Nr. 153
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Wertsysteme herausbilden und wie sich die politische<br />
und soziale Öffentlichkeit unter dem Einfluss solcher<br />
Medien verändert. Es geht um Machtausübung, Suchtverhalten,<br />
das Ausleben mehrerer Identitäten, das Problem<br />
der Vereinsamung, das Ineinandergreifen von<br />
realer und virtueller Welt.<br />
Computerspiele und insbesondere Internet-Rollenspiele<br />
stehen hier im Mittelpunkt der kritischen Betrachtung.<br />
Zunächst ist festzustellen, dass MUDs und<br />
MMORPGs aus Spiel- und Konversationsräumen bestehen,<br />
die sich durch synchrone Kommunikationsmöglichkeiten<br />
auszeichnen. Hochstilisierte Regelsysteme<br />
werden auf eine imaginäre Abenteuerwelt angewandt,<br />
die zudem eine Simulation realweltlicher Lebensbezüge<br />
bietet. Hauptanreiz ist dabei das Aushandeln sozialer<br />
Regelwerke und die Ausdifferenzierung des eigenen<br />
Charakters.<br />
Gilden und soziale Rollen<br />
Das Erfolgsgeheimnis der Online-Rollenspiele liegt<br />
in den Aufgabenstellungen, da sie es nötig machen,<br />
dass die Akteure miteinander kooperieren. Dafür unabdingbar<br />
ist der Austausch zwischen den Spielern,<br />
denn Koordination ist der Weg zum Erfolg. Damit ist<br />
bereits der Anfang zu einem sozialen Geflecht gelegt.<br />
Zunächst spielen die Menschen einzeln, dann regelmäßig<br />
mit anderen zusammen. Es etablieren sich feste<br />
Gruppen, ihre Namen und Gründungsideen wirken<br />
identitätsstiftend. In einem zweiten Schritt treten<br />
Gruppen zueinander in Beziehung. Wer einen Charakter<br />
meisterlich handhabt, eine Aufgabe zuerst erledigt<br />
oder einen seltenen Gegenstand erbeutet, gewinnt Ansehen<br />
in der Spieler-Gemeinschaft.<br />
Sowohl in MUDs als auch in MMORPGs gibt es sogenannte<br />
Gilden (auch Clans genannt). Damit werden<br />
Zusammenschlüsse von Spielern bezeichnet, die sich<br />
regelmäßig in der Spielwelt treffen, um gemeinsam<br />
Aufgaben (quests) zu lösen, Erfahrungspunkte zu sammeln,<br />
die – virtuelle – Welt zu erkunden, sich auszutauschen<br />
oder kurz: um gemeinsam zu spielen. Fast alle<br />
Gilden haben einen Kodex, der sie meist zu bestimmten<br />
gemeinsamen Aktivitäten verpflichtet. Beispielsweise<br />
ist die gegenseitige Hilfestellung ein essenzieller<br />
Bestandteil der meisten Gildenkodexe, vor allem den<br />
erfahrenen den neuen Spielern gegenüber. Gilden können<br />
sich hinsichtlich ihrer Hierarchie, ihrer konkreten<br />
Ziele, ihrer Gruppengröße usw. stark voneinander unterscheiden.<br />
Soziologisch gesehen handelt es sich bei Gilden um<br />
Organisationen, genauer: um Interessenorganisationen.<br />
Rollenspieler-Gilden erfüllen die Merkmale einer Organisation,<br />
indem sie (1) dauerhaft ein Ziel verfolgen,<br />
und (2) eine formale Struktur aufweisen, mit deren<br />
Hilfe Aktivitäten der Mitglieder auf das verfolgte Ziel<br />
ausgerichtet werden sollen.<br />
Beispielsweise gilt die europäische Gilde Nihilum<br />
(http://nihilum.mousesports.com/) als weltweit führender<br />
Zusammenschluss in der WoW-Gemeinschaft, wobei<br />
sie weitgehend aus skandinavischen und deutschen<br />
Spielern besteht. Sie hat Trainingszeiten, Anwesenheitspflicht,<br />
Sponsoren und öffentliche Auftritte. So<br />
24<br />
T H E M A<br />
Aus der<br />
Welt der<br />
Gilde<br />
Nihilum.<br />
bietet der Rummel um die Kriegskunst mehr als nur<br />
Konsum und Wettbewerb. Hier treffen Menschen aufeinander<br />
– auch, wenn dies nur in virtueller Form geschieht<br />
–, die sonst nie miteinander in Kontakt treten<br />
würden (vgl. Scholz, 2008).<br />
Auch außerhalb der Gilden sind Online-Rollenspiele<br />
stets mit sozialen Rollen verknüpft. Schon vor Spielbeginn<br />
muss sich jeder Spieler für eine bestimmte Rolle<br />
entscheiden, sei es in seiner ,,Rasse“ (ein Mensch, ein<br />
Zwerg, ein Ork usw.), seiner ,,Klasse“ (ein Krieger, ein<br />
Paladin, ein Mönch usw.), seinem ,,Beruf“ (Fischer, Entertainer,<br />
Arzt usw.) und für vieles andere mehr. Mit<br />
der gespielten Rolle werden von den anderen Avataren<br />
dann stets bestimmte rollenspezifische Handlungen erwartet.<br />
Suchtpotenziale<br />
Bei manchem Teilnehmer muss aufgrund des extrem<br />
hohen Spielkonsums und der eindeutigen Verhaltensauffälligkeiten<br />
von Abhängigkeit gesprochen werden.<br />
Zwar handelt es sich hier nur um eine kleine Gruppe<br />
der Rollenspielergemeinde; ihr Anteil wird auf fünf bis<br />
zehn Prozent geschätzt. Doch gerade unter den Betroffenen<br />
finden sich wieder sozialstrukturell benachteiligte<br />
Menschen: Personen ohne Schulabschluss und Erwerbslose<br />
sind besonders stark vertreten, auf der anderen<br />
Seite mindert eine hohe Formalbildung und eine<br />
vorteilhafte Erwerbssituation die Wahrscheinlichkeit<br />
enorm, von Abhängigkeits-Symptomen betroffen zu<br />
sein. Mit anderen Worten: Gerade der ,,untypische“<br />
Rollenspieler, der im Ungleichheitsgefüge unten steht,<br />
ist öfter von Sucht betroffen (vgl. Cypra, 2005).<br />
Was bringt die Menschen dazu, viel oder gar exzessiv<br />
zu spielen? Welche Faktoren treiben den Spielkonsum<br />
in die Höhe? In Deutschlands erstem Therapiezentrum<br />
für Computersüchtige, der Ambulanz für Spielsucht am<br />
Klinikum der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz<br />
(http://www.klinik.uni-mainz.de/neuropathologie/ambulanzfuer-spielsucht.html),<br />
wurden hierzu erste empirische<br />
Untersuchungen angestellt. Das Gros der Süchtigen ist<br />
danach zwischen 18 und 27 Jahre alt und vorwiegend<br />
männlich. Ein Teil der Süchtigen hatte bereits früher<br />
Kontaktschwierigkeiten und ist eher introvertiert. In<br />
direkter Abhängigkeit zur Höhe des Spielkonsums<br />
steht das Verlangen, Meisterschaft erringen zu wollen.<br />
In der Sprache der Rollenspieler ausgedrückt, resultiert<br />
dies in einem ,,Powergaming-Verhalten“, das besonders<br />
jugendliche Männer an den Tag legen.<br />
LOG IN Heft <strong>Nr</strong>. <strong>153</strong> (2008)<br />
http://nihilum.mousesports.com/