesunken. Auch revisionsrechtlich sind gerichtliche<br />
Entscheidungen im Zusammenhang mit der Vereidigung<br />
erheblich entschärft worden. Beruht dies allerdings regelmäßig<br />
darauf, dass nach der neuen Regelung das Gericht<br />
weder eine Entscheidung zur Vereidigung zu treffen noch<br />
gegebenenfalls eine Vereidigung zu begründen hat, muss<br />
der Verteidiger die nunmehr bestehenden Chancen nutzen,<br />
solche – revisionsrechtlich dann angreifbaren – Entscheidungen<br />
herbeizuführen. Dies gelingt nur über Anträge und<br />
* Eine Vorstellung aller Normen des JuMoG und eine Kommentierung sämtlicher<br />
strafverfahrensrechtlicher und zivilverfahrensrechtlicher Änderungen enthält<br />
Hirtz/Sommer, JuMoG, Haufe 2004.
AnwBl 8 + 9/2004 507<br />
Mitteilungen MN<br />
die Verpflichtung des Gerichts, diese zu bescheiden und gegebenenfalls<br />
bei Ablehnung auch zu begründen (§ 34<br />
StPO). Die zukünftige Realität in Strafverfahren, in denen<br />
konsequent verteidigt wird, wird daher eine Unzahl bisher<br />
nicht gekannter Vereidigungsanträge und hierauf notwendige<br />
Entscheidungen des Gerichts auszeichnen. Es wird das<br />
Gegenteil von dem erreicht, was den Vereinfachungs- und<br />
Beschleunigungsvorstellungen des Gesetzgebers entsprach.<br />
Möglicherweise wird die Erfahrung in einigen Jahren<br />
zeigen, dass das konsensuale Element des § 61 Nr. 5 StPO<br />
a. F. die bessere Lösungsmöglichkeit darstellte.<br />
III. Durchsicht von Schriftstücken bei Durchsuchungen<br />
durch Polizeibeamte (§ 110 StPO)<br />
Durchsuchungsaktionen haben sich zum Standard staatsanwaltlicher<br />
Ermittlungstätigkeit entwickelt. Die Suche in<br />
Wohnungen oder Geschäftsräumen des Betroffenen nach<br />
Beweismaterial führt zwangsläufig dazu, dass eine Unzahl<br />
höchstprivater Schriftstücke zunächst gesichtet werden<br />
muss, bevor deren Beweisrelevanz eingeschätzt werden<br />
kann. Es besteht die Gefahr einer erheblichen Beeinträchtigung<br />
der privaten Geheimnissphäre. Zum Schutz dieser Interessen<br />
sah das Gesetz früher vor, dass eine solche Sichtung<br />
ausschließlich durch den Richter erfolgen dürfe,<br />
zuletzt ist dies auf den Staatsanwalt ausgeweitet worden.<br />
Seine Hilfsbeamten (jetzt: Ermittlungspersonen) konnten<br />
solche Schriftstücke nur einsammeln, versiegeln und ihm<br />
zur eigentlichen Durchsicht vorlegen. Die aktuelle Gesetzesänderung<br />
lässt die Geheimhaltungsinteressen des Betroffenen<br />
endgültig zurücktreten und überlässt allen durchsuchenden<br />
Polizeibeamten das Recht zur Durchsicht von<br />
Papieren, wenn dies der Staatsanwalt angeordnet hat.<br />
Von dieser Anordnung wird erwartungsgemäß die<br />
Staatsanwaltschaft in weitem Umfang Gebrauch machen.<br />
Die Konsequenz der Gesetzesänderung müssen verstärkte<br />
Bemühungen der Verteidigung sein, die eigene Anwesenheit<br />
während der Durchsuchung sicherzustellen. Nur so<br />
kann bei jeder Einzelsichtung den durchsuchenden Beamten<br />
deutlich gemacht werden, welche konkreten schonenden<br />
Schritte denkbar sind, das im Durchsuchungsbeschluss<br />
beschriebene Ziel zu erreichen, ohne den gesamten Privatbereich<br />
des Beschuldigten umzupflügen.<br />
IV.Verlängerung der Unterbrechungsfristen<br />
(§ 229 StPO)<br />
Das zur Modernisierung und Beschleunigung des Strafverfahrens<br />
gedachte Gesetz verschafft dem Gericht bemerkenswerte<br />
Möglichkeiten, das Verfahren in die Länge zu<br />
ziehen. Konnte ein einheitlicher Strafprozess bislang lediglich<br />
10 Tage unterbrochen werden, sieht das Gesetz nunmehr<br />
eine Maximalfrist von drei Wochen vor. Ist ein Block<br />
von 10 Verhandlungstagen absolviert, hat das Gericht die<br />
Möglichkeit zu weiteren Unterbrechungen von jeweils bis<br />
zu einem Monat.<br />
Schiebetermine sollten damit verhindert und Prozesse effektiver<br />
gestaltet werden. Für die Verhinderung neuer nunmehr<br />
weiter auseinander liegender Schiebetermine hat allerdings<br />
auch das neue Gesetz keine Strategie. Die flexible<br />
Terminsgestaltung sollte offensichtlich dem Zweck dienen,<br />
bisherige Revisionsklippen besser umschiffen zu können.<br />
Der Preis könnte sehr hoch sein.<br />
Konnte die alte Regelung für sich in Anspruch nehmen,<br />
zwangsläufig zu einer – zumeist ausreichenden – Förderung<br />
des Verfahrens zu führen, bietet die neue großzügige gesetzliche<br />
Regelung den Rahmen, der auch eindeutig dilatorisches<br />
Prozessverhalten des Gerichts umfassen kann. Alle<br />
Verfahrensbeteiligten werden sich darauf einstellen müssen,<br />
die Terminierung in jedem Einzelfall daraufhin zu<br />
überprüfen, ob der Beschleunigungsgrundsatz des Artikel 6<br />
Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention gewahrt<br />
worden ist. Die Möglichkeit der Rügen auch in der<br />
Revision dürften erhöht worden sein.<br />
Eine zusätzliche Unterbrechungsmöglichkeit im laufenden<br />
Prozess bietet die Neuformulierung des § 229 Abs. 3<br />
StPO. Erkrankt ein Richter oder Schöffe, kann nunmehr bis<br />
zu 6 Wochen auf dessen Gesundung zugewartet werden,<br />
ohne dass das Verfahren ausgesetzt werden muss.<br />
V.Verzicht auf den Protokollführer (§ 226 StPO)<br />
Nach den Vorstellung des Gesetzgebers soll in einfachen<br />
Strafverfahren vor dem Strafrichter der Urkundsbeamte der<br />
Geschäftsstelle nur noch seltener Gast sein. Der Strafrichter<br />
allein soll – wenn er das für richtig erachtet – für das Protokoll<br />
zuständig sein. Ist der Urkundsbeamte nicht anwesend,<br />
braucht er das Protokoll auch nicht zu unterschreiben<br />
(§ 273 StPO).<br />
Es gehört wenig Phantasie und nur die Erinnerung an zivilprozessuale<br />
Beweisaufnahmen dazu, sich die massive<br />
Änderung des Charakters einer Hauptverhandlung vorzustellen,<br />
in der der Strafrichter eine Verhandlung nicht nur<br />
führt und den Inhalt der Beweisaufnahme rezipiert, sondern<br />
darüber hinaus auch den Verlauf des Geschehens sowohl<br />
inhaltlich als auch hinsichtlich der Einhaltung der Formalien<br />
protokolliert. Arbeitserleichterung ist daher von der<br />
neuen Regelung kaum zu erwarten.<br />
VI. Erweiterung der Verlesungsmöglichkeiten von<br />
Urkunden (§ 251, 256 StPO)<br />
Eine der wichtigsten Möglichkeiten im Strafprozess,<br />
eine qualitativ hohe Basis für die Erforschung der Wahrheit<br />
zu gewinnen, ist das Prinzip der unmittelbaren Beweiserhebung.<br />
Protokollverlesung statt einer unmittelbaren Befragung<br />
stellte bislang eine kalkulierte Ausnahme von der konsequenten<br />
Durchführung des Unmittelbarkeitsprinzips dar,<br />
das dem deutschen Strafprozessrecht auch im europäischen<br />
Vergleich durchaus eine herausragende Stellung einräumte.<br />
Ohne dass eine zusätzliche Kontrolle bei einer Protokoll<br />
erstellung – beispielsweise durch einen Ermittlungsrichter<br />
– im Ermittlungsverfahren vorgesehen ist, erweitert der Gesetzgeber<br />
nun in bedeutsamen Umfang diese Verlesungsmöglichkeiten.<br />
Neben einer begrüßenswerten redaktionellen<br />
Änderung des § 251 StPO ermöglicht diese Vorschrift auch<br />
die Verlesung von Gutachten. Ist der Sachverständige für<br />
das jeweilige Fachgebiet allgemein vereidigt, besteht nunmehr<br />
die Möglichkeit, dass keiner der Verfahrensbeteiligten<br />
ihn in der Hauptverhandlung jemals zu Gesicht bekommt.<br />
Eine Fülle von phantasievollen Beweisanträgen der Verteidigung<br />
wird die Folge sein, um berechtigten Klärungsinteressen<br />
in der Hauptverhandlung zum Durchbruch zu verhelfen.<br />
Als eine massive Verschiebung der Gewichte im Strafprozess<br />
wird sich auch die Neuregelung des § 256 StPO
508<br />
MN<br />
auswirken. Die in Vermerken niedergelegte Ermittlungstätigkeit<br />
von Polizeibeamten wird nicht mehr in der Hauptverhandlung<br />
durch Vernehmung der Polizisten als Zeugen<br />
aufgeklärt, vielmehr soll die Verlesung dieser Vermerke<br />
ausreichen. Der Verlauf einer Festnahme oder die Durchführung<br />
einer Hausdurchsuchung soll für den gesamten<br />
Strafprozess allein durch die schriftliche Fixierung der Polizeibeamten<br />
selbst feststehen. Eine Ausnahme gilt nur für<br />
Vernehmungen, seien es Vernehmungsprotokolle oder mittelbare<br />
Wiedergaben von Vernehmungen in Vermerken.<br />
Hier wird das Unmittelbarkeitsprinzip weiterhin formal aufrecht<br />
erhalten.<br />
Die neue Situation verlangt aufrechte Richter und phantasiebegabte<br />
Verteidiger. Die Verfahrensbeteiligten haben<br />
nach der alten Gesetzeslage den Wert der Erkenntnisse aus<br />
unmittelbaren Befragungen der Ermittlungsbeamten geschätzt.<br />
Entscheidungserhebliche Informationen lassen sich<br />
oft nur durch unmittelbare Befragungen in die Beweisaufnahme<br />
einführen. Das Dokumentationsinteresse eines Polizeibeamten<br />
weicht oftmals erheblich von dem Erkenntnisinteresse<br />
der Verfahrensbeteiligten im Prozess ab. Gerade<br />
die Routine der polizeilichen Berichte, die dem Gesetzgeber<br />
als Beleg für die Zuverlässigkeit der Polizeivermerke<br />
erscheint, ist Anlass für eine individualisierende Hinterfragung.<br />
Besteht kein Klärungsbedarf, hätten alle Verfahrensbeteiligte<br />
bereits nach bislang geltender Rechtslage auf die<br />
Vernehmung des Polizeibeamten verzichten können. Die<br />
Aufgabe dieses konsensualen Elements wird im Strafprozess<br />
für Verteidigungsstrategien sorgen, die den Überlegungen<br />
des Gesetzgebers bislang fremd waren.<br />
VII. „Durchentscheiden“ der Revisionsgerichte<br />
(§ 354 StPO)<br />
Das diesjährige Symposium der Arbeitsgemeinschaft<br />
Strafrecht im DAV in Karlsruhe thematisierte schon in seinem<br />
<strong>Titel</strong> die durch gelegentliche Entscheidungen der BGH<br />
hervorgerufene Gefahr, dass die Strafsenate sich ungewollt<br />
auf den Weg zu einer Tatsacheninstanz begeben hätten. Die<br />
rechtspolitisch und -dogmatisch wohlbegründete Warnung<br />
scheint der Gesetzgeber als Aufforderung verstanden zu haben.<br />
§ 354 StPO sieht nunmehr ausdrücklich vor, dass – beschränkt<br />
auf Fragen der Strafzumessung – das Revisionsgericht<br />
Entscheidungen treffen kann, die bislang lediglich<br />
den Tatsachenrichtern vorbehalten waren. Ohne jemals einen<br />
persönlichen Eindruck vom Angeklagten gehabt zu haben,<br />
sollen die Senate nunmehr in Einzelfällen konkrete<br />
Strafen fixieren.<br />
Wenn sich bislang von den Senaten aufgedeckte Rechtsfehler<br />
im Strafzumessungsbereich nach deren Einschätzung<br />
unter keinem denkbaren Gesichtspunkt auf das Strafmaß<br />
auswirken konnten, trafen sie keine eigene Strafzumessungsentscheidung,<br />
sie prognostizierten lediglich alle denkbaren<br />
Entscheidungen des Tatgerichts und zogen hieraus<br />
unter Umständen den Schluss, dass ein Urteil nicht auf einem<br />
festgestellten Rechtsmangel beruhe. Nunmehr soll das<br />
Revisionsgericht selbst bewerten und entscheiden können.<br />
So soll beispielsweise von einer Aufhebung des Tatsachenurteils<br />
abgesehen werden, wenn nach der eigenständigen<br />
Bewertung des Revisionsgerichts die Rechtsfolge „angemessen“<br />
ist. Eigenständige Bewertungen sollen nicht nur<br />
bei einer derartigen Zustimmung, sondern sogar bei einer<br />
neuen Fixierung der Strafe im Revisionsverfahren erfolgen.<br />
Denn der Senat kann auf Antrag der Staatsanwaltschaft die<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Mitteilungen<br />
Rechtsfolgen „angemessen herabsetzen“. Auch wenn die<br />
Strafe somit im Ergebnis für den angeklagten Revisionsführer<br />
nicht verschlechtert werden kann, sind die Defizite<br />
einer solchen Strafzumessung nach Aktenlage ohne jede<br />
persönliche Kenntnis des Angeklagten problematisch. Es<br />
bleibt zu hoffen, dass sich die Revisionsgerichte dieser Problematik<br />
bewusst sind, wenn sie nach pflichtgemäßem Ermessen<br />
entscheiden, ob sie die Sache zur neuen Verhandlung<br />
an den Tatrichter zurückverweisen oder selbst<br />
entscheiden.<br />
Eine Strafzumessung lediglich nach Aktenlage kennt bereits<br />
das aktuelle Gesetz im Zusammenhang mit der nachträglichen<br />
Bildung einer Gesamtstrafe, §§ 460, 462 StPO.<br />
Die Wahrnehmung dieser Möglichkeit bei nachträglicher<br />
Gesamtstrafenbildung soll nunmehr auch nach einer Aufhebung<br />
des Urteils durch das Revisionsgericht im Hinblick<br />
auf die fehlerhafte Bildung einer Gesamtstrafe möglich sein<br />
(§ 354 Abs. 1 b StPO).<br />
VIII.Weitere punktuelle Änderungen<br />
Ob und inwieweit zahlreiche weitere Änderung durch<br />
das Justizmodernisierungsgesetz neue Brisanz in den Strafprozess<br />
bringen, wird in der Praxis abzuwarten sein. Manches<br />
dient sicherlich der – auch einvernehmlichen – Beschleunigung.<br />
So soll der Übergang ins<br />
Strafbefehlsverfahren in der Hauptverhandlung auch auf<br />
mündlichen Antrag der Staatsanwaltschaft möglich sein<br />
(§ 408 a Abs. I Satz 2 StPO). Wird ein Einspruch gegen einen<br />
Strafbefehl lediglich auf die Höhe der Tagessätze einer<br />
festgesetzten Geldstrafe beschränkt, kann mit Zustimmung<br />
aller Beteiligten im schriftlichen Verfahren entschieden<br />
werden (§ 411 Abs. I StPO). Darüber hinaus werden vom<br />
Gesetzgeber erkannte Lücken im Ordnungswidrigkeitenverfahren<br />
geschlossen. Im Straßenverkehrsgesetz wird in § 29<br />
eine Ablaufhemmung bei der Tilgung von Eintragungen in<br />
das Verkehrsregister auf die Begehung einer neuen Tat fixiert;<br />
die bisherige Verteidigungstaktik, allein zur Überbrückung<br />
von Fristen Rechtsmittel einzulegen, dürfte damit<br />
obsolet geworden sein. Letztlich eröffnet die gesetzliche<br />
Neuregelung durch die Änderung des Rechtspflegergesetzes<br />
an einigen Stellen zusätzliche Möglichkeiten, insbesondere<br />
in der Strafvollstreckung Tätigkeiten vom Staatsanwalt<br />
auf den Rechtspfleger zu verlagern.<br />
IX. Fazit<br />
Was sich als gesetzgeberischer Flickenteppich darstellt,<br />
könnte grundsätzliche Hinweise des Gesetzgebers zu seiner<br />
Auffassung des „modernen“ Strafprozesses geben. Das Verständnis<br />
eines fairen Prozesses dürfte auch bei Richtern<br />
nicht selten mit neuen Regelungen kollidieren. Es bleibt die<br />
Hoffnung, dass angesichts zahlreicher Fakultativregelungen<br />
der in den Köpfen von Politikern ersonnene moderne Prozess<br />
in der Praxis nicht stattfindet. Im Konfliktfall wird die<br />
„moderne“ Strafverteidigung an vielen bislang unbekannten<br />
Stellen im Prozess ihre konservative Vorstellung vom Inhalt<br />
der Bürgerrechte im Strafprozess mit neuen Strategien verdeutlichen<br />
müssen.
AnwBl 8 + 9/2004 509<br />
Mitteilungen MN<br />
Syndikusanwälte<br />
Unternehmen prüfen<br />
Anwaltshonorare strenger *<br />
Syndikusanwälte: Kosten für externe Rechtsberatung explodieren/„Kanzleien<br />
sind normale Zulieferer“<br />
Dr. Joachim Jahn, Frankfurt<br />
„Die Zeiten, in denen Anwaltsrechnungen als gottgegeben<br />
hingenommen wurden, sind vorbei.“ Mit diesen Worten<br />
bringt Hans-Peter Benckendorff von der Deutschen Bank<br />
die neue Haltung von Syndikusanwälten in Unternehmen<br />
gegenüber ihren niedergelassenen Kollegen auf den Punkt.<br />
„Unsere Anwaltskosten steigen jährlich exponentiell“,<br />
sagte Benckendorff auf dem 55. Deutschen Anwaltstag in<br />
Hamburg. Mittlerweile hätten sie die Schwelle von 200<br />
Millionen Euro deutlich überschritten. Die Konsequenz:<br />
Sein Geldinstitut hat das Kontrollsystem für die Honorarnoten<br />
freier Advokaten verfeinert. „Demnächst haben wir<br />
dafür ein sehr detailliertes Netz, das die Anwälte nicht nur<br />
begrüßen werden.“<br />
Die Rechtsabteilungen der Wirtschaftsunternehmen gehen<br />
mittlerweile strenger mit den Kanzleien um als früher.<br />
Dr. jur. Joachim Jahn ist Redakteur bei der<br />
Frankfurter Allgemeinen Zeitung.<br />
Die Fluglinie Lufthansa etwa hat kürzlich einen Auftrag<br />
zur Rechtsberatung von ihrer allgemeinen Einkaufsabteilung<br />
über das Internet ausschreiben lassen. Auch beschäftigt<br />
sie eigens eine Firma, die sich um die Prüfung der Honorarnoten<br />
kümmert, wie Benckendorff berichtet. Und der<br />
Lebensmittelkonzern Nestlé hat unlängst die Zahl der Sozietäten,<br />
mit denen er weltweit zusammenarbeitet, zur Kostenreduzierung<br />
von 1.500 auf bloße zwei zurückgefahren.<br />
Benckendorff: „Wenn Sie mit Anwälten länger über deren<br />
Rechnungen als über inhaltliche Fragen diskutieren müssen,<br />
stimmt etwas nicht.“<br />
Dass der Einkauf externer Rechtsberatung aus Sicht der<br />
Firmenjuristen nichts anderes mehr ist als der Bezug von<br />
Bleistiften oder Gummidichtungen vom Zulieferer, machte<br />
für die Arbeitsgemeinschaft der Syndikusanwälte auch Holger<br />
Strnad von dem Aschaffenburger Unternehmen Pass IT-<br />
Consulting deutlich. Solche Aufträge würden immer dann<br />
vergeben, wenn man nach einer „Make or buy“-Entscheidung<br />
die eigene Rechtsabteilung entsprechend schlank halten<br />
wolle. Für Strnad gehört die Einschaltung auswärtiger<br />
Anwälte zur „Kernkompetenzstrategie“ und sollte dem allgemeinen<br />
„Beschaffungsmanagement“ unterworfen werden<br />
– nach dem Motto „So billig wie möglich, so hochwertig<br />
wie nötig“. Bei den Einkaufspreisen macht er bei Standardleistungen<br />
einen Abschlag; seine Zusammenarbeit beschränkt<br />
er auf vier bis fünf spezialisierte Kanzleien, die er<br />
möglichst selten wechselt. Am liebsten vereinbart Strnad<br />
Fixpreise, mit einer nach Euro und Stundenzahl bemessenen<br />
Obergrenze. Nachbesserungen seien bei unvorhersehbar hohem<br />
Zeitaufwand möglich, aber nur nach festen Regeln.<br />
Dass all das trotzdem nicht ohne Vertrauen geht, räumte<br />
Strnad ein: Ob die abgerechneten Stunden nicht künstlich<br />
aufgebläht würden, könne er nur auf Plausibilität hin<br />
prüfen.<br />
„Jetzt sind die Anwälte dran“, mokierten sich Zuhörer<br />
aus der Anwaltschaft, die sich als neues Jagdopfer sahen.<br />
Sie witterten einen „Handel wie auf dem Basar“. Doch<br />
Dietrich Rethorn, Chefsyndikus der Landesbank Hessen-<br />
Thüringen, machte an ein paar Beispielen deutlich, wo für<br />
Unternehmen als Mandanten die Schmerzgrenze liegt. Wenig<br />
erfreut zeigte sich Rethorn etwa über eine anonymisiert<br />
auf die Leinwand projizierte Originalrechnung, in der es<br />
lapidar hieß: „Für unsere Leistungen berechnen wir<br />
29.700 Euro Honorar nebst 68,70 Euro Kopien schwarz/<br />
weiß und 0,30 Euro Telefon.“ Für seinen Geschmack standen<br />
die aufgeführten Auslagen in keinem rechten Verhältnis<br />
zur Gesamtsumme.<br />
Konsterniert ist der Banksyndikus häufig auch über die<br />
Aufschlüsselung der abgerechneten Stunden: Posten wie<br />
das Anlegen einer Akte, die Korrektur von Schriftsätzen<br />
oder die Unterrichtung eines zur Vertretung einspringenden<br />
Anwalts gehörten gar nicht auf die Rechnung – ebenso wie<br />
das „Erfassen des Sachverhalts“, die Besprechung eines<br />
Anwalts mit Partnerstatus mit mehreren angestellten Nachwuchskollegen<br />
(„Associates“) sowie die Lektüre eines<br />
Fachaufsatzes. All das sei vielmehr Teil der generellen<br />
Büro-, Fort- und Ausbildungskosten. „Manche Kanzlei hat<br />
22 Stunden verbraten, bevor die Sache richtig beginnt –<br />
und Spezialisten, die wir eigens wegen ihrer Fachkenntnis<br />
beauftragen, lassen sich erst mal vom Büro die Materie in<br />
aller Breite von Adam und Eva an aufbereiten.“<br />
Rethorns Rat: „Bei der Rechnung kommt es zum<br />
Schwur, ob die gesamte Zusammenarbeit geklappt hat.“<br />
Aus seiner Sicht passen dazu keine Honorarnoten, die unbesehen<br />
aus dem kanzleiinternen Abrechnungssystem ausgedruckt<br />
und an den Auftraggeber geschickt werden. Was<br />
er kritisiert, seien keineswegs Missbräuche oder Stundenschinderei,<br />
sondern sei ein Effekt der extremen Arbeitsteilung<br />
in großen Wirtschaftssozietäten. Dabei sieht der Bankjurist<br />
in besser aufbereiteten Abschlussrechnungen sogar<br />
einen preiswerten Werbeträger mit der Chance zum Aufbau<br />
einer nachhaltigen Mandantenbeziehung.<br />
Renate von Tirpitz, Syndika bei Robert Bosch, machte<br />
deutlich, unter welchem Kostendruck in der Konjunkturflaute<br />
auch Rechtsabteilungen stehen. Auf sie kamen<br />
Vorgaben der Geschäftsführung zu, einen festen Prozentsatz<br />
ihres Budgets an Reisekosten, Seminaren und Anwaltshonoraren<br />
einzusparen. Dann gehe sie schon mal auf lang bewährte<br />
Kanzleipartner zu, sagte von Tirpitz, und bitte diese<br />
darum, die Stundensätze zu senken und auf praxisferne<br />
Gutachten zu verzichten. „Drei abgerechnete Stunden für die<br />
Erstellung der Rechnung – da wundert man sich dann<br />
schon“, nannte sie als Beispiel für enttäuschte Erwartungen<br />
an Kosteneinsparung und Transparenz bei den Beratern. Ihr<br />
Rezept: Feste Richtlinien, die für beide Seiten die Spielregeln<br />
verbindlich festlegen und als Allgemeine Geschäftsbedingungen<br />
im Vertrag vereinbart werden.<br />
* Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 26.5.2004. E Alle Rechte<br />
vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung<br />
gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.
510<br />
MN<br />
Anwaltsvergütung<br />
Anforderungen an eine<br />
ordnungsgemäße Abrechnung<br />
nach dem RVG<br />
Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen<br />
Viele Honorarprozesse scheitern daran, dass der Anwalt<br />
nicht ordnungsgemäß abgerechnet hat. Der Autor<br />
stellt die Formerfordernisse des § 10 RVG dar.<br />
I. Die gesetzliche Regelung<br />
Nach § 10 RVG kann der Anwalt seine Vergütung nur<br />
aufgrund einer ordnungsgemäßen Berechnung einfordern.<br />
Diese Regelung entspricht im Wesentlichen dem bisherigen<br />
§18BRAGO.<br />
Das RVG unterscheidet zwischen dem Entstehen der<br />
Vergütung, der Fälligkeit und der Einforderbarkeit.<br />
9 Die Vergütung entsteht mit der ersten Tätigkeit des Anwalts,<br />
also in der Regel mit der Entgegennahme der Information<br />
(vgl. Anm. Abs. 2 Vorb. 3 VV; Anm. Abs. 3 Vorb.<br />
2.4 VV).<br />
9 Fällig wird die Vergütung dagegen erst mit der Erledigung<br />
des Auftrags oder der Beendigung der Angelegenheit<br />
(§ 8 Abs. 1 S. 1 RVG) und in einem gerichtlichen Verfahren<br />
darüber hinaus unter den Voraussetzungen des § 8 Abs. 1<br />
S. 2 RVG.<br />
9 Einforderbar ist die Vergütung schließlich erst, wenn<br />
der Anwalt dem Auftraggeber eine formell ordnungsgemäße<br />
Berechnung nach § 10 RVG erteilt hat.<br />
9 Die Verjährung wiederum beginnt mir Ablauf des Kalenderjahres,<br />
in dem die Fälligkeit eingetreten ist (§ 199<br />
Abs. 1 Nr. 1 BGB). Auf den Ablauf der Verjährung hat die<br />
Mitteilung der Berechnung dagegen keinen Einfluss (§ 10<br />
Abs. 1 S. 2 RVG).<br />
II. Die Anforderungen im Einzelnen<br />
Welche Anforderungen eine formell ordnungsgemäße<br />
Abrechnung erfüllen muss, ergibt sich im Einzelnen aus<br />
§ 10 Abs. 2 RVG.<br />
1. Schriftform<br />
Die Abrechnung der Vergütung muss schriftlich (§ 126<br />
BGB) erfolgen. Die Rechnung muss allerdings nicht auf einem<br />
gesonderten Rechnungsblatt erteilt werden. Sie kann<br />
vielmehr auch in ein Anschreiben gefasst oder an das Ende<br />
eines Anschreibens an den Mandanten gesetzt werden. Aus<br />
Gründen der Übersichtlichkeit empfiehlt es sich jedoch,<br />
stets ein gesondertes Rechnungsformular zu verwenden.<br />
Insbesondere für Mandanten, die die gezahlte Vergütung<br />
steuerlich geltend machen können, ist ein solches Rechnungsformular<br />
vorteilhafter.<br />
2. Rechnungsadressat<br />
Die Rechnung muss an den Auftraggeber gerichtet sein. Dieser<br />
muss nicht unbedingt mit dem Vertretenen identisch sein 1 .<br />
3. Bezeichnung der Angelegenheit<br />
In der Kostenrechnung müssen die abgerechneten Angelegenheiten<br />
genau bezeichnet werden. Hierzu genügt grundsätzlich<br />
die Angabe der Parteien zur Konkretisierung. Sind<br />
bei dem Anwalt allerdings mehrere Verfahren zwischen<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Mitteilungen<br />
denselben Parteien anhängig, wie insbesondere in Familiensachen,<br />
so sind weitere Angaben zur Konkretisierung erforderlich.<br />
Hier wird eine kurze Bezeichnung der Sache, etwa<br />
„Unterhalt“, „Umgangsrecht“ o. ä. zur Unterscheidung ausreichen.<br />
Bei mehreren Instanzen muss zur Klarheit auch<br />
der jeweilige Rechtszug angegeben werden.<br />
4. Gebührentatbestände<br />
Die angewandten Gebührentatbestände müssen durch<br />
eine „kurze Bezeichnung“ angeführt werden. Hier reicht<br />
z. B. die Angabe „Verfahrensgebühr“, „Terminsgebühr“,<br />
„Geschäftsgebühr“, „Einigungsgebühr“, etc.<br />
5. Gebührensatz<br />
Die Angabe des Gebührensatzes ist in § 10 RVG nicht<br />
zwingend vorgeschrieben. Der Anwalt sollte hierauf jedoch<br />
nicht verzichten, da anderenfalls die Berechnung nicht<br />
nachvollziehbar ist.<br />
6. Gebührenbeträge<br />
Jeder einzelne Gebührenbetrag zu jeder einzelnen<br />
Gebühr muss gesondert ausgewiesen werden. Es genügt<br />
also nicht, mehrere Gebühren zusammenzufassen und das<br />
Gesamtergebnis anzugeben.<br />
Werden Satz- oder Betrags-Rahmengebühren abgerechnet,<br />
reicht es nach § 10 RVG aus, lediglich den Endbetrag<br />
anzugeben. Zweckmäßig ist es jedoch, in einem Anschreiben<br />
zu erläutern, wie der Anwalt zu dem jeweiligen Betrag<br />
gelangt ist. Bei einer Mittelgebühr wird man i. d. R. auf<br />
Ausführungen verzichten können. Weicht der Anwalt jedoch<br />
von der Mittelgebühr ab und verlangt er einen höheren<br />
Betrag, sollte er dies in seinem Anschreiben kurz begründen.<br />
Dies erspart ihm - insbesondere bei der<br />
Korrespondenz mit Rechtsschutzversicherern - spätere<br />
Nachfragen oder Kürzungen seines Honorars.<br />
7. Gegenstandswert<br />
Bei Gebühren, die sich nach dem Gegenstandswert richten<br />
(§ 2 Abs. 1 RVG), muss der Wert angegeben werden,<br />
aus dem sich die jeweilige Gebühr berechnet. Richten sich<br />
alle Gebühren nach demselben Wert reicht es aus, eingangs<br />
der Kostenrechnung den Gegenstandswert anzugeben. Sind<br />
dagegen für einzelne Gebühren nur Teilwerte oder geringere<br />
Werte maßgebend, so müssen die Gegenstandwerte bei<br />
jeder Gebühr gesondert angeführt werden.<br />
8. Gebührenvorschriften (Nummern des Vergütungsverzeichnisses)<br />
Die angewandten Gebührenvorschriften müssen zitiert<br />
werden. Hierunter fallen die einzelnen Nummern des VV.<br />
An sich ist auch die Gesetzesangabe erforderlich, wobei<br />
die Gesetzesangabe auch vorangestellt werden kann, etwa<br />
„berechnet nach den Vorschriften des RVG“. Soweit eine<br />
Nummer mehrere Gebührentatbestände enthält (z. B.<br />
Nr. 3101, 2403, 4101 VV), müssen auch Absätze, Sätze<br />
und Nummern angegeben werden. Anderenfalls ist nicht erkennbar,<br />
von welcher Gebühr der Anwalt ausgeht. 2<br />
An mehreren Stellen kommt es vor, dass in einer Nummer<br />
der Grundtatbestand einer Gebühr enthalten ist und in<br />
den folgenden Nummern nur noch eine abweichende Gebührenhöhe<br />
geregelt wird (so z. B. bei der Einigungsgebühr:<br />
Nr. 1000 ff. VV). Ob in diesen Fällen die Nummer der<br />
Grundgebühr, die Nummer des Modifizierungstatbestandes<br />
1 AnwKom-RVG/N. Schneider § 10 Rn. 11 ff.<br />
2 AnwKom-RVG/N. Schneider § 10 Rn. 22.
AnwBl 8 + 9/2004 511<br />
Mitteilungen MN<br />
oder beide zu zitieren sind, ergibt sich aus § 10 RVG nicht.<br />
Um hier kein Risiko einzugehen, sollte die gesamte Nummern-Kette<br />
zitiert werden, zumal dies für Transparenz sorgt<br />
und eine Überprüfung der Rechnung erleichtert.<br />
Hilfsnormen müssen nach dem Wortlaut des § 10 RVG<br />
nicht angegeben werden. Gleichwohl empfiehlt sich dies.<br />
Wenn also z. B. nach einem Urkunden-, Scheck- oder Wechselprozess<br />
das Nachverfahren durchgeführt wird, sollte § 17<br />
Nr. 5 RVG mit angeführt werden, bei einer Zurückverweisung<br />
sollte § 21 Abs. 1 RVG mitzitiert werden; bei den zusätzlichen<br />
Gebühren der Nr. 4141, 5115 VV muss die in Bezug<br />
genommene jeweilige Verfahrensgebühr mitzitiert<br />
werden. Der Mandant kann anderenfalls nicht nachvollziehen,<br />
warum derselbe Gebührentatbestand mehrmals in Rechnung<br />
gestellt wird. Auch sonstige Hilfsnormen, insbesondere<br />
Nr. 1008 VV zur Erhöhung der Gebühr bei mehreren Auftraggebern<br />
sollten der Klarheit halber angegeben werden.<br />
9. Auslagen<br />
Auch Auslagen müssen konkret bezeichnet und einzeln<br />
ausgewiesen werden 3 . Bei den Entgelten für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen<br />
reicht ein Hinweis auf die<br />
Postentgeltpauschale der Nr. 7002 VV, wenn der Anwalt<br />
pauschal abrechnet. Bei konkreter Abrechnung genügt zunächst<br />
die Angabe des Gesamtbetrages (§ 10 Abs. 2 S. 2<br />
RVG); eine detaillierte Aufstellung ist nur auf Nachfrage<br />
des Mandanten erforderlich. Auch Reisekosten sind nachvollziehbar<br />
abzurechnen.<br />
10.Vorschüsse und anzurechnende Beträge<br />
Weiterhin ist nach § 10 Abs. 2 S. 1 RVG vorgeschrieben,<br />
dass der Anwalt bereits erhaltene Vorschüsse oder Zahlungen<br />
Dritter und auch anzurechnende Beträge (z. B. nach Abs. 4,<br />
Abs. 5 Vorb. 3 VV) in die Abrechnung aufzunehmen hat.<br />
11. Eigenhändige Unterschrift<br />
Weitere zwingende Voraussetzung, die häufig übersehen<br />
wird, ist die Unterschrift des Anwalts. Auf dieses Erfordernis<br />
kann nicht verzichtet werden. Mit der Unterschrift übernimmt<br />
der Anwalt die strafrechtliche (§ 352 StGB), zivilrechtliche<br />
und auch berufsrechtliche Verantwortung für den<br />
Inhalt der Berechnung. Die Unterschrift muss eigenhändig<br />
sein. Ein Faksimilestempel genügt nicht 4 , BRAGO 8. Aufl.<br />
1995, § 18 Rn. 5., ebenso wenig eine eingescannte Unterschrift<br />
5 , da diese letztlich nichts anderes ist als ein auf EDV<br />
umgesetzter Faksimilestempel 6 .<br />
12.Weitere Angaben<br />
Die Aufzählung in § 10 Abs. 2 RVG ist nicht abschließend.<br />
Soweit weitere Angaben dort nicht gefordert werden, heißt<br />
dies nicht, dass diese stets entbehrlich sind. Allerdings werden<br />
weitere Angaben nur in Ausnahmefällen erforderlich sein 7 .<br />
13. Steuerliche Anforderungen an die anwaltliche Rechnung<br />
Auf der Grundlage der Richtlinie 2001/115 EG des Rates<br />
8 werden seit dem 1.1.2004 (mit teilweiser Schonfrist<br />
zum 1.7.2004) strengere Anforderungen an die anwaltliche<br />
3 AnwKom-RVG/N. Schneider § 10 Rn. 30.<br />
4 OLG Hamburg AnwBl. 1970, 233; Hansens, BRAGO 8. Aufl. 1995, § 18 Rn. 5.<br />
5 Wrede AGS 1998, 34.<br />
6 Zu Einzelheiten siehe AnwKom-RVG/N. Schneider Rn. 34 ff.<br />
7 AnwKom-RVG/N. Schneider § 10 Rn. 40.<br />
8 Vom 20.12.2001 (L15/24 Amtsblatt EG 17.1.2001).<br />
RVG – Frage des Monats<br />
Kann die Terminsgebühr schon anfallen,<br />
bevor eine Klage anhängig ist?<br />
Die Terminsgebühr der VV Nr. 3104 fällt nach den<br />
in der Vorbemerkung 3 Abs. 3 RVG-VV genannten<br />
Kriterien auch ohne Beteiligung des Gerichts an, wenn<br />
der Anwalt an Besprechungen mitwirkt, die auf Vermeidung<br />
oder Erledigung des Verfahrens gerichtet sind.<br />
Nur Besprechung mit dem eigenen Mandanten löst die<br />
Terminsgebühr nicht aus, selbst wenn als Ergebnis einer<br />
solchen internen Unterredung das Verfahren vermieden<br />
wird oder sich erledigt. Die Terminsgebühr ersetzt<br />
nach der Gesetzesbegründung sowohl die<br />
Verhandlungs-, die Erörterungs- als auch die Beweisgebühr<br />
nach § 31 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 4 BRAGO.<br />
Diese Nachfolgefunktion für Gebührentatbestände,<br />
die bislang ein bereits eingeleitetes Verfahren, also Anhängigkeit<br />
und Rechtshängigkeit der Klage voraussetzten,<br />
hat Zweifel veranlasst, ob auch ohne Rechtshängigkeit einer<br />
Klage bereits die Terminsgebühr entstehen kann.<br />
Die Zweifel sind unberechtigt. Die Terminsgebühr<br />
entsteht im Umfang von 1,2 unter den in Vorbemerkung<br />
3 Abs. 3 RVG-VV genannten Voraussetzungen<br />
unabhängig von der Zustellung einer Klage an den<br />
Gegner, sogar unabhängig von der Einreichung einer<br />
Klageschrift und letztlich auch unabhängig von der<br />
Existenz eines Klageschriftsatzes.<br />
Die einzige zwingende Voraussetzung ist: Es muss<br />
eindeutig ein Prozessmandat, also Auftrag zur Klage<br />
oder zur Klageabwehr erteilt sein.<br />
Der Text der neuen Regelung ermöglicht eine klare<br />
Interpretation. Der Gesetzeswortlaut in der Vorbemerkung<br />
3 Abs. 3 nennt mit der Alternative „einer auf die<br />
Vermeidung eines Verfahrens gerichteten Besprechung<br />
ohne Beteiligung des Gerichts“ eine Konstellation, die<br />
gerade voraussetzt, dass ein Verfahren noch nicht eingeleitet<br />
wurde. Die Klageeinreichung bei Gericht, erst<br />
recht die Zustellung an den Gegner leiten bereits formell<br />
das gerichtliche Verfahren ein, lösen z. B. Kostenfolgen<br />
wie Vorschusspflicht für den Kläger aus. Ein bereits<br />
eingeleitetes Verfahren kann nicht mehr<br />
„vermieden“ sondern nur noch „erledigt“ werden.<br />
Weder ausdrücklich noch versteckt finden sich<br />
Rechtshängigkeit oder Anhängigkeit einer Klage als<br />
Voraussetzung für die Entstehung der „Besprechungs-<br />
Terminsgebühr“.<br />
Diese Auffassung deckt sich mit dazu vorliegenden<br />
Veröffentlichungen in der Literatur (Braun/Hansens,<br />
RVG-Praxis, 2004, 138; Hansens, JurBüro 5/2004, 250;<br />
Bischof, JurBüro 6/2004, 296, 297; Mayer in Mayer/<br />
Kroiß, RVG Handkommentar, 1. Auflage 2004, zur Vorbemerkung<br />
3 Teil 3 Rn. 33; Römermann in Hartung/<br />
Römermann, Praxiskommentar zum RVG, 2004, zu VV<br />
Teil 3 Rn. 9; Schneider/Mock, Das neue Gebührenrecht<br />
für Anwälte, 2004, S. 158 Rn. 67; Volpert, Die neuen<br />
Gebühren nach dem RVG, RVG Prof. 3/2004, 37, 40;<br />
Henke, AnwBl 6/2004, 363, 364).<br />
Rechtsanwalt Udo Henke, Berlin<br />
RVG-Fragen können DAV-Mitglieder im Internetforum<br />
unter www.anwaltsforum.de diskutieren.
512<br />
MN<br />
Rechnung gestellt 9 , Verschärfte umsatzsteuerrechtliche Anforderungen<br />
seit dem 1.01.2004, AnwBl 2004, 174; J. Schneider,<br />
Neue und höhere Anforderungen an die Rechnungsstellung,<br />
AGS 2004, 39; ders., Steueränderungsgesetz 2003, AGS 2004,<br />
86; Hansens, Neue Formerfordernisse für anwaltliche Kostenberechnungen<br />
– Praktische Auswirkungen des Steueränderungsgesetzes<br />
2003, RVGreport 2004, 43; Otto, Anwaltsrechnungen,<br />
BRAK-Magazin 2004, 12.. Entspricht die<br />
Kostenrechnung nicht den steuerliche Anforderungen, so hat<br />
dies für die Klagbarkeit allerdings keine Bedeutung. Hierfür<br />
kommt es nur auf die Voraussetzungen des § 10 RVG an. Allerdings<br />
kann der Mandant ein Zurückbehaltungsrecht nach<br />
§ 273 BGB ausüben, solange er mangels ordnungsgemäßer<br />
Rechnung, diese nicht steuerlich geltend machen kann 10 .<br />
III. Mitteilung<br />
Voraussetzung ist weiterhin, dass dem Auftraggeber die Berechnung<br />
auch mitgeteilt worden ist. Das Original muss dem<br />
Mandanten zugegangen sein (§ 130 BGB). Eine förmliche Zustellung<br />
ist nicht erforderlich 11 , KostG, § 18 BRAGO Rn. 15..<br />
Die bloße Mitteilung des Anwalts an seinen Mandanten, dass<br />
er, der Anwalt, die Kosten dem Gegner zur Bezahlung aufgegeben<br />
habe, reicht demgegenüber wiederum nicht aus 12 .<br />
IV. Kosten der Abrechnung<br />
Die Kosten der Abrechnung selbst sind allgemeine Geschäftskosten<br />
i. S. d. Vorb. 7 VV. Der Anwalt kann hierfür weder<br />
eine Vergütung (§ 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 13 RVG) noch Auslagen<br />
verlangen. Insbesondere erzeugt weder das Anfertigen der Kostenrechnung<br />
die Dokumentenpauschale nach Nr. 7000 VV<br />
noch löst die Versendung der Kostenrechnung Postentgelte nach<br />
Nr. 7001 VV oder gar die Postentgeltpauschale nach VV 7002<br />
aus (so jetzt ausdrücklich geregelt in Anm. zu Nr. 7001 VV).<br />
V. Fehlen einer ordnungsgemäßen Abrechnung<br />
Entspricht die Kostenberechnung nicht den formellen<br />
Anforderungen des § 10 RVG, ist die Vergütung nicht einforderbar,<br />
es sei denn, der Auftraggeber hat auf eine ordnungsgemäße<br />
Berechnung verzichtet 13 . Dies wiederum bedeutet,<br />
dass der Mandant trotz Aufforderung die Vergütung<br />
nicht zu bezahlen braucht. Die Vergütung kann nicht eingeklagt<br />
werden. Es ist lediglich eine Naturalobligation gegeben<br />
14 . Zahlt der Mandant allerdings ohne ordnungsgemäße<br />
Mitteilung der Kostenberechnung, kann er seine Leistung<br />
nicht nach § 812 BGB zurückverlangen (§ 814 BGB), es sei<br />
denn, er hat unter Vorbehalt einer Abrechnung gezahlt 15 .<br />
Eine Aufrechnung ist ebenfalls nicht möglich, solange<br />
keine Kostennote mitgeteilt worden ist 16 . Eine Aufrechnung<br />
ist nach § 387 BGB nämlich nur dann möglich, wenn der<br />
Aufrechnende die ihm gebührende Leistung fordern darf.<br />
Daran mangelt es aber, solange keine Kostennote erteilt ist.<br />
Die Ausübung eines Zurückbehaltungsrechts vor Erteilung<br />
einer Kostenberechnung ist nicht zulässig 17 .<br />
9 Siehe hierzu Spatscheck, Verschärfte umsatzsteuerrechtliche Anforderungen seit<br />
dem 1.01.2004, AnwBl 2004, 174; J. Schneider, Neue und höhere Anforderungen<br />
an die Rechnungsstellung, AGS 2004, 39; ders., Steueränderungsgesetz<br />
2003, AGS 2004, 86; Hansens, Neue Formerfordernisse für anwaltliche Kostenberechnungen<br />
– Praktische Auswirkungen des Steueränderungsgesetzes 2003,<br />
RVGreport 2004, 43; Otto, Anwaltsrechnungen, BRAK-Magazin 2004, 12.<br />
10 BGH NJW 1980 2710; N. Schneider, ProzRB 2003, 364.<br />
11 Hartmann, KostG, § 18 BRAGO Rn. 15.<br />
12 OLG Köln AnwBl. 1994, 471 = OLGR 1994, 103.<br />
13 Ausführlich AnwKom-RVG/N. Schneider § 10 Rn. 52.<br />
14 AnwKom-RVG/N. Schneider § 10 Rn. 56.<br />
15 OLG Frankfurt AnwBl. 1975, 163; Hansens, § 18 Rn. 11.<br />
16 BGH AnwBl. 1985, 257; KG AnwBl. 1982, 71; OLG Köln AnwBl. 1994, 471;<br />
OLG Frankfurt/M. AnwBl. 1975, 163.<br />
17 RG JW 1890, 306<br />
Anwaltspraxis<br />
Datenschutz im<br />
Anwaltsbüro<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Mitteilungen<br />
Bestellung eines Datenschutzbeauftragten ab einer<br />
bestimmten Kanzleigröße<br />
Der Gesetzgebungsausschuss Informationsrecht des<br />
Deutschen <strong>Anwaltverein</strong>s hat in der Zusammenarbeit mit<br />
der Arbeitsgemeinschaft Informationstechnologie ein<br />
Merkblatt erstellt, dass wichtige Regelungen des Bundesdatenschutzgesetzes<br />
(BDSG), die in der Anwaltskanzlei zu<br />
beachten sind, prägnant zusammenfasst. Kernpunkt der Regelung<br />
im Bundesdatenschutzgesetz ist die Bestellung eines<br />
Datenschutzbeauftragten. Die entsprechende Regelung ist<br />
nach dem Auslaufen der Übergangsvorschriften seit dem<br />
23. Mai 2004 in Kraft. Das <strong>Anwaltsblatt</strong> dokumentiert im<br />
Folgenden das Merkblatt.<br />
Rechtsanwalt Jens Wagener, Berlin<br />
Merkblatt des Gesetzgebungsausschusses<br />
Informationsrecht des Deutschen<br />
<strong>Anwaltverein</strong>s in Zusammenarbeit mit der<br />
Arbeitsgemeinschaft Informationstechnologie<br />
des Deutschen <strong>Anwaltverein</strong>s<br />
1. Wie schon in der Stellungnahme des Informationsrechtsausschusses<br />
Nr. 01/2001 vom Januar 2001<br />
wird nochmals nachdrücklich darauf aufmerksam<br />
gemacht, dass das Bundesdatenschutzgesetz<br />
(BDSG) auch auf die Anwaltschaft anwendbar und<br />
somit von allen Kolleginnen und Kollegen zu befolgen<br />
ist. Insbesondere ist darauf zu achten, dass<br />
nach Ablauf der Übergangsvorschrift, mit Ablauf<br />
des 23.05.2004, die Nichtbefolgung des BDSG<br />
zum Teil bußgeldbewehrt ist.<br />
2. Im Konkurrenzverhältnis des BDSG zu anderen,<br />
insbesondere berufsrechtlichen Regelungen, gehen<br />
diese berufsrechtlichen Bestimmungen, wie z. B.<br />
BRAO und BORA, im Zweifel dem BDSG als den<br />
spezielleren Normen vor, wichtig z. B. bei Geheimhaltungspflichten.<br />
3. In der Anwendung sind für die Anwaltschaft insbesondere<br />
die §§ 4d bis 5, 9, 27ff. und § 43 BDSG<br />
sowie die Anlage zum BDSG zu beachten. § 4d-g<br />
und die Anlage zum BDSG regeln die Berufung<br />
und die Aufgaben des Beauftragten für den Datenschutz,<br />
die §§ 27ff. BDSG regeln den Umgang der
AnwBl 8 + 9/2004 513<br />
Mitteilungen MN<br />
Daten der nicht öffentlichen Stellen, somit auch<br />
der Rechtsanwaltskanzleien. § 43 BDSG schließlich<br />
enthält entsprechende Bußgeldvorschriften.<br />
4. Die Anwendbarkeit des Bundesdatenschutzgesetzes<br />
und der zitierten Paragraphen enthält für Ihre<br />
Kanzlei folgende, zwingend zu beachtende Regelungen:<br />
i) Jede Kanzlei, die mehr als vier Personen mit<br />
der Datenverarbeitung beschäftigt, hierzu zählen<br />
neben den Anwälten (Sozius, Partner, angestellte<br />
Anwälte) z. B. auch die Sekretariate,<br />
hat zwingend einen Datenschutzbeauftragten<br />
zu bestellen.<br />
ii) Der Datenschutzbeauftragte hat die Einhaltung<br />
der Regelungen des BDSG zu überwachen<br />
(Überwachungsfunktion) und alle Mitarbeiter<br />
in die Regelungen des BDSG einzuweisen<br />
(Schulungsfunktion).<br />
iii) Auf Anforderung sind die Regelungen zum<br />
Datenschutz nach § 4e Abs. 1 BDSG jedem<br />
Dritten zur Verfügung zu stellen.<br />
iv) Die Kanzlei hat eine Übersicht gemäß den<br />
§§ 4g, 4e BDSG zu erstellen und dem Datenschutzbeauftragten<br />
zur Verfügung zu stellen<br />
(Verfahrensverzeichnis).<br />
5. Bei einer Bestellung eines Datenschutzbeauftragten<br />
ist zu beachten, dass dieser in Datenschutzangelegenheiten<br />
weisungsfrei und unabhängig<br />
agieren soll, er in seiner Tätigkeit unmittelbar aber<br />
der Leitung der verantwortlichen Stelle zu unterstellen<br />
ist. Für die Anwaltskanzlei ist als verantwortliche<br />
Stelle i. d.R. der/die Sozien/Partner anzusehen.<br />
Die Bestellung eines Sozius/Partners selbst<br />
als Datenschutzbeauftragter scheidet aber aus.<br />
Für die Berufung des Datenschutzbeauftragten bieten<br />
sich zwei Möglichkeiten an:<br />
i) Zum einen die Berufung eines angestellten oder<br />
in freier Mitarbeit für die Kanzlei tätigen<br />
Rechtsanwaltes als Datenschutzbeauftragten<br />
(interne Lösung)<br />
oder<br />
ii) zum anderen die Bestellung eines externen Datenschutzbeauftragten<br />
(dieses wird oft als<br />
Dienstleistung von EDV-Unternehmen oder<br />
Rechtsanwälten bereits angeboten)<br />
Bei beiden Lösungen muss der bestellte Datenschutzbeauftragte<br />
jeweils sowohl juristische<br />
Kenntnisse des Datenschutzrechts als auch den<br />
entsprechenden technischen Sachverstand aufweisen.<br />
Die Nichtberufung eines Datenschutzbeauftragten<br />
kann mit einer Geldbuße bis zu E 25.000 geahndet<br />
werden.<br />
Internationales<br />
30. DACH-Tagung in Berlin<br />
Interessante Themen, geeignete Referenten und ebenfalls<br />
interessante Tagungsorte unter einen Hut zu bringen<br />
ist erfahrungsgemäß schwierig. Eine internationale Anwaltsvereinigung<br />
mit Mitgliedern aus über 20 meist europäischen<br />
Staaten, die ihre Tagung abwechselnd in mehreren<br />
Ländern ausrichtet, hat’s da noch schwerer. Dennoch hat<br />
die DACH es meist verstanden, diese Herausforderungen zu<br />
meistern und ihren „Seminar-Wanderzirkus“ für ihre Mitglieder<br />
attraktiv zu gestalten. Dieses Mal also Berlin. Im<br />
neu eröffneten SAS Radisson, zwischen Nikolaiviertel und<br />
Hackeschem Markt in der Neuen Mitte Berlins gelegen,<br />
hatte die Tagung im Mai einen hervorragenden Rahmen.<br />
Auch Berlin-Neulingen wurde schnell klar, dass Berlin<br />
nicht nur aus Kudamm besteht.<br />
Acht Referenten nahmen das Thema der Rechtswahlklauseln,<br />
vereinbart durch AGB oder individuell, unter die<br />
Lupe. Einstieg und Überblick über die Thematik gab Dr.<br />
Christoph Wetzler (Frankfurt), gefolgt von den Referenten<br />
aus den weiteren Kernländern der DACH, Österreich (Dr.<br />
Michael Wukoschitz, Wien), Liechtenstein (Dr. Johannes<br />
Gasser, Vaduz) und der Schweiz (Dr. Felix Dasser, Zürich).<br />
Alle arbeiteten den dogmatischen Hintergrund der<br />
Möglichkeiten, aber auch der Grenzen der Rechtswahl heraus.<br />
Selbst Teilnehmer, deren überwiegendes Tätigkeitsgebiet<br />
nicht im Wirtschaftsrecht liegt, waren erstaunt über<br />
die Anwendungsbereiche im Internationalen Familien- und<br />
Erbrecht, außerdem über auf die Auswirkungen des Europäischen<br />
Gesellschaftsrechts, etwa durch die Centros-,<br />
Überseering- und Inspire-Art-Entscheidungen des EuGH.<br />
Zumal der Beitritt der 10 neuen EU-Mitgliedsstaaten erst<br />
ein paar Tage zuvor erfolgt war, war die Erstreckung der<br />
Thematik auf die Sicht der Staaten Slowenien, Kroatien,<br />
Serbien-Montenegro, Ungarn, Tschechien und der Slowakei<br />
(Dr. Roland Grilc [Klagenfurt], Dr. Petr Balcar [Prag] und<br />
Dr. Orsolya Rácz, Budapest) eine bereichernde Ergänzung.<br />
Wie immer erstaunte die teilweise sehr pragmatische<br />
Lösung einzelner Länder, die dem dogmatischen Gestrüpp<br />
vieler gewachsener Rechtsordnungen einiges voraushat.<br />
Verbunden mit dem obligatorischen, aber lohnenden<br />
Reichstags-Besuch war eine kurze, aber aufschlußreiche Diskussion<br />
mit dem Parlamentarischen Staatssekretär Alfred<br />
Hartenbach (SPD) zum Thema der vorgesehenen Abschaffung<br />
des Rechtsberatungsmonopols. Gerade in solchen Diskussionen<br />
zeigt sich der Vorteil der Internationalität der Tagungsteilnehmer:<br />
Deutlich wurden die Gemeinsamkeiten<br />
formuliert, bspw. die Forderung, die Anwaltschaft vor den<br />
„großen Werbebudgets“ der auf den Rechtsberatungsmarkt<br />
Drängenden (etwa der Banken) zu schützen. Andererseits<br />
zeigen Beispiele aus anderen Ländern, wie bspw. der<br />
Schweiz, dass Rechtsanwälte auch ohne Rechtberatungsmonopol<br />
hervorragend zurechtkommen. Was letztlich aus<br />
dem Vorhaben der Regierung wird, bleibt nach wie vor – zumal<br />
auf dem europäischen Hintergrund – konkret unkonkret.<br />
Die nächste Tagung zum Thema „Gewährleistung“ findet<br />
vom 23.-25. September 2004 in Budapest statt. Auch Nichtmitglieder<br />
sind willkommen. Informationen bei der Mitgliederverwaltung<br />
der DACH, Rechtsanwältin Dr. Susanne<br />
Hüppi, Klosbachstrasse 110, CH-8030 Zürich oder telefonisch<br />
unter +49-1-252 66 88 oder per Fax +41-1-252 63 90.<br />
Rechtsanwalt Jürgen Wagner, Konstanz/Zürich/Vaduz
514<br />
MN<br />
Anwaltsrecht<br />
Bücherschau<br />
Rechtsanwalt Dr. Matthias Kilian, Köln<br />
I. Rechtsberatung<br />
1. Der vom 21. bis 24. September 2004 in Bonn stattfindende<br />
Deutsche Juristentag wird sich in seiner zivilrechtlichen<br />
Abteilung unter dem Generalthema „Rechtsberatung<br />
zwischen Deregulierung und Verbraucherschutz“<br />
mit der Reform des RBerG befassen. Der Tradition des<br />
DJT entsprechend, sind im Vorfeld zwei in Buchform veröffentlichte<br />
Gutachten zur Thematik in Auftrag gegeben worden<br />
1 . Hanns Prütting, Professor an der Universität zu Köln,<br />
hat in seinem Gutachten unter dem <strong>Titel</strong> „Rechtsberatung<br />
zwischen Deregulierung und Verbraucherschutz“ die rechtlichen<br />
Rahmenbedingungen des Rechts der Rechtsberatung<br />
einer kritischen Würdigung unterzogen. Hubert Rottleuthner,<br />
Professor an der Freien Universität Berlin, hat ein ergänzendes<br />
Gutachten „Das Rechtsberatungsgesetz – rechtstatsächlich<br />
betrachtet“ erstellt.<br />
Rechtsanwalt Dr. Matthias<br />
Kilian, Köln, ist Vorstand des<br />
Soldan-Instituts für Anwaltmanagement<br />
e.V., Essen. Sie<br />
erreichen ihn per E-Mail:<br />
kilian@anwaltsrecht.org.<br />
a) Prütting macht in seinem Gutachten eine Anzahl von<br />
Kernproblemen des RBerG aus, denen er sodann im Detail<br />
nachgeht: Die verfassungs- und europarechtliche Dimension<br />
des gegenwärtigen Rechtsberatungsmonopols, seine<br />
Auswirkungen auf den Zugang zum Recht, die Regelungsund<br />
Gesetzestechnik des RBerG. Weitere Untersuchungsgegenstände<br />
Prüttings: Die historisch belastete Genese des<br />
Gesetzes, das Verbot der unentgeltlichen und karitativen<br />
Rechtsberatung durch Nicht-Anwälte und die Rechtsberatung<br />
durch die Medien. Nach einer sorgfältigen Prüfung<br />
kommt Prütting zu dem Ergebnis, dass das RBerG in seiner<br />
Grundstruktur und seinen wesentlichen Regelungsbereichen<br />
weder verfassungs- noch europarechtswidrig ist. Er plädiert<br />
für eine großzügigere Beurteilung der Annexkompetenz<br />
nach Art. 1 § 5 RBerG und fordert den Gesetzgeber auf,<br />
die unentgeltliche Rechtsberatung für alle Volljuristen freizugeben,<br />
soweit diese sich grundlegenden Berufspflichten<br />
unterwerfen. Kritisch bewertet Prütting die Rspr. des BGH<br />
zur Zulässigkeit der Rechtsberatung in den Medien, die er<br />
für zu weit gehend hält, und zu treuhänderischen Immobiliengeschäften.<br />
Als sinnvoll erachtet er eine Erweiterung<br />
der Teilerlaubnisse in Art. 1 § 3 RBerG unter Wegfall der<br />
bisherigen Bedürfnisprüfung und damit die Beibehaltung<br />
der präventiven Verbotslösung.<br />
b) Rottleuthner zeichnet in seinem Gutachten zunächst<br />
die aktuelle Reformdiskussion detailliert nach, bevor er sich<br />
der empirischen Untersuchung der bekannt gewordenen<br />
Rechtsprechung zum RBerG zuwendet. Mithilfe von Daten-<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Mitteilungen<br />
banken hat er die ergangene Rechtsprechung nach Gerichtsbarkeiten<br />
und Instanzen, den betroffenen Berufsgruppen und<br />
Tätigkeitsbereichen und den angesprochenen Rechtsproblemen<br />
ausgewertet. In einem nächsten Schritt stellt Rottleuthner<br />
die Befassung der Justizverwaltungen und Staatsanwaltschaften<br />
in Erlaubnis- und OWi-Verfahren dar. Aus der<br />
Auswertung des in den letzten Jahren veröffentlichten<br />
Schrifttums folgert Rottleuthner, dass die Reformdiskussion<br />
stark von der Anwaltschaft dominiert wird, die überwiegend<br />
Partikularinteressen verfolgt. Das Herzstück des Gutachtens<br />
folgt mit der Darstellung der sozialen Praxis der Rechtsberatung,<br />
zu der Rottleuthner Erkenntnisse durch Auswertung<br />
von Publikationen, vor allem aber durch die Befragung von<br />
Organisationen und Verbänden gewonnen hat, bei deren<br />
Mitgliedern Berührungspunkte mit dem RBerG zu vermuten<br />
sind. Analysiert wurden neben den in Art. 1 §§ 1, 3, 5, 7<br />
RBerG genannten Berufsgruppen und Organisationen auch<br />
Versicherungen, Finanz- und Unternehmensberater, Kreditinstitute,<br />
Mediatoren, Psychologen, Makler, Wirtschaftsjuristen,<br />
Energieberater, Unfallregulierer, Gutachter, Ombudsleute,<br />
Sozialberater, Medien, Krankenkassen, Berufsbetreuer<br />
und Erbensucher. Das Gutachten enthält demgemäss eine<br />
Vielzahl interessanter Informationen, in welcher Weise<br />
Nicht-Anwälte mit der Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten<br />
in Berührung kommen können.<br />
2. Ein interessantes und im Schrifttum bislang noch<br />
nicht aufgearbeitetes Ausschnittsproblem des RBerG hat<br />
Sven Kerkhoff in seiner von Jost in Bielefeld betreuten Dissertation<br />
„Das Rechtsberatungsgesetz und die Scheidungsberatung<br />
der Jugendhilfe – Zu den Grenzen der<br />
Beratungstätigkeit nach § 17 SGB VIII“ 2 untersucht. § 17<br />
SGB VIII gibt Eltern im Rahmen der Jugendhilfe Anspruch<br />
auf Beratung in Fragen der Partnerschaft. Diese Beratung<br />
soll u. a. im Fall der Trennung oder Scheidung ein einvernehmliches<br />
Konzept hinsichtlich des Sorgerechts erarbeiten.<br />
Kerkhoff arbeitet in seiner Untersuchung die inhaltlichen<br />
und institutionellen Grenzen der Tätigkeit nach § 17<br />
SGB VII heraus, die regelmäßig erlaubnispflichtige Rechtsberatung<br />
i. S. v. Art. 1 § 1 I RBerG ist. Öffentliche, kirchliche<br />
und anerkannte Träger der Jugendhilfe sind nach Auffassung<br />
von Kerkhoff über Art. 1 § 3 RBerG zur Beratung<br />
befugt; für letztere ergibt sich dies für den Autor aus einer<br />
analogen Anwendung von Art. 1 § 3 Nr. 9 RBerG. Keinerlei<br />
Rechtsberatung dürfen hingegen die nicht anerkannten<br />
freien Jugendhilfeträger leisten. Eine weitere Einschränkung<br />
ergibt sich in inhaltlicher Hinsicht: Zulässig ist Rechtberatung<br />
nur bei Beratung in unmittelbar kindesbezogenen<br />
rechtlichen Aspekten, nicht aber bezüglich Scheidungsfolgen,<br />
Unterhaltsansprüchen, Zugewinn- oder Versorgungsausgleich.<br />
Hier müssen sich die Jugendhilfeträger anwaltlicher<br />
Co-Berater bedienen. Kerkhoff stellt fest, dass das<br />
RBerG der effektiven Scheidungsberatung durch hierfür<br />
prädestinierte Stellen nicht entgegenstehe, dass RBerG<br />
„keinesfalls so unerträglich und unsozial [sei], wie es oft<br />
vorschnell gebrandmarkt“ werde. Mit Blick auf § 17 SGB<br />
VIII verneint Kerkhoff daher die Notwendigkeit einer Reform<br />
des RBerG. Die Arbeit bietet keine überraschenden<br />
Ergebnisse, ihr kommt aber das Verdienst zu, erstmalig –<br />
1 Hanns Prütting/Hubert Rottleutner, Verhandlungen des 65. Deutschen Juristentages<br />
Bonn 2004, Band I: Gutachten / Teil G + H – Abteilung Rechtsberatung;<br />
Rechtsberatung zwischen Deregulierung und Verbraucherschutz, Verlag C. H.<br />
Beck, München 2004, 58 S., ISBN 3-406-52251-3, 18 E.<br />
2 Sven Kerkhoff, Das Rechtsberatungsgesetz und die Scheidungsberatung der Jugendhilfe<br />
– Zu den Grenzen der Beratungstätigkeit nach § 17 SGB VIII, Band<br />
13 der Schriftenreihe des Instituts für Anwalts- und Notarrecht der Universität<br />
Bielefeld, Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2004, 224 S., ISBN 3-8300-1326-4,<br />
78,00 EUR.
AnwBl 8 + 9/2004 515<br />
Mitteilungen MN<br />
und wie im Schrifttum gefordert – das Spannungsverhältnis<br />
von § 17 SGB VIII und Art. 1 § 1 RBerG sorgfältig ausgeleuchtet<br />
zu haben.<br />
II.Werberecht<br />
1. Wer den Autor des Buches „Das Werberecht der<br />
Freien Berufe“ 3 , Michael Kleine-Cosack, kennt, wird die<br />
Neuauflage des nunmehr im Verlag C. H. Beck verlegten<br />
Buches für ein gewisses Paradoxon halten, ist doch Kleine-<br />
Cosack einer der profiliertesten Kritiker eines berufsgruppenspezifischen,<br />
restriktiven Werberechts. Seine grundsätzliche<br />
Sicht der Dinge vermittelt der Autor in dem<br />
einleitenden Teil des Buches, in welchem er auf 150 Seiten<br />
die Grundlagen entwickelt, die für eine sichere Interpretation<br />
der werberechtlichen Generalklauseln wie §§ 43 b<br />
BRAO, 57 a StBerG, 52 WPO und der konkretisierenden<br />
Normen der Berufsordnungen notwendig sind. Erst dieser<br />
mit viel Überzeugungskraft geschriebene Grundlagenteil ermöglicht<br />
es, neu erdachte Werbeformen zu bewerten, die<br />
sich ausnahmsweise nicht in dem sehr detaillierten Werbe-<br />
ABC des Buches finden. Kleine-Cosack erörtert im Grundlagenteil<br />
verfassungs- und europarechtlichen Determinanten<br />
des Werberechts, die wettbewerbsrechtlichen (sittenwidrige,<br />
irreführende und vergleichende Werbung) und berufsrechtlichen<br />
Schranken des freiberuflichen Werberechts (nicht-berufsbezogene,<br />
unsachliche und mandatsbezogene Werbung).<br />
Zudem erläutert Kleine-Cosack ausführlicher, wann überhaupt<br />
das Berufsrecht für eine Werbemaßnahme Geltung<br />
beanspruchen kann. Zwei Ausschnittsprobleme liegen ihm<br />
ersichtlich am Herzen: Der Bereich der Drittwerbung und,<br />
in einem eigenen Kapitel, das frühere Ausführungen aus seiner<br />
Feder aufgreift, das Werberecht des Notars, den er als<br />
den unfreiheitlichsten rechtsberatenden Beruf charakterisiert.<br />
In dem sich anschließenden 150-seitigen „Besonderen<br />
Teil“ seines Buches hat es Kleine-Cosack erneut auf sich genommen,<br />
die schier unübersichtliche Kasuistik zum Werberecht<br />
der Freien Berufe zu sichten und in Form eines<br />
Werbe-ABCs zu systematisieren. Er spart hierbei nicht mit<br />
Kritik an einzelnen Entscheidungen oder Vorschriften, die<br />
er bisweilen als „Relikte der Postkutschenzeit“ („Briefbogenentscheidung“<br />
des BGH, vgl. Rdnr. 565) oder als<br />
„schlicht verfassungswidrig“ (§ 6 Abs. 3 BORA, Rdnr. 646)<br />
bezeichnet. Eine Durchsicht der Kasuistik verdeutlicht, dass<br />
sich die Problematik des anwaltlichen Werberechts zunehmend<br />
auf den Bereich der mandatsbezogenen Werbung konzentrieren<br />
wird, haben doch Kammern und Gerichte mittlerweile<br />
verinnerlicht, dass die Werbung des Anwalts in der<br />
Wahl des Mediums, ihrer Häufigkeit und der Wahl des Anlasses<br />
frei ist. Ein verlässliches Kompendium für jeden<br />
Rechtsanwalt, der geplante Werbemaßnahmen mit dem<br />
wettbewerbs- und berufsrechtlichen Regularium abgleichen<br />
will – der Verlag könnte in der nächsten Auflage das Werbe-<br />
ABC durch stärkere Heraushebung der Oberbegriffe optisch<br />
etwas nutzerfreundlicher gestalten.<br />
2. Den verfassungsrechtlichen Fundamentalfragen, denen<br />
Kleine-Cosack in seinem Ratgeber nur in der dort gebotenen<br />
Kürze nachgehen kann, widmet sich Wolfgang Bomba<br />
in seiner von Manssen betreuten Regenburger Dissertation<br />
„Verfassungsmäßigkeit berufs- und standesrechtlicher<br />
Werbebeschränkungen für Angehörige freier Berufe“ 4<br />
(behandelt werden Rechtsanwälte, Ärzte und Apotheker).<br />
Nach den bei einer solchen Thematik zu erwartenden Eingangsüberlegungen,<br />
einem – auch hier ergebnislosen – Versuch<br />
einer abstrakten Bestimmung des Begriffs des „freien<br />
Berufs“ und der Definition von Begriff und Bedeutung des<br />
„Berufsbildes“ für Werberegelungen stellt das sich anschließende<br />
Kapitel berufsrechtliche Normen dar, die das<br />
Werberecht der untersuchten Berufsgruppen ausmachen.<br />
Folgeprobleme werden nicht ausgespart, so das Verhältnis<br />
des Berufs- zum Wettbewerbsrecht und prozessuale Fragen<br />
der Verfolgung von Wettbewerbsverstößen von Freiberuflern.<br />
Hier vertritt Bomba etwa die Auffassung, dass den<br />
Kammern keine Prozessführungsbefugnis aus § 13 Abs. 2<br />
Nr. 2 UWG zukommt. Nach diesen Präliminarien wendet<br />
sich Bomba der selbst gestellten Hauptaufgabe zu, der<br />
Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der angesprochenen<br />
Normen. Die Darstellung folgt in diesem Bereich streng<br />
dem bekannten prüfungstechnischen Gang zur Verfassungskonformität<br />
von Normen, der in allen seinen Verästelungen<br />
sorgfältig auf die Thematik übertragen wird. Bomba kritisiert,<br />
dass die verfassungsrechtliche Diskussion einen niedrigen<br />
Differenzierungsgrad aufweise und zu einseitig auf<br />
die Prüfung des Art. 12 GG fixiert sei. Den Besonderheiten<br />
ebenfalls berührter weiterer Grundrechte, etwa Art. 5 GG,<br />
werde hierdurch zu wenig Rechnung getragen. Bei der Prüfung<br />
des Übermaßverbots arbeitet Bomba die bekannten<br />
Rechtfertigungsmuster – Erhaltung der Funktionsfähigkeit<br />
der Rechtspflege und Schutz des Vertrauens in die Anwaltschaft,<br />
des individuellen Vertrauensverhältnisses sowie des<br />
Berufsbildes – ab und hält dem Leser vor Augen, dass es<br />
sich manche Begründung zur Rechtfertigung von Werbebeschränkungen<br />
bereits mit Blick auf die Legitimität des<br />
Zieles, jedenfalls aber bezüglich der Erforderlichkeit des<br />
Mittels zu einfach macht. Insbesondere kritisiert er scharf,<br />
dass das Argumentationsmuster „Schutz des Berufsbilds“<br />
nicht hinreichend mit Gemeinwohlerwägungen begründet<br />
werde, sondern im Kern einem fragwürdigen Schutz von<br />
Moral durch das Recht diene. Er verneint, dass das grundsätzlich<br />
legitime Ziel des Schutzes „des Vertrauensverhältnisses<br />
zwischen Mandant und Berufsträger“ durch Werbebeschränkungen<br />
erreicht werden könne. Immer wieder<br />
rekurriert Bomba auf die Kommerzialisierungsdebatte, die<br />
er ersichtlich für überholt und nicht mehr zeitgerecht hält.<br />
In einem abschließenden Abschnitt überprüft der Verfasser<br />
sodann unter Verwertung dieser Erkenntnisse einzelne Bestimmungen<br />
des Werberechts. § 43 b BRAO hält er für teilweise<br />
verfassungswidrig, soweit die Norm Werbung im Einzelfall<br />
ausnahmslos untersagt, § 6 Abs. 3 S. 2 BORA<br />
(Angabe von Erfolgs- und Umsatzzahlen) erachtet er für<br />
insgesamt verfassungswidrig. Das selbe Verdikt trifft § 7<br />
Abs. 1 BORA, dem Bomba mangelnde Eignung zur Vermeidung<br />
von Irreführungen vorwirft (nicht ganz klar wird<br />
m. E. die verfassungsrechtliche Verortung dieses zutreffenden<br />
Arguments; vgl. hierzu Kilian, AnwBl. 2003, 256 ff.).<br />
Ähnlich vernichtende Urteile fällt Bomba über § 7 Abs. 2<br />
BORA und § 8 Abs. 2 BORA (Kundgabe beruflicher Zusammenarbeit),<br />
§ 10 BORA hält er mit Blick auf Großkanzleien<br />
für unverhältnismäßig. Nicht nur aufgrund dieser Ergebnisse<br />
wird die methodisch sorgfältig angelegte Arbeit<br />
zweifelsfrei auf das Interesse jener stoßen, die sich intensiver<br />
mit den Grundfragen des anwaltlichen Werberechts befassen.<br />
Vorschau: Die nächste Bücherschau wird sich mit Neuerscheinungen<br />
zum Berufsrecht und zur alternativen Streitbeilegung<br />
befassen.<br />
3 Michael Kleine-Cosack, Das Werberecht der Freien Berufe, Verlag C. H. Beck,<br />
München 2004, 340 S., ISBN 3-406-51295-X, 44,00 EUR.<br />
4 Wolfgang Bomba, Verfassungsmäßigkeit berufs- und standesrechtlicher Werbebeschränkungen<br />
für Angehörige freier Berufe: Dargestellt am Beispiel der Regelungen<br />
für Rechtsanwälte, Ärzte und Apotheker, Verlag Duncker & Humblot,<br />
Berlin 2003, 426 S., ISBN 3-428-11039-0, 86,00 EUR.
516<br />
MN HAFTPFLICHTFRAGEN<br />
Vom Umgang mit dem<br />
Haftpflichtversicherer im<br />
Schadenfall<br />
Rechtsanwältin Kerstin Nieger<br />
Allianz Versicherungs-AG, München<br />
Bei ständig wachsenden Anforderungen an die pflichtgemäße<br />
Ausübung der beruflichen Tätigkeit ist die Wahrscheinlichkeit<br />
groß, dass man als Anwalt mit Haftpflichtansprüchen<br />
konfrontiert wird und dementsprechend mit<br />
seiner Berufshaftpflichtversicherung in Kontakt treten<br />
muss. Wann und in welcher Form das spätestens geschehen<br />
muss, und was der Betreffende schließlich von der zuständigen<br />
Abteilung erwarten kann, ist oftmals nicht bekannt.<br />
Der folgende Beitrag soll helfen, Obliegenheitsverletzungen<br />
zu vermeiden und zielführend mit der naturgemäß unangenehmen<br />
Situation umzugehen.<br />
Rechtanwältin Kerstin Nieger<br />
aus München<br />
1. Umfang des Versicherungsschutzes<br />
a. Ausübung beruflicher Tätigkeit<br />
Der Versicherungsschutz richtet sich von seiner Zweckbestimmung<br />
her nur auf solche Haftpflichtansprüche, die<br />
sich aus dem Umfeld der anwaltlichen Berufstätigkeit ergeben.<br />
Dabei wird darauf abgestellt, welche Tätigkeit typischerweise<br />
dem anwaltlichen Berufsbild zuzuordnen ist und<br />
welche nicht. Die den Rechtsanwälten vorbehaltene Berufsausübung<br />
ergibt sich aus den §§ 1–3 BRAO und dem Geltungsbereich<br />
der BRAGO bzw. dem RVG. Aufgaben, die<br />
auch von anderen Personen als Anwälten wahrgenommen<br />
werden dürfen, gehören nicht dazu und werden auch dementsprechend<br />
nicht von der Pflichtversicherung erfasst, wie<br />
sie § 51 BRAO definiert. So gibt es viele Anwälte, die nebenbei<br />
als Haus- und Grundstücksverwalter tätig sind. Das<br />
mag berufsrechtlich zulässig sein und der Anwalt wird dies<br />
auch zu seinem beruflichen Umfeld zählen. Dennoch ist damit<br />
der Bereich der Pflichtversicherung verlassen. Die Standardpolice<br />
für Anwälte sieht allerdings über diese gesetzlich<br />
vorgeschriebene Pflichtversicherung hinaus Deckung<br />
für ausgewählte Tätigkeiten vor, die häufig im Rahmen anwaltlicher<br />
Praxis miterledigt werden. In gewissem Umfang<br />
zählen dazu die Tätigkeiten als (vorläufiger) Insolvenzverwalter<br />
u. ä., Testamentsvollstrecker, Nachlasspfleger bzw.<br />
-verwalter, Vormund, Betreuer, Pfleger und Beistand sowie<br />
als Schiedsrichter oder Schlichter und Abwickler einer Praxis<br />
gem. § 55 BRAO. Einzelheiten wären der jeweiligen Risikobeschreibung<br />
im Vertrag zu entnehmen.<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
b. Gesetzliche Haftpflichtbestimmungen privatrechtlichen<br />
Inhalts<br />
Versicherungsschutz besteht nur, soweit der Anwalt von<br />
Dritten aufgrund gesetzlicher Haftpflichtbestimmungen privatrechtlichen<br />
Inhalts in Anspruch genommen wird. Insbesondere<br />
vertragliche Erfüllungsansprüche scheiden daher<br />
aus. Verlangt der Mandant also lediglich an den Anwalt geleistete<br />
Fremdgelder gem. § 667 BGB heraus, wäre die<br />
Haftpflichtversicherung damit nicht befasst.<br />
c.Vermögensschaden<br />
Vermögensschäden sind weder Personen- noch Sachschäden.<br />
Wenn sich z. B. der zum Testamentsvollstrecker<br />
bestellte Anwalt nicht genügend um eine zum Nachlass<br />
gehörende Immobilie kümmert und deshalb die Heizungsrohre<br />
einfrieren und sich ein Wasserschaden ergibt, handelt<br />
es sich um einen Sachschaden, der nicht über die Vermögensschadenhaftpflichtversicherung<br />
abgewickelt werden<br />
kann.<br />
d. Ausschlüsse<br />
Die Ausschlusstatbestände sind in den Versicherungsbedingungen<br />
abschließend geregelt.<br />
Versicherungsschutz über die Standardpolice gibt es<br />
nicht für Haftpflichtansprüche aus Tätigkeiten über in anderen<br />
Staaten eingerichtete oder unterhaltene Kanzleien<br />
oder Büros. Die Beschäftigung mit außereuropäischem<br />
Recht und die Tätigkeit vor außereuropäischen Gerichten<br />
ist ebenfalls nicht versichert. Das entspricht den Vorgaben<br />
des § 51 BRAO, bedeutet aber deshalb nicht, dass der international<br />
agierende Anwalt damit automatisch schutzlos gestellt<br />
wäre. Tätigkeiten mit Auslandsbezug können gesondert<br />
versichert werden.<br />
Zum Ausschlusstatbestand der „wissentlichen Pflichtverletzung“<br />
sei verwiesen auf Dobmaier, AnwBl. 2003, 447.<br />
2. Schadenanzeige<br />
Die Schadenanzeige ist grundsätzlich schriftlich an den<br />
Versicherer zu richten. Der Versicherungsnehmer sollte den<br />
zu Grunde liegenden Sachverhalt schildern, und persönlich<br />
und möglichst objektiv Stellung zu den erhobenen oder<br />
möglichen Vorwürfen nehmen. Dabei sind dem Versicherer<br />
die für dessen Beurteilung wesentlichen Unterlagen zur<br />
Verfügung zu stellen, das kann je nach Lage des Falles die<br />
Übersendung einer kompletten Aktenkopie bedeuten.<br />
3.Versicherungsfall und Meldeobliegenheit<br />
Nach der Definition der AVB ist dies der Verstoß, der<br />
Haftpflichtansprüche gegen den Versicherungsnehmer zur<br />
Folge haben „könnte“. Konkret bedeutet das: Die Meldeobliegenheit<br />
wird schon dann ausgelöst, wenn der Anwalt<br />
erkennt, dass es zu einer Pflichtverletzung gekommen ist,<br />
die Schadenersatzansprüche nach sich ziehen könnte. Das<br />
ist vor allem dann der Fall, wenn befürchtet werden muss,<br />
dass Ansprüche des Mandanten im Verlauf des Mandats<br />
verjährt sind oder wenn sonstige Fristversäumnisse in der<br />
Kanzlei entdeckt werden. Es ist keinesfalls notwendig, dass<br />
der Mandant oder Dritte bereits Schadenersatzansprüche
AnwBl 8 + 9/2004 517<br />
Haftpflichtfragen MN<br />
geltend machen, der potenzielle Anspruchsteller muss nicht<br />
einmal von den Umständen wissen.<br />
Gerade in diesen Fällen einer Fristversäumnis legen die<br />
Schadenabteilungen der Haftpflichtversicherungen großen<br />
Wert auf rechtzeitige Einschaltung. Dies deshalb, weil der<br />
Anwalt insbesondere im Bereich von Verjährungsfragen<br />
und bei der Formulierung von Wiedereinsetzungsanträgen<br />
von dort Unterstützung erwarten kann und in der Regel<br />
auch bekommt. Die Schadenabteilungen verfügen hier<br />
schwerpunktmäßig über Know-how, das der Anwalt ausnutzen<br />
sollte und im Zweifel auch muss, will er sich nicht später<br />
dem Vorwurf einer – vielleicht sogar kausalen – Spätmeldung<br />
mit der möglichen Folge der Leistungsfreiheit des<br />
Versicherers aussetzen.<br />
4. Obliegenheiten im Verhältnis zum Anspruchsteller<br />
Solange keine abschließende Beurteilung bzw. vorherige<br />
Zustimmung des Versicherers vorliegt, darf der geltend gemachte<br />
Haftpflichtanspruch keinesfalls ganz oder zum Teil<br />
anerkannt, verglichen oder befriedigt werden. Ein Verstoß<br />
gegen diese Obliegenheiten kann unter bestimmten Voraussetzungen<br />
die Leistungsfreiheit des Versicherers nach sich<br />
ziehen.<br />
Als sinnvoll hat es sich erwiesen, dem Anspruchsteller<br />
zu dessen Information eine Zwischennachricht mit dem<br />
bloßen Inhalt zukommen zu lassen, dass die Angelegenheit<br />
dem Versicherer gemeldet wurde. Ein Anerkenntnis in der<br />
Sache ist mit dieser Aussage nach der Rechtsprechung<br />
nicht verbunden. So bleibt dann genügend Zeit, dass sich<br />
Versicherung und Versicherungsnehmer im Innenverhältnis<br />
abstimmen. Die Korrespondenz nach außen – also diejenige<br />
mit dem Geschädigten oder dessen (neuen) Anwälten –<br />
führt in der Regel dann der Versicherungsnehmer selbst.<br />
Der Geschädigte hat keinen Direktanspruch gegen den Versicherer,<br />
der Versicherungsnehmer muss nach derzeitiger<br />
Rechtslage nicht einmal Informationen über seine Versicherung<br />
preisgeben.<br />
5. Haftpflichtprozess<br />
Werden Schadenersatzansprüche als unbegründet abgelehnt,<br />
steht es dem Anspruchsteller selbstredend frei, die<br />
Haftungsfrage gerichtlich klären zu lassen. Soweit es um<br />
gedeckte Ansprüche geht, hat der Versicherungsnehmer Abwehrschutz.<br />
Dafür ist es natürlich dringend erforderlich, dass immer<br />
dann, wenn Haftpflichtansprüche in irgendeiner Form gerichtlich<br />
geltend gemacht werden, dem Versicherer dies<br />
auch unverzüglich gemeldet wird, § 5 II Ziff. 2 und 4 AVB.<br />
Wenn Fristen laufen, kann es sich durchaus empfehlen, sich<br />
zunächst telefonisch beim Sachbearbeiter zu melden, um<br />
kurzfristig die weitere Vorgehensweise zu besprechen und<br />
beispielsweise die Klageschrift dann nachzusenden. Unabhängig<br />
davon muss der Anwalt selbst dafür sorgen, dass<br />
laufende – prozessuale – Fristen gewahrt werden.<br />
Der in Anspruch genommene Anwalt kann sich grundsätzlich<br />
selbst vertreten. In diesem Fall werden jedoch die<br />
eigenen Gebühren für den Prozess nicht erstattet. Nicht nur<br />
deshalb kann es sinnvoll sein, einen vom Versicherer benannten<br />
Prozessvertreter in Anspruch zu nehmen. Einmal<br />
abgesehen davon, dass dem Versicherer bezüglich der Auswahl<br />
des Bevollmächtigten ein Weisungsrecht zusteht, zeigt<br />
die Erfahrung, dass Anwälte sich in eigenen Sachen von einigem<br />
Gewicht tunlichst nicht selbst vertreten sollten. Die<br />
sachliche und emotionale Nähe mag zunächst dafür sprechen,<br />
verstellt aber allzu oft den distanzierten Blick, den<br />
ein unbefangener Kollege haben kann. Dessen Gebühren,<br />
ebenso die übrigen Kosten des Prozesses, erstattet der Versicherer.<br />
6. Sozien<br />
§ 12 AVB regelt für Rechtsberater, dass der Versicherungsfall<br />
auch nur eines Sozius als Versicherungsfall aller<br />
Sozien gilt. Daher müssen also sämtliche Sozien – gemeint<br />
sind die so genannten Außensozien ohne Rücksicht auf die<br />
vertraglichen Beziehungen im Innenverhältnis – den Schaden<br />
melden. Entscheidend ist dabei die Kanzleizusammensetzung<br />
– also letzten Endes die Briefkopfversion zum so<br />
genannten Verstoßzeitpunkt. Das ist der Zeitpunkt der schadenstiftenden<br />
Handlung oder Unterlassung. Sind bzw. waren<br />
alle Sozien gleichmäßig bei einer Gesellschaft versichert,<br />
genügt eine einzige Schadenmeldung an diesen<br />
Versicherer. Sind auf diese Weise mehrere Versicherungsgesellschaften<br />
betroffen, ist eine Meldung an jede involvierte<br />
Gesellschaft abzugeben, alles Weitere stimmen diese<br />
dann intern ab. Die Federführung hat der Versicherer des<br />
jeweiligen Sachbearbeiters in der Kanzlei, Schadenaufwendungen<br />
werden mit der Durchschnittsleistung bezahlt, die<br />
nach Kopfteilen und Versicherungssummen auf den jeweiligen<br />
Sozius entfällt. Entscheidend sind wegen des Verstoßprinzips<br />
auch immer die Versicherungsbedingungen und<br />
-verhältnisse, die seinerzeit galten. (Zur Sozienhaftung und<br />
Versicherung ausführlich Burger, AnwBl. 2004, 304.)<br />
7.Wie wird reguliert?<br />
Die jeweilige Haftungssumme, also der Betrag, der als<br />
Schadenausgleich an die Anspruchstellerseite zu zahlen ist,<br />
wird unmittelbar durch den vertraglich vereinbarten Selbstbehalt<br />
gekürzt. Auch dieser ist gesetzlich vorgesehen. Er ist<br />
üblicherweise prozentual gestaffelt, in unterschiedlichem<br />
Maße für die verschiedenen Bedingungen AVB-A bzw.<br />
AVB-RSW. Die letztgenannten neuen Bedingungen sehen<br />
standardmäßig einen Höchstselbstbehalt von 1.500 Euro<br />
vor, während es nach den älteren Bedingungen 5.000 DM<br />
bzw. 2.556,46 Euro waren. Der Versicherer zahlt in der Regel<br />
an die Gegenseite unter Abzug des Selbstbehalts, den<br />
dann der Versicherungsnehmer selbst leisten muss.<br />
8. Schlussbemerkung<br />
Eine möglichst frühzeitige Meldung an den Versicherer<br />
ist nicht nur zur Vermeidung von Obliegenheitsverletzungen<br />
notwendig. Sie eröffnet außerdem die Möglichkeit, dass<br />
Sachbearbeitung und Entscheidung zügig erfolgen. Eine<br />
enge und rechtzeitige Zusammenarbeit mit dem Versicherer<br />
kann darüber hinaus helfen, drohendem Schaden entgegenzuwirken.
518<br />
MN<br />
§ 61 InsO – BGH zu<br />
Grenzen der<br />
Verwalterhaftung *<br />
Rechtsanwalt Alexander Weinbeer<br />
Allianz Versicherungs-AG, München<br />
Im letzten Jahr war es aufgrund einer Reihe obergerichtlicher<br />
Urteile zu erheblicher Unsicherheit unter den<br />
Insolvenzverwaltern in Bezug auf die Frage gekommen,<br />
unter welchen Voraussetzungen sie für Masseverbindlichkeiten<br />
nach § 61 InsO einzustehen haben. Namentlich die<br />
Entscheidungen des OLG Hamm vom 16.1.2003 zu den Az.<br />
27 U 45/02 (NZI 2003, 263 = ZInsO 2003, 474 = ZIP<br />
2003, 1165) und 27 U 46/02 statuierten für den Insolvenzverwalter<br />
gerade bei der von Seiten des Gesetzgebers verstärkt<br />
intendierten Betriebsfortführung Gefahren, die eine<br />
Aushöhlung dieser mit dem neuen Insolvenzrecht verbundenen<br />
Zielsetzung und den Rückzug auf die weniger haftungsträchtige<br />
Liquidation und sofortige Gläubigerbefriedigung<br />
befürchten ließen. Der BGH hatte sich aufgrund<br />
der vorgenannten Urteile erstmals mit der persönlichen<br />
Haftung des Insolvenzverwalters zu befassen und präzisierte<br />
den Anwendungsbereich des § 61 InsO durch seine<br />
beiden Entscheidungen vom 6.5.2004 zu den Az. IX ZR<br />
48/03 (ZInsO 2004, 609) und IX ZR 50/03.<br />
1. Entscheidungsinhalt<br />
Insbesondere hatte der BGH der Frage nachzugehen, ob<br />
eine Haftung des Insolvenzverwalters nach § 61 InsO nur<br />
bei der pflichtwidrigen Begründung von Masseverbindlichkeiten<br />
in Betracht komme oder ob – so das OLG Hamm –<br />
die Ersatzpflicht bereits dann eintrete, wenn der Insolvenzverwalter<br />
Masseschulden bei ihrer Fälligkeit nicht erfüllen<br />
könne. Das Berufungsgericht nahm dabei eine Haftung<br />
nach § 61 Satz 1 InsO an, weil die Vorschrift nach ihrem<br />
„umfassenden Wortlaut“ eine entsprechende Auslegung zuließe.<br />
Zudem ergäbe sich aus der Gesetzesbegründung, dass<br />
der Gesetzgeber wieder eine Verschärfung der Haftung in<br />
Richtung auf die ältere Rechtsprechung bewirken wollte,<br />
um so die Möglichkeiten zur Unternehmensfortführung zu<br />
verbessern (ebenso Pape, ZInsO 2003, 1013 ff.; EWiR<br />
2003, 829 f.; mittlerweile aber wohl anders in ZInsO 2004,<br />
605 ff.).<br />
Der BGH folgt der Auffassung des OLG Hamm nicht.<br />
Er legt § 61 Satz 1 InsO zunächst wortlautgetreu aus und<br />
beschränkt die daraus resultierende Verwalterhaftung ausschließlich<br />
auf die pflichtwidrige Begründung von Masseverbindlichkeiten<br />
(s. a. Laws, MDR 2003, 787, 792 f.). Auch<br />
lehnt er eine Ausweitung der Verwalterhaftung aufgrund der<br />
Regierungsbegründung (BT-Drucks. 12/2443, S. 129) ab<br />
und betont, dass sich der eingeschränkte Anwendungsbereich<br />
des § 61 InsO auch aus der Vorgeschichte der Vorschrift<br />
ergibt (vgl. zur Entstehungsgeschichte der §§ 60 ff.<br />
InsO und den Gründen der Neuregelung auch Pape,ZInsO<br />
2003, 1013 ff.; Weinbeer, AnwBl. 2004, 48 ff.).<br />
In diesem Zusammenhang weist der BGH aber darauf<br />
hin, dass der Verwalter den Entlastungsbeweis nach § 61<br />
Satz 2 InsO im Allgemeinen nur durch eine kontinuierlich<br />
fortgeschriebene und plausible Liquiditätsplanung führen<br />
könne. Resultiert die Liquiditätsprognose nicht aus einer<br />
präzisen Berechnung der Einnahmen und Ausgaben sowie<br />
aus einer realistischen Einschätzung noch ausstehender Forderungen<br />
und der künftigen Geschäftsentwicklung, könne<br />
sich der Verwalter nicht entlasten. Insbesondere sollen Forderungen<br />
dann ausscheiden, wenn ernstliche Zweifel daran<br />
bestehen, ob sie in angemessener Zeit (nicht) realisiert werden<br />
können.<br />
Zudem stellt der BGH fest, dass ein Ausfallschaden<br />
i. S. d. § 61 InsO jedenfalls dann vorliegt, wenn die Masseunzulänglichkeit<br />
angezeigt wurde und keine ohne weiteres<br />
durchsetzbaren Ansprüche bestehen, aus denen die Massegläubiger<br />
befriedigt werden können. Wenn eine freiwillige<br />
Erfüllung von Ansprüchen ausgeschlossen ist, müssen sich<br />
die Massegläubiger nicht auf einen möglicherweise langjährigen<br />
Rechtsstreit über ungewisse Ansprüche verweisen<br />
lassen. Eine i. R. d. Verteilung nach § 209 Abs. 1 InsO zu<br />
erwartende Quote ist vielmehr entsprechend § 255 BGB zu<br />
berücksichtigen.<br />
Einen weiteren Schwerpunkt der Entscheidungen bilden<br />
auch die Hinweise des BGH zum Umfang des nach § 61<br />
InsO erstattungsfähigen Schadens, der sich auf das negative<br />
Interesse beschränken soll. Damit schließt sich der BGH<br />
der überwiegenden Literaturmeinung an, die den<br />
Anknüpfungspunkt für eine Haftung nach § 61 InsO in<br />
dem enttäuschten Vertrauen des Geschäftspartners sieht,<br />
und begründet dies insbesondere mit systematischen und<br />
historischen Gesichtspunkten sowie Sinn und Zweck des<br />
§ 61 InsO. Denn der eigentliche Haftungsgrund des § 61<br />
InsO liegt im Eingehen einer Masseverbindlichkeit trotz<br />
voraussichtlicher Masseunzulänglichkeit bzw. in der unterlassenen<br />
Warnung des Vertragspartners, der einen entspr.<br />
Hinweis auf die drohende Masseinsuffizienz bei Geschäftsabschluss<br />
erwarten dürfe. Dies stellt – worauf der BGH zu<br />
Recht hinweist – einen typischen Fall der Vertrauenshaftung<br />
dar. Konsequenterweise lehnt der BGH daher auch die<br />
Erstattungsfähigkeit der Umsatzsteuer ab, weil die Ersatzleistung<br />
nicht auf einem Leistungsaustausch beruht.<br />
Schließlich geht das Gericht noch auf die häufig in der<br />
Praxis anzutreffenden (Form-)Schreiben von Insolvenzverwaltern<br />
ein, in denen mehr oder weniger deutlich die Zahlung<br />
offener Masseverbindlichkeiten zugesagt wird. Der<br />
BGH deutet dabei an, dass derartige, eher floskelhafte Zusagen<br />
i. d. R. schwerlich genügen dürften, um eine Garantiezusage<br />
in Form einer persönlichen Haftungsübernahme<br />
des Verwalters annehmen zu können (so auch LG Dresden,<br />
Urt. v. 5.3.04 – 10 O 3672/03 – (unveröff.), das schon aus<br />
dem Umstand, dass derartige Zusagen regelmäßig namens<br />
des Insolvenzverwalters erfolgen, ein persönliches Einstehenwollen<br />
ablehnt).<br />
2. Fazit<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Haftpflichtfragen<br />
Der BGH hat erfreuliche Klarstellungen in Bezug auf<br />
die Voraussetzungen der Verwalterhaftung nach § 61 Satz 1<br />
InsO und den Umfang der Schadensersatzpflicht, die auf<br />
das negative Interesse beschränkt wird und nicht die Umsatzsteuer<br />
umfasst, geschaffen, nachdem gerade letztgenannte<br />
Gesichtspunkte in Entscheidungen zu § 61 InsO<br />
bislang wenig Berücksichtigung fanden (vgl. hierzu auch<br />
Pape, ZInsO 2003, 1013, 1017; 2004, 605 f.). Problematisch<br />
erscheint die Begründung für die Annahme eines Ausfallschadens<br />
i. S. d. § 61 InsO, insbesondere wenn es nur zu<br />
einer zeitweiligen Masseunzulänglichkeit gekommen war.<br />
Unklar bleiben schließlich auch die Anforderungen an die<br />
Liquiditätsplanung. Hier bleibt abzuwarten, ob die Instanzengerichte<br />
eine praxisgerechte Auslegung finden werden.<br />
* Ergänzung zu Weinbeer, AnwBl 2004, 48.
AnwBl 8 + 9/2004 519<br />
7<br />
Berufsrecht<br />
GG Art. 12 Abs. 1; BNotO § 6<br />
Zur angemessenen Gewichtung fachspezifischer Leistungen<br />
beim Zugang zum Beruf des Notars im Nebenamt.<br />
BVerfG (1. Senat), Beschl. v. 20.4.2004 – 1 BvR 838/01 u.a.<br />
Sachverhalt: Die Beschwerdeführer sind Rechtsanwälte, die<br />
sich in den Ländern Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Hessen<br />
erfolglos auf ausgeschriebene Notarstellen beworben haben.<br />
Sie wenden sich gegen die in den jeweiligen Ländern herangezogenen<br />
Kriterien für die Bewerberauswahl.<br />
Die Auswahl der Bewerber wird getroffen auf Grund von Verwaltungsvorschriften<br />
der Länder (AVNots), welche die Regelungen<br />
der BNotO in § 6 ergänzen. In den AVNots ist ein Schema für die<br />
Auswahl der Bewerber festgelegt, das bei einer höchsterreichbaren<br />
Punktzahl von 180 Punkten bis zu 90 Punkte auf die Examensnote<br />
der 2. Staatsprüfung, bis zu 45 Punkte auf die Dauer der rechtsanwaltlichen<br />
Tätigkeit sowie bis zu 45 Punkte auf notarspezifische<br />
Fortbildung entfallen lässt. Von Letzterer können bis zu 20 Punkte<br />
auch durch Niederschriften im Rahmen von Notarvertretungen und<br />
Notariatsverwaltungen ersetzt werden.<br />
Die Beschwerdeführer beanstanden das Übergewicht der Ergebnisse<br />
der 2. Staatsprüfung; etwa 0,85 oder 0,55 Punktedifferenzen<br />
zu dem seit Jahren zurückliegenden Prüfungszeitpunkt können<br />
über die Bestellung zum Notar entscheiden. Die Beschwerdeführer<br />
beanstanden außerdem die starre Verwaltungspraxis, die es, vom<br />
BGH in der angegriffenen Entscheidung angeordnet, nicht zulässt,<br />
besondere Leistungen und Verhältnisse der Bewerber zur Vorbereitung<br />
auf den Notarberuf das Schema ergänzend (Sonderpunkte) zu<br />
berücksichtigen. Die Verfassungsbeschwerden der Rechtsanwälte<br />
aus Hessen und Niedersachsen hatten Erfolg. Die Verfassungsbeschwerde<br />
des Rechtsanwalts aus Nordrhein-Westfalen wurde verworfen.<br />
Er hatte es versäumt, seine Position durch einstweiligen<br />
Rechtsschutz zu sichern.<br />
Aus den Gründen: B. Die Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführer<br />
zu I. und III. sind zulässig.<br />
Hingegen hat sich das Verfahren des Beschwerdeführers zu II.<br />
erledigt. Die Justizverwaltung hat die im Amtsgerichtsbezirk<br />
Münster ausgeschriebenen fünf Notarstellen inzwischen besetzt,<br />
nachdem der Antrag des Beschwerdeführers auf einstweiligen<br />
Rechtsschutz mit dem Ziel, jedenfalls eine der ausgeschriebenen<br />
Notarstellen für den Fall eines Erfolges in der Hauptsache offen zu<br />
halten, im fachgerichtlichen Verfahren abgewiesen worden war.<br />
Mit seiner Verfassungsbeschwerde hat der Beschwerdeführer lediglich<br />
die Entscheidungen in der Hauptsache angegriffen. Anträge<br />
auf einstweiligen Rechtsschutz bis zum Abschluss des Verfassungsbeschwerdeverfahrens<br />
wurden nicht gestellt.<br />
Dem Beschwerdeführer fehlt das Rechtsschutzbedürfnis, weil<br />
er auch bei einer Aufhebung der angegriffenen Entscheidungen<br />
keine Chance mehr hat, im Auswahlverfahren berücksichtigt zu<br />
werden (vgl. zum Rechtsschutzbedürfnis BVerfGE 35, 324 [334]).<br />
Eine Fortsetzung des Verfahrens vor den Fachgerichten kommt<br />
schon nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht in<br />
Betracht (vgl. BGH DNotZ 1996, 905; 1999, 252; BGHR, BNotO,<br />
§ 111 n. F. Konkurrentenklage 1); dies gilt jedenfalls, wenn es der<br />
unterlegene Bewerber versäume, seine Position im Wege einstweiligen<br />
Rechtsschutzes zu sichern (vgl. BVerwG DVBl 2004, 317).<br />
Auch verfassungsrechtlich steht hier nur die konkrete Auswahlentscheidung<br />
aus einem in der Vergangenheit durch das Ausschreibungsverfahren<br />
festgelegten Bewerberfeld zur Überprüfung. Die<br />
Rügen beziehen sich nicht abstrakt auf gesetzliche Bestimmungen,<br />
sondern auf ihre Konkretisierung im abgelaufenen Entscheidungsprozess,<br />
der verfassungsrechtlich zur Überprüfung gestellt wird.<br />
Welche Rechtsfragen sich in einem neuen Bewerbungsverfahren<br />
mit anderen Konkurrenten stellen werden, ist nicht absehbar.<br />
Im Übrigen wird der Beschwerdeführer zu II. demnächst von<br />
den unter C. niedergelegten Aussagen zu den verfassungsrechtlich<br />
MN<br />
gebotenen Anforderungen, an das Bewerbungsverfahren profitieren<br />
können. Die entsprechenden Änderungen des Auswahlverfahrens<br />
kommen in Zukunft bei allen Bewerbern um das Amt des Notars<br />
zur Anwendung.<br />
C. Die Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführer zu I.<br />
und III. sind begründet. Zwar genügen die in § 6 BNotO normierten<br />
Auswahlmaßstäbe den Anforderungen des Art. 12 Abs. 1 GG<br />
unter Berücksichtigung der mit dem öffentlichen Amt der Notare<br />
verbundenen Besonderheiten aus Art. 33 Abs. 2 GG. Ihre regelmäßige<br />
Anwendung, konkretisiert in den im Wesentlichen übereinstimmenden<br />
Verwaltungsvorschriften der Länder, ebenso wie Auslegung<br />
und Anwendung der Norm durch die Gerichte verfehlen<br />
jedoch die um der verfassungsrechtlich gewährleisteten Berufsfreiheit<br />
willen gebotene chancengleiche Bestenauslese zur Besetzung<br />
der freien Notarstellen.<br />
I. Verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab für die Auswahl unter<br />
Bewerbern für das Amt des Notars ist das Grundrecht der Berufsfreiheit<br />
aus Art. 12 Abs. 1 i. V. m. Art. 33 Abs. 2 GG.<br />
Das Grundrecht schützt neben der freien Berufsausübung auch<br />
das Recht, einen Beruf frei zu wählen. Unter Beruf ist jede auf Erwerb<br />
gerichtete Tätigkeit zu verstehen, die auf Dauer angelegt ist und<br />
der Schaffung und Aufrechterhaltung einer Lebensgrundlage dient<br />
(vgl. BVerfGE 102, 197 [212]). Dabei umfasst die Berufsfreiheit<br />
grundsätzlich auch das Recht, mehrere Berufe zu wählen und gleichseitig<br />
nebeneinander auszuüben (vgl. BVerfGE 21, 173 [179]).<br />
Eingriffe in dieses Recht sind nach Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG, der<br />
auch für Maßnahmen gilt, die die Freiheit der Berufswahl betreffen<br />
(vgl. BVerfGE 102, 197 [213] m. w. N.), nur auf der Grundlage einer<br />
Regelung zulässig, aus der sich hinreichend deutlich die gesetzgeberische<br />
Entscheidung über den Umfang und die Grenzen des<br />
Eingriffs ergibt. Dabei sind an Bestimmtheit und Erkennbarkeit der<br />
gesetzlichen Einschränkung der Freiheit der Berufswahl strengere<br />
Anforderungen zu stellen als an Regelungen, die nur die Berufsausübung<br />
betreffen (vgl. BVerfGE 54, 237 [245 f.]).<br />
Dass die Tätigkeit des Notars nach der Art der von ihm zu bewältigenden<br />
Aufgaben in einem öffentlichen Amt in sachlich bedingter<br />
Nähe zum öffentlichen Dienst steht, ermöglicht für diesen<br />
Beruf zwar grundsätzlich Sonderregelungen. Daraus ergibt sich<br />
aber nicht, dass an die nach Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG gebotene gesetzliche<br />
Regelung geringere Anforderungen zu stellen wären als<br />
bei anderen Berufen. Allerdings kann die Nähe zum öffentlichen<br />
Dienst für den Inhalt der gesetzlichen Regelung Bedeutung erlangen<br />
(vgl. BVerfGE 73, 280 [294 f.]). Lässt der Gesetzgeber unterschiedliche<br />
Ausgestaltungen desselben Berufs zu und ist die Ausübung<br />
eines öffentlichen Amtes im Haupt- und im Zweitberuf<br />
möglich, wirken sich solche Unterschiede nicht nur im Hinblick<br />
auf Regelungen der Berufsausübung aus (vgl. BVerfGE 47, 285<br />
[319 f.]; 54, 237 [247]; 98, 49 [68]), sondern vor allem im Hinblick<br />
auf die grundgesetzkonforme Ausgestaltung der Zugangsvoraussetzungen<br />
und die verfassungsrechtlich zulässigen Einschränkungen<br />
der Berufswahl.<br />
II. Diesen Maßstäben wird § 6 BNotO gerecht. Dessen Auswahlkriterien<br />
entsprechen den Erfordernissen, die das BVerfG in<br />
seiner Entscheidung aus dem Jahr 1986 eingefordert hat (vgl.<br />
BVerfGE 73, 280 [295 f.]). Sie sind genügend bestimmt und greifen<br />
nicht unangemessen in die Berufswahlfreiheit ein.<br />
1. Die Bundesnotarordnung legt zunächst fest, dass nur solche<br />
Bewerber zu Notaren bestellt werden dürfen, die die Befähigung<br />
zum Richteramt nach dem Deutschen Richtergesetz erlangt haben<br />
(§ 5), noch nicht 60 Jahre alt und im Übrigen nach ihrer Persönlichkeit<br />
und ihren Leistungen für das Amt des Notars geeignet<br />
sind (§ 6 Abs. 1). Diese Voraussetzungen werden amtsangemessen<br />
einheitlich sowohl für die hauptberuflichen Notare nach § 3 Abs. 1<br />
BNotO wie auch für die Anwaltsnotare nach § 3 Abs. 2 BNotO<br />
festgelegt. In Anlehnung an die auslegungsfähigen und von der<br />
Rechtsprechung inzwischen umfänglich konkretisierten Begriffe<br />
aus Art. 33 Abs. 2 GG knüpft das Gesetz die Übertragung des Amtes<br />
an Eignung, Befähigung und fachliche Leistungen. Dabei zielt<br />
die Befähigung auf allgemein der Tätigkeit zugute kommende Fä-
520<br />
MN<br />
higkeiten wie Begabung, Allgemeinwissen, Lebenserfahrung und<br />
allgemeine Ausbildung. Fachliche Leistung bedeutet Fachwissen,<br />
Fachkönnen und Bewährung im Fach. Eignung im engeren Sinne<br />
erfasst insbesondere Persönlichkeit und charakterliche Eigenschaften,<br />
die für ein bestimmtes Amt von Bedeutung sind (vgl. Jarass,<br />
in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland,<br />
7. Aufl. 2004, Art. 33 Rn 13; vgl. auch BVerfGE 92, 140<br />
[154 ff.] und BVerfG NJW 2003, 3111 [3112]).<br />
a) Diese Kriterien, insbesondere Befähigung und fachliche<br />
Leistung, werden in der Bundesnotarordnung für die unterschiedlichen<br />
Berufsausübungsformen näher konkretisiert. Das geschieht<br />
für die Anwaltsnotare in § 6 Abs. 2 und 3 BNotO und für die Nur-<br />
Notare in § 6 Abs. 3 und § 7 BNotO. Mit den in diesen Vorschriften<br />
enthaltenen Erfordernissen beschränkt das Gesetz die Freiheit der<br />
Berufswahl in Gestalt subjektiver Zulassungsvoraussetzungen<br />
durch an den einzelnen Notarbewerber absolut und im Vergleich zu<br />
Mitbewerbern gestellte Anforderungen. Die grundlegenden Eignungs-<br />
und Auswahlgesichtspunkte hat der Gesetzgeber dadurch<br />
selbst und mit der erforderlichen Klarheit geregelt.<br />
b) Die gesetzlichen Bestimmungen machen insbesondere hinlänglich<br />
deutlich, in welchem Maße Unterschiede bei der Ernennung<br />
zum Notar im Hauptberuf und bei der Ernennung zum Notar<br />
im Nebenberuf zu beachten sind. Diese ergeben sich zwangsläufig<br />
daraus, dass zwar in beiden Notariatsformen der Notar Inhaber eines<br />
öffentlich Amtes ist, das Berufsbild jedoch unterschiedlich ausgestaltet<br />
ist (vgl. BVerfGE 98, 49 [68]), was sich auf die Berufszugangsvoraussetzungen<br />
auswirkt.<br />
aa) Im Hauptberuf kommt der fachlichen Eignung unter besonderer<br />
Berücksichtigung der Leistungen in der die juristische Ausbildung<br />
abschließenden Staatsprüfung schon nach § 7 Abs. 2 S. 1<br />
BNotO für die Aufnahme in den Anwärterdienst herausragende<br />
Bedeutung zu. Zu diesem Zeitpunkt haben die Anwärter im Allgemeinen<br />
noch keine besonderen Fachkenntnisse aufzuweisen.<br />
Deshalb wird die Auswahl vorrangig anband der Examensnoten<br />
getroffen mit der Folge, dass regelmäßig nur solche Anwärter zu<br />
Notarassessoren bestellt werden, die das Examen mit gut oder mindestens<br />
einem oberen vollbefriedigend abgelegt haben.<br />
Ihre fachliche Qualifikation erwerben die Notarassessoren während<br />
des in der Regel dreijährigen Anwärterdienstes (§ 7 Abs. 1<br />
BNotO); fachliche Kenntnisse und Fähigkeiten werden ihnen vermittelt;<br />
ihr Leistungsstand wird beurteilt. Zu diesem Zweck wird<br />
der Notarassessor einem Notar zugewiesen und von diesem in einer<br />
dem Zweck des Anwärterdienstes entsprechenden Weise beschäftigt<br />
(§ 7 Abs. 5 S. 1 BNotO). Er erhält eine Ausbildung, die sich<br />
nach einschlägigen Länderverordnungen richtet (vgl. beispielsweise<br />
für Nordrhein-Westfalen: § 2 der Verordnung über die Ausbildung<br />
der Notarassessorinnen und Notarassessoren v. 18.10.1993<br />
[GVBl S. 577]; im Folgenden: AusbildungsVO). Diese Ausbildung<br />
hat zur Folge, dass bei der Auswahl unter mehreren geeigneten Bewerbern,<br />
die sich gem. § 6 Abs. 3 BNotO an der persönlichen und<br />
fachlichen Eignung ausrichtet, im Zeitpunkt der Bewerbung um ein<br />
Notaramt im Hauptberuf zwar erneut das Zweite Staatsexamen,<br />
aber eben auch die bei der Vorbereitung auf den Notarberuf gezeigten<br />
und beurteilten Leistungen Gewicht haben.<br />
bb) In § 6 Abs. 2 und 3 S. 2 BNotO nimmt der Gesetzgeber<br />
hingegen auf die Besonderheiten das Berufs des Anwaltsnotars als<br />
einem Zweitberuf Rücksicht, ohne indessen das Merkmal der Eignung<br />
im weiteren Sinne zu vernachlässigen. Auch beim Zugang<br />
zum Zweitberuf rechtfertigt vor Art. 12 Abs. 1 GG allein die Sicherstellung<br />
einer qualitätsvollen vorsorgenden Rechtspflege Einschränkungen<br />
beim Berufszugang, soweit diese hierzu geeignet<br />
und erforderlich sind, die Bewerber nicht unverhältnismäßig belasten<br />
und den chancengleichen Zugang zum angestrebten öffentlichen<br />
Amt wahren (vgl. auch BVerfGE 73, 280 [295]). Diesen Maßstäben<br />
werden die gesetzlichen Vorgaben gerecht.<br />
Obwohl das Gesetz für die Auswahl der Anwaltsnotare strikte<br />
Regeln nur hinsichtlich Dauer und Ort der Berufstätigkeit als Anwalt<br />
vorsieht (§ 6 Abs. 2 Nr. 1 und 2 BNotO), gibt es der Normanwendung<br />
mit den Kriterien von persönlicher und fachlicher Eignung<br />
(§ 6 Abs. 3 S. 1 BNotO) hinreichend klare Konturen. Es<br />
ermöglicht eine einzelfallbezogene Würdigung der gesamten<br />
Persönlichkeit des Bewerbers, die in eine Prognose einmündet (vgl.<br />
BVerfGE 92, 140 [155]). Die angemessene Berücksichtigung von<br />
in den Notarberuf einführenden Tätigkeiten sowie die erfolgreiche<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Rechtsprechung<br />
Teilnahme an freiwilligen Vorbereitungskursen (§ 6 Abs. 3 S. 2<br />
BNotO) bieten neben den in der Staatsprüfung gezeigten Leistungen<br />
insoweit eine ausreichende Prognosegrundlage. Daneben ist<br />
die Dauer der Anwaltstätigkeit nach § 6 Abs. 3 S. 3 BNotO angemessen<br />
zu berücksichtigen, woraus sich nach Auffassung der Bundesnotarkammer<br />
und des Deutschen Notarvereins vor allem Eignungsmerkmale<br />
im Hinblick auf Erfahrungen mit der allgemeinen<br />
Büroorganisation und dem Umgang mit Rechtsuchenden ergeben.<br />
Die vom Gesetz erwähnten Merkmale sind danach ausreichend bestimmt<br />
und i. V. m. der Gesamtregelung auch einer der Verfassung<br />
entsprechenden Auslegung und Gewichtung zugänglich.<br />
2. Der Sache nach ist die Berücksichtigung sämtlicher Kriterien,<br />
insbesondere derjenigen zur fachlichen Eignung, verfassungsrechtlich<br />
auch geboten. Sie und nicht allein die Berücksichtigung<br />
der die juristische Ausbildung abschließenden Staatsprüfung sind<br />
geeignet, dem Schutz eines wichtigen Gemeinschaftsgutes in Gestalt<br />
der vorsorgenden Rechtspflege zu dienen, indem sie gewährleisten,<br />
dass nur solche Bewerber zu Notaren ernannt werden, die<br />
den Anforderungen des Amtes voraussichtlich gewachsen sind.<br />
Für diese Prognose genügt – auch nach dem im Gesetz zum<br />
Ausdruck gebrachten Willen des Gesetzgebers – das Zweite Staatsexamen<br />
nicht, das lediglich die Befähigung zum Richteramt und<br />
damit zugleich zum Beruf des Rechtsanwalts vermittelt, aber keine<br />
hinlängliche Aussage über die spezielle Befähigung zum Amt des<br />
Notars enthält. Deshalb hat der Gesetzgeber für die Zulassung zum<br />
Notar in hauptberuflicher Amtsausübung ergänzende Voraussetzungen<br />
aufgestellt. Nach dem erfolgreichen Abschluss der juristischen<br />
Ausbildung hält der Gesetzgeber hier eine dreijährige Weiterbildung<br />
– die AusbildungsVO nennt es sogar Ausbildung – zur Erlangung<br />
spezifischer Kenntnisse für notwendig (vgl. § 7 Abs. 1<br />
BNotO), die im Notariat und von Notaren praktisch und theoretisch<br />
vermittelt werden.<br />
Ein entsprechender Eignungsnachweis kann im Anwaltsnotariat<br />
nicht allein aus längerer berufspraktischer Tätigkeit in der Anwaltschaft<br />
erbracht werden, da sich die beruflichen Anforderungen unterscheiden.<br />
Aus diesem Grund lässt sich beim Anwaltsnotar die<br />
fachliche Eignung auch nicht ausschließlich an dem Ergebnis der<br />
die juristische Ausbildung abschließenden Staatsprüfung i. V. m. einer<br />
nicht notariellen Berufstätigkeit ablesen. Wie bei den Notaren<br />
im Hauptberuf, bei denen die bei der Vorbereitung auf den Notarberuf<br />
gezeigten Leistungen in Rechnung zu stellen sind, ist es<br />
gem. Art. 12 Abs. 1 GG auch bei den Notaren im Nebenberuf erforderlich,<br />
dass der spezifische Vorbereitungsaufwand in die fachliche<br />
Bewertung ihrer Eignung angemessen eingeht. Die notwendige<br />
Qualifikation kann in praktischer Tätigkeit und erfolgreicher Teilnahme<br />
an Vorbereitungskursen erworben werden. Eine solche spezielle<br />
auf das Amt zugeschnittene Qualifikation ist geboten, damit<br />
der angestrebte Zweck erreicht werden kann. Ohne das Zusatzerfordernis<br />
bliebe das Ergebnis des Staatsexamens zu wenig aussagekräftig;<br />
es gibt lediglich über die allgemeine juristische Befähigung,<br />
nicht aber über die spezifische fachliche Eignung für das<br />
Amt des Notars Auskunft.<br />
3. Nach allem ermöglicht die Bundesnotarordnung bei der Auswahl<br />
der Anwaltsnotare eine angemessene Berücksichtigung solcher<br />
Kenntnisse und Fähigkeiten, welche sich speziell auf das angestrebte<br />
Amt und damit auf den Zweitberuf beziehen. Solange der<br />
Gesetzgeber keine andere Regelung trifft, ergeben sich angesichts<br />
der Gleichwertigkeit der Berufsausübung im Haupt- und im Nebenamt<br />
aus den Vorschriften über den Anwärterdienst für Notare<br />
im Hauptamt Hinweise auf eine der Bedeutung von Fachkompetenz<br />
gerecht werdenden Bewertung der im Gesetz vorgesehenen<br />
Kriterien beim Zugang zum Beruf im Nebenamt. In beiden Fällen<br />
sind spezifische Fachkenntnisse bewertet nachzuweisen und angemessen<br />
zu gewichten. In dieser Auslegung ist das Gesetz mit<br />
Art. 12 Abs. 1 i. V. m. Art. 33 Abs. 2 GG vereinbar; es schränkt die<br />
Berufsfreiheit der Bewerber nicht unverhältnismäßig ein.<br />
III. Auslegung und Anwendung der Normen in den angegriffenen<br />
Entscheidungen genügen jedoch nicht den verfassungsrechtlichen<br />
Erfordernissen. Die Verwaltung hat sich nach Verwaltungsvorschriften<br />
in Gestalt von Verwaltungs- oder Allgemeinen<br />
Verfügungen in Angelegenheiten der Notarinnen und Notare gerichtet,<br />
die durch die Rechtsprechung des BGH, an der sich die<br />
Gerichte in den Ausgangsverfahren orientiert haben, weiter konkretisiert<br />
worden sind. Diese Verwaltungspraxis und die Rechtspre-
AnwBl 8 + 9/2004 521<br />
Rechtsprechung MN<br />
chung tragen dem Grundrecht der Beschwerdeführer auf Freiheit<br />
der Berufswahl insoweit nicht hinreichend Rechnung, als sie bei<br />
der Auswahl der Bewerber aus dem Kreis der Rechtsanwälte, die<br />
für das Amt des Notars in Betracht kommen, nicht den Vorrang<br />
desjenigen mit der besten fachlichen Eignung gewährleisten.<br />
1. Die Verwaltungsvorschriften der Länder zielen zwar in unbedenklicher<br />
Weise auf eine transparente, nachvollziehbare und an objektiven<br />
Kriterien ausgerichtete Entscheidung ebenso wie auf eine<br />
rechnerisch gewichtete Berücksichtigung der die juristische Ausbildung<br />
abschließenden Staatsprüfung neben den in der Vorbereitung<br />
auf den Notarberuf gezeigten Leistungen. Die Besonderheiten der<br />
Auswahl für die Wahrnehmung des Amts im Zweitberuf werden indessen<br />
vernachlässigt. Die Prognose über die Eignung eines Bewerbers<br />
für das von ihm angestrebte öffentliche Amt oder über seine bessere<br />
Eignung bei der Auswahl aus einem größeren Kreis von<br />
Bewerbern lässt vor allem eine konkrete und einzelfallbezogene Bewertung<br />
der fachlichen Leistung des Bewerbers vermissen.<br />
2. Im Auswahlverfahren kommt der spezifischen fachlichen<br />
Eignung für das Amt des Notars im Verhältnis zur allgemeinen Befähigung<br />
für juristische Berufe und zu den Erfahrungen aus dem<br />
Anwaltsberuf eine derart untergeordnete Bedeutung zu, dass die<br />
ablehnenden Auswahlentscheidungen und die sie bestätigenden gerichtlichen<br />
Entscheidungen mit Art. 12 Abs. 1 i. V. m. Art. 33<br />
Abs. 2 GG nicht mehr vereinbar sind.<br />
a) Nach seinem Wortlaut sieht das Gesetz für die Bewerberauswahl<br />
eine zwingende Berücksichtigung lediglich solcher Kriterien<br />
vor, die nicht oder nicht notwendig einen Bezug zum Notaramt<br />
aufweisen, nämlich der Examensnote und der Zeitdauer anwaltlicher<br />
Erfahrung, die in jedem beliebigen – auch einem notariatsfernen<br />
– Rechtsgebiet erworben sein kann (vgl. § 6 Abs. 2 und 3<br />
S. 1 BNotO). Demgegenüber hat der Gesetzgeber die Einbeziehung<br />
der notarspezifischen Weiterbildung und der praktischen Erfahrung<br />
mit Beurkundungen als Kann-Bestimmung formuliert (vgl. § 6<br />
Abs. 3 S. 2 BNotO). Wie oben dargelegt, ist damit aber nicht beabsichtigt,<br />
auf die in § 6 Abs. 3 S. 1 BNotO geforderte fachliche<br />
Kompetenz bei den Anwaltsnotaren zu verzichten. Wegen der Bedeutung<br />
des unabhängigen Notariats für die vorsorgende Rechtspflege<br />
ist ein qualitativ hoher Leistungsstand in beiden Berufsausübungsformen<br />
zur Geltung zu bringen.<br />
aa) Die Mindestvoraussetzungen für den Nachweis fachlicher<br />
Eignung werden für das Anwaltsnotariat in § 2 Abs. 2 AVNot wie<br />
folgt umschrieben: Der Nachweis der fachlichen Eignung ist in der<br />
Regel erbracht, wenn die Bewerberinnen oder Bewerber eine Bescheinigung<br />
über die Teilnahme an dem vom Deutschen Anwaltsinstitut<br />
– Fachinstitut für Notare – veranstalteten Grundkurs (Einführung)<br />
für angehende Anwaltsnotarinnen oder -notare oder einem<br />
inhaltlich und zeitlich vergleichbaren Kurs einer anderen beruflichen<br />
Organisation vorlegen und der Annahme der fachlichen Eignung<br />
keine anderen Erkenntnisse entgegenstehen. Dieser Grundkurs<br />
umfasst sechs Teile. Am Ende jedes Blocks von drei Tagen<br />
wird mit dem angebotenen Testat der Nachweis der erfolgreichen<br />
Teilnahme ermöglicht (vgl. Deutsches Anwaltsinstitut, Veranstaltungen<br />
1. Halbjahr 2004, S. 104 ff.). Der Grundkurs bietet derzeit<br />
eine Einführung von insgesamt 120 Stunden, und zwar in die<br />
Rechtsgebiete Berufsrecht, allgemeine Notarpraxis und Beurkundungsrecht,<br />
Grundstückskaufvertrag nebst Grundbuchverfahrensrecht<br />
und notarieller Verwahrungstätigkeit, Übertragungsverträge,<br />
Kostenrecht, Wohnungseigentums-, Erbbau- und Haftpflichtrecht<br />
sowie Bauträgervertragsrecht, Familien- und Erbrecht sowie internationales<br />
Privatrecht und Steuer-, Handels- und Gesellschaftsrecht,<br />
jeweils mit Relevanz für das Notariat. Für jedes dieser Gebiete<br />
steht nur eine relativ kurze Zeit zur Verfügung. Die im<br />
Grundkurs erworbenen Mindestkenntnisse können daher nicht den<br />
Kenntnissen entsprechen, die ein Notarassessor während seiner<br />
dreijährigen Ausbildung durch theoretische Weiterbildung und fortwährenden<br />
Praxisbezug erwerben kann.<br />
Schon anhand der sonstigen von den angehenden Notaren auch<br />
genutzten Fortbildungsveranstaltungen des Fachinstituts für Notare<br />
im Deutschen Anwaltsinstitut, das beispielsweise für das erste Halbjahr<br />
2004 weitere 200 Stunden Fortbildung anbietet, davon 30 Stunden<br />
Intensivkurs Überlassungsvertrag sowie jeweils 15 Stunden Erbrecht<br />
und internationales Erb-, Familien- und Gesellschaftsrecht (vgl.<br />
Deutsches Anwaltsinstitut, aaO, S. 107 ff.), ergibt sich, dass der Bedarf<br />
an weiterer theoretischer Wissensvermittlung groß ist.<br />
bb) Im Gegensatz zur Berücksichtigung der Notenunterschiede<br />
im Staatsexamen und des unterschiedlichen Leistungsniveaus bei<br />
den Notarassessoren hat es der BGH allerdings im Rahmen der<br />
Auswahlentscheidung nach § 6 Abs. 3 BNotO für nicht zulässig gehalten,<br />
bei den Testaten im Rahmen der Qualifizierung zum Anwaltsnotar<br />
nach einer Leistungsbenotung zu differenzieren, hierfür<br />
Sonderpunkte zu vergeben und damit die fachliche Eignung eines<br />
Bewerbers genauer zu kennzeichnen (vgl. BGH NJW-RR 1997,<br />
948 [949]; NJW-RR 1998, 637). Die Kenntnisse aus absolvierten<br />
Kursen könnten aber geprüft und bewertet werden. Das vorgehen<br />
der Veranstalter notarieller Fortbildung in der Zeit, bevor der BGH<br />
benotete Leistungsnachweise für rechtlich unerheblich erklärte, belegt<br />
es. Mit seiner Rechtsprechung hat der BGH eine der Verfassung<br />
näher stehende Handhabung des Gesetzes beendet, weil er<br />
hierin eine unzulässige Doppelbewertung gesehen hat. Das ist aber<br />
nicht der Fall.<br />
Auch wenn der Gesetzgeber auf Vorschlag des Rechtsausschusses<br />
des Bundestages von einem Prüfungsgespräch oder der Einholung<br />
eines Gutachtens zur fachlichen Eignung bei der Notarkammer<br />
abgesehen hat (vgl. BT-Drucks 11/8307, 18; vgl. auch<br />
<strong>Deutscher</strong> Bundestag, 11. WP, Protokoll der 69. Sitzung des<br />
Rechtsausschusses v. 14.2.1990, S. 63), kann doch dem Gesetzgebungsverfahren<br />
nicht entnommen werden, dass damit vom Leistungsprinzip<br />
abgewichen werden sollte. Dazu kommt es aber, wenn<br />
gerade hinsichtlich der spezifischen fachlichen Qualifikation für<br />
das Notaramt eine Differenzierung nach individueller Leistung<br />
ausgeschlossen wird. Dies gebietet auch nicht die Objektivierung<br />
des Auswahlverfahrens, die vom Gesetzgeber zweifellos angestrebt<br />
war. Noten sind ebenfalls objektivierte Leistungsbewertungen.<br />
Gem. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AVNot sind sogar unbenotete Zeugnisse<br />
über das Bestehen der Staatsprüfung mit Punkten zu bewerten.<br />
Nach der Praxis der Justizverwaltung und der Gerichte wird der<br />
benoteten und infolge der Multiplikation mit 5 weit gespreizten<br />
Leistungsbewertung des Staatsexamens keine ebenso leistungsbezogene<br />
Bewertung der in der Vorbereitung auf das Notaramt gezeigten<br />
fachlichen Leistungen zur Seite gestellt. Schon deshalb haben<br />
die Bewerber, die sich durch besondere fachliche Leistungen<br />
auszeichnen, keine Chance, sich gegen etwa gleich gute Absolventen<br />
aus dem Staatsexamen durchzusetzen. Vielmehr wird so eine<br />
Notendifferenz von 0,55 Punkten in der die juristische Ausbildung<br />
abschließenden Staatsprüfung, wie beim Beschwerdeführer zu I.,<br />
zum ausschlaggebenden Eignungskriterium, obwohl ihre Aussagekraft<br />
nicht nur im Hinblick auf einschlägige zusätzliche Qualifizierungen<br />
für das Notaramt zu relativieren ist, sondern auch angesichts<br />
der zeitlichen Distanz zum Staatsexamen, der<br />
Unterschiede in der Notengebung der einzelnen Bundesländer<br />
(1991 absolvierten mit der Note vollbefriedigend in Bayern 8 vom<br />
Hundert, in Hamburg knapp 19 vom Hundert und im Saarland 22<br />
vom Hundert der Kandidaten die Staatsprüfung, vgl. Jura 1992,<br />
669) sowie der Veränderungen der Notengebung im seitlichen Verlauf,<br />
die beispielsweise die Niedersächsische Staatskanzlei eingeräumt<br />
hat (Anstieg der Durchschnittswerte der bestandenen<br />
Examen zwischen 1987 und 1999 um 0,97 Punkte).<br />
b) Die in den Verfassungsbeschwerdeverfahren vorgelegten<br />
Statistiken der Länder belegen die strukturellen Defizite des gekappten<br />
Punktwerte-Systems.<br />
Nach den erteilten Auskünften, insbesondere den von Niedersachsen<br />
und Schleswig-Holstein mitgeteilten Details, gibt es durchaus<br />
Notarbezirke, in denen Bewerber mit weniger als 110 Punkten,<br />
also mit einem ausreichenden Examen, dafür aber 15-jähriger Anwaltstätigkeit<br />
und bis zu 45 Punkten für notarielle Weiterbildung,<br />
eine Stelle erhalten können. Das bedeutet zugleich, dass Bewerber<br />
mit der Examensnote gut, 15-jähriger Anwaltspraxis und nur einem<br />
notariellen Grundkurs Amtsinhaber werden können. Das praktizierte<br />
Verfahren gewährleistet damit je nach Bewerbergruppe weder<br />
stets eine allgemeine gute juristische Befähigung der erfolgreichen<br />
Bewerber noch regelmäßig deren fachliche Qualität.<br />
Die von den Ländern, insbesondere von Berlin, Niedersachsen<br />
und Schleswig-Holstein, mitgeteilten Zahlen lassen zwar – entgegen<br />
den Vermutungen der Beschwerdeführer – nicht den Schluss<br />
zu, dass bei allen Notarbestellungen die Ergebnisse des Staatsexamens<br />
den Ausschlag geben. Sie belegen aber, dass der fachlichen<br />
Eignung, die sich insbesondere in vertretungsweise ausgeübter Notartätigkeit<br />
und notarspezifischer Fortbildung darstellt, zu wenig
522<br />
MN<br />
Bedeutung beigemessen wird. Die beiden Säulen der Befähigung<br />
und der fachlichen Leistung haben nicht das ihnen jeweils zukommende<br />
Gewicht bei der Notarauswahl.<br />
3. Das Ungleichgewicht zwischen den beiden Merkmalen der<br />
Befähigung und der fachlichen Eignung ist Folge der Punktzahlbildung<br />
sowie der gemeinsamen Gruppenbildung für Fortbildung und<br />
praktische Bewährung. Dieser Effekt wird noch dadurch verstärkt,<br />
dass der Anwaltstätigkeit für die spezifische Eignungsprognose<br />
dasselbe Gewicht zukommt wie Fortbildung und praktischer Bewährung<br />
im Notariat zusammen. Vor allem aber beruht es auf dem<br />
Fehlen einer benoteten Bewertung der spezifisch fachlichen Eignung<br />
bei gleichzeitiger ausdifferenzierter Bewertung der allgemeinen<br />
Befähigung in Gestalt der Leistungen, die in der die juristische<br />
Ausbildung abschließenden Staatsprüfung gezeigt worden sind.<br />
a) Das Gewicht der praktischen Erfahrung durch selbstverantwortete<br />
eigene Beurkundungstätigkeiten ist auf 20 Punkte (im Regelfall<br />
200 Urkunden) gekappt. Diese 20 Punkte können erworben<br />
werden aus der Abnahme von Eiden, der Aufnahme eidesstattlicher<br />
Versicherungen sowie der Beurkundung einiger weniger von einem<br />
Notar vorbereiteter Verträge in dessen Vertretung. Auf diese Weise<br />
kann keine große praktische Erfahrung erworben werden. Außerdem<br />
ist infolge der Einbeziehung von Geschäften nach den<br />
§§ 36, 38 BeurkG in den Leistungsnachweis der angehenden Anwaltsnotare<br />
ohnehin die praktische Befassung mit schwierigen Vertragsgestaltungen<br />
nicht sichergestellt, solange und soweit sich der<br />
Punktwert nicht nach dem Arbeitsumfang für Vorbereitung, Ausarbeitung<br />
und Abwicklung von Urkunden richtet. Diesen Mangel<br />
erwähnt auch die Bundesnotarkammer in ihrer Stellungnahme. Die<br />
Ausgestaltung des Punktwerte-Systems vermindert damit den Anreiz,<br />
sich praktisch in umfänglicher Weise in die Tätigkeit der Notare<br />
einzuarbeiten und sich mit schwierigeren Urkundsgeschäften<br />
zu befassen.<br />
b) Hinzu tritt die gemeinsame Kappungsgrenze für den Besuch<br />
von Fortbildungsveranstaltungen und die notarielle Praxis, die im<br />
Ergebnis die praktische Einarbeitung als ersetzbar kennzeichnet,<br />
weil die Höchstpunktzahl auch ohne jede Praxis erreicht werden<br />
kann. Insoweit wird ein erhebliches Defizit an fachbezogener beruflicher<br />
Praxis in Kauf genommen.<br />
Diese Handhabung lässt sich nur schwer damit begründen, dass<br />
die Berufserfahrung des Rechtsanwalts insoweit den Praxisbezug<br />
ersetze. Der Gesetzgeber selbst hält die Anwaltstätigkeit lediglich<br />
für aussagekräftig in Bezug auf die Vertrautheit mit der Praxis der<br />
Rechtsbesorgung und deren organisatorischer Bewältigung, die Sicherheit<br />
im Umgang mit dem Recht suchenden Bürger und das<br />
durch Erfahrungen gewonnene Verständnis für dessen Anliegen<br />
(BT-Drucks 11/6007, S. 10). All dies geschieht aber im Kontext<br />
der für den Rechtsanwaltsberuf typischen einseitigen Interessenwahrnehmung,<br />
kann Rechtsgebiete betreffen, die nur geringe<br />
Berührung mit der notariellen Berufstätigkeit haben, und ist häufig<br />
nicht gekennzeichnet durch die Vorbereitung umfänglicher Urkunden<br />
samt der Überwachung ihrer Durchführung.<br />
c) Auch die Vorbereitungskurse, an denen nach dem Wortlaut<br />
von § 6 Abs. 3 S. 2 BNotO der Bewerber erfolgreich teilgenommen<br />
haben muss, unterliegen keiner wirklichen Leistungskontrolle und<br />
Benotung. Im unmittelbaren Anschluss an die Veranstaltung wird<br />
auf der Grundlage von Kontrollfragen lediglich testiert, dass der<br />
Teilnehmer die Veranstaltung aufmerksam verfolgt hat (so die Bundesnotarkammer<br />
in ihrer Stellungnahme). Wie der Deutsche Notarverein<br />
anschaulich schildert, bezieht sich der Leistungsnachweis in<br />
der Regel nur darauf, ob die Teilnehmer unmittelbar nach der Veranstaltung<br />
ausgewählte Wissensfragen zutreffend beantworten<br />
können; es wird kein Leistungsgrad geprüft. Ob das Gelernte auch<br />
in Zukunft verwertbares Wissen darstellt, bleibt ungewiss; Zweifel<br />
sind mit zunehmendem zeitlichen Abstand angebracht, worauf der<br />
Deutsche Notarverein hingewiesen hat. Ohne inhaltliche Qualitätskontrolle<br />
der individuellen fachlichen Vorbereitung in den Vorbereitungskursen<br />
fehlt diesem wichtigen Eignungskriterium im bisherigen<br />
Punkte-System das Merkmal, das bei der Auswahl der<br />
Bewerber eine Differenzierung nach fachlicher Leistung ermöglicht.<br />
4. Die Vorgaben in § 6 AVNot stehen damit in Widerspruch zu<br />
den aus Art. 33 Abs. 2 GG abzuleitenden Grundsätzen für Auswahlentscheidungen<br />
beim Zugang zu einem öffentlichen Amt, weil<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Rechtsprechung<br />
diese nicht auf hinreichend aussagekräftigen fachlichen Beurteilungsgrundlagen<br />
beruhen.<br />
a) Im öffentlichen Dienst sind bei der Beurteilung der Eignung<br />
vor allem zeitnahe Beurteilungen heranzuziehen (vgl. BVerwG,<br />
DVBl 2004, 317 [319] m. w. N.), die bei der Übernahme weiterer<br />
oder neuer Ämter auch auf diese zugeschnitten sind.<br />
Das setzt aber voraus, dass solche Beurteilungen tatsächlich<br />
vorliegen. Für das Nur-Notariat wird dies vom Gesetz sichergestellt.<br />
Im Anwaltsnotariat fehlt demgegenüber eine Qualitätssicherung<br />
durch Bewertung fachspezifischer Leistungen.<br />
Die derzeit geübte Praxis verhindert, dass die Qualität notarieller<br />
Vorbereitung in die Bewertung nach Punkten eingeht. Der BGH<br />
hat die Auswirkungen der Kappung verstärkt, indem er für weitere<br />
praktische Erfahrungen im Urkundenwesen keine zusätzlichen<br />
Punkte anerkannt hat und hinsichtlich der Bewertung der Vorbereitungszeit<br />
auch keine Differenzierung zwischen lang zurückliegenden<br />
und jüngeren Lehrgängen zulässt. Selbst für den Fall, dass<br />
Klausuren tatsächlich geschrieben und bewertet worden waren,<br />
kann nach der Rechtsprechung durch ein gutes Ergebnis keine<br />
Steigerung der Punktzahl erreicht werden (vgl. BGH NJW-RR<br />
1997, 948, NJW-RR 1398, 637). Die Spreizung zwischen 20 und<br />
90 erreichbaren Punkten je nach Qualität des Staatsexamens steht<br />
hierzu im Missverhältnis. Nicht nur die allgemeine juristische Befähigung,<br />
auch der Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten mit<br />
spezifischem Bezug zum Notariat gelingt den einzelnen Bewerbern<br />
mehr oder weniger gut. Die Höchstpunktzahl von 45 ist indessen<br />
für jeden erreichbar, der einige kurzzeitige Vertretungen übernimmt<br />
und die Kosten für die Lehrgänge aufbringt.<br />
b) Gegen eine Differenzierung bei der Leistungsbewertung und<br />
gegen eine eigenständige Berücksichtigung der praktischen Erfahrung<br />
neben theoretischen fachspezifischen Kenntnissen sprechen<br />
auch nicht die in den vorliegenden Verfahren vor allem vom Bundesministerium<br />
der Justiz, der Niedersächsischen Staatskanzlei sowie<br />
der Bundesnotarkammer und dem Deutschen AnwaltVerein<br />
vorgebrachten Argumente.<br />
Die Stärke des Punkteschemas soll darin liegen, dass die Auswahlentscheidung<br />
transparent, vorhersehbar und nachprüfbar sei.<br />
Eine ins Einzelne gehende Bewertung, gar eine erneute Prüfung,<br />
wird für Personen, die bereits langjährig berufstätig sind, als diskriminierend<br />
angesehen. Das Scheitern in einer solchen Prüfung entwerte<br />
zudem nachträglich die Investitionen in Zeit und Geld, die<br />
zur Vorbereitung notwendig gewesen seien. Eine solche Situation<br />
werde von den Rechtsanwälten als psychisch zu belastend empfunden.<br />
Transparente, vorhersehbare und nachprüfbare Auswahlentscheidungen<br />
sind ein legitimes Ziel. Sie stehen aber einer benoteten<br />
Leistungsbewertung nicht entgegen.<br />
aa) Gerade Benotungen können die fachlichen Leistungen<br />
transparenter machen. Auch Berufstätige, die nach einem weiteren<br />
Betätigungsfeld streben, können nicht erwarten, dass das Risiko<br />
des Scheiterns vorhersehbar ausgeschlossen wird. Schriftliche und<br />
mündliche Prüfungen nach langjähriger einschlägiger Berufstätigkeit<br />
finden sich beispielsweise auch im Gesetz über eine Berufsordnung<br />
der Wirtschaftsprüfer in der Fassung der Bekanntmachung<br />
v. 5.11.1975 (BGBl I S. 2803), zuletzt geändert durch das<br />
Wirtschaftsprüfungsexamens-Reformgesetz v. 1.12.2003 (BGBl I<br />
S. 2446). Dem Prinzip der Bestenauslese in der Konkurrenz um<br />
eine beschränkte Anzahl von öffentlichen Ämtern ist das Risiko<br />
des Scheiterns mangels genügender fachlicher Kompetenz bei<br />
gleichmäßig guter allgemeiner Befähigung sozusagen immanent.<br />
bb) Dem Prinzip der Bestenauslese ist vor allem der Gedanke<br />
fremd, erworbene Qualifikationen durch eine zusammengefasste<br />
Bewertung unterschiedlicher fachlicher Leistungen in ihrer Bedeutung<br />
zu verringern. Herausragende Leistungen müssen – ggf. durch<br />
Sonderpunkte – das ihnen gebührende Gewicht erhalten.<br />
Soweit das Bundesministerium der Justiz befürchtet, dass dann<br />
noch mehr Bewerber mit mäßigen Leistungen im Staatsexamen<br />
zum Zuge kommen könnten, kann dem mit anderen Mitteln, beispielsweise<br />
mit Mindestvoraussetzungen für den Zugang zur Weiterbildung,<br />
begegnet werden, sofern gewichtige Gründe dafür sprechen,<br />
dass die – möglicherweise viele Jahre zurückliegende –<br />
Examensleistung weiterhin besonders aussagekräftig bleibt und<br />
deshalb ein mäßiges Examen nicht durch nachgewiesene hervor-
AnwBl 8 + 9/2004 523<br />
Rechtsprechung MN<br />
ragende Leistungen in der Vorbereitung auf den Notarberuf kompensiert<br />
werden kann.<br />
Soweit in den Stellungnahmen im Hinblick auf die Berücksichtigung<br />
von Beurkundungen, also die derzeit einzige nachweisbare<br />
praktische Erfahrung, angeführt wird, dass sich deren Qualität nur<br />
schlecht messen lasse, weil sich der Schwierigkeitsgrad und die<br />
Qualität der Urkunde der Bewertung in einem Punkteschema verschlössen<br />
und weil aus der Beurkundungstätigkeit nicht hervorgehe,<br />
ob und inwieweit die Urkunde selbstständig vorbereitet sowie<br />
mit Vorbesprechung und Vollzug begleitet worden ist, lässt<br />
sich die Berechtigung dieser Einwände angesichts des derzeit praktizierten<br />
Verfahrens nicht bestreiten. Das könnte aber geändert werden,<br />
wenn sich die praktische Tätigkeit mehr an den in den §§ 20,<br />
24 BNotO umschriebenen Aufgaben der Beratung und Betreuung<br />
orientierte und die Beurkundung fertig vorbereiteter Vertragstexte<br />
ohne jede begleitende notarielle Dienstleistung anders gewichtet<br />
würde als die verantwortungsvolle Vertretung eines Notars über einen<br />
gewissen Zeitraum.<br />
Dem ist in den Stellungnahmen entgegengehalten worden, dass<br />
insoweit der chancengleiche Zugang zum Notariat gefährdet<br />
werde, weil in bestimmten Sozietätsformen besondere gute Gelegenheit<br />
zur Notarvertretung bestehe, die einem Einzelanwalt nicht<br />
zugänglich sei. Diesem Argument kommt insofern auch verfassungsrechtlich<br />
Bedeutung zu, als die Bestenauslese nur dann voll<br />
gewährleistet ist, wenn nicht auf der Ebene der Anwaltstätigkeit<br />
bereits eine Vorselektion stattfindet. Diesem Umstand darf ein<br />
Auswahlverfahren entgegenwirken, um im Notariat eine das Leistungsprinzip<br />
unterlaufende Kooptation zu verhindern.<br />
Die Unterbewertung praktischer Erfahrung bis zum völligen Verzicht<br />
auf Praxis ist jedoch insoweit kein geeigneter Weg, weil er die<br />
fachliche Berufserfahrung, also ein wesentliches Merkmal für die<br />
Eignungsprognose, fast vollständig entwertet. Ebenso wie im Nur-<br />
Notariat der einzelne Notar dem ihm zur Ausbildung zugewiesenen<br />
Notarassessor Gelegenheit zur praktischen Bewahrung bieten muss<br />
(vgl. § 7 Abs. 3 S. 2, Abs. 5 S. 1 BNotO), könnten auch Vorkehrungen<br />
dafür getroffen werden, dass Anwälten, die nach ihrer allgemeinen<br />
Befähigung, ihrer anwaltlichen Berufserfahrung und den bereits gezeigten<br />
Erfolgen in der theoretischen Weiterbildung hierfür in Betracht<br />
kommen, Gelegenheit zur praktischen Bewährung, insbesondere<br />
zu Vertretungen, gegeben wird. Das Ziel der Bewerberauswahl<br />
ist ebenso wie im Nur-Notariat auch im Anwaltsnotariat die Bestenauslese.<br />
Deshalb müssen die Auswahlvorkehrungen geeignet sein,<br />
auf der Basis einer amtsangemessenen allgemeinen juristischen Befähigung<br />
die fachlich besten Bewerber zu ermitteln. Allein dieses<br />
Ziel rechtfertigt die Einschränkungen beim Berufszugang.<br />
5. Dem werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht.<br />
a) Welche spezifischen notariellen Kenntnisse und Fähigkeiten<br />
der Beschwerdeführer zu I. inzwischen aufzuweisen hat, lässt sich<br />
dem Ausgangsverfahren nicht zuverlässig entnehmen. Hinsichtlich<br />
der Allgemeinbefähigung übertrifft der Beschwerdeführer nach der<br />
vor 20 Jahren erzielten Bewertung im Zweiten Staatsexamen von<br />
6,55 Punkten die Mindestnote (ausreichend) nur wenig. Dasselbe<br />
gilt allerdings für die jeweils erfolgreichen Mitbewerber, die mit<br />
7,40 Punkten (Verfahren 1 BvR 838/01) und 7.10 Punkten (Verfahren<br />
1 BvR 1303/01) ebenfalls im unteren Drittel des befriedigend<br />
abgeschnitten haben. Signifikante Unterschiede lassen sich hieraus<br />
nicht ableiten. Wie lange die jeweiligen Prüfungsleistungen<br />
zurückliegen, ist ebenso wenig bekannt wie der jeweilige Schwerpunkt<br />
der anwaltlichen Berufstätigkeit, die je nach Ausrichtung<br />
„notarnäher“ oder „notarferner“ sein kann, worauf die Bundesrechtsanwaltskammer<br />
überzeugend hingewiesen hat.<br />
Eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Auswahl wird die für<br />
den Notarberuf wesentlichen Eigenschaften, also die fachliche Eignung<br />
der Bewerber, ebenso differenziert zu bewerten haben wie die<br />
von ihnen in der Vorbereitung auf das angestrebte Amt gezeigten<br />
theoretischen und praktischen Kenntnisse. Solange weder die erworbenen<br />
theoretischen Kenntnisse der Bewerber um ein Anwaltsnotariat<br />
noch deren praktische Erfahrungen, insbesondere bei den Beurkundungen,<br />
bewertet sind, wird in Abwägung zu den weiterhin<br />
berücksichtigungsfähigen Leistungen aus der die Ausbildung abschließenden<br />
Prüfung eine individuelle Prognose über die Eignung<br />
des Bewerbers im weiteren Sinne zu treffen sein. Dabei kommt den<br />
beiden genannten spezifischen Eignungskriterien im Verhältnis zur<br />
Anwaltspraxis und dem Ergebnis des Staatsexamens eigenständiges<br />
Gewicht zu.<br />
Es ist nicht auszuschließen, dass der Beschwerdeführer bei einer<br />
solchen Neubewertung Erfolg haben kann. Das wird vor allem<br />
davon abhängen, ob die Konkurrenten im engeren Sinne im notarspezifischen<br />
Bereich besser oder schlechter als der Beschwerdeführer<br />
abschneiden. Zur Beantwortung dieser Frage und der weiteren<br />
bisher nicht geklärten Fragen werden die den<br />
Beschwerdeführer zu I. betreffenden Sachen gem. § 95 Abs. 2<br />
BVerfGG unter Aufhebung der angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen<br />
an das OLG zurückverwiesen.<br />
b) Auch die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu<br />
III. hat Erfolg. Die angegriffenen Entscheidungen des OLG und<br />
des BGH stehen mit Art. 12 Abs. 1 GG schon deshalb nicht in Einklang,<br />
weil sie die Vergabe von Sonderpunkten für solche Rechtsanwälte<br />
verweigern, die dauerhaft als ständige Vertreter eines Notars<br />
tätig sind.<br />
Der Beschwerdeführer hat mit seiner Notariatsvertretung seit<br />
1988, die er beanstandungsfrei bewältigt hat, bewiesen, dass er als<br />
Notar geeignet ist. Schon zu dem Zeitpunkt, als ihn die Justizverwaltung<br />
zum Vertreter bestellte, musste sie nach § 39 Abs. 3 S. 1<br />
BNotO von seiner Eignung und Fähigkeit überzeugt sein, das Amt<br />
des Notars zu bekleiden. Die Eignungsprognose ist letztlich mit<br />
insgesamt drei Notargeschäftsprüfungen in den Jahren 1990, 1994<br />
und 1998 sowie einer Prüfung der Verwahrungsgeschäfte im Jahr<br />
1995 bestätigt worden. Die Prüfungen haben beim Beschwerdeführer<br />
zu keinerlei Beanstandungen geführt.<br />
Die in den angegriffenen Entscheidungen zum Ausdruck kommende<br />
Auffassung, die im hessischen Runderlass vorgenommene<br />
Höchstbewertung von 20 Punkten für Urkundsgeschäfte schließe<br />
Sonderpunkte für ständige Notarvertretungen aus, steht mit einer<br />
dem Maßstab des Art. 12 Abs. 1 GG entsprechenden Bewerberauswahl<br />
nicht in Einklang. Sie verfehlt zudem die Grundsätze der Bestenauslese<br />
gem. Art. 33 Abs. 2 GG. Überzeugend weisen die Niedersächsische<br />
Staatskanzlei, die Bundesnotarkammer, der Deutsche<br />
Notarverein und der Deutsche <strong>Anwaltverein</strong> darauf hin, dass die<br />
ständige Vertretung eines Notars neben der reinen Beurkundungstätigkeit<br />
eine Vielzahl von weiteren Aufgaben umfasst, insbesondere<br />
die unparteiische Beratung der Rechtsuchenden, das selbstständige<br />
Aufsetzen von Urkunden sowie die Durchführung der<br />
beurkundenden Geschäfte. Eine solche Vertretung ist – je länger<br />
sie dauert, umso stärker – vielseitig und steht der vollen Ausübung<br />
des Amts des Notars gleich. Nicht zuletzt deshalb wird schon bisher<br />
eine Notartätigkeit an einem anderen Ort bei der Bewerbung<br />
um einen neuen Notarsitz mit Sonderpunkten belegt.<br />
Das Ziel der Gewährleistung eines chancengleichen Zugangs<br />
zum Notaramt rechtfertigt es nicht, unbestritten erworbene Qualifikationen<br />
außer Betracht zu lassen. Sofern bei der Bestellung des Beschwerdeführers<br />
zum ständigen Vertreter des seiner Sozietät angehörenden<br />
Notars Auswahlfehler vorgekommen sein sollten (etwa im<br />
Hinblick auf die Examensnote des Beschwerdeführers), können<br />
diese die danach gezeigte Bewährung und Befähigung für das Amt<br />
des Notars nicht infrage stellen. Die Bewährungschance, die sich für<br />
den Beschwerdeführer zu III. durch mehr als zehnjährige Notariatspraxis<br />
eröffnet hat, ist jedenfalls nicht allein Folge einer Zugehörigkeit<br />
zu einer bestimmten Sozietät. Sie wurde durch die hoheitliche<br />
Tätigkeit der Aufsichtsbehörde bei seiner Bestellung als Vertreter geschaffen.<br />
Ob auch bei der Vertreterbestellung für alle Bewerber ein<br />
chancenwahrendes Verfahren eingehalten werden müsste, ist im vorliegenden<br />
Fall nicht Gegenstand der verfassungsrechtlichen Prüfung.<br />
Die der Praxis der Hessischen Justizverwaltung entsprechende Vergabe<br />
von fünf Sonderpunkten für die langjährige ständige Vertretung<br />
war jedenfalls rechtmäßig. Die den Bescheid aufhebenden, mit der<br />
Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidungen des OLG<br />
und des BGH haben daher keinen Bestand.<br />
Anmerkung<br />
Die Entscheidung des BVerfG vom 20.4.2004 ist von grundlegender<br />
Bedeutung für das Anwaltsnotariat sowie für Bewerber<br />
um eine Notarstelle.<br />
1. Es dürfte in Deutschland kaum einen Beruf geben, der politisch<br />
wie rechtlich derart dringend der Reform bedarf wie das Notariat.<br />
Unterschiedliche Notarformen führen zu einem „Fleckerlteppich“<br />
mit dem Anwalts- und dem Nur-Notariat; im „Ländle“ Baden-
524<br />
MN<br />
Württemberg ist er besonders „farbig“ angesichts der hier vorzufindenden<br />
einmaligen notariellen „Artenvielfalt“ bis hin zum zwar<br />
grundgesetzlich abgesicherten, jedoch völlig antiquierten und letztlich<br />
nur aus fiskalischen Gründen beibehaltenen beamteten Notar.<br />
Bisher dominierend ist das Anwaltsnotariat. Es weist aber vor allem<br />
im Hinblick auf die Zulassungsvoraussetzungen gravierende<br />
Defizite auf, über welche die betroffene Berufsgruppe wie auch<br />
die Justizverwaltungen beharrlich den Mantel des Schweigens in<br />
der Vergangenheit gelegt hatten.<br />
2. Das BVerfG hat mit dem Grundsatzbeschluss dieser Vogel-<br />
Strauß-Politik nunmehr ein Ende gesetzt. Zwar hat das Gericht<br />
nicht die gesetzlichen Regelungen für den Zugang zum (Anwalts-)Notariat<br />
in § 6 BNotO beanstandet. Die darin genannten<br />
Kriterien der Eignung und fachlichen Leistung wurden trotz ihrer<br />
Unbestimmtheit verfassungsgerichtlich gebilligt. Keine Gnade vor<br />
den Augen der Verfassungsrichter fanden jedoch die auf Grund der<br />
gesetzlichen Ermächtigung in § 6 Abs. 3 BNotO von den Ländern<br />
erlassenen Verwaltungsvorschriften der AVNot und die auf deren<br />
Grundlage geübte Praxis einschließlich der weitgehend konzeptionslosen<br />
Judikatur des Notarsenats des BGH. Den Fachgerichten<br />
gelang es nicht, die Bestimmungen der AVNot einer der aktuellen<br />
Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 12 GG entsprechenden Auslegung<br />
zuzuführen. Der BGH verstärkte zudem die Auswirkungen<br />
der problematischen Deckelung beim Teilbereich „Vorbereitung<br />
auf die notarielle Tätigkeit“ durch Fortbildung und Vertretungen<br />
noch erheblich dadurch, dass zunächst eine Vergabe von Sonderpunkten<br />
für im Rahmen der Grundkurse freiwillig geschriebene<br />
Klausuren 1 und später solche für eine Tätigkeit als ständiger Notarvertreter<br />
2 für nicht zulässig erklärt wurden.<br />
Völlig zu Recht fordert nunmehr das BVerfG, dass sich in der<br />
Zukunft in Konkretisierung des § 6 BNotO die von den Justizverwaltungen<br />
zu formulierenden Zugangskriterien für den Zugang<br />
zum Anwaltsnotariat an der Notarfunktion ausrichten müssen.<br />
Maßgeblich für die Vergabe sind danach vor allem fachbezogene<br />
Anforderungen für den Zugang zum Anwaltsnotariat.<br />
3. Die Entscheidung des BVerfG hat verständlicherweise gravierende<br />
Folgen für Bewerber um Notarstellen.<br />
a) Wenn in der Zukunft z. B. der Examensnote eine geringere<br />
Bedeutung zukommt, auch nicht alle Anwaltstätigkeiten – als Beispiel<br />
sei nur das Strafrecht genannt – undifferenziert „vergabepunktfähig“<br />
sind, dann müssen sie verstärkt sich darum bemühen,<br />
dass sie notarspezifische Kenntnisse nachweisen können. Die<br />
sicherste „Bank“ sind im derzeitigen Stadium angesichts der erheblichen<br />
Unsicherheit bis zur Neufassung einer AVNot und deren Billigung<br />
durch die Gerichte praktische Tätigkeiten als Notarvertreter<br />
oder anwaltliche Tätigkeiten bei der Vertragsgestaltung sowie<br />
geprüfte und bewertete notarspezifische Lehrgänge.<br />
b) Soweit Stellen ausgeschrieben sind, stellt sich natürlich die<br />
Frage, ob noch nicht abgeschlossene Verfahren fortgesetzt werden<br />
können bzw. sollen oder müssen. Diejenigen Bewerber, deren Ernennung<br />
unmittelbar bevorsteht und die bisher nur wegen eines<br />
Konkurrentenstreits warten mussten, den ein Mitbewerber „angezettelt“<br />
hat, sind verständlicherweise vielfach daran interessiert,<br />
dass die Justizverwaltung das Verfahren fortsetzt und nicht abbricht.<br />
c) Grundsätzlich kann eine Ausschreibung jedoch abgebrochen<br />
werden. Voraussetzung ist jedoch einmal, dass sie nicht willkürlich<br />
erfolgt; es muss daher hierfür ein sachlicher Grund bestehen 3 . Das<br />
insoweit bestehende Ermessen ist vor allem zusätzlich verfassungsrechtlich<br />
eingeschränkt. Das BVerfG 4 hat zu Recht betont, dass die<br />
Verwirklichung der Grundrechte – auch im Verfahren der Notarauswahl<br />
– eine dem Grundrechtsschutz angemessene Verfahrensgestaltung<br />
erfordert. Das gelte gerade und auch für die Wahrung der<br />
Rechte der Notarbewerber aus Art. 12 I GG. Durch die Gestaltung<br />
des Auswahlverfahrens werde unmittelbar Einfluss auf die Konkurrenzsituation<br />
und damit das Ergebnis der Auswahlentscheidung genommen.<br />
Insbesondere durch die Art der Bekanntgabe der offenen<br />
Stellen und die Terminierung von Bewerbungen und Besetzungen,<br />
aber auch durch den Abbruch von laufenden Verfahren lasse sich<br />
die Zusammensetzung des Bewerberkreises steuern 5 . So werde mit<br />
jedem Abbruch einer Ausschreibung und der erneuten Ausschreibung<br />
der Notarstelle die Bewerbersituation durch das Nachrücken<br />
dienstjüngerer Notarassessoren verändert. Es bedürfe für die rechtund<br />
verfassungsmäßige Ausübung des Ermessensspielraums der<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Rechtsprechung<br />
Verwaltung einer Abwägung der öffentlichen Interessen und der<br />
Grundrechte der Bewerber.<br />
Dieses Gebot der Abwägung erfordert somit auch zur Wahrung<br />
der Grundrechte der betroffenen Bewerber, dass sorgfältig das Vorliegen<br />
der Voraussetzungen für einen Abbruch geprüft wird. Erfolgt<br />
er ohne eine solche Prüfung, dann liegt Ermessensnichtgebrauch<br />
vor; bedeutet der Abbruch einen unverhältnismäßigen<br />
Grundrechtseingriff, dann ist er verfassungswidrig. Vor einem vorschnellen<br />
Abbruch kann die Landesjustizverwaltung daher nur gewarnt<br />
werden.<br />
d) Die Entscheidung des BVerfG verpflichtet die Landesjustizverwaltung<br />
ebenfalls nicht, laufende und kurz vor dem Abschluss<br />
stehende Verfahren zurückzunehmen und ggfs. eine Neuausschreibung<br />
vorzunehmen. Soweit entsprechende Verfahren bereits anhängig<br />
sind, gilt Folgendes:<br />
aa) Grundsätzlich sollte die Landesjustizverwaltung ihre bisherigen<br />
Entscheidungen am Maßstab der Kriterien des BVerfG<br />
überprüfen. Sie kann dann je nach Ausgang der Prüfung die Entscheidung<br />
bestätigen oder korrigieren.<br />
bb) In völlig eindeutigen Fällen, wenn also – wie bei einem der<br />
Beschwerdeführer in der Verfassungsbeschwerdeentscheidung –<br />
eine unvergleichlich lange, bisher der Deckelung zum Opfer gefallene<br />
Vertretungspraxis vorliegt bei ansonsten weitgehend gleichen<br />
Nachweisen, könnte das Gericht auch ohne eine solche<br />
Neuüberprüfung seitens der Verwaltung durchentscheiden.<br />
cc) Im Regelfall kann hingegen nicht das Gericht die Auswahlentscheidung<br />
selbst treffen auf Grund der vom BVerfG vorgegebenen<br />
Kriterien angesichts des Beurteilungsspielraums der Verwaltung,<br />
den das BVerfG in seiner Grundsatzentscheidung wie folgt<br />
beschrieben hat: „Eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Auswahl<br />
wird die für den Notarberuf wesentlichen Eigenschaften, also die<br />
fachliche Eignung der Bewerber, ebenso differenziert zu bewerten<br />
haben wie die von ihnen in der Vorbereitung auf das praktische<br />
Amt gezeigten theoretischen und praktischen Erkenntnisse. Solange<br />
weder die erworbenen theoretischen Kenntnisse der Bewerber um<br />
ein Anwaltsnotariat noch deren praktische Erfahrungen insbesondere<br />
bei den Beurkundungen bewertet sind, wird in Abwägung zu<br />
den weiterhin berücksichtigungsfähigen Leistungen aus der die<br />
Ausbildung abschließenden Prüfung eine individuelle Prognose<br />
über die Eignung des Bewerbers im weiteren Sinne zu treffen sein.<br />
Dabei kommt den beiden genannten spezifischen Eignungskriterien<br />
im Verhältnis zur Anwaltspraxis und dem Ergebnis des Staatsexamens<br />
eigenständiges Gewicht zu.“ Die danach anzustellende Prognoseentscheidung<br />
ist allein Sache der Landesjustizverwaltung im<br />
Rahmen des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums.<br />
e) Wegen des Erfordernisses einer Überprüfung der Verwaltungsentscheidung<br />
bedarf es jedenfalls nicht ohne weiteres einer<br />
vorzeitigen Beendigung laufender gerichtlicher Verfahren durch<br />
Rücknahme der angefochtenen Auswahlentscheidung. Soweit teilweise<br />
von den Gerichten gegenüber Landesjustizverwaltungen eine<br />
solche Rücknahme nahe gelegt wird, weil sie ansonsten auf Grund<br />
des Beschlusses des BVerfG mit einer Verurteilung zur Neubescheidung<br />
rechnen müssten, vermag dies nicht ganz zu überzeugen.<br />
Schließlich müsste die Entscheidung der Justizverwaltung rechtswidrig<br />
sein. Sie ist aber dann nicht rechtswidrig, wenn sie sich im<br />
Ergebnis doch als rechtmäßig erweist ungeachtet der verfassungsgerichtlichen<br />
Vorgaben.<br />
f) Es kann sich daher in vielen Fällen empfehlen, anhängige<br />
Verfahren zum Ruhen zu bringen bis zu einer Neuentscheidung der<br />
Verwaltung.<br />
aa) Dieses Verfahren ist prozessökonomisch, da den Betroffenen<br />
wie den Gerichten neue Verfahren in der gleichen Sache erspart<br />
werden. Es entspricht vergleichbaren Regelungen in der<br />
VwGO 6 , welche den Behörden auch bei Ermessen und Beurteilungsspielräumen<br />
noch während des gerichtlichen Verfahrens er-<br />
1 DNotZ 1997, 879 = BGH, NJW-RR 1997, 948; DNotZ 1999, 237 – NJW-RR<br />
1998, 637.<br />
2 BGH, DNotZ 1999, 248.<br />
3 BGH NJW-RR 2001,1136; BGH DNotZ 1997, 889.<br />
4 AnwBl. 2003, 110, 111.<br />
5 Vgl. auch BVerfGE 73, 280, 296.<br />
6 Vgl. nur § 114 S. 2 VwGO.
AnwBl 8 + 9/2004 525<br />
Rechtsprechung MN<br />
hebliche Korrekturmöglichkeiten geben, um eine Verfahrenswiederholung<br />
aus formellen Gründen zu vermeiden.<br />
bb) Erst recht ist dieses Verfahren dann sinnvoll, wenn die erste<br />
Instanz die Verwaltungsentscheidung bereits bestätigt hat. Dann<br />
kann und sollte auch eine weiter eingeschaltete Instanz – bei Notarzulassungssachen<br />
der BGH – in der Sache entscheiden. Vielen<br />
Bewerbern kann es nicht zugemutet werden, dass sie auf eine Neuausschreibung<br />
vertröstet werden. Auch wenn sie mangels positiver<br />
Entscheidung seitens der Landesjustizverwaltung keinen uneingeschränkten<br />
Rechtsanspruch auf Fortsetzung des Verfahrens haben,<br />
so können durch den Abbruch und die Neuausschreibung nach<br />
dem oben Gesagten ihre Grundrechte verletzt werden.<br />
In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass<br />
nicht selten bei gerichtlich anhängigen Konkurrenten„klagen“ zahlreiche<br />
Stellen bereits vergeben wurden und nur noch über einen<br />
„Restposten“ zwischen zwei Bewerbern zu entscheiden ist. Die in<br />
laufenden Verfahren nach den neuen Kriterien des BVerfG aussichtsreichen<br />
Bewerber wären daher bei einem Abbruch des Verfahrens<br />
durch die Landesjustizverwaltung mehrfach benachteiligt,<br />
da sie sich zum einen nur noch einem beschränkten Bewerberkreis<br />
stellen können, hingegen zahlreiche frühere Mitbewerber schon im<br />
Besitz der Notarzulassung sind, welche ihnen nicht mehr weggenommen<br />
werden kann, obwohl sie nach den Kriterien des<br />
BVerfG eigentlich im Vergleich zu ihnen nicht hätten berücksichtigt<br />
werden dürfen. Zudem müssten sie sich in einem neuen Verfahren<br />
mit weiteren Bewerbern auseinander setzen.<br />
4. In jedem Fall besteht nach der Grundsatzentscheidung des<br />
BVerfG bis zur Neukonzeption der Zulassungsvoraussetzungen eine<br />
erhebliche Rechtsunsicherheit. Alle Bewerber müssen mit Verzögerungen<br />
rechnen, was sicherlich vielfach sehr schmerzlich ist.<br />
Andererseits sollte nicht übersehen werden, dass die Entscheidung<br />
des BVerfG politisch langfristig eine nicht unerhebliche Stärkung<br />
des Anwaltsnotariats zur Folge haben kann. Schließlich wird bei<br />
Befolgung der verfassungsgerichtlichen Vorgaben eine bedeutsame<br />
Schwäche dieser Notarform, welche die Zulassungsvoraussetzungen<br />
und damit die Qualität betraf, beseitigt. Je notarspezifischer<br />
die Zulassungsvoraussetzungen sind, je stärker auf die Eignung für<br />
das konkrete Amt geachtet wird, desto geringer sind nach dem bisherigen<br />
System nicht zu leugnende Qualitätsdefizite gerade und<br />
auch im Vergleich zum Nur-Notariat. Anzustreben ist jedoch eine<br />
bundeseinheitliche Regelung. Im Berufsrecht der freien Berufe einschließlich<br />
der Notare ist schon unter europarechtlichen Gesichtspunkten<br />
angesichts der Öffnung der nationalen Dienstleistungsmärkte<br />
kein Platz mehr für einen kleinkarierten berufsrechtlichen<br />
Provinzialismus.<br />
Rechtsanwalt Dr. Michael Kleine-Cosack, Freiburg i. Br.<br />
GG Art. 12 Abs. 1; BNotO § 50 Abs. 1 Nr. 6; BVerfGG § 32<br />
Abs. 1, Abs. 2 S. 2<br />
Zur maßgeblichen Sach- und Rechtslage bei Amtsenthebung<br />
von Notaren (hier wegen Vermögensverfalls). (Leitsatz der Redaktion)<br />
BVerfG (2. Kammer des Ersten Senates), Beschl. vom<br />
28.04.2004 – 1 BvR 912/04<br />
Aus den Gründen: I. Der Beschwerdeführer wendet sich mit<br />
seinem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen<br />
seine Enthebung aus dem Amt des Notars.<br />
1. Im November 2002 wurde über das Vermögen des Beschwerdeführers,<br />
der seit 1991 Notar in Sachsen ist, wegen Zahlungsunfähigkeit<br />
das Insolvenzverfahren eröffnet. Nachdem im Februar 2003<br />
eine Gläubigerversammlung stattgefunden hatte, bei welcher die<br />
vorläufige Fortführung des „Unternehmens“ des Beschwerdeführers<br />
beschlossen und der Insolvenzverwalter beauftragt worden<br />
war, einen Insolvenzplan zu erstellen, enthob das Sächsische<br />
Staatsministerium der Justiz den Beschwerdeführer nach Anhörung<br />
mit Bescheid v. 20.3.2003 seines Amtes.<br />
Im Juli 2003 wurde der mittlerweile aufgestellte Insolvenzplan<br />
durch das Insolvenzgericht bestätigt. Mit Beschluss v. 23.8.2003<br />
hob das OLG den Bescheid v. 20.3.2003 auf und setzte die Vollziehung<br />
der Amtsenthebung bis zum rechtskräftigen Abschluss des<br />
Verfahrens aus. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, die<br />
aus der Eröffnung des Insolvenzverfahrens abgeleitete Vermutung<br />
des Vermögensverfalls sei bereits bei Erlass der angefochtenen<br />
Entscheidung durch den Beschluss der Gläubigerversammlung im<br />
Februar 2003 widerlegt gewesen.<br />
Der sofortigen Beschwerde des Sächsischen Staatsministeriums<br />
der Justiz gab der BGH mit dem am 2.4.2004 zugestellten Beschl.<br />
v. 23.3.2004 statt. Die Amtsenthebung des Beschwerdeführers sei<br />
gemäß § 50 Abs. 1 Nr. 6 der Bundesnotarordnung (BNotO) zu<br />
Recht erfolgt. Die Ergebnisse der Gläubigerversammlung im Februar<br />
2003 hätten die Vermutung des Vermögensfalls durch Eröffnung<br />
des Insolvenzverfahrens nicht entkräftet. Zwar spreche nach<br />
Erstellung des Insolvenzplans vieles dafür, dass der Beschwerdeführer<br />
nunmehr die gegen ihn gerichteten Forderungen in einer<br />
Weise erfüllen könne, die seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse<br />
wieder als geordnet erscheinen ließen, doch könnten der<br />
Amtsenthebung nachfolgende Veränderungen der Sachlage nicht<br />
berücksichtigt werden, weil bei der Überprüfung gestaltender Verwaltungsakte<br />
aus Gründen der Rechtssicherheit spätere Veränderungen<br />
der Sachlage außer Betracht bleiben müssten.<br />
Mit Schriftsatz v. 28.4.2004 erhob der Beschwerdeführer fristgerecht<br />
Verfassungsbeschwerde und stellte zugleich einen Antrag<br />
auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Er macht geltend, dass<br />
Gründe der Rechtssicherheit den schweren Eingriff in seine Berufswahlfreiheit<br />
nicht rechtfertigen könnten.<br />
II. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, über<br />
den wegen Eilbedürftigkeit ohne Anhörung der Gegenseite entschieden<br />
werden konnte (vgl. § 32 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG), hat Erfolg.<br />
1. Nach § 33 Abs. 1 BVerfGG kann das BVerfG einen Zustand<br />
durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr<br />
schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund<br />
zum Gemeinwohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe,<br />
die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes<br />
vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es<br />
sei denn, die Verfassungsbeschwerde wäre unzulässig oder offensichtlich<br />
unbegründet. Bei offenem Ausgang muss das BVerfG die<br />
Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung<br />
nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber<br />
den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte<br />
einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde<br />
aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 88,<br />
169 [171 f.]; 91, 328 [332]; st. Rspr.).<br />
2. a) Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch in<br />
Bezug auf die Rüge der Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG offensichtlich<br />
unbegründet. Die Grundrechtsfrage hat der BGH nur am<br />
Rande erörtert; sie bedarf der Prüfung im Hauptsacheverfahren.<br />
b) Die danach gebotene Folgenabwägung führt vorliegend zu<br />
einem Überwiegen derjenigen Gründe, die für den Erlass der beantragten<br />
einstweiligen Anordnung sprechen.<br />
Unterbliebe die einstweilige Anordnung, hätte die Verfassungsbeschwerde<br />
aber Erfolg, müsste der Beschwerdeführer seinen Beruf<br />
aufgeben, ohne dass sicher ist, dass er ihn nach einem Erfolg in<br />
der Hauptsache wieder aufnehmen könnte.<br />
Wird die einstweilige Anordnung erlassen, hat die Verfassungsbeschwerde<br />
aber später keinen Erfolg, bleibt der Beschwerdeführer –<br />
wie schon infolge der Entscheidung des OLG – vorübergehend weiterhin<br />
im Amt. Da vieles dafür spricht, dass er infolge des aufgestellten<br />
Insolvenzplans wieder in geordneten Einkommens- und Vermögensverhältnissen<br />
lebt, und seine Amtsführung überdies nach dem<br />
Prüfbericht aus Februar 2003 zu Beanstandungen keinen Anlass geboten<br />
hat, bestehen hiergegen keine durchgreifenden Bedenken.<br />
Mitgeteilt von Rechtsanwalt Dr. Michael Kleine-Cosack,<br />
Freiburg i. Br.<br />
Anmerkung der Redaktion: Das Bundesverfassungsgericht<br />
wird in der Hauptsache zu entscheiden haben, ob die Rechtsprechung<br />
des BGH einer verfassungsrechtlichen Überprüfung standhält,<br />
nach der Änderungen der Sach- und Rechtslage nach Abschluss<br />
des Verwaltungsverfahrens im gerichtlichen Verfahren nicht<br />
mehr zu berücksichtigen sind. Vergleichbare Probleme stellen sich<br />
nicht nur bei der Amtsenthebung von Notaren sondern auch beim<br />
Widerruf der Zulassung bzw. Approbation sowie bei gewerberechtlichen<br />
Untersagungsverfügungen. Die vorausgehende Entscheidung<br />
des BGH findet sich in NJW 2004, 2018.
526<br />
MN<br />
GG Art. 12, 3; BRAO § 43 b; BORA § 6 Abs. 3<br />
§ 6 Abs. 3 BORA ist zumindest insoweit wegen Verstoßes gegen<br />
Art. 12, 3 GG nichtig, als er die Werbung mit Umsatzzahlen verbietet.<br />
(rechtskräftig)<br />
OLG Nürnberg, Urt. v. 22.6.2004 – 3 U 334/04<br />
Sachverhalt: Die Kl. ist eine Rechtsanwaltskammer. Der Bekl<br />
ist ein in Nürnberg zugelassener Rechtsanwalt. Er betreibt in der<br />
Rechtsform der Gesellschaft bürgerlichen Rechts mit anderen eine<br />
Rechtanwalts-, Wirtschaftsprüfer- und Steuerberatungskanzlei. Der<br />
Bekl gab am 20.6.2002 eine 5-seitige Pressemitteilung heraus, deren<br />
Seite 1 wie folgt lautet:<br />
Pressemitteilung<br />
R & PARTNER ERZIELT REKORDWACHSTUM<br />
Umsatz steigt im Jahr 2001 um 37,2 Prozent auf 138,2 Millionen<br />
Euro – Internationale Expansion wird fortgesetzt – Konzentration<br />
auf Kernkompetenzen Wirtschaftsprüfung, Steuerberatung,<br />
Rechtsberatung<br />
Nürnberg, 20.6.2002: R & Partner hat im Geschäftsjahr 2001<br />
ein hervorragendes Wachstum erzielt. Der internationale Umsatz<br />
der Gruppe stieg um 37,2 Prozent auf 138,2 Millionen Euro. Damit<br />
behauptet sich das Unternehmen als führende Wirtschaftsprüfungs-,<br />
Steuerberatungs- und Rechtsanwaltskanzlei deutschen<br />
Ursprungs. Die Zahl der weltweiten Niederlassungen stieg auf 67,<br />
die Zahl der Mitarbeiter auf 2.300 Beschäftigte. R & Partner ist<br />
nunmehr in 30 Ländern der Welt mit eigenen Kanzleien vertreten.<br />
„R & Partner ist damit der Partner Nummer 1 für den internationalen<br />
Mittelstand“ erklärte der Geschäftsführende Partner R anlässlich<br />
der Jahrespressekonferenz in Nürnberg. Der Umsatz in<br />
Deutschland stieg im Jahr 2001 um 27 Prozent auf 96,7 Millionen<br />
Euro, der Umsatz im Ausland um 68 Prozent auf 41,5 Millionen<br />
Euro.<br />
Im Ranking die deutsche Nummer 1<br />
Im internationalen Vergleich hat R & Partner zur Spitze der<br />
weltweit tätigen Gesellschaften aufgeschlossen. R & Partner ist die<br />
größte Prüfungs- und Beratungsgesellschaft deutschen Ursprungs.<br />
Dies bestätigt das aktuelle Deutschland-Ranking der Wirtschaftsprüfungsgesellschaften<br />
der führenden Branchenzeitschrift International<br />
Accounting Bulletin vom 16.5.2002. Insgesamt liegt R &<br />
Partner auf Platz sechs des Rankings.<br />
„R & Partner ist heute im internationalen Markt die deutsche<br />
Alternative zu den anlo-amerikanischen Gesellschaften“, erklärt<br />
Kanzleigründer R. „Angesichts des problematischen Konzentrationsprozesses<br />
in der Wirtschaftsprüfungsbranche muss der Wettbewerb<br />
der Prüfungsgesellschaften gestärkt werden. Dies wird nur<br />
möglich sein, wenn leistungsstarke, internationale Wirtschaftsprüfer<br />
den vier Megagesellschaften die Stirn bieten“, so R.<br />
Die Kl hält insgesamt 5 Angaben der Pressemitteilung für wettbewerbswidrig,<br />
da diese gegen das Verbot des Werbens mit Umsatzzahlen<br />
(§ 6 Abs. 3 BORA) bzw. gegen das Verbot unsachlicher<br />
Werbung (§ 43 b BRAO, § 6 Abs. 1 BORA) verstoßen.<br />
Das LG hat der Klage in vollem Umfang stattgegeben. Soweit<br />
das Urteil hinsichtlich der Äußerungen 1. bis 3. auf einen Verstoß gegen<br />
§ 6 Abs. 3 BORA gestützt worden ist, hatte die Berufung Erfolg.<br />
Aus den Gründen: II. 1. Der zulässigen Berufung ist der Erfolg<br />
zu versagen, soweit sie die Äußerungen Nr. 4 und 5 angreift. Die<br />
Rechtsanwaltskammer ist klagebefugt. Die angegriffenen Äußerungen<br />
sind geeignet, den Wettbewerb wesentlich zu beeinträchtigen.<br />
Sie verstoßen gegen das Sachlichkeitsgebot der §§ 43 b BRAO, 6<br />
Abs. 1 BORA. Da es sich hierbei um eine wettbewerbsbezogene<br />
Regelung handelt, hat das LG diese Angaben in der Pressemitteilung<br />
zu Recht nach §§ 1, 13 Abs. 1 UWG untersagt.<br />
a) Die Kl ist gem. § 13 Abs. 2 Nr. 2 UWG klagebefugt und aktivlegitimiert,<br />
wettbewerbsrechtliche Ansprüche gegen den Bekl<br />
durchzusetzen. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH (BGH<br />
NJW 2003, 819 m. w. N.) hat eine Rechtsanwaltskammer die Klagebefugnis<br />
eines rechtsfähigen Verbandes zur Förderung gewerblicher<br />
Interessen, weil auch sie ungeachtet ihrer öffentlich–rechtlichen<br />
Aufgabenstellung die beruflichen Belange ihrer Mitglieder<br />
zu wahren und zu fördern hat. Dies gilt ausdrücklich auch für die<br />
Geltendmachung von wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsansprüchen<br />
gegen ihre Mitglieder (BGH aaO).<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Rechtsprechung<br />
Mit Beschluss v. 25.11.2002 (BGH NJW 2003, 504) stellte der<br />
BGH fest, dass die Bundesrechtsanwaltsordnung dem Vorstand einer<br />
Rechtsanwaltskammer nicht das Recht verleiht, festgestellten<br />
Verstößen gegen die berufsrechtlichen Vorschriften mit einer Unterlassungsverfügung<br />
zu begegnen, da die Bundesrechtsanwaltsordnung<br />
keine Befugnisnorm für derartige Eingriffe enthalte. Mit der<br />
Klagebefugnis nach § 13 UWG befasst sich der Beschluss nicht.<br />
Vom Ergebnis her stützt er die bisherige ständige Rechtsprechung<br />
zur Klagebefugnis, da dem von der Bekl vorgebrachten Einwand,<br />
das Vorgehen der Rechtsanwaltskammer nach UWG sei rechtsmissbräuchlich,<br />
da ihr berufsrechtliche Maßnahmen zur Verfügung<br />
stünden, der Boden entzogen wird.<br />
Die streitgegenständlichen Angaben sind auch geeignet, den<br />
Wettbewerb auf dem Markt wesentlich zu beeinträchtigen, § 13<br />
Abs. 2 Nr. 2 UWG. Zunächst ist festzustellen, dass es gerade<br />
Zweck der Pressemitteilung als Werbemaßnahme ist, den Wettbewerb<br />
wesentlich zu beeinflussen. Die Pressemitteilung hat im<br />
Ergebnis auch dazu geführt, dass die angegriffenen Äußerungen<br />
zumindest im Anwaltsreport und den Nürnberger Nachrichten<br />
veröffentlicht wurden (vgl. Anlage K 2), die Angaben damit einer<br />
breiten Öffentlichkeit bekannt wurden.<br />
b) Die Angabe Nr. 4 (damit behauptet sich das Unternehmen<br />
als führende Wirtschaftsprüfungs-, Steuerberatungs- und Rechtsanwaltskanzlei<br />
deutschen Ursprungs) und Angabe Nr. 5 (R & Partner<br />
ist damit der Partner Nr. 1 im internationalen Mittelstand) verstoßen<br />
gegen das Sachlichkeitsgebot der §§ 43 b BRAO, 6 Abs. 1<br />
BORA. Die Bezeichnung als „Partner Nr. 1 im internationalen<br />
Mittelstand“ ist ein reines Werturteil, das nicht überprüfbar ist.<br />
Auch aus dem Gesamtzusammenhang der Pressemitteilung ist<br />
nicht ersichtlich, was mit „internationalen Mittelstand“ gemeint ist.<br />
Mit dieser Äußerung hat der Bekl die Grenze der reklamehaften<br />
Selbstanpreisung überschritten. Das Verbot solcher Werbung ist<br />
auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (BVerfG WRP<br />
2000, 720; AnwBl 2002, 60).<br />
Die Angabe „führende Wirtschaftsprüfungs-, Steuerberatungsund<br />
Rechtsanwaltskanzlei deutschen Ursprungs“ hat sich der Bekl<br />
in seiner Pressemitteilung zu Eigen gemacht. Er kann sich nicht<br />
darauf berufen, nur wiederzugeben, was bereits anderweitig veröffentlicht<br />
wurde. Auch diese Angabe ist als nicht überprüfbares<br />
Werturteil zu verstehen. Zwar sind Ranking-Listen vom Grundsatz<br />
her zulässig (BVerfG NJW 2003, 277). Voraussetzung ist allerdings,<br />
dass die Kriterien des Rankings genannt werden, da dieses<br />
nach völlig verschiedenen Kriterien erstellt werden kann, wie etwa<br />
Zahl der Niederlassungen oder der Mandanten, Zahl der Auslandsvertretungen,<br />
Zufriedenheit der Mandanten oder eben dem Umsatz.<br />
Dazu enthält die Pressemitteilung jedoch keine Aussage.<br />
Beide Angaben beziehen sich auch auf die rechtsanwaltliche<br />
Tätigkeit des Bekl. Aus der Angabe Nr. 4 ist dies direkt zu entnehmen<br />
(„führende Wirtschaftsprüfungs-, Steuerberater- und Rechtsanwaltsgesellschaft<br />
...“). Aus dem Gesamtzusammenhang ist auch<br />
ersichtlich, dass die Angabe Nr. 5 sich auf die Tätigkeit als Rechtsanwaltsgesellschaft<br />
bezieht. So hebt der Bekl im Text der Pressemitteilung<br />
die expandierende internationale Rechtsberatung hervor.<br />
c) Die Kl hat auch einen Unterlassungsanspruch aus §§ 1, 13<br />
UWG. Nach der neueren Rechtsprechung des BGH kommt ein Anspruch<br />
aus § 1 UWG in Fällen, in denen ein beanstandetes Verhalten<br />
gegen ein Gesetz verstößt, nur dann in Betracht, wenn vom Gesetzesverstoß<br />
zugleich eine unlautere Störung des Wettbewerbs auf<br />
dem Markt ausgeht. Es muss daher anhand einer am Schutzzweck<br />
des § 1 UWG auszurichtenden Würdigung des Gesamtcharakters<br />
des Verhaltens geprüft werden, ob dieses durch den Gesetzesverstoß<br />
das Gepräge eines unlauteren Verhaltens bekommt. Der Gesetzesverstoß<br />
kann dazu allein nicht genügen, wenn die verletzte<br />
Norm nicht zumindest auch eine wettbewerbsbezogene, d. h. – entsprechend<br />
dem Normzweck des § 1 UWG – eine auf die Lauterkeit<br />
des Wettbewerbs bezogene Schutzfunktion hat (BGH NJW 2004,<br />
1099 m. w. N.).<br />
Die Vorschriften der §§ 43 BRAO, 6 BORA dienen der Regelung<br />
der Außendarstellung der Rechtsanwälte und damit dem<br />
Schutz der Öffentlichkeit vor Irreführung und der Wahrung der<br />
Wettbewerbsgleichheit innerhalb des Berufsstandes. Sie haben daher<br />
auch eine auf die Lauterkeit des Wettbewerbs bezogene Schutzfunktion.
AnwBl 8 + 9/2004 527<br />
Rechtsprechung MN<br />
2. Die Berufung ist jedoch hinsichtlich der angegriffenen Angaben<br />
I.1) bis I.3) begründet. Das Werben von Rechtsanwälten mit<br />
Umsatzzahlen, ist weder irreführend i. S. v. § 3 UWG noch sittenwidrig<br />
i. S. v. § 1 UWG unter dem Gesichtspunkt „Vorsprung durch<br />
Rechtsbruch“. § 6 Abs. 3 BORA verstößt gegen die nach Art. 12<br />
GG geschützte Berufsfreiheit.<br />
a) Äußerung Nr. 2 (Umsatz steigt im Jahr 2001 um 37,2 % auf<br />
138,2 Mio. Euro)<br />
aa) Die Richtigkeit des Umsatzes bzw. der Umsatzsteigerung<br />
wird von der Kl nicht bestritten, weswegen eine Irreführung über<br />
die Zahlen an sich auszuschließen ist.<br />
bb) Durch die Nennung der Umsatzzahl wird entgegen der<br />
Auffassung des LG nicht der falsche Eindruck erweckt, der Bekl<br />
sei als Rechtsanwalt besonders erfolgreich und qualifiziert. Der Kl<br />
ist zuzugeben, dass Umsatzzahlen nichts über die Qualität rechtsanwaltlicher<br />
Tätigkeit aussagen. Diese Aussage kann allerdings für<br />
jeden freien Beruf und für jede gewerbliche Tätigkeit getroffen<br />
werden, weswegen es auszuschließen ist, dass der Referenzverbraucher<br />
ausgerechnet bei Rechtsanwälten dem Irrtum unterliegen<br />
sollte, Umsatz mit Qualität gleichsetzen zu müssen oder zu dürfen.<br />
So ist es nach ständiger Rechtsprechung des BGH zulässig, mit<br />
Spitzenstellungen – auch Umsatzzahlen – zu werben, wenn die Behauptung<br />
wahr ist (Köhler/Piper, 3. Aufl., § 3 UWG Rn. 425<br />
m. w. N.), ohne dass bislang eine Irreführungsgefahr dahingehend<br />
gesehen wurde, die angesprochenen Verkehrskreise würden vom<br />
Umsatz auf Qualität schließen.<br />
cc) Die Werbung mit Umsatzzahlen verstößt nicht gegen § 1<br />
UWG unter dem Gesichtspunkt „Vorsprung durch Rechtsbruch“,<br />
weil § 6 Abs. 3 BORA zumindest insoweit verfassungswidrig ist,<br />
soweit die Werbung mit Umsatzzahlen untersagt wird.<br />
(1) § 6 Abs. 3 BORA verstößt gegen die Berufsfreiheit gem.<br />
Art. 12 GG.<br />
In die nach Art. 12 GG geschützte Berufsfreiheit fällt nach<br />
ständiger Rechtsprechung des BVerfG auch die berufliche Außendarstellung<br />
der Grundrechtsinhaber einschließlich der Werbung<br />
(BVerfG NJW 2000, 3195; Kleine-Cosack, 4. Aufl., § 43 b Rn. 4<br />
BRAO m. w. N.), weil auch Freiberufler darauf angewiesen sind,<br />
potenzielle Mandanten über ihr Dienstleistungsangebot zu informieren.<br />
Auf Grund der Berufsausübungsfreiheit des Art. 12 GG<br />
sind sie befugt, sich mit Informationen an die Öffentlichkeit zu<br />
wenden. Die Werbefreiheit ist als Teil der Berufsausübungsfreiheit<br />
durch Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistet. Rechtsanwälten ist deshalb<br />
die Werbung für ihre berufliche Tätigkeit im Grundsatz nicht verboten,<br />
sondern erlaubt.<br />
Einschränkungen der Berufsfreiheit bedürfen nicht nur einer<br />
formalen gesetzlichen Grundlage, die vorliegend in § 59 b Abs. 2<br />
BRAO zu sehen ist, sondern auch materiell der Rechtfertigung<br />
durch ein Gemeinwohlinteresse (Kleine-Cosack, § 43 b Rn. 5<br />
BRAO; BVerfG WRP 2003, 1213; Henssler/Prütting, 2. Aufl.,<br />
§ 43 b Rn. 9 BKAO). Als Gemeinwohlinteressen kommen die<br />
Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und das Vertrauen der Rechtsuchenden<br />
in Betracht, der Rechtsanwalt werde nicht aus Gewinnstreben<br />
zu Prozessen raten oder die Sachbehandlung an Gebühreninteressen<br />
ausrichten (BVerfG NJW 2001, 1926; Kleine-Cosack,<br />
§ 43 b Rn. 8). Eine Beeinträchtigung der Rechtspflege wäre<br />
möglich, wenn der Rechtsanwalt als Organ der Rechtspflege in seiner<br />
Funktion als unabhängiger Sachwalter durch das Werben mit<br />
Umsatzzahlen in Frage gestellt würde. Einen solchen Zusammenhang<br />
hat die Kl jedoch nicht aufzuzeigen vermocht, auch besteht er<br />
nach der Überzeugung des Senates nicht.<br />
Ebenso wenig kann ein Zusammenhang zwischen dem Vertrauen<br />
des Mandanten auf nicht an Gebühreninteressen ausgerichteter<br />
Sachbehandlung einerseits und Werbung mit Umsatzzahlen<br />
andererseits hergestellt werden. So können hohe Umsätze bei<br />
höchstmöglicher Orientierung an Mandanteninteressen zustande<br />
kommen, wie umgekehrt auch niedrige Umsätze nahezu nur auf<br />
Gebühreninteressen zurückzuführen sein können.<br />
Soweit das Werbeverbot mit Umsatzzahlen darüber hinaus möglicherweise<br />
von Konkurrenzschutzaspekten getragen wird, ist dies<br />
kein am Gemeinwohl ausgerichteter Zweck und legitimiert deshalb<br />
nicht den Eingriff in die Berufsfreiheit (BVerfG NJW 1995, 3067;<br />
Kleine-Cosack, § 340 b Rn. 9).<br />
(2) Das Werbeverbot mit Umsatzzahlen verstößt darüber hinaus<br />
gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG.<br />
(aa) Rechtsanwälte dürfen mit Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern<br />
Gesellschaften bilden. Die Berufsordnungen der Wirtschaftsprüfer<br />
und Steuerberater enthalten ebenso wie die Berufsordnung<br />
der Rechtsanwälte Regelungen über die Zulässigkeit der Werbung<br />
(§§ 10-21 BOStB bzw. §§ 31-36 BS WP/vBP). Allerdings enthalten<br />
diese Berufsordnungen kein Verbot des Werbens mit Umsatzzahlen.<br />
Ein sachlicher Grund, weswegen Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern<br />
diese Werbung erlaubt, Rechtsanwälten dagegen verboten<br />
sein muss, ist nicht erkennbar (vgl. zur ähnlichen<br />
Problematik unterschiedlicher Regelungen von Kurzbezeichnungen:<br />
BGH NJW 2004, 1099 – Rechtsanwaltsgesellschaft).<br />
(bb) Die Rechtsanwaltskapitalgesellschaften unterliegen der<br />
Publizitätspflicht des § 325 HGB. Sie müssen den Jahresabschluss<br />
und eine Reihe weiterer Unterlagen dem Registergericht vorlegen<br />
und veröffentlichen. Zweck dieser Regelung ist es, alle diejenigen<br />
zu schützen, die mit dem Unternehmen geschäftlich verkehren.<br />
Rechtsanwaltskapitalgesellschaften kann schon aus diesem Grunde<br />
ein Werben mit Umsatzzahlen nicht untersagt sein (Kleine-Cosack,<br />
§ 6 BORA Rn. 4; Hartung-Holl, Anwaltliche Berufsordnung,<br />
2. Aufl., § 6 BORA Rn. 140; Henssler/Prütting, § 6 BORA Rn. 7),<br />
da sich das Satzungsrecht der BORA dem förmlichen Gesetz unterzuordnen<br />
hat. Wenn aber den Kapitalgesellschaften ein Werben mit<br />
Umsatzzahlen erlaubt ist, ist kein sachlicher Grund erkennbar, weswegen<br />
es Rechtsanwaltspersonengesellschaften und Einzelanwälten<br />
verboten sein muss, zumal die Publizitätspflicht nach § 325 HGB<br />
verbraucherschützende Elemente aufweist.<br />
b) Äußerung Nr. 1 (R u. Partner erzielt Rekordwachstum) und<br />
Aussage Nr. 3 (R und Partner hat im Geschäftsjahr 2001 ein hervorragendes<br />
Wachstum erzielt)<br />
Diese Angaben sind im Kontext mit der Nennung der Umsatzzahlen<br />
zu beurteilen. Die Angabe „Rekordwachstum“ ist nicht irreführend.<br />
Die Kl hat die Richtigkeit der Aussage nicht bestritten.<br />
Beide Angaben verletzten nicht das Sachlichkeitsgebot der<br />
§§ 43 b BRAO, 6 Abs. 1 BORA. Zwar enthält die Äußerung Nr. 3<br />
mit „hervorragendes Wachstum“ keine Tatsachenbehauptung, sondern<br />
eine Wertung, doch sind Wertungen nicht grundsätzlich unsachlich<br />
und damit unzulässig. Wertende Begriffe sollen nur nicht<br />
im Vordergrund stehen, um maßlose Selbstanpreisungen zu unterbinden<br />
(Henssler/Prütting, § 43 b Rn. 12 BRAO).<br />
Im vorliegenden Fall sind die objektiven Zahlen von Umsatz<br />
und Wachstum ausdrücklich genannt. Die Bezeichnung mit „hervorragenden<br />
Wachstum“ hat deswegen nur kommentierenden Charakter.<br />
Sie steht nicht im Vordergrund und ist deswegen zulässig.<br />
Mitgeteilt vom 3. Zivilsenat des OLG Nürnberg<br />
Hinweis der Redaktion: Das Urteil des LG Nürnberg-Fürth aus<br />
der ersten Instanz ist in der NJW 2004, 684 veröffentlicht worden.<br />
Anwaltsvergütung<br />
BRAGO § 4; RVG § 5; BGB § 612; ZPO § 91 Abs. 1; §§ 104 ff.<br />
Auch bei Mandaten, die noch nicht unter die Regelung des § 5<br />
RVG fallen, kann der Rechtsanwalt je nach den Umständen eine<br />
Vergütung in Höhe der vollen gesetzlichen Gebühren verdienen,<br />
wenn er sich durch einen Assessor vertreten lässt. Dies ist in der<br />
Regel jedenfalls dann der Fall, wenn der Assessor bei dem<br />
Rechtsanwalt angestellt ist. Die so verdiente Vergütung hat der<br />
Prozessgegner unter den Voraussetzungen des § 91 Abs. 1 ZPO<br />
zu erstatten; sie ist im Verfahren nach den §§ 104 ff. ZPO unter<br />
den dort geltenden Voraussetzungen festzusetzen.<br />
BGH, Beschl. v. 27.4.2004 – VI ZB 64/03<br />
Aus den Gründen: Die Bekl wenden sich mit der Rechtsbeschwerde<br />
dagegen, dass der Rpfleger des AG in einem Zivilrechtsstreit<br />
im Rahmen der Kostenfestsetzung zugunsten des Kl eine Verhandlungs-<br />
und eine Vergleichsgebühr (§ 31 Abs. 1 Nr. 2, § 23<br />
BRAGO) als erstattungsfähig berücksichtigt hat, obwohl der Kl in<br />
dem einzigen Verhandlungstermin, in dem auch der Vergleich geschlossen<br />
wurde, nicht durch seine Prozessbevollmächtigten, sondern<br />
durch den bei diesem angestellten Assessor M. vertreten wurde.
528<br />
MN<br />
Das LG hat die sofortige Beschwerde der Bekl gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss<br />
des AG zurückgewiesen und die Rechtsbeschwerde<br />
zugelassen.<br />
II. Die Rechtsbeschwerde ist statthaft, weil sie von dem LG als<br />
Beschwerdegericht zugelassen worden ist (§ 574 Abs. 1 Nr. 2<br />
ZPO). Sie ist auch im Übrigen zulässig. Der auch im Verfahren der<br />
Rechtsbeschwerde zu berücksichtigende Beschwerdewert des<br />
§ 567 Abs. 2 ZPO von mehr als 50 EUR ist erreicht.<br />
Die Rechtsbeschwerde ist aber unbegründet. Der Rpfleger des<br />
AG hat die festgesetzten Gebühren zu Recht als erstattungsfähig<br />
anerkannt.<br />
1. § 4 BRAGO, der bisher eine Regelung für die Vergütung von<br />
Tätigkeiten enthält, die der Rechtsanwalt nicht persönlich vornimmt,<br />
nennt den Assessor – im Gegensatz zu der demnächst geltenden<br />
Regelung des § 5 RVG – nicht. Zu der Frage, ob ein<br />
Rechtsanwalt, der in einem Termin nicht persönlich auftritt, sondern<br />
sich durch einen Assessor vertreten lässt, die gesetzlichen<br />
Gebühren verdient und ob der von ihm vertretenen Partei insoweit<br />
ein Erstattungsanspruch zusteht, wurden bisher unterschiedliche<br />
Auffassungen vertreten. Die Lösungsvorschläge reichten von der<br />
Aberkennung jeder Gebühr über die Erstattung von Auslagen oder<br />
angemessener Auslagen bis hin zur Zuerkennung der vollen<br />
Gebühr (vgl. die Darstellung bei Gerold/Schmidt/von Eicken/Madert,<br />
BRAGO, 15. Aufl. § 4 Rn 10).<br />
2. Der Senat folgt der Auffassung, dass der Rechtsanwalt, der<br />
sich durch einen Assessor vertreten lässt, auch schon nach der bisher<br />
geltenden Rechtslage je nach den Umständen eine Vergütung<br />
in Höhe der vollen gesetzlichen Gebühren verdienen und dass seiner<br />
Partei ein entsprechender Erstattungsanspruch zustehen kann.<br />
Dies wird in der Regel jedenfalls dann der Fall sein, wenn – wie<br />
hier – der Assessor bei dem Prozessbevollmächtigten angestellt ist<br />
und im Übrigen auch seine Zulassung als Rechtsanwalt betreibt.<br />
a) Im Gesetzgebungsverfahren hat sich die Erkenntnis durchgesetzt,<br />
dass es nicht gerechtfertigt ist, dem Rechtsanwalt bei der<br />
Vertretung durch einen Assessor bei einem Rechtsanwalt den Gebührenanspruch<br />
ganz oder teilweise zu versagen. In der Begründung<br />
zum <strong>Entwurf</strong> eines Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts<br />
war die jetzt mit § 5 RVG Gesetz gewordene Regelung bereits enthalten<br />
und wurde – unter Hinweis auf den Streitstand – wie folgt<br />
begründet (BT-Drucks 15/1971, S. 78, 188): Insbesondere im Hinblick<br />
auf die höhere Qualifikation eines Assessors sei es nicht gerechtfertigt,<br />
dass der Rechtsanwalt zwar für eine Vertretung durch<br />
einen Stationsreferendar die volle Vergütung erhalten solle, bei einer<br />
Vertretung durch einen Assessor dagegen nicht. Daher sei es<br />
sachgerecht, dass auch die Vertretung durch einen Assessor in dem<br />
vorgesehenen § 5 RVG genannt werde. Diese Erwägungen leuchten<br />
aus Sachgründen ohne weiteres ein.<br />
b) Allerdings kann der Anspruch nicht unmittelbar aus § 4<br />
BRAGO hergeleitet werden. Dort ist der Assessor nicht genannt.<br />
Dies erklärt sich aus der Entwicklung dieser Vorschrift. Solange es<br />
noch den Status des Anwaltsassessors gab, war dieser in § 4<br />
BRAGO aufgeführt. Nach der Abschaffung dieses Status wurde<br />
der Assessor aus der Vorschrift gestrichen (vgl. dazu E. Schneider,<br />
KostRsp. § 4 BRAGO Nr. 3). Die ersatzlose Streichung lässt sich<br />
allerdings allenfalls damit rechtfertigen, dass für den Gebührenanspruch<br />
nicht auf die Rechtskenntnisse des Vertreters, sondern auf<br />
seine öffentlichrechtliche Verantwortung abzustellen und dann in<br />
Betracht zu ziehen ist, dass auch der angestellte Assessor nur als<br />
Privatperson tätig wird (vgl. dazu Hartmann/Albers, Kostengesetze,<br />
33. Aufl., § 4 BRAGO Rn 7 f.).<br />
c) Von der Sache her ist indes jedenfalls in Fällen der vorliegenden<br />
Art eine Gleichstellung geboten. Insoweit kann dahinstehen,<br />
ob § 4 BRAGO ,korrigierend‘ angewendet werden kann (für<br />
eine solche Lösung z. B.: OLG Frankfurt MDR 1975, 767 f.; OLG<br />
Düsseldorf AnwBl. 1978, 426).<br />
Der Vergütungsanspruch des Rechtsanwalts folgt aus § 612<br />
BGB. Die Partei, die zwar nicht von ihrem Anwalt persönlich,<br />
wohl aber von einem von diesem gestellten Volljuristen ordnungsgemäß<br />
vertreten wird, kann – sofern sich nicht aus abweichenden<br />
Vereinbarungen oder sonstigen Umständen etwas anderes ergibt –<br />
nicht erwarten, die entsprechenden Leistungen kostenlos zu erhalten.<br />
Deshalb wird für die alte Rechtslage bei Einschaltung eines<br />
Assessors die vereinbarte (§ 612 Abs. 1 BGB) oder beim Fehlen einer<br />
Vereinbarung die übliche Vergütung (§ 612 Abs. 2 BGB) ge-<br />
schuldet. Die übliche Vergütung wird sich beim Auftreten eines<br />
bei dem bestellten Rechtsanwalt angestellten Assessors in der Regel<br />
auf die vollen Gebühren der Bundesrechtsanwaltsordnung belaufen.<br />
Eine entsprechende Beurteilung haben die Gerichte auf Tatsachenebene<br />
vorzunehmen. Die Erstattungsfähigkeit dieser von der<br />
Partei ihrem Rechtsanwalt geschuldeten Vergütung ergibt sich sodann,<br />
sofern nicht die Notwendigkeit der Einschaltung eines<br />
Rechtsanwalts ausnahmsweise zu verneinen ist, aus § 91 Abs. 1<br />
ZPO. Die Festsetzung erfolgt im Verfahren nach § 104 ff. ZPO.<br />
Mit dieser Lösung (dafür z. B.: OLG Frankfurt MDR 1995, 103 f.;<br />
OLG Hamm AnwBl. 1992, 286; KostRsp. § 4 BRAGO Nr. 37 mit zustimmender<br />
Anm. von N. Schneider; LG Bochum, RPfleger 1988,<br />
426 f.; Gerold/Schmidt/von Eicken/Madert, aaO, Rn 10–12; Riedel/<br />
Sußbauer/Fraunholz, BRAGO, 8. Aufl., § 4 Rn 9; E. Schneider,<br />
KostRsp. § 4 BRAGO Nr. 4; N. Schneider, KostRsp. § 4 BRAGO<br />
Nr. 34) wird – entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde – § 4<br />
BRAGO nicht umgangen. Denn diese Vorschrift besagt nur, in welchen<br />
Vertretungsfällen die Vergütung des Rechtsanwalts unmittelbar<br />
nach der Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung zu bemessen ist.<br />
Eine differenzierende Regelung für von den gesetzlichen Vorgaben<br />
abweichende Fallgestaltungen wird dadurch nicht ausgeschlossen.<br />
3. Im Streitfall ist es nach den in den Vorinstanzen getroffenen<br />
Feststellungen nicht zu beanstanden, dass ein Vergütungsanspruch<br />
des Prozessbevollmächtigten des Kl in voller Höhe der Gebührensätze<br />
der Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung berücksichtigt worden<br />
ist. Die Rechtsbeschwerde greift nur die rechtlichen Grundlagen<br />
der Festsetzung, nicht die getroffenen Feststellungen an.<br />
III. Die Rechtsbeschwerde ist danach mit der Kostenfolge aus<br />
§ 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.<br />
Hinweis der Redaktion: Diese BGH-Entscheidung ist die erste<br />
zum neuen Rechtsanwaltvergütungsgesetz (RVG). Sie zieht schon<br />
vor In-Kraft-Treten des RVG Regelungen des Gesetzes zur Auslegung<br />
der BRAGO heraus.<br />
Fotonachweis<br />
Seiten 469, 470, 472, 473, 487, 489, 491, 494, 497, 498, 499, 500,<br />
501, 502, 509, 514, 516, I, IV, VI, XXXII: alle privat<br />
Seiten 475, 476, 479, 480, 482, 483, 484, 485: alle Burkhardt/Berlin<br />
Seite 486: BFB<br />
Impressum<br />
AnwBl 8 + 9/2004<br />
Rechtsprechung<br />
Herausgeber: <strong>Deutscher</strong> <strong>Anwaltverein</strong> e.V., Littenstr. 11, 10179<br />
Berlin (Mitte), Tel. 0 30/ 726152-0, Fax 030/ 726152-191,<br />
anwaltsblatt@anwaltverein.de. Redaktion: Dr. Nicolas Lührig<br />
(Leitung, v. i. S. d. P.), Dr. Peter Hamacher und Udo Henke, Rechtsanwälte,<br />
Anschrift des Herausgebers.Verlag: <strong>Deutscher</strong> Anwaltverlag<br />
und Institut der Anwaltschaft GmbH, Wachsbleiche 7, 53111<br />
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BLZ 38050000. Anzeigen: ad sales & services, Ingrid A. Oestreich<br />
(v. i. S. d. P.), Stauffenbergstr. 2 b, 22587 Hamburg, Tel. 040/<br />
86628-467, Fax 0 40/ 86628-468, info@ad-in.de. Technische Herstellung:<br />
Hans Soldan GmbH, Bocholder Str. 259, 45356 Essen,<br />
Tel. 0201/ 8612281, Fax 0201/8612241; mitterbauer @soldandruck.de.<br />
Erscheinungsweise: Monatlich zum Monatsanfang, bei<br />
einem Doppelheft für August/September. Bezugspreis: Jährlich<br />
126,– E (inkl. MWSt.) zzgl. Versandkosten, Einzelpreis 11,50 E<br />
(inkl. MWSt.). Für Mitglieder des Deutschen <strong>Anwaltverein</strong>s ist<br />
der Bezugspreis im Mitgliedsbeitrag enthalten. Bestellungen: Über<br />
jede Buchhandlung und beim Verlag; Abbestellungen müssen einen<br />
Monat vor Ablauf des Kalenderjahres beim Verlag vorliegen. Zuschriften:<br />
Für die Redaktion bestimmte Zuschriften sind nur an die<br />
Adresse des Herausgebers zu richten. Honorare werden nur bei<br />
ausdrücklicher Vereinbarung gezahlt. Copyright: Alle Urheber-,<br />
Nutzungs- und Verlagsrechte sind vorbehalten. Das gilt auch für<br />
Bearbeitungen von gerichtlichen Entscheidungen und Leitsätzen.<br />
Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken oder ähnlichen<br />
Einrichtungen. Sie bedürfen zur Auswertung ausdrücklich der Einwilligung<br />
des Herausgebers. ISSN 0171-7227.<br />
w
XXXII<br />
MN<br />
BÜCHER & INTERNET<br />
Hartung/Römermann: Rechtsanwaltsvergütungsgesetz<br />
(RVG), Praxiskommentar,<br />
Verlag C. H. Beck, München, 2004, ISBN<br />
3-406-51955-5, 1.282 S., 79 Euro.<br />
Schon der <strong>Titel</strong> des Werkes gibt die<br />
Zielrichtung an: Das Buch will ein auf die<br />
Bedürfnisse der Anwaltschaft zugeschnittenes<br />
Hilfsmittel sein. Im Vorwort betonen<br />
die beiden Autoren, praktizierende Anwälte<br />
in Mönchengladbach (Hartung) bzw. Hannover<br />
(Römermann), dass Schwerpunkt des<br />
Buches die Darstellung des nun geltenden,<br />
neuen Vergütungsrechts sein soll und die<br />
Literatur und Rechtsprechung aus früherer<br />
Zeit nur noch dort herangezogen wird, wo<br />
es für das RVG erheblich ist. Zum zweiten<br />
wollen die Kommentatoren sich konsequent<br />
orientieren an dem gesetzgeberischen Willen,<br />
der Anwaltschaft eine Erhöhung ihrer<br />
Gebühren zuzugestehen. Beide Autoren bekennen<br />
sich damit ausdrücklich zu einer anwaltsfreundlichen<br />
Kommentierung. Das<br />
macht den Band sympathisch.<br />
Die Kommentierung folgt der Gliederung<br />
des RVG-Textes und des Vergütungsverzeichnisses.<br />
Vorangestellt ist auf 35 Seiten<br />
eine hervorragende Einführung von<br />
Hartung mit einer hochinteressanten Darstellung<br />
von Hintergründen der Gebührennovelle.<br />
Hartung wirft dabei die Frage auf,<br />
warum überhaupt eine „Gebührenordnung“<br />
für Rechtsanwälte sinnvoll ist. Dies ist ein<br />
brandaktuelles Thema mit stark europapolitischem<br />
Einschlag.<br />
Die Kommentierung der 61 Paragraphen<br />
des RVG nimmt einen Umfang von etwa<br />
690 Seiten ein. Die Darstellung der 233<br />
Nummern des Vergütungsverzeichnisses behandeln<br />
Hartung und Römermann dagegen<br />
lediglich auf 235 Seiten. Hier ist in Zukunft<br />
zu erwarten, dass durch die Rechtsprechung<br />
und bereits jetzt anschwellende Literatur<br />
die Kommentierung zu den Teilen des<br />
Vergütungsverzeichnisses bei späteren Auflagen<br />
umfangreicher ausfallen wird.<br />
Hilfreich sind die umfangreichen sieben<br />
Anhänge. Sie informieren den Leser über<br />
den Gesetzestext von RVG und Vergütungsverzeichnis,<br />
über die nach § 35 RVG künftig<br />
maßgebenden Regelungen der Steuerberatergebührenverordnung<br />
und in zwei Synopsen<br />
BRAGO-RVG bzw. RVG-BRAGO und VV-<br />
BRAGO – sehr hilfreich für die Orientierung<br />
– des neuen Gesetzes. Ein sehr brauchbares<br />
und mit über 40 Seiten erschöpfendes Sachverzeichnis<br />
gibt dem hohen Benutzungswert<br />
des Kommentars den letzten Schliff.<br />
Eins ist gewiss: Der RVG-Kommentar<br />
von Hartung/Römermann hat schon deshalb<br />
hohe Aufmerksamkeit und eine positive Bewertung<br />
verdient, weil er der erste auf dem<br />
Markt erschienene Kommentar zum neuen<br />
Vergütungsrecht ist. Unabhängig vom derzeitigen<br />
Fehlen von Konkurrenz ist das<br />
Buch auch inhaltlich erste Wahl.<br />
Rechtsanwalt Udo Henke, Berlin<br />
9 http://www.bundesgesetzblatt.de<br />
Nun ist es in Kraft, das lange umstrittene<br />
Gesetz gegen den unlauteren<br />
Wettbewerb. Am 7. Juli wurde es verabschiedet<br />
und am gleichen Tage war es<br />
bereits online verfügbar. Auf den Seiten<br />
des Bundesanzeiger Verlages unter den<br />
Überschriften Produkte und Verkündungsorgane<br />
etwas versteckt, findet sich<br />
das Bundesgesetzblatt – oder schneller<br />
mit Abkürzung unter dem oben genannten<br />
Link. Die kostenlose Variante ist von<br />
hier in der rechten Spalte verborgen –<br />
wer wollte es dem Bundesanzeiger Verlag<br />
verdenken, dass er lieber seine<br />
Abonnements verkauft? Die Nur-Lese-<br />
Für das <strong>Anwaltsblatt</strong><br />
im Internet:<br />
Rechtsanwältin<br />
Isa von Koeller,<br />
Online-Redakteurin<br />
von Marktplatz-<br />
Recht.de.<br />
Version ist ohne Anmeldung abrufbar.<br />
Das entsprechende PDF-Dokument<br />
kann am Bildschirm gelesen oder ausgedruckt<br />
werden. Das trägt natürlich<br />
nicht zum papierlosen Büro bei, die Informationen<br />
sind dafür aber tagesaktuell,<br />
zuverlässig und kostenlos.<br />
9 http://www.dg-kassenarztrecht.de/<br />
Die Deutsche Gesellschaft für Kassenarztrecht<br />
versorgt die Besucher der<br />
Internetseiten mit vielen Dokumenten.<br />
Die umfangreichen Informationen hätten<br />
eine übersichtlichere Darstellung<br />
verdient – ein Verzicht auf den gemusterten<br />
Hintergrund und die regelmäßige<br />
Wiederholung des Wortes „Download“<br />
wären wünschenswert. Die interessanten<br />
Dateien finden sich unter den Navigationspunkten<br />
Veröffentlichungen und<br />
Informationsdienst. Veröffentlichungen<br />
sind die Thesen zu den Vorträgen der<br />
zweimal jährlich stattfindenden Symposien<br />
in Ergänzung zu der Veröffentlichung<br />
in den Fachzeitschriften. Mit diesen<br />
Thesen sind einige Aspekte der<br />
aktuellen Diskussionen des Kassenarztrechtes<br />
schnell zu erfassen.<br />
Weiterhin wird ein Informationsdienst<br />
angeboten. Darunter erscheint<br />
erst einmal eine Liste mit Publikationen.<br />
Dieser Rechtsprechungsinformationsdienst<br />
enthält Rechtsprechung zum<br />
Arzt- und Krankenversicherungsrecht.<br />
Leider gibt es keine Suchfunktion für<br />
die Inhalte. So bleiben nur die Indices<br />
der jeweiligen Ausgaben, in denen mit<br />
der Suchfunktion des Browsers Schlagworte<br />
gefunden werden können. Das<br />
lohnt sich vor Abruf der umfangreichen<br />
PDF-Dokumente, in denen Entscheidungen<br />
in Leitsätzen zum Vertragsarzt- und<br />
Krankenversicherungsrecht sowie Entscheidungen<br />
aus angrenzenden Bereichen<br />
wie Arzthaftungs-, ärztlichem Berufs-<br />
und Strafrecht enthalten sind. Die<br />
aktuellste Ausgabe ist den Mitgliedern<br />
vorbehalten.<br />
9 http://www.echr.coe.int/<br />
Der Europäische Gerichtshof für<br />
Menschenrechte tritt mit seinen<br />
Entscheidungen nicht häufig in Erscheinung.<br />
Einzelfälle aus anderen Mitgliedstaaten<br />
des Europarates interessieren die<br />
hiesigen Medien nicht. Es gibt jedoch<br />
auch Fälle, die hier zu beachten sind,<br />
wie zum Beispiel Caroline von Hannover<br />
vs. Deutschland. Umso schöner,<br />
dass die Entscheidungen im Volltext online<br />
stehen – nicht geschützt, so dass sie<br />
gespeichert und Zitate daraus kopiert<br />
werden können. Die Dokumente sind in<br />
englischer und französischer Sprache<br />
vorhanden. Das Datum der Entscheidung<br />
sollte bekannt sein, um diese<br />
schnell in der „List of Recent<br />
Judgments“ bzw. „Liste des arrêts récents“<br />
aufzufinden.