Gehirn und Immunität - Dana Foundation
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Ein Bericht über Fortschritte in der Hirnforschung<br />
<strong>Gehirn</strong> <strong>und</strong> <strong>Immunität</strong><br />
Ausgabe 2004
Ein Bericht über Fortschritte<br />
in der Hirnforschung<br />
<strong>Gehirn</strong> <strong>und</strong> <strong>Immunität</strong><br />
Ausgabe 2004
THE EUROPEAN DANA ALLIANCE<br />
FOR THE BRAIN EXECUTIVE COMMITTEE<br />
William Safire, Chairman<br />
Edward F. Rover, President<br />
Colin Blakemore, PhD, ScD, FRS, Vice Chairman<br />
Pierre J. Magistretti, MD, PhD, Vice Chairman<br />
Carlos Belmonte, MD, PhD<br />
Anders Björkl<strong>und</strong>, MD, PhD<br />
Joël Bockaert, PhD<br />
Albert Gjedde, MD, FRSC<br />
Sten Grillner, MD, PhD<br />
Malgorzata Kossut, MSc, PhD<br />
Richard Morris, Dphil, FRSE, FRS<br />
Dominique Poulain, MD, DSc<br />
Wolf Singer, MD, PhD<br />
Piergiorgio Strata, MD, PhD<br />
Eva Syková, MD, PhD, DSc<br />
Executive Committee<br />
Barbara E. Gill, Executive Director<br />
Die European <strong>Dana</strong> Alliance for the Brain (EDAB) ist ein Zusammenschluss<br />
von r<strong>und</strong> 140 führenden Wissenschafterinnen <strong>und</strong> Wissenschaftern aus<br />
27 Ländern. Zu ihren Mitgliedern zählen fünf Nobelpreisträger. Die EDAB<br />
hat sich zum Ziel gesetzt, die Gesellschaft auf die Bedeutung der <strong>Gehirn</strong>forschung<br />
aufmerksam zu machen. Die Organisation wurde 1997 gegründet<br />
<strong>und</strong> versteht sich als Schnittstelle zwischen der medizinischen Laborarbeit,<br />
der Forschung sowie der breiten Öffentlichkeit.<br />
Für weitere Informationen:<br />
The European <strong>Dana</strong> Alliance for the Brain<br />
Dr Béatrice Roth, PhD<br />
Centre de Neurosciences Psychiatriques<br />
Site de Cery<br />
1008 Prilly<br />
e-mail: Contact.Edab@hospvd.ch
Visionen des <strong>Gehirn</strong>s:<br />
Ein Bericht über Fortschritte<br />
in der Hirnforschung<br />
Jahresbericht 2004<br />
<strong>Gehirn</strong> <strong>und</strong> <strong>Immunität</strong><br />
5 Einleitung<br />
von Eric R. Kandel, MD<br />
11 Neuroimmunologie: Zwei Systeme interagieren<br />
von Guy M. McKhann, MD <strong>und</strong> Carolyn Asbury, PhD<br />
Fortschritte in der Hirnforschung im Jahr 2003<br />
21 Neuroimmunologische Erkrankungen<br />
27 In der Kindheit auftretende Störungen<br />
35 Bewegungsstörungen <strong>und</strong> andere Störungen der Motorik<br />
41 Schädigungen des Nervensystems<br />
49 Neuroethik<br />
57 Schmerz<br />
65 Psychiatrische Erkrankungen, Verhaltensstörungen<br />
<strong>und</strong> Suchtkrankheiten<br />
71 Störungen der Sinnes- <strong>und</strong> Körperfunktion<br />
79 Stammzellen <strong>und</strong> Neurogenese<br />
85 Denk- <strong>und</strong> Erinnerungsstörungen<br />
95 Referenzen<br />
103 Stelle Dir eine Welt vor...
Einleitung<br />
von Eric R. Kandel, MD<br />
Als ich die im vorliegenden Bericht zusammengefassten<br />
Fortschritte der Hirnforschung<br />
im Jahr 2003 betrachtete, war ich davon<br />
beeindruckt, wie sehr sich die Dinge im Verlauf<br />
der vier Jahrzehnte, seit ich auf diesem Gebiet<br />
arbeite, verändert haben. Als ich das Medizinstudium<br />
im Jahr 1956 abschloss <strong>und</strong> mich der<br />
Hirnforschung zuwandte, nahmen die meisten<br />
Gr<strong>und</strong>lagenforscher an, zwischen der klinischen<br />
Bedeutung, die ein bestimmtes Problem für<br />
die Neurologie oder Psychiatrie darstellte,<br />
<strong>und</strong> der Möglichkeit, dieses Problem auf der zellulären oder molekularen<br />
Ebene genau anzugehen, bestehe eine umgekehrte Beziehung. Wie die<br />
Seiten des diesjährigen Berichts über bemerkenswerte Fortschritte deutlich<br />
machen, hat sich dies geändert. Zwischen Gr<strong>und</strong>lagenwissenschaft <strong>und</strong><br />
klinischer Forschung liegen nicht mehr Welten. Einige der interessantesten<br />
wissenschaftlichen Fragen der Neurowissenschaft hängen unmittelbar mit<br />
drängenden neurologischen <strong>und</strong> psychiatrischen Problemen zusammen.<br />
Aus der Perspektive der Neurologie lauten diese Fragen: Auf welche Weise<br />
trägt die Immunreaktion zu neurologischen Krankheiten bei? Bestehen bei<br />
den degenerativen Krankheiten gemeinsame Mechanismen? Ist es möglich,<br />
nach einem Schädeltrauma, einer Verletzung des Rückenmarks oder<br />
peripherer Nerven eine klinisch bedeutsame Regeneration zu erzielen?<br />
Aus psychiatrischer Sicht fragen wir: Welche spezifischen Systeme des<br />
<strong>Gehirn</strong>s vermitteln verschiedenartige höhere kognitive Funktionen?<br />
Inwiefern sind sie beim Autismus gestört? Bei der Schizophrenie? Bei der<br />
Depression? Welche Gene sind an diesen Krankheiten beteiligt? Worin<br />
bestehen insbesondere die biologischen Gr<strong>und</strong>lagen von komplexen multigenen<br />
mentalen Störungen <strong>und</strong> welchen Einfluss haben unterschiedliche<br />
Umweltbedingungen?<br />
Diese <strong>und</strong> weitere Fragen werden gegenwärtig auf gr<strong>und</strong>legende<br />
Weise angegangen. Dies hat dazu geführt, dass die Umsetzung von 5
6<br />
Forschungsergebnissen in die klinische Praxis nicht mehr einen begrenzten<br />
Forschungsbereich darstellt, mit dem sich einige wenige Leute in weissen<br />
Kitteln befassen. Sie ist vielmehr das eigentliche Motiv eines grossen Teils<br />
der gegenwärtigen neurowissenschaftlichen Forschung. Während der 90er<br />
Jahre, die als Dekade des <strong>Gehirn</strong>s bezeichnet werden, wurden wir alle zu<br />
Forschenden, welche die gewonnenen Erkenntnisse umsetzen. Während<br />
des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts verwandelt sich dieser Prozess<br />
in die Dekade der therapeutischen Anwendung. Als Folge davon kommen<br />
sich die Bereiche Psychiatrie <strong>und</strong> Neurologie näher. Es ist absehbar, dass in<br />
nicht allzu ferner Zukunft der Tag kommt, an dem Spitalärzte beider Fachbereiche<br />
ein gemeinsames Praktikumsjahr absolvieren werden, vergleichbar<br />
der ärztlichen Weiterbildung in Innerer Medizin, an die sich dann die<br />
Spezialisierung in völlig unterschiedliche Disziplinen wie Herzkrankheiten<br />
oder Magendarmkrankheiten anschliesst. Ich plädiere nicht für den<br />
Zusammenschluss von zwei völlig unterschiedlichen Spezialbereichen mit<br />
völlig unterschiedlichen Verantwortlichkeiten für Patienten <strong>und</strong> unterschiedlichen<br />
Therapieverfahren. Vielmehr weise ich auf die offensichtliche<br />
Tatsache hin, dass sich Neurologie <strong>und</strong> Psychiatrie mit Problemen<br />
befassen, die im selben Organ, dem <strong>Gehirn</strong>, ihren Ursprung haben.<br />
Der vorliegende, hervorragende Bericht fasst die in vielen Bereichen<br />
erzielten Fortschritte zusammen. Ich selbst beschränke mich hier auf<br />
einige Beispiele, um sowohl die Vielfalt als auch die Tiefe der gewonnenen<br />
Erkenntnisse zu illustrieren.<br />
Der Bericht beginnt mit einem ausgezeichneten Aufsatz über Neuroimmunologie<br />
von Guy McKhann <strong>und</strong> Carolyn Asbury, die uns daran erinnern,<br />
dass das Nerven- <strong>und</strong> das Immunsystem, die beiden grossen integrativen<br />
Systeme des Körpers, drei Gemeinsamkeiten aufweisen: 1) einen hohen<br />
Grad an Komplexität, 2) die Fähigkeit, neu gewonnene Informationen in<br />
einer Art Gedächtnis zu speichern, <strong>und</strong> 3) die Fähigkeit, diese Informationen<br />
als Antwort auf einen entsprechenden externen Stimulus abzurufen.<br />
Neu ist die Erkenntnis, dass diese beiden Systeme nicht nur über eine<br />
gemeinsame Logik verfügen, sondern sogar auf verschiedene massgebliche<br />
Weise miteinander interagieren.<br />
Als Erstes möchte ich auf neue Bef<strong>und</strong>e hinweisen, die belegen, dass<br />
immunologisch wichtige Moleküle, von denen man früher angenommen<br />
hatte, sie kämen im <strong>Gehirn</strong> nicht vor, im <strong>Gehirn</strong> vorhanden <strong>und</strong> für<br />
dessen Tätigkeit sogar unentbehrlich sind. In einer bemerkenswerten
Untersuchungsreihe fand Carla Shatz heraus, dass das Haupthistokompatibilitätskomplex-Gen<br />
der Klasse I (MHC), das an der zellulären Immunerkennung<br />
beteiligt ist, in Neuronen exprimiert wird, ebenso wie andere<br />
Komponenten des Signalwegs, an denen die Klasse I MHC-Moleküle<br />
beteiligt sind. Shatz untersuchte eine Vielfalt genetisch veränderter Mäuse<br />
<strong>und</strong> entdeckte, dass die Expression des Klasse I MHC-Proteins während<br />
der Elimination von Synapsen <strong>und</strong> der Feinabstimmung von synaptischen<br />
Verbindungen im Nucleus geniculatum laterale erforderlich ist, einem<br />
Kern, der für die Entwicklung des normalen Sehens notwendig ist. Diese<br />
aussergewöhnlichen Entdeckungen wurden in der Immunologie zuerst<br />
mit Skepsis aufgenommen. Sie werden aber heute allgemein als eine<br />
gr<strong>und</strong>legend neue Erkenntnis anerkannt, welche die Funktion von immunologisch<br />
bedeutenden Molekülen bei der in der Entwicklung erfolgenden<br />
Feinabstimmung von synaptischen Verbindungen im <strong>Gehirn</strong> aufzeigt.<br />
Ausser dass das Nervensystem Moleküle des Immunsystems für eigene<br />
Zwecke in Anspruch nimmt, kann auch eine Veränderung der Immunreaktion<br />
selbst bei Hirnkrankheiten eine entscheidende Rolle spielen.<br />
Besonders aufschlussreiche Beispiele dafür sind die paraneoplastischen<br />
neurologischen Erkrankungen. So beschrieb Jerome Posner das gleichzeitige<br />
Auftreten eines neurodegenerativen Syndroms <strong>und</strong> eines systemischen<br />
bösartigen Tumors bei völligem Fehlen von Metastasen. Posners<br />
Arbeit zeigte auf, dass ein Tumor im Körper mittels molekularem Mimikry<br />
zur Degeneration spezifischer Hirnregionen führen kann. Bestimmte Antigene<br />
in den Tumorzellen induzieren Antikörper, die Immunreaktionen auslösen,<br />
welche sowohl auf den Tumor als auch auf spezifische Hirnstrukturen<br />
gerichtet sind, die dieses Antigen ebenfalls exprimieren. Der sich<br />
ergebende Immunangriff führt zur Degeneration von Nervenzellen. Posner<br />
konzentrierte sich zunächst auf die mit einer Krebserkrankung im Eierstock<br />
<strong>und</strong> im Uterus einhergehende Degeneration des Kleinhirns <strong>und</strong> entdeckte<br />
hohe Titer eines bestimmten Antikörpers gegen ein selektiv in den<br />
Purkinje Neuronen des Kleinhirns exprimiertes neuronales Antigen. Als<br />
Posner andere Krebserkrankungen in diese Untersuchungen einbezog,<br />
entdeckte er, dass Tumorzellen das gleiche Protein exprimierten, das in<br />
Neuronen das angegriffene Antigen darstellte. Da Patienten mit einer<br />
paraneoplastischen neurologischen Erkrankung in erster Linie eine wirksame<br />
Immunreaktion gegen den Tumor aufbauen, reagieren sie besser auf<br />
eine Behandlung des Tumors – eine Entdeckung, welche dazu beigetragen<br />
hat, dass heute Immunverfahren zur Bekämpfung von Krebs eingesetzt<br />
werden. 7<br />
Einleitung
8<br />
Auch wenn keine Krebserkrankung vorliegt, gibt es spezifische gegen sich<br />
selbst gerichtete Reaktionen, wie etwa die Autoimmun-Attacke auf die<br />
Myelinscheide im Falle von Multipler Sklerose deutlich macht. Ausserdem<br />
ist festzuhalten, dass die Beeinflussung in beide Richtungen verläuft. Es<br />
gilt nicht nur, dass das Immunsystem im <strong>Gehirn</strong> präsent ist <strong>und</strong> Krankheiten<br />
verursachen kann, vielmehr hat Janice Kiecolt-Glaser nachgewiesen,<br />
dass umgekehrt auch vom <strong>Gehirn</strong> gesteuerte Prozesse, etwa chronischer<br />
Stress, eine Alterung des Immunsystems bewirken.<br />
Auch im Bereich der schwer zu beeinflussenden Erkrankungen der kognitiven<br />
Funktionen – von Autismus <strong>und</strong> Dyslexie auf der einen Seite bis<br />
hin zu Depression <strong>und</strong> Schizophrenie auf der anderen – haben unsere<br />
Erkenntnisse grosse Fortschritte gemacht. Auch hier spielt die Genetik<br />
eine führende Rolle.<br />
Was Autismus anbelangt, sind Statistiken besorgniserregend, die zeigen,<br />
dass diese Erkrankung das Ausmass einer kleineren Epidemie annimmt.<br />
Die Häufigkeit, mit der diese verheerende Entwicklungsstörung mit den<br />
Hauptsymptomen soziale Isolation, repetitive Bewegungen <strong>und</strong> Kommunikationsprobleme<br />
auftritt, scheint sich in den letzten 20 Jahren etwa verzehnfacht<br />
zu haben. Stephane Jamain hat jetzt zwei Autismus Kandidatengene<br />
auf dem X-Chromosom identifiziert. Bei zwei betroffenen Geschwistern<br />
kodiert das mutierte Gen in ihren beiden Familien ein Neuroligin. Neuroligin-1<br />
ist ein Protein in der postsynaptischen Zelle, das in der präsynaptischen<br />
Nervenzelle ß-Neurexin rekrutiert, was den Aufbau der präsynaptischen<br />
aktiven Zone <strong>und</strong> die Ansammlung von Bläschen zur Folge hat.<br />
Im Gegensatz zu neurologischen Erkrankungen wie der Huntingtonschen<br />
Krankheit oder dem Fragilen-X-Syndrom, bei denen ein einzelnes Gen die<br />
Ursache ist, sind die meisten psychiatrischen Krankheiten polygenetisch.<br />
Sie haben einen komplexen Erbgang <strong>und</strong> werden massgeblich durch<br />
Umwelteinflüsse moduliert. In neueren Studien über Depression findet<br />
man eindeutige Beispiele für eine Gen-Umwelt-Interaktion. Das 5-HTT-<br />
Gen kodiert ein Protein, das Serotonin aus dem synaptischen Spalt entfernt.<br />
Dieses Gen verfügt über einen Promotor, der in zwei allelen Formen<br />
existiert: einer kurzen <strong>und</strong> einer langen. Die lange Form produziert mehr<br />
Transporter <strong>und</strong> entfernt daher Serotonin wirksamer aus den Synapsen als<br />
die kurze Form, die weniger Transporter produziert. Die bahnbrechende<br />
Arbeit von A. Caspi hat nun gezeigt, dass Personen mit zwei Exemplaren<br />
des kurzen Allels mehr zu Angstempfindungen neigen als jene mit zwei
Exemplaren des langen Allels oder mit je einer Kopie von den Allelen.<br />
Zudem sind Personen mit zwei Exemplaren der kurzen Form empfänglicher<br />
für stressbedingte Depression, während jene mit zwei Exemplaren<br />
der langen Form davor geschützt sind.<br />
A. R. Hariri ist diesem Bef<strong>und</strong> auf kreative Weise nachgegangen <strong>und</strong><br />
fragte: Worin unterscheidet sich die Verarbeitung von Umweltstimuli im<br />
<strong>Gehirn</strong> bei Personen mit diesen beiden Varianten des Transportergens? Er<br />
fand, dass Personen mit den kurzen Allelen als Reaktion auf Angst erregenden<br />
Stimuli eine grössere neurale Aktivität in der Amygdala (einer für<br />
die Reaktion auf Gefahr entscheidenden Hirnregion) aufweisen, als Personen<br />
mit dem langen Allel. Wie im vorliegenden Bericht dargestellt, zeigen<br />
diese <strong>und</strong> andere Untersuchungen über die genetische Ursache von<br />
Geisteskrankheiten, dass genetische Variationen einen grossen Einfluss<br />
darauf haben, ob stressvolle Lebensereignisse zu Symptomen einer<br />
Depression oder zu einem Suizidversuch führen. Diese Gen-Umwelt-<br />
Interaktionen erinnern an frühere Bef<strong>und</strong>e des Laboratoriums von Caspi<br />
bezüglich Varianten jenes Gens, das das Enzym Monoamin Oxidase A<br />
(MAOA) kodiert. Eine Form des Gens prädisponiert Kinder, die missbraucht<br />
werden dazu, sich zu gewalttätigen Erwachsenen zu entwickeln,<br />
eine andere Form hingegen tut dies nicht.<br />
In gewissen Bereichen, etwa Sucht <strong>und</strong> Alzheimersche Krankheit, sind wir<br />
im Verlauf des letzten Jahrzehnts von einem beschränkten Wissen zu<br />
einem detaillierten Verständnis der Pathogenese verschiedener Krankheitsaspekte<br />
gelangt, <strong>und</strong> zwar auf Ebenen, die von der Epidemiologie bis<br />
hin zur molekularen Ebene reichen. Dies hat dazu geführt, dass wir nun<br />
auch im Bereich der Therapie entscheidende Entwicklungen erwarten.<br />
Was Sucht anbelangt, wissen wir heute, dass Nikotin die vermutlich am<br />
stärksten abhängig machende Droge ist, der Menschen im Allgemeinen<br />
ausgesetzt sind. Wenn Ratten schon während der Adoleszenz Nikotin<br />
erhalten, haben sie im Erwachsenenalter eine erhöhte Nikotinpräferenz im<br />
Vergleich zu Ratten, die erst als Erwachsene exponiert werden. Zudem<br />
behielten die Ratten, die den Nikotinkonsum während ihrer Adoleszenz<br />
begonnen hatten, dieselben hohen Mengen als erwachsene Tiere bei.<br />
Somit weisen diese <strong>und</strong> frühere Studien zur Einstiegs-Hypothese darauf<br />
hin, dass es möglicherweise der stärkere Konsum von Adoleszenten ist,<br />
der den Weg zur Sucht ebnet. Basierend auf der These von Berke <strong>und</strong><br />
Hyman, die in einer bedeutenden Übersichtsarbeit in Neuron vorgebracht 9<br />
Einleitung
10<br />
wurde, dass Rückfälle eine Form des Lernens darstellen, trainierte U. E.<br />
Ghitza Ratten, einen bestimmten musikalischen Ton mit der Selbstverabreichung<br />
von Kokain zu assoziieren. Ableitungen von einzelnen Neuronen<br />
ergaben in Hirnbereichen, die mit Sucht im Zusammenhang stehen, etwa<br />
dem Nucleus accumbens, starke Reaktionen auf den mit der Droge assoziierten<br />
Ton <strong>und</strong> dies auch nach lang andauernder Abstinenz.<br />
Wie also der vorliegende, ausführliche Bericht über die diesjährigen Fortschritte<br />
verdeutlicht, führt uns die Gr<strong>und</strong>lagenwissenschaft allmählich<br />
zu neuen Erkenntnissen von therapeutischer Tragweite. Diese von der<br />
Stiftung <strong>und</strong> von David Mahoney schon lange zum Ausdruck gebrachte<br />
Hoffnung erfüllt sich somit zunehmend.<br />
Literaturnachweis<br />
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audit. Mov. Disord. 2003; 18: 436-424.
Neuroimmunologie:<br />
Zwei Systeme interagieren<br />
Guy M. McKhann, MD <strong>und</strong> Carolyn Asbury, PhD<br />
In diesem Jahr würdigen wir einen Zweig der Neurowissenschaft, der sich<br />
viele Jahre im Hintergr<strong>und</strong>, gleichsam im Gärstadium befand. Jetzt wird<br />
die Neuroimmunologie zu einem immer wichtigeren <strong>und</strong> aufsehenerregenden<br />
Bereich.<br />
Das Konzept, die Wechselbeziehungen von Neurologie <strong>und</strong> Immunologie<br />
zu betrachten, ist etwa 25 Jahre alt <strong>und</strong> konzentrierte sich anfänglich auf<br />
die Multiple Sklerose (MS), eine Autoimmunerkrankung des <strong>Gehirn</strong>s.<br />
Erkenntnisse der immunologischen Gr<strong>und</strong>lage verschiedener neurologischer<br />
Krankheiten, unterstützt durch atemberaubende neue Techniken<br />
der molekularen Bildgebung <strong>und</strong> der Genetik, führen zu neuen Ansätzen,<br />
um die wechselseitige Beeinflussung des Nerven- <strong>und</strong> des Immunsystems<br />
in Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit besser zu verstehen. Zudem eröffnen diese<br />
Forschungsrichtungen vielversprechende Behandlungen von so unterschiedlichen<br />
Krankheiten wie Alzheimer <strong>und</strong> rheumatoide Arthritis.<br />
Viele Beispiele bestätigen die Prämisse, dass die Neuroimmunologie die<br />
ihr entgegengebrachte wachsende Aufmerksamkeit wohl verdient.<br />
Das Nerven- <strong>und</strong> das Immunsystem sind zwei der kompliziertesten <strong>und</strong><br />
lebensnotwendigsten Systeme des menschlichen Körpers. Seit Jahren<br />
erkannte die Wissenschaft, dass das Nerven- <strong>und</strong> das Immunsystem in<br />
ihrer Komplexität vergleichbar sind. Aber man betrachtete sie als zwei<br />
weitgehend unabhängige, funktionell <strong>und</strong> biochemisch unterschiedliche 11
12<br />
Systeme, wobei das Nervensystem als eher fest verkabelt <strong>und</strong> das Immunsystem<br />
als eher reaktiv galt. Heute erkennt die Forschung, dass diese<br />
Systeme auf der biochemischen <strong>und</strong> zellulären Ebene miteinander auf<br />
ungeahnte Weise in Beziehung stehen.<br />
Weshalb wird die Zusammenarbeit von Wissenschaftern dieser beiden<br />
Gebiete gerade jetzt als Strategie anerkannt, um das Gebiet voranzubringen?<br />
Einesteils liegt dies daran, dass die technischen Fortschritte zu neuen<br />
Forschungsrichtungen führen, denen nur mit Hilfe des Wissens <strong>und</strong> des<br />
Instrumentariums beider Gebiete wirksam nachgegangen werden kann.<br />
Andernteils könnte es daran liegen, dass diese neue Zusammenarbeit die<br />
Forschenden beider Gebiete dazu veranlasst, lange gehegte Annahmen<br />
ihres jeweils eigenen Fachbereichs in Frage zu stellen. Neuroimmunologie<br />
bedingt, wie schon der Name sagt, eine Konvergenz von Perspektiven.<br />
So wissen wir z. B. seit etwa einem Jahrh<strong>und</strong>ert, dass Nervenzellen miteinander<br />
über Verbindungen, die sogenannten Synapsen, kommunizieren.<br />
Jetzt zeigt sich, dass auch Immunzellen untereinander über Synapsen ähnliche<br />
Verbindungen kommunizieren, die anscheinend gemeinsame Merkmale,<br />
einschliesslich gewisser Moleküle, mit den Nervenzell-Synapsen<br />
aufweisen. Und neuerdings weist vieles darauf hin, dass Hirnzell-Synapsen<br />
durch Immunreaktionen im <strong>Gehirn</strong> beeinflusst werden.<br />
Eine weitere Erkenntnis besteht darin, dass dasselbe Molekül, das an der<br />
Zellerkennung des Immunsystems beteiligt ist, auch bei der „Verkabelung“<br />
des <strong>Gehirn</strong>s eine bedeutende Rolle spielt. Man bezeichnet dieses Molekül<br />
als „Haupt-Histokompatibilitätskomplex“ (major histocompatability complex,<br />
MHC). Im Immunsystem nehmen MHC-Moleküle ein Fragment der<br />
Peptide eines eindringenden Erregers auf <strong>und</strong> präsentieren es bestimmten<br />
Immunzellen, damit diese lernen, den Krankheitserreger zu identifizieren<br />
<strong>und</strong> zu bekämpfen. Während der Entwicklung des Nervensystems scheinen<br />
MHC-Moleküle, wie Carla Shatz <strong>und</strong> Mitarbeitende von der Harvard<br />
Medical School kürzlich festgestellt haben, notwendig zu sein, damit eine<br />
Hirnzelle bei der „Verkabelung“ des <strong>Gehirn</strong>s entscheiden kann, zu welcher<br />
anderen sie eine Verbindung herstellt. Einige Forschende vermuten nun,<br />
dass im Immunsystem <strong>und</strong> im Nervensystem dieselbe Genfamilie für das<br />
Erkennen zuständig sein könnte.<br />
Es gibt tatsächlich immer mehr Beispiele dafür, dass einzelne Moleküle,<br />
von denen einst angenommen worden war, ihr Vorkommen sei aufs
Nervensystem beschränkt, inzwischen auch im Immunsystem gef<strong>und</strong>en<br />
wurden. Ausser den MHC-Molekülen gehört dazu auch ein „Semiphorin“<br />
genanntes Molekül, das zur Steuerung von Prozessen bestimmter autonomer<br />
Nervenzellen im Körper beiträgt. Auch auf einigen Immunzellen sind<br />
Semiphorine reichlich vorhanden, ihre Funktion dort ist allerdings noch<br />
ein Rätsel. Ausserdem spielen möglicherweise „Neurotropine“ genannte<br />
Substanzen, die von Nervenzellen produziert werden, eine Rolle bei der<br />
Regulierung von MHC-Molekülen. Diese <strong>und</strong> ähnliche Bef<strong>und</strong>e bezüglich<br />
biochemischer <strong>und</strong> zellulärer Interaktionen zwischen Zellen in den beiden<br />
Systemen beflügelten das Interesse weiter zu ergründen, wie sich die<br />
beiden Systeme wechselseitig beeinflussen.<br />
Gr<strong>und</strong>lagen des Immunsystems verstehen<br />
Um die Implikationen dieser konstanten zellulären Interaktion zu untersuchen,<br />
ist es aufschlussreich, zuerst einige Gr<strong>und</strong>lagen des Immunsystems zu<br />
beschreiben, die sich direkt auf dessen Interaktion mit dem <strong>Gehirn</strong> beziehen.<br />
Das Immunsystem hat zwei Komponenten: eine angeborene <strong>und</strong> eine<br />
adaptive. Die angeborene Immunkomponente ist die erste Verteidigungslinie<br />
des Körpers. Sie löst eine unmittelbare, generalisierte <strong>und</strong> rasche,<br />
wenn auch nur kurz dauernde Reaktion gegen Eindringlinge aus, seien<br />
diese nun Bakterien, Viren, Parasiten oder Pilze. Zu den wichtigsten Typen<br />
der angeborenen Immunzellen gehören Makrophagen, deren Stärke es<br />
ist, Bakterien zu erkennen; Granulozyten, die Bakterien <strong>und</strong> Parasiten<br />
erkennen; dendritische Zellen, die sehr gut Viren erkennen; natürliche<br />
Killerzellen, die bei der Erkennung von Viren <strong>und</strong> Tumorzellen eine Rolle<br />
spielen; sowie Mastzellen, die an allergischen Reaktionen beteiligt sind.<br />
Bei einer Entzündung beispielsweise setzen körpereigene Makrophagen,<br />
wenn sie auf Bakterien stossen, Substanzen, so genannte Zytokine <strong>und</strong><br />
Chemokine frei, die dazu beitragen, dass Granulozyten an den Ort der<br />
Infektion wandern <strong>und</strong> zum Angriff übergehen, was dann die für Infektionen<br />
typische Rötung, Schwellung, Erwärmung <strong>und</strong> den Schmerz verursacht.<br />
Die Makrophagen rufen auch die zweite Verteidigungslinie des Körpers,<br />
die adaptiven Immunzellen, zu Hilfe.<br />
Eine Hauptaufgabe der Makrophagen <strong>und</strong> dendritischen Zellen des angeborenen<br />
Immunsystems besteht darin, den Körper auf Eindringlinge abzusuchen<br />
<strong>und</strong>, falls welche gef<strong>und</strong>en werden, die zweite Verteidigungslinie<br />
des Körpers, die adaptiven Immunzellen, die so genannten „Lymphozyten“<br />
zu aktivieren. Es gibt zwei Arten von Lymphozyten, „B“- <strong>und</strong> „T“-Zellen. 13<br />
Neuroimmunologie: Zwei Systeme interagieren
14<br />
Diese adaptiven Immunzellen führen einen höchst gezielten <strong>und</strong> präzisen<br />
Angriff gegen einen spezifischen Eindringling. Im Allgemeinen ist jeder<br />
Eindringling, der ausserhalb von Körperzellen gef<strong>und</strong>en wird, das Angriffsziel<br />
einer spezifischen B-Zelle, während jeder Eindringling, der in Körperzellen<br />
eindringt, das Angriffsziel einer spezifischen T-Zelle darstellt.<br />
B-Zellen agieren, indem sie Antikörper genannte Moleküle ausscheiden,<br />
die über den Blutkreislauf an die betreffenden Orte gelangen <strong>und</strong> den<br />
Eindringling angreifen. Im Gegensatz dazu gibt es zwei Haupttypen von<br />
T-Zellen mit unterschiedlichen Aufgaben. Den einen Typ nennt man „zytotoxische<br />
T-Zellen“. Diese Zellen greifen einen Eindringling direkt an. Der<br />
andere Typ von T-Zellen trägt dazu bei, B-Zellen <strong>und</strong> Makrophagen<br />
zum Angriff anzuregen. Deshalb bezeichnet man sie als „T-Helferzellen“.<br />
Ist ein spezifischer Eindringling einmal besiegt – sei es durch B-Zellen oder<br />
T-Zellen – werden sich einige der übrig gebliebenen B- oder T-Zellen an<br />
sein Aussehen erinnern <strong>und</strong> eine raschere Reaktion auslösen, falls dieser<br />
Eindringling den Körper irgendwann wieder angreift.<br />
Immunzellen im <strong>Gehirn</strong><br />
Das <strong>Gehirn</strong> gilt als „immun-privilegierter“ Ort. Tatsächlich gibt es im<br />
<strong>Gehirn</strong> nur eine Art von Immunzellen, die Mikroglia. Diese Mikrogliazellen<br />
gleichen den angeborenen Immun-Makrophagen, die man im restlichen<br />
Körper findet. Eine erste Überlegung könnte zur Ansicht führen, die<br />
Mikroglia diene im <strong>Gehirn</strong> nur zur Erkennung von Eindringlingen wie Bakterien<br />
<strong>und</strong> Viren. Aber ganz offensichtlich löst die Mikroglia keine eigentliche<br />
Immunreaktion aus <strong>und</strong> kann in gewissen Fällen sogar Hirnzellen<br />
schädigen. Die Frage nach der Aufgabe der Mikroglia im <strong>Gehirn</strong> liess den<br />
Immunologen Ralph Steinman von der Harvard Universität vorschlagen,<br />
Neuroimmunologen sollten Methoden entwickeln um die Funktionen dieser<br />
so zahlreichen Immunzellen im <strong>Gehirn</strong> kontinuierlich im so genannten<br />
„steady-state“ zu registrieren, in einem Zustand, in welchem keine Infektion<br />
vorliegt. Um dieser Frage nachgehen zu können, werden neue Möglichkeiten<br />
geprüft, die Mikroglia zu markieren <strong>und</strong> ihre Aktivitäten sichtbar<br />
zu machen.<br />
Zusätzlich zu den im <strong>Gehirn</strong> angesiedelten Mikroglia-Zellen des angeborenen<br />
Immunsystems bringen es auch adaptive Immunzellen – die Lymphozyten<br />
– fertig, im <strong>Gehirn</strong> „ein- <strong>und</strong> auszureisen“, um gegen Eindringlinge zu<br />
patrouillieren. Diese Grenzpatrouillen bleiben normalerweise an der Oberfläche<br />
des <strong>Gehirn</strong>s <strong>und</strong> greifen Viren oder Bakterien an, die versuchen
ins <strong>Gehirn</strong> einzudringen. Nichtsdestoweniger stehen Wissenschafter der<br />
Möglichkeit, dass auch Lymphozyten ins Hirngewebe gelangen könnten,<br />
heute offener gegenüber.<br />
Aber auf welche Weise interagieren Hirnzellen <strong>und</strong> Immunzellen im <strong>Gehirn</strong>?<br />
Ebenso wie Nervenzellen miteinander über Synapsen kommunizieren,<br />
verwenden auch Immunzellen – laut Michael Dustin von der Universität<br />
New York <strong>und</strong> David Colman von der McGill-Universität – Synapsen ähnliche<br />
Verbindungen um miteinander zu kommunizieren. Darüber hinaus<br />
gibt es – Kevin Tracey <strong>und</strong> seinem Team vom North Shore Long Island<br />
Jewish Hospital zufolge – verblüffende Hinweise darauf, dass Nerven- <strong>und</strong><br />
Immunzellen über eine gemeinsame molekulare Gr<strong>und</strong>lage der Kommunikation<br />
verfügen, wobei jeweils Zellen des einen Systems Rezeptoren des<br />
andern benutzen, um Signale wechselseitig zu übermitteln. Sollte dem so<br />
sein, eröffnet dies einen völlig neuen Zugang, um die gegenseitige Beeinflussung<br />
der beiden Systeme zu erforschen.<br />
Dustin <strong>und</strong> sein Mitarbeiter an der Universität New York, Wen-Biao Gan<br />
fanden Hinweise, dass Hirnzellsynapsen durch Immunreaktionen im<br />
<strong>Gehirn</strong> beeinflusst werden. Diese Untersuchungen zeigen nicht nur, wie<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich die Neuroimmunologie unser Wissen zu erweitern vermag,<br />
sondern auch wie sehr sich die Art der Forschung an sich verändert, indem<br />
Forschungsergebnisse in wirksame Therapien <strong>und</strong> Präventionsmassnahmen<br />
umgesetzt werden.<br />
Implikationen für viele Krankheiten<br />
<strong>und</strong> deren Behandlung<br />
Der immunprivilegierte Charakter des <strong>Gehirn</strong>s zeigt sich wohl nie so deutlich<br />
wie dann, wenn Hirntumoren auftreten <strong>und</strong> ungehemmt wachsen. Bis<br />
vor kurzem konzentrierte sich die Behandlung von Hirntumoren hauptsächlich<br />
auf Chemotherapie <strong>und</strong> Bestrahlung, um die Teilung <strong>und</strong> das<br />
Wachstum von Krebszellen zu blockieren. Diese Verfahren sind jedoch<br />
nicht präzis, so dass unbeabsichtigt einige nicht krebsartige Zellen getötet<br />
werden, während einige Krebszellen übrig bleiben. Dies führt dazu, dass<br />
der Krebs immer wieder auftritt <strong>und</strong> die Prognose trotz der Behandlungsansätze<br />
nicht besser wurde. Eine andere Möglichkeit könnte allerdings<br />
darin bestehen, die Immunreaktion ausserhalb des <strong>Gehirn</strong>s künstlich zu<br />
stärken. Einige Forschende arbeiten im Laboratorium daran, adaptive<br />
Immunzellen eines Patienten dazu zu bringen, dass sie einen bösartigen<br />
Tumor erkennen; anschliessend sollen diese instruierten Immunzellen die 15<br />
Neuroimmunologie: Zwei Systeme interagieren
16<br />
Fähigkeit erlangen, ins <strong>Gehirn</strong> des Patienten einzudringen <strong>und</strong> den Tumor<br />
anzugreifen.<br />
Andere Forschungsansätze sind jene der Neurochirurgen wie Robert Martuza<br />
von Harvard, die Moleküle gezielt einsetzen, um eine Gentherapie<br />
gegen Hirntumoren zu entwickeln. Einen weiteren Weg hat die Forscherin<br />
Jennifer Allport von Harvard eingeschlagen; sie versucht zu ermitteln, ob<br />
eine Tumorbehandlung auf eine „Progenitor“-Nervenzelle (eine Zelle, die<br />
sich zu einer Hirnzelle entwickeln wird) geladen werden kann, die dann<br />
zum Tumor wandern <strong>und</strong> die therapeutische Wirkung dort ausüben<br />
könnte. Zudem werden individualisierte „therapeutische“ Impfstoffe<br />
gegen den Hirntumor eines Patienten erprobt. Im Gegensatz zu präventiven<br />
Impfstoffen, die Menschen davor schützen, sich mit einer Krankheit<br />
wie Masern anzustecken, sollen therapeutische Impfstoffe das Immunsystem<br />
des Patienten stimulieren, eine bereits bestehende Erkrankung wie<br />
Hirntumor oder Alzheimersche Krankheit wirksamer zu bekämpfen.<br />
Charakteristisch für die Alzheimersche Krankheit sind die Ansammlung<br />
von Ablagerungen des Peptids Beta-Amyloid im <strong>Gehirn</strong> sowie ein Geflecht<br />
von Nervenfasern, die so genannten „neurofibrillären Bündel“. Auch Entzündungen<br />
des <strong>Gehirn</strong>s kommen vor. Wirkt die bei der Alzheimerschen<br />
Krankheit auftretende Akkumulation von Amyloid direkt toxisch auf das<br />
<strong>Gehirn</strong> oder verursacht sie im <strong>Gehirn</strong> eine Entzündungsreaktion? Die Wissenschaft<br />
ist noch nicht in der Lage festzustellen, welche der beiden Möglichkeiten<br />
zutrifft. Es ist also unklar, ob eine Entzündung des <strong>Gehirn</strong>s bei<br />
der Alzheimerschen Krankheit zum Krankheitsverlauf gehört oder dessen<br />
Folge ist. Eine neuartige Methode besteht darin, den Körper mittels eines<br />
therapeutischen Impfstoffes so zu stimulieren, dass er Antikörper gegen<br />
Beta-Amyloid produziert. Es gibt Hinweise dafür, dass diese Methode zu<br />
einer geringeren Akkumulation von Beta-Amyloid führt. Nichtsdestoweniger<br />
entwickelten einige Kranke, die am klinischen Versuch eines therapeutischen<br />
Impfstoffes teilnahmen, eine verstärkte Entzündungsreaktion auf<br />
den Impfstoff. Dies führte dazu, dass der klinische Versuch gestoppt<br />
wurde. Die Verheissung – <strong>und</strong> die Probleme – der Impfmethode werden<br />
in den Abschnitten „Neuroimmunologie“ sowie „Denken <strong>und</strong> Gedächtnis“<br />
des vorliegenden Berichts dargestellt.<br />
Bei einer Entzündung im Körper handelt es sich um die lokalisierte Reaktion<br />
von angeborenen Immun-Makrophagen auf Eindringlinge, oft Bakterien.<br />
Makrophagen setzen Substanzen, so genannte „Zytokine“ frei, welche
die Durchlässigkeit von Blutgefässen erhöhen. Makrophagen setzen auch<br />
„Chemokine“ genannte Substanzen frei, welche die Migration gewisser<br />
angeborener Immunzellen (so genannte Neutrophile) an den Ort einer<br />
Entzündung leiten. Die Akkumulation von Flüssigkeit <strong>und</strong> Neutrophilen<br />
ruft das charakteristische rote, geschwollene, heisse <strong>und</strong> schmerzhafte<br />
Symptom einer Entzündung hervor, wie es etwa auftritt, wenn wir uns das<br />
Knie aufschlagen. Die Makrophagen rufen auch adaptive Immunantikörper<br />
auf den Plan, allerdings dauert es einige Tage, bis diese Reaktion erfolgt.<br />
Eine Entzündung tritt ausser bei der Alzheimerschen Krankheit auch bei<br />
anderen Erkrankungen auf, an denen das Nervensystem beteiligt ist. Eine<br />
dieser entzündlichen Krankheiten, an der das Nervensystem überraschenderweise<br />
beteiligt zu sein scheint, ist die rheumatoide Arthritis.<br />
Rheumatoide Arthritis ist eine von vielen „Autoimmun“-Krankheiten, bei<br />
denen die Immunzellen des Körpers irrtümlich körpereigenes Gewebe für<br />
„fremd“ halten <strong>und</strong> angreifen – ein Vorgang, der noch nicht völlig geklärt<br />
ist. Im Falle der autoimmunen rheumatoiden Arthritis könnte das Problem<br />
zum Teil vom Nervensystem, genauer vom Neurotransmitter Glutamat,<br />
herrühren. Laut Terry McNearney, einem Forscher an der Universität von<br />
Texas-Galveston, wird Glutamat durch sensorische periphere Nervenenden<br />
in Gelenke freigesetzt, was eine Entzündungsreaktion in den Gelenken<br />
hervorrufen könnte. Eine fortdauernde Entzündung kann dann zu<br />
einer Schädigung des Gewebes führen.<br />
Autoimmunität wie im Falle der rheumatoiden Arthritis trägt ganz entscheidend<br />
zu Erkrankungen des Nervensystems bei. Das bekannteste<br />
Beispiel dafür ist Multiple Sklerose (MS). Bei der MS führen Immunzellen<br />
einen fehlgeleiteten Angriff gegen Myelin durch. Diese fetthaltige<br />
Scheide umhüllt <strong>und</strong> isoliert Nervenzellen in <strong>Gehirn</strong> <strong>und</strong> Rückenmark<br />
<strong>und</strong> ist für das Weiterleiten von Signalen von einer Nervenzelle zur<br />
andern unerlässlich. Eine vom kürzlich verstorbenen Charles Janeway Jr.<br />
von Yale <strong>und</strong> seinem Kollegen Michael Carrithers postulierte Hypothese<br />
besagt, die Migrationsroute, auf der Lymphozyten die Oberfläche des<br />
<strong>Gehirn</strong>s in beide Richtungen durchqueren, breche zusammen, so dass<br />
Lymphozyten, die fälschlicherweise gelernt hätten, Myelin anzuvisieren,<br />
über diese Bahn zirkulieren, um anzugreifen.<br />
Ausserdem könnten, so die Forscher Thomas Misgeld <strong>und</strong> Martin<br />
Kerschensteiner von der Universität Washington, auch die angeborenen<br />
Immun-Mikrogliazellen im <strong>Gehirn</strong> eine Rolle spielen, indem sie die Axone 17<br />
Neuroimmunologie: Zwei Systeme interagieren
18<br />
der Nervenzellen angreifen. Solche Autoimmunreaktionen im <strong>Gehirn</strong> führen<br />
zur wichtigen Frage, wie autoimmune Hirnkrankheiten verhindert werden<br />
könnten ohne dabei die Fähigkeit des Immunsystems preiszugeben,<br />
Infektionen des <strong>Gehirn</strong>s wie etwa Meningitis zu verhindern.<br />
Die Verwendung ähnlicher Methoden<br />
zur Untersuchung von Hirn- <strong>und</strong> Immunzellen<br />
Methoden zur Untersuchung von Immuntherapien gegen Hirnkrankheiten<br />
wie etwa die Alzheimersche Krankheit eröffnen nicht nur die Möglichkeit,<br />
mehr über das <strong>Gehirn</strong> zu erfahren, sondern auch die Funktion des<br />
Immunsystems im <strong>Gehirn</strong> genauer kennenzulernen. Verschiedene Methoden,<br />
die ursprünglich zur Untersuchung des einen Systems entwickelt<br />
worden waren, werden heute auf das andere angewendet oder auf die<br />
Interaktion dieser beiden Systeme. So benutzte man etwa die zelluläre <strong>und</strong><br />
molekulare Bildgebung zuerst im Rahmen der immunologischen Krebsforschung<br />
<strong>und</strong> wendet sie heute im Bereich der Neuroimmunologie an. Techniken<br />
der zellulären <strong>und</strong> molekularen Bildgebung erlauben es, einzelne<br />
Nerven- <strong>und</strong> Immunzellen sowie deren Interaktionen sichtbar zu machen.<br />
Einige dieser zellulären Bildgebungsverfahren erlauben es, die Aktivitäten<br />
einer einzelnen Zelle fortlaufend zu verfolgen.<br />
In ähnlicher Weise hat die Neurowissenschaft seit Jahrzehnten mittels<br />
Elektrophysiologie zu verstehen gesucht, wie Substanzen dank Pumpen<br />
<strong>und</strong> Kanälen in Nervenzellen ein- <strong>und</strong> ausströmen. Dies hat zu neuen<br />
Erkenntnissen bezüglich verschiedener Krankheiten des Nervensystems<br />
geführt. Inzwischen benutzt die Immunologie dieselben Methoden, um<br />
die Dynamik von Immunzellen zu verstehen. Da wir gewisse Ähnlichkeiten<br />
des Nerven- <strong>und</strong> Immunsystems erkennen, beginnen wir auch, dieselben<br />
Verfahren anzuwenden, um die Funktionsweise von Zellen in beiden<br />
Systemen zu verstehen. Dank dieser Methoden <strong>und</strong> der Zusammenarbeit<br />
von Neurowissenschaft <strong>und</strong> Immunologie werden sich die Fragen <strong>und</strong><br />
Herausforderungen von heute in die Fortschritte von morgen verwandeln.
Fortschritte<br />
in der<br />
Hirnforschung<br />
im Jahr 2003
Neuroimmunologische<br />
Erkrankungen<br />
Neue Wege der Behandlung von Multipler Sklerose 22<br />
Zusammenhang mit Neuroimmunvorgängen bestätigt 24<br />
Ein Impfstoff gegen die Alzheimersche Krankheit? 26<br />
21
22<br />
Im Bereich der Neuroimmunologie wurden im vergangenen Jahr bemerkenswerte<br />
Fortschritte gemacht. Beispielsweise eröffneten sich 2003<br />
einige viel versprechende neue Möglichkeiten zur Behandlung der Multiplen<br />
Sklerose <strong>und</strong> es ergaben sich auch neue Hinweise auf Zusammenhänge<br />
zwischen der Aktivierung des Immunsystems <strong>und</strong> der Entstehung<br />
gewisser neurologischer Erkrankungen. Umgekehrt entdeckte man auch<br />
eine Bahn, über die das Nervensystem auf das Immunsystem einzuwirken<br />
vermag, was möglicherweise erklärt, auf welche Weise chronischer Stress<br />
die Immunreaktion schwächen <strong>und</strong> eine Erkrankung verursachen kann.<br />
Auch zwischen Immunzellen <strong>und</strong> Schmerz könnte ein Zusammenhang<br />
bestehen (vgl. das Kapitel „Schmerz“, S. 57). Die weiteren Forschungsarbeiten<br />
zur Entwicklung eines sicheren <strong>und</strong> wirksamen Impfstoffs gegen<br />
die Alzheimersche Krankheit haben ebenfalls zu einigen ermutigenden<br />
Resultaten geführt.<br />
Neue Wege der Behandlung von Multipler Sklerose<br />
Bei der Multiplen Sklerose (MS) handelt es sich um eine chronische, progressive<br />
neurologische Erkrankung, von der weltweit etwa eine Million<br />
Menschen betroffen sind 1 . Zwar sind die genauen Krankheitsprozesse<br />
noch nicht völlig bekannt, doch entsteht MS, wenn das Immunsystem<br />
einer Person ihr eigenes Zentralnervensystem (ZNS) angreift. Im Verlaufe<br />
dieses Prozesses wird die Myelinscheide, jene fetthaltige Substanz, die<br />
Nervenzellen isoliert, allmählich zerstört, was zu einem Zusammenbruch<br />
der Kommunikation zwischen Neuronen führt.<br />
Zurzeit gibt es kein Heilmittel für die MS <strong>und</strong> die Behandlung besteht<br />
normalerweise darin, immunsuppressive Medikamente zu verabreichen,<br />
die jedoch nur beschränkt wirksam sind <strong>und</strong> zahlreiche unerwünschte<br />
Wirkungen haben. Aufgr<strong>und</strong> internationaler Anstrengungen, neue effizientere<br />
Behandlungsmethoden zu entwickeln, könnte sich diese Situation<br />
allerdings in einer nicht allzu fernen Zukunft ändern.<br />
Eine neue Vorgehensweise besteht in der Transplantation von Stammzellen<br />
in die geschädigten Gebiete des ZNS, wo sie sich zu reifen Zellen<br />
entwickeln <strong>und</strong> die zerstörte Myelinschicht ersetzen können. Um diese<br />
Möglichkeit zu prüfen, injizierte ein Forschungsteam unter Gianvito<br />
Martino am Spital San Raffaele in Milano adulte Nervenstammzellkulturen<br />
entweder in den Blutkreislauf oder ins ZNS von Mäusen mit einer experimentellen<br />
Autoimmun-Enzephalomyelitis (EAE), einem Tiermodell der MS 2 .<br />
Unabhängig vom Ort der Injektion zeigte sich nach dreissig Tagen, dass
eine beträchtliche Zahl der Spenderzellen in die entzündeten Gebiete des<br />
<strong>Gehirn</strong>s gewandert waren, sich zu reifen Hirnzellen entwickelt hatten <strong>und</strong><br />
das geschädigte Myelin wirksam erneuerten.<br />
Zwar lässt sich noch nicht sagen, ob dieses Verfahren bei Menschen mit<br />
einer MS funktioniert, doch stellten die Forschenden fest, dass die durch<br />
EAE hervorgerufene funktionelle Einbusse bei den transplantierten Mäusen<br />
beinahe völlig behoben war. Bevor sie diese revolutionäre Methode<br />
bei Menschen anwenden, wollen sie sie an nicht menschlichen Primaten<br />
wie etwa den Krallenaffen testen.<br />
Ein weiterer viel versprechender Ansatz zur Behandlung der MS besteht<br />
darin, die für ihre Entstehung verantwortlichen Gene zu identifizieren <strong>und</strong><br />
auszuschalten. Diesen Weg wählten Marcin Mycko <strong>und</strong> seine Mitarbeitenden<br />
von der Medizinischen Hochschule in Lodz, Polen, <strong>und</strong> wandten<br />
eine relativ neue Technik, die so genannte „cDNA Mikroarray-Analyse“ an,<br />
um eine Reihe von Genen zu identifizieren, die mit der Läsionsaktivität bei<br />
MS in Zusammenhang gebracht werden 3 .<br />
Myckos Team analysierte Hirngewebsproben, die vier MS-Kranken weniger<br />
als acht St<strong>und</strong>en nach ihrem Tod entnommen worden waren. Um herauszufinden,<br />
welche Gene aktiv (<strong>und</strong> vermutlich ursächlich) an jenem<br />
destruktiven Prozess beteiligt sind, der bei MS auftritt, verglichen die<br />
Forschenden die Aktivitätsmuster von Genen am Rand <strong>und</strong> im Zentrum<br />
von MS-Läsionen. Frühere Untersuchungen liessen erwarten, dass die<br />
„ursächlichen“ Gene am Rand von Läsionen, nicht aber im Zentrum<br />
aktiviert würden. Aufgr<strong>und</strong> dieser Information (<strong>und</strong> dank der neuen<br />
Mikroarray-Technik) konnten die Forschenden 14 Gene identifizieren, die<br />
an der Entstehung der MS wahrscheinlich massgeblich beteiligt sind.<br />
Wenn diese Gene ausgeschaltet oder blockiert werden, liesse sich nach<br />
Ansicht der Forschenden das Fortschreiten der MS möglicherweise<br />
verhindern.<br />
Eine Forschungsgruppe unter der Leitung des Neurowissenschafters<br />
Lawrence Steinman von Stanford verwendete ebenfalls Mikroarrays (h<strong>und</strong>erte<br />
von winzigen Proteinteilen, die in Reihen <strong>und</strong> Spalten angeordnet<br />
sind), um die Evolution von Autoantikörper-Reaktionen bei Mäusen mit<br />
experimenteller Autoimmun-Enzephalomyelitis darzustellen <strong>und</strong> dann so<br />
genannte „tolerisierende DNA-Impfstoffe“ (tolerizing DNA-vaccines) zu<br />
entwickeln, die zur Bekämpfung der MS eingesetzt werden könnten 4 . Im 23<br />
Neuroimmunologische Erkrankungen
24<br />
Falle der MS könnten solche Impfstoffe das Immunsystem dazu bringen,<br />
Myelin zu tolerieren <strong>und</strong> nicht länger fälschlich als eine nicht körpereigene<br />
Substanz zu betrachten. Dieses Verfahren liesse sich mit den wiederholten<br />
Injektionen zur Behandlung von Allergien vergleichen, die den Körper<br />
gegenüber einer unbedenklichen Substanz desensibilisieren, die vordem<br />
irgendwie eine allergische Reaktion hervorgerufen hatte.<br />
Zwar ist das Konzept von tolerisierenden Impfstoffen nicht neu, doch sind<br />
die von Steinmans Gruppe entwickelten tolerisierenden DNA-Impfstoffe<br />
in der Lage, eine Immuntoleranz gegenüber einem ganzen Spektrum von<br />
Myelin-Proteinen gleichzeitig zu induzieren, was mit den bestehenden auf<br />
Peptiden <strong>und</strong> Proteinen basierenden tolerisierenden Therapien nicht<br />
erreicht werden konnte.<br />
Der Hauptvorteil von tolerisierenden DNA-Impfstoffen besteht darin, dass<br />
sie „massgeschneidert“ einzelnen Patienten <strong>und</strong> Krankheiten angepasst<br />
werden können. Ausserdem lassen sich die von Steinmans Team entwickelten<br />
Myelin-Protein-Arrays auch dazu verwenden, den Schweregrad<br />
der Krankheit zu beurteilen. Den Wissenschaftern zufolge könnten<br />
Protein-Arrays die Diagnose <strong>und</strong> Behandlung der MS sowie weiterer<br />
Autoimmunerkrankungen wie rheumatoider Arthritis <strong>und</strong> Typ-1-Diabetes<br />
revolutionieren.<br />
Zusammenhang mit Neuroimmunvorgängen bestätigt<br />
Letztes Jahr wurden neue Bef<strong>und</strong>e erhoben, die die Beteiligung des<br />
Immunsystems an einer Reihe von neurologischen Krankheiten bestätigen.<br />
Beispielsweise berichteten Timothy Vartanian, ausserordentlicher Professor<br />
an der Harvard Medical School, <strong>und</strong> seine Mitarbeitenden in einem<br />
Artikel in Proceedings of the National Academy of Sciences, dass die Aktivierung<br />
von Mikroglia (Zellen die zur angeborenen <strong>Immunität</strong> des <strong>Gehirn</strong>s<br />
gehören <strong>und</strong> es vor Infektionen schützen), verschiedene Wirkungen hat,<br />
die schliesslich zur Zerstörung von ZNS-Neuronen führen können 5 .<br />
In einem Experiment setzten die Wissenschafter Mäuse während 30 Minuten<br />
einer unnatürlich tiefen Sauerstoffkonzentration (7,7%) aus – eine Versuchsbedingung,<br />
von der sich Mäuse normalerweise erholen können.<br />
Wenn allerdings gleichzeitig auch das angeborene Immunsystem aktiviert<br />
wurde, trugen die Tiere einen irreversiblen Hirnschaden davon. Aufgr<strong>und</strong><br />
dieser Ergebnisse kamen die Forschenden zum Schluss, die Aktivierung des<br />
Immunsystems trage zum Untergang von Zellen im Zentralnervensystem
ei. Zudem könnte dieser Bef<strong>und</strong> auch erklären, auf welche Weise<br />
systemische Infektionen zu einer verstärkten Neurodegeneration führen<br />
können, die bei etlichen neurologischen Erkrankungen auftritt.<br />
Verschiedene neuere Untersuchungen mit einer ähnlichen Versuchsanordnung<br />
kamen zum Ergebnis, dass HMG-CoA-Reduktase-Inhibitoren, so<br />
genannte Statine, auf etliche Neuroimmun-Krankheiten einen positiven<br />
Einfluss auszuüben scheinen. Bei den Statinen handelt es sich um weit<br />
verbreitete Medikamente zur Senkung eines hohen Cholesterinspiegels.<br />
Statine wirken zudem entzündungshemmend <strong>und</strong> dies könnte erklären,<br />
weshalb sie auch zur Behandlung vieler anderer Erkrankungen, einschliesslich<br />
der Alzheimerschen Krankheit (Alzheimer’s disease; AD),<br />
nützlich sein könnten.<br />
Eine von Magnus Sjogren <strong>und</strong> seinen Mitarbeitenden an der Universität<br />
Göteborg, Schweden, durchgeführte Untersuchung ergab, dass eine dreimonatige<br />
Behandlung mit Simvastatin bei 19 Alzheimer-Kranken die mit<br />
dieser Krankheit einhergehende Ansammlung von amyloiden Plaques verzögerte<br />
6 . Den Autoren zufolge ist dies die erste Untersuchung, die den<br />
direkten Nachweis erbringt, dass Statine das Fortschreiten der Alzheimerschen<br />
Krankheit verlangsamen könnten (dies vermutlich aufgr<strong>und</strong> ihrer<br />
entzündungshemmenden Eigenschaften).<br />
Während diese Forschungsarbeit die Beteiligung des Immunsystem an der<br />
Entstehung gewisser neurologischer Erkrankungen nachweist, wurde<br />
umgekehrt auch festgestellt, dass das Nervensystem einen starken Einfluss<br />
auf das Immunsystem ausüben kann. Beispielsweise entdeckte eine<br />
Forschungsgruppe unter Janice Kiecolt-Glaser an der Ohio State University,<br />
dass chronischer Stress zu einer Überproduktion von IL-6 führen<br />
kann; diese Substanz wird vom Immunsystem produziert, fördert Entzündungen<br />
<strong>und</strong> wird mit altersbedingten Krankheiten einschliesslich kardiovaskulärer<br />
Erkrankungen, Osteoporose, Arthritis, Typ-2-Diabetes <strong>und</strong><br />
gewissen Arten von Krebs in Zusammenhang gebracht. In einer in Proceedings<br />
of the National Academy of Sciences publizierten Untersuchung<br />
konnten die Forschenden nachweisen, dass bei einer Gruppe von älteren<br />
Personen, die einen chronisch kranken Ehepartner betreuten, IL-6 signifikant<br />
erhöht war – dies im Vergleich zu einer Gruppe Gleichaltriger, die<br />
keine solche Aufgabe zu erfüllen hatten 7 . Da IL-6 mit einer Reihe altersbedingter<br />
Krankheiten in Zusammenhang steht, könnten die Ergebnisse<br />
dieser Untersuchung zur Erklärung beitragen, wie chronischer Stress 25<br />
Neuroimmunologische Erkrankungen
26<br />
(z. B. die Betreuung eines an der Alzheimerschen Krankheit leidenden<br />
Ehepartners) zu Krankheiten führen kann.<br />
Ein Impfstoff gegen die Alzheimersche Krankheit?<br />
Eine mögliche Methode, die Alzheimersche Krankheit zu behandeln,<br />
basiert auf der Verwendung von therapeutischen Impfstoffen (vgl. das<br />
Kapitel „Denk- <strong>und</strong> Erinnerungsstörungen“, S. 88). Dieser Ansatz beruht<br />
auf der Annahme, eine Impfung von Alzheimer-Kranken mit dem Beta-<br />
Amyloid (ßA)-Peptid, jener Substanz also, die für die Entwicklung der Alzheimerschen<br />
Krankheit als hauptverantwortlich gilt, könnte das Immunsystem<br />
der Patienten dazu veranlassen, die sich im <strong>Gehirn</strong> ansammelnden<br />
amyloiden Plaques anzugreifen <strong>und</strong> zu zerstören. Forschende der Firma<br />
Elan Pharmaceuticals in Kalifornien testeten diese Methode erstmals im<br />
Jahr 1999 an einem Mausmodell von AD <strong>und</strong> begannen – durch die positiven<br />
Ergebnisse ermutigt – 2001 mit ersten klinischen Versuchen an Menschen.<br />
Allerdings mussten diese Versuche anfangs 2002 abgebrochen<br />
werden, da es bei einigen Teilnehmenden zu einer Meningoenzephalitis<br />
(einer Entzündung des <strong>Gehirn</strong>s <strong>und</strong> des angrenzenden Gewebes) kam.<br />
Obwohl die klinischen Versuche gestoppt wurden, konnten Christoph<br />
Hock <strong>und</strong> Mitarbeitende an der Universität Zürich, Schweiz, die die Daten<br />
einer kleinen Anzahl von Kranken analysierten, zeigen, dass sich bei diesen<br />
Kranken als Reaktion auf die Impfung tatsächlich Antikörper gegen<br />
Beta-Amyloid gebildet hatten 8 . Überdies war das Vorhandensein dieser<br />
Antikörper auch mit einem verlangsamten kognitiven Abbau verb<strong>und</strong>en.<br />
Ergebnisse einer Untersuchung von JoAnne McLaurin <strong>und</strong> ihrem Team an<br />
der Universität Toronto in Kanada geben ebenfalls Anlass zu neuem Optimismus<br />
bezüglich der Entwicklung eines wirksamen Alzheimer-Impfstoffs,<br />
der keine Entzündung im <strong>Gehirn</strong> hervorruft 9 . Aufgr<strong>und</strong> einer Reihe von<br />
Experimenten an Mäusen, konnten diese Forschenden feststellen, welche<br />
spezifischen Bereiche des im ursprünglichen Impfstoff verwendeten Antigen-Moleküls<br />
für die Entstehung einer Entzündung verantwortlich waren.<br />
Wenn es gelingt, diese Bereiche zu eliminieren, sollte der Entwicklung<br />
eines sicheren <strong>und</strong> wirksamen Impfstoffs nichts mehr im Wege stehen.
In der Kindheit<br />
auftretende Störungen<br />
Neue Erkenntnisse zur zerebralen Gr<strong>und</strong>lage<br />
des Autismus 28<br />
Bildgebende Verfahren decken die neurale Gr<strong>und</strong>lage<br />
des Lesens <strong>und</strong> der Dyslexie auf 30<br />
Geistige Behinderung besser verstehen 32<br />
Einen Mythos bezüglich Cerebralparetik ausräumen 33<br />
27
28<br />
In der Kindheit auftretende Hirnkrankheiten beruhen im Allgemeinen<br />
auf einem gr<strong>und</strong>legenden Fehler in der normalen Entwicklung. Im<br />
Jahr 2003 setzten die Forschenden ihre Bemühungen fort, diese Krankheiten<br />
auf der molekularen <strong>und</strong> genetischen Ebene zu verstehen. Unser<br />
Verständnis des Autismus, der Dyslexie <strong>und</strong> der verschiedenen Formen<br />
von geistiger Behinderung hat in dieser Zeitspanne bemerkenswerte<br />
Fortschritte gemacht.<br />
Neue Erkenntnisse zur zerebralen Gr<strong>und</strong>lage des Autismus<br />
Beim Autismus handelt es sich um eine verheerende Entwicklungsstörung<br />
mit Symptomen wie emotionaler Rückzug, repetitive Bewegungen <strong>und</strong><br />
Schwierigkeiten, mit anderen zu kommunizieren. Verschiedene neuere<br />
Berichte machen deutlich, dass die Diagnose Autismus immer häufiger<br />
gestellt wird. Dies belegt auch ein Bericht, den Marshalyn Yeargin-Allsopp<br />
<strong>und</strong> Mitarbeitende vom Center for Disease Control and Prevention im<br />
Januar 2003 im Journal of the American Medical Association (JAMA) publizierten;<br />
darin stellten sie fest, dass die allgemeine Verbreitung des<br />
Autismus im Grossraum Atlanta im Jahr 1996 3,4 Promille betrug – also<br />
ungefähr das zehnfache dessen, was in drei amerikanischen Untersuchungen<br />
der späten 80er <strong>und</strong> frühen 90er Jahre berichtet worden war, <strong>und</strong><br />
näher den Verhältnissen, wie sie 2001 in einer Untersuchung aus New<br />
Jersey <strong>und</strong> in verschiedenen neueren europäischen Untersuchungen<br />
festgestellt wurden 10 . Die Frage, ob die Verbreitung des Autismus tatsächlich<br />
zunimmt, oder ob wir es mit der Kombination von einer grösseren<br />
öffentlichen Aufmerksamkeit <strong>und</strong> verbesserten Diagnosetechniken zu tun<br />
haben, ist noch offen.<br />
Die Ursache des Autismus ist weiterhin unklar. Ein strittiger Punkt, den<br />
die meisten Wissenschafter als irreführendes Argument betrachten – die<br />
Ungefährlichkeit von Impfstoffen für Kinder – konnte immer noch nicht<br />
aus der Welt geschafft werden. Allen überwältigenden gegenteiligen<br />
Hinweisen zum Trotz behaupten gewisse lautstarke Befürwortergruppen,<br />
Thimerosal, ein bis vor kurzem bei Impfstoffen für Kinder gebräuchliches<br />
quecksilberhaltiges Konservierungsmittel, verursache Autismus. Zwei dieses<br />
Jahr in Pediatrics veröffentlichte Berichte liefern hingegen zusätzliche<br />
Beweise dafür, dass Thimerosal nicht verantwortlich gemacht werden<br />
kann: Karin B. Nelson <strong>und</strong> Margaret L. Bauman sichteten die bisherigen<br />
wissenschaftlichen Bef<strong>und</strong>e <strong>und</strong> kamen im März zum Schluss, Thimerosal<br />
sei nicht die Ursache von Autismus 11 ; diese Schlussfolgerung wurde<br />
im September durch einen Bericht von Kreesten M. Madsen <strong>und</strong>
Mitarbeitenden gestützt, die feststellten, dass Autismus in Dänemark nach<br />
1992, dem Jahr, in dem dieses Land als eines der ersten thimerosalhaltige<br />
Impfstoffe verboten hatte, häufiger diagnostiziert wurde 12 . Eine separate<br />
Untersuchung von Anders Hviid <strong>und</strong> Mitarbeitenden, die im Oktober in<br />
JAMA veröffentlicht wurde, analysierte die Krankengeschichten aller zwischen<br />
1990 <strong>und</strong> 1996 in Dänemark geborenen Kinder <strong>und</strong> verglich den<br />
Ges<strong>und</strong>heitszustand von mit thimerosalhaltigen <strong>und</strong> thimerosalfreien<br />
Impfstoff behandelten Kindern 13 . Autismus kam in den beiden Gruppen<br />
ungefähr gleich oft vor, ein weiterer Beweis dafür, dass Thimerosal das<br />
Krankheitsrisiko nicht erhöht.<br />
Am besten belegt ist wohl die Annahme, Autismus werde durch die Interaktion<br />
verschiedener Gene verursacht. Forschende haben jahrelang Familien<br />
mit mehr als einem autistischen Kind untersucht <strong>und</strong> gehofft, Hinweise<br />
auf verantwortliche Chromosomen finden zu können – allerdings<br />
ohne grossen Erfolg. Eine im März in Nature Genetics veröffentlichte<br />
Untersuchung scheint jedoch viel versprechend zu sein. Ein französisches<br />
Team unter der Leitung von Stéphane Jamain berichtete, es hätte zwei<br />
Gene auf dem X-Chromosom identifiziert, die möglicherweise zu gewissen<br />
Fällen von Autismus beitrugen 14 . Dieses Chromosom ist besonders<br />
interessant, da viermal so viele Buben von Autismus betroffen sind wie<br />
Mädchen, eine Geschlechtspräferenz, die für mit dem X-Chromosom in<br />
Zusammenhang stehende Krankheiten typisch ist. Die Forschenden untersuchten<br />
158 Personen, in deren Familie Autismus vorkam oder das Asperger<br />
Syndrom, eine zum autistischen Spektrum gehörende Erkrankung, die<br />
durch eine normale oder überdurchschnittliche Intelligenz <strong>und</strong> ausgeprägte<br />
Schwierigkeiten im sozialen Bereich charakterisiert ist. Sie fanden<br />
in einer Familie bei zwei betroffenen Geschwistern eine Mutation des<br />
Gens NLGN3 <strong>und</strong> in einer anderen Familie bei zwei betroffenen Geschwistern<br />
eine Mutation des Gens NLGN4. Für beide Fälle gilt, dass diese<br />
Mutationen bei H<strong>und</strong>erten von Kontrollpersonen nicht zu finden waren.<br />
Sowohl NLGN3 als auch NLGN4, kodieren für Proteine namens Neurologine,<br />
welche an der Kommunikation zwischen Neuronen beteiligt sind.<br />
Neurologine sind den Zellen anhaftende oder „klebrige“ Moleküle, Proteine<br />
also, die es einem Neuron ermöglichen, die richtige Zielstruktur zu<br />
identifizieren <strong>und</strong> mit ihr eine funktionsfähige Synapse zu bilden. Die festgestellten<br />
Mutationen führen zu einer fehlerhaften Form des Proteins, das<br />
dann seinerseits die einwandfreie Bildung von Synapsen beeinträchtigt –<br />
ein gr<strong>und</strong>legender Defekt der neuralen Kommunikation, der die bei<br />
Autismus auftretenden Verhaltensauffälligkeiten erklären könnte. Sollte 29<br />
In der Kindheit auftretende Störungen
30<br />
sich dieser Bef<strong>und</strong> bestätigen, wären dies die ersten Gene, die eindeutig<br />
mit Autismus in Zusammenhang gebracht werden können.<br />
Ein im Juli in JAMA erschienener Bericht eines anderen Teams lieferte weitere<br />
Hinweise darauf, dass Autismus auf einer frühen Abnormität der Hirnentwicklung<br />
beruhen könnte 15 . Eric Courchesne <strong>und</strong> Mitarbeitende an<br />
der University of California, San Diego, sichteten die Krankengeschichten<br />
von 48 autistischen Vorschulkindern <strong>und</strong> gleichaltrigen ges<strong>und</strong>en Kontrollpersonen.<br />
Die Forschenden fanden heraus, dass der Kopfumfang von<br />
Kindern, bei denen später Autismus diagnostiziert wurde, bei der Geburt<br />
kleiner war als normal, sich jedoch während des ersten Lebensjahres plötzlich<br />
drastisch vergrösserte. Der Kopf von autistischen Kindern wuchs im<br />
Verlauf von 6 – 14 Monaten im Durchschnitt vom 25. aufs 84. Perzentil an.<br />
Das Wachstum korrelierte stark mit einem grösseren Hirnvolumen, das<br />
mittels MRI-Scans gemessen wurde, als die Kinder zwei bis fünf Jahre alt<br />
waren. Wie die Autoren schreiben, könnte die Messung des Kopfumfanges,<br />
falls diese Untersuchung bestätigt würde, einen einfachen Weg darstellen,<br />
um Risikokinder zu erfassen <strong>und</strong> die Diagnose zu verfeinern. Janet<br />
E. Lainhart von der Universität Utah hält jedoch in einem Kommentar zu<br />
diesem Bericht fest, auf diese Weise könnten pro 10000 untersuchten<br />
Babys schätzungsweise nur 10 autistische Kinder gef<strong>und</strong>en werden, so<br />
dass der Bef<strong>und</strong> wohl mehr den Forschenden als den klinischen Ärzten<br />
nützen werde 16 .<br />
Bildgebende Verfahren decken die neurale Gr<strong>und</strong>lage<br />
des Lesens <strong>und</strong> der Dyslexie auf<br />
Von einer Dyslexie oder „Wort-Blindheit“, die zu Lese- <strong>und</strong> Lernstörungen<br />
führen kann, sind etwa 5-10% der amerikanischen Bevölkerung betroffen.<br />
Zwei im Jahr 2003 vorgestellte Untersuchungen verwendeten ein bildgebendes<br />
Verfahren in „Echtzeit“, die funktionelle Magnetresonanzbildgebung<br />
(fMRI), um die neurale Gr<strong>und</strong>lage des Lesens zu dokumentieren<br />
<strong>und</strong> spezifische Abnormitäten, die diese Fähigkeit beeinträchtigen,<br />
zu identifizieren.<br />
Guinevere Eden <strong>und</strong> Mitarbeitende berichteten in der Juli-Ausgabe von<br />
Nature Neuroscience über ihre fMRI Studie mit dem Ziel die Hirnregionen<br />
festzustellen, welche während des Lesens aktiviert sind <strong>und</strong> abzuklären,<br />
ob sich das Aktivitätsmuster verändert, wenn sich die Lesefähigkeit bessert<br />
17 . Die Forschenden untersuchten 41 Kinder <strong>und</strong> junge Erwachsene im<br />
Alter von 6 bis 22 Jahren <strong>und</strong> korrelierten den Bef<strong>und</strong> der fMRI-Scans mit
der Lesequalität. Sie stellten fest, dass Kinder, die lesen lernen, mehr <strong>und</strong><br />
mehr den für Sprachverarbeitung verantwortlichen Teil der linken Hirnhälfte<br />
aktivieren. Je besser sie lesen können, umso mehr unterdrücken sie<br />
die Aktivität im „visuellen“ Teil der rechten Hirnhälfte. Diese Untersuchung<br />
liefert einen Hightech-Nachweis für eine Jahrzehnte alte Theorie<br />
des Dyslexie-Forschers Samuel Orton, der bereits 1925 angenommen<br />
hatte, normale Leser lernten, die visuellen Bilder der rechten Hirnhälfte zu<br />
unterdrücken, die die Sprachverarbeitung der linken Hirnhälfte stören<br />
könnten. Die Forschenden aus Georgetown liefern auch erstmals Beweise<br />
dafür, dass verschiedenen Arten der phonologischen Verarbeitung (der<br />
Fähigkeit, Wörter herauszuhören) unterschiedliche neurale Schaltkreise<br />
im <strong>Gehirn</strong> zugr<strong>und</strong>e liegen. Dies bedeutet, dass es verschiedene Unterarten<br />
der Dyslexie geben könnte, die auf spezifischen neuralen Defekten<br />
der phonologischen Verarbeitung beruhen.<br />
Ebenfalls im Juli berichteten Sally E. Shaywitz <strong>und</strong> Mitarbeitende von der<br />
Universität Yale in Biological Psychiatry, dass von Dyslexie Betroffene, die<br />
hinlänglich lesen lernen, ihr <strong>Gehirn</strong> anders einsetzen als jene, deren Leseschwierigkeiten<br />
bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben – <strong>und</strong> beide<br />
Gruppen unterscheiden sich von normalen Lesern 18 . Die Forschenden<br />
untersuchten mittels fMRI drei Gruppen – normale Leser, von Dyslexie<br />
Betroffene, die gut lesen gelernt hatten sowie von Dyslexie Betroffene, die<br />
schlechte Leser geblieben waren. Dabei stellten sie fest, dass Dyslektiker,<br />
deren Lesefähigkeit sich im Laufe der Zeit gebessert hatte, nicht in der<br />
Lage waren, jene neuralen Systeme zu aktivieren, die normalerweise<br />
gebraucht werden, um Töne <strong>und</strong> Sprache zu verarbeiten, sondern die<br />
Aufgaben lösten, indem sie kompensatorisch auf andere Hirnbereiche<br />
zurückgriffen. Als Erwachsene lasen diese Personen zwar langsam, verstanden<br />
aber, was sie lasen. Zu ihrer Überraschung stellten die Forschenden<br />
fest, dass die zweite Gruppe der Dyslektiker, die schlechte Leser<br />
geblieben waren, den richtigen neuralen Schaltkreis zur Verfügung hatte,<br />
um Töne <strong>und</strong> Sprache zu verarbeiten, ihn aber nicht so aktivierte wie normale<br />
Leser. Vielmehr verliessen sich die schlechten Leser auf ihr Gedächtnis,<br />
um die Bedeutung von Wörtern zu verstehen – ein mühsamer <strong>und</strong><br />
wenig effizienter Hirnprozess, der wahrscheinlich das fehlende Leseverständnis<br />
erklärt. Die Untersuchung ist nicht nur deshalb von Bedeutung,<br />
weil sie weitere Erkenntnisse zu jenen Anomalien des <strong>Gehirn</strong>s liefert, welche<br />
Dyslexie verursachen, sondern auch, weil sie zeigt, dass eine verbesserte<br />
Lesefähigkeit eine neurale Gr<strong>und</strong>lage haben könnte. Indirekt unterstreicht<br />
die Untersuchung, wie wichtig eine pädagogische Anleitung ist, 31<br />
In der Kindheit auftretende Störungen
32<br />
die Kinder darin unterstützt, wie auch immer geartete angeborene Abnormitäten<br />
zu kompensieren.<br />
Geistige Behinderung besser verstehen<br />
Geistige Behinderung, zunehmend als allgemeine Entwicklungsverzögerung<br />
verstanden, ist ein weiter Begriff, der über tausend Krankheiten<br />
umfasst, die zu Beeinträchtigungen des Erkenntnisvermögens <strong>und</strong> der<br />
Entwicklung führen 19 <strong>und</strong> oft in unterschiedlicher Ausprägung auftreten<br />
sowie von zusätzlichen medizinischen Komplikationen begleitet werden.<br />
Die American Academy of Neurology <strong>und</strong> die Child Neurology Society<br />
gaben dieses Jahr neue Richtlinien zur Diagnose von geistiger Behinderung<br />
20 heraus, um den Pädiatern die Unterscheidung der verschiedenen<br />
Krankheiten zu erleichtern. Diese soll ihnen behilflich sein, die geeigneten<br />
Untersuchungen anzuordnen, eine Prognose zu stellen, Eingriffe zu planen<br />
<strong>und</strong> mit Komplikationen umzugehen.<br />
Gleichzeitig bemüht sich die Wissenschaft weiterhin herauszufinden,<br />
was eine geistige Behinderung verursacht. Verschiedene in diesem Jahr<br />
veröffentlichte Untersuchungen zeigen, dass die Forschung eine neue<br />
Richtung eingeschlagen hat. Die Forschenden sehen in den verschiedenen<br />
Arten geistiger Behinderung heute nicht mehr so sehr umfassend definierte<br />
chromosomale Erkrankungen (z. B. Trisomie- Erkrankungen wie das<br />
Down-Syndrom <strong>und</strong> mit dem X-Chromosom verb<strong>und</strong>ene Erkrankungen<br />
wie das Fragile-X-Syndrom), sondern konzentrieren sich immer mehr auf<br />
spezifische molekulare Defekte, wobei sie bei scheinbar verschiedenartigen<br />
Krankheiten gewisse Überlappungen feststellen. Dieses Jahr veröffentlichten<br />
beispielsweise Michael V. Johnston <strong>und</strong> Mitarbeitende von der<br />
John Hopkins Universität in Pediatric Research eine Übersicht über neuere<br />
Berichte <strong>und</strong> fanden dabei ein gemeinsames Muster von molekularen<br />
Defekten bei so unterschiedlichen Krankheiten wie der Neurofibromatose<br />
Typ 1, dem Rett-Syndrom <strong>und</strong> verschiedenen mit dem X-Chromosom<br />
assoziierten Syndromen geistiger Behinderung 21 . Die Autoren stellten<br />
fest, dass bei allen Krankheiten die für das Gedächtnis wichtige Abfolge<br />
molekularer Schritte (wissenschaftlich „Signalweg“ genannt) irgendwie<br />
unterbrochen war. Das Lernen kann erfolgen, wenn das <strong>Gehirn</strong> in der Lage<br />
ist, die unmittelbare Erinnerung an ein Ereignis oder eine Fertigkeit in langfristiges<br />
Wissen umzuwandeln. Auf der biologischen Ebene umfasst dies<br />
eine Reihe molekularer Signale, die zwischen den zahlreichen Synapsen<br />
eines Neurons <strong>und</strong> seinem Zellkern hin <strong>und</strong> her gesandt werden. Wenn<br />
dieser Vorgang korrekt abläuft, werden bestimmte Synapsen in einer
Weise verstärkt, die eine Langzeitspeicherung <strong>und</strong> das erneute Abrufen<br />
des Wissens ermöglicht. Verschiedene Arten von geistiger Behinderung<br />
entstehen, wenn genetische Fehler verhindern, dass dieses System richtig<br />
funktioniert. Vorläufig finden diese Untersuchungen zwar noch auf der<br />
Ebene der Gr<strong>und</strong>lagenforschung statt, doch hoffen die Forschenden, die<br />
Bestimmung spezifischer Übertragungsfehler könnte schliesslich zu neuen<br />
Therapieansätzen führen.<br />
Die molekulare Forschungsrichtung hat bei einer verbreiteten Art von<br />
angeborener geistiger Behinderung, dem Fragilen-X-Syndrom, bereits zu<br />
entscheidenden Erkenntnissen geführt. Seit einem Jahrzehnt steht wissenschaftlich<br />
fest, dass sich diese Störung entwickelt, wenn ein genetischer<br />
Defekt Hirnzellen daran hindert, das fragile X-Protein (FMRP) zu bilden;<br />
es blieb jedoch unklar, auf welche Weise der Ausfall dieses Proteins<br />
zu Symptomen wie kognitiven Einbussen <strong>und</strong> Aufmerksamkeitsstörung<br />
führt. In einem Übersichtsartikel, der im März in Trends in Biochemical<br />
Science 22 erschien, berichten Stephen T. Warren <strong>und</strong> Peng Jin von der<br />
Universität Emory über neue Erkenntnisse, dass FMRP bei der Bildung von<br />
synaptischen Verbindungen im <strong>Gehirn</strong> eine entscheidende Rolle spielt.<br />
Der Ausfall des Proteins scheint die synaptische Plastizität, also jene<br />
Abfolge von Veränderungen, die Lernen überhaupt ermöglicht, zu beeinträchtigen.<br />
Die Forschenden konnten auch eine besondere molekulare<br />
Kaskade von Ereignissen identifizieren, die zur Bildung von FMRP führt.<br />
Nun wird untersucht, ob Medikamente, die bestimmte Substanzen in dieser<br />
Kaskade beeinflussen, die Bildung von FMRP auslösen <strong>und</strong> dadurch<br />
eine Behandlung der Krankheit ermöglichen könnten.<br />
Einen Mythos bezüglich Cerebralparetik ausräumen<br />
Die meisten Leute <strong>und</strong> auch viele Ärzte gehen davon aus, dass ein Sauerstoffmangel<br />
bei der Geburt, der medizinische Ausdruck lautet Hypoxie, im<br />
Allgemeinen für verschiedene Arten von frühkindlichen Hirnschädigungen,<br />
einschliesslich der Cerebralparetik, verantwortlich ist. Ein im Januar<br />
2003 vom American College of Obstetricians and Gynecologists <strong>und</strong> der<br />
American Academy of Pediatrics erstellter Bericht räumt diesen Mythos<br />
aus <strong>und</strong> hält fest, dass nur eine von zehn frühkindlichen Hirnschädigungen<br />
auf eine Hypoxie zurückzuführen ist. Die Autoren kommen zum Schluss,<br />
dass die meisten frühkindlichen Hirnschädigungen durch genetische Störungen,<br />
Stoffwechselanomalien, Infektionen, Traumata, vorgeburtlichen<br />
Hirnschlag oder durch eine Kombination von Faktoren im Mutterleib vor<br />
der Niederkunft verursacht werden 23 . Darüber hinaus folgern die Autoren, 33<br />
In der Kindheit auftretende Störungen
34<br />
dass das meist gebräuchliche frühe Warnzeichen zur Beurteilung, ob<br />
eine Hypoxie eintritt – ein abnormaler Herzschlag des Fötus, der Stress<br />
anzeigt – aus einer ganzen Reihe von Gründen auftreten kann <strong>und</strong> deshalb<br />
für sich allein genommen nicht geeignet ist, einen Sauerstoffmangel festzustellen<br />
oder zu verhindern. Zwar lassen sich die meisten frühkindlichen<br />
Hirnschädigungen nicht verhindern, doch hoffen die Wissenschafter, der<br />
Bericht werde dazu beitragen, dass Forschende die Umstände, unter<br />
denen eine Hirnschädigung aufgr<strong>und</strong> einer Hypoxie erfolgt <strong>und</strong> die spezifischen<br />
frühen Warnsignale besser bestimmen können; daraus sollen<br />
schliesslich Richtlinien für Ärzte erarbeitet werden, um diese 10% der Fälle<br />
verhindern zu helfen.
Bewegungsstörungen <strong>und</strong><br />
andere Störungen der Motorik<br />
Wachsendes Interesse an Wachstumsfaktoren 36<br />
Bemerkenswerte Erfolge <strong>und</strong> Misserfolge 38<br />
Stimulierende Nachrichten 39<br />
35
36<br />
Schwierigkeiten mit der Bewegung kommen bei den verschiedensten<br />
Krankheiten vor, angefangen bei den „klassischen“ vom <strong>Gehirn</strong> ausgehenden<br />
Bewegungsstörungen der Neurologie, wie der Parkinsonschen<br />
Krankheit, bis hin zu degenerativen Erkrankungen des Nervensystems,<br />
einschliesslich der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS), bei der die Bewegungskontrolle<br />
auf der Ebene des Rückenmarks unterbrochen wird. Zu<br />
den Symptomen gehört entweder die Unfähigkeit, Willkürbewegungen<br />
zu beginnen <strong>und</strong> zu steuern, oder das Problem, unbeabsichtigte Bewegungen<br />
zu verhindern. Forschungsberichte aus diesen Bereichen widerspiegeln<br />
in den letzten Jahren das gewohnte Muster therapeutischer Fortschritte:<br />
eine Mischung von Begeisterung über das Vorankommen der<br />
Gr<strong>und</strong>lagenwissenschaften, Enttäuschung über Therapieversuche, die<br />
der klinischen Erprobung nicht standhalten, <strong>und</strong> einige Berichte von tatsächlichen<br />
Erfolgen.<br />
Wachsendes Interesse an Wachstumsfaktoren<br />
Die Parkinsonsche Krankheit ist ein gutes Beispiel für die Aufgabe, ein im<br />
Laboratorium entwickeltes Therapieverfahren bei kranken Menschen zur<br />
Anwendung zu bringen. Im Vergleich zu vielen anderen Erkrankungen<br />
hatte die Erforschung der Parkinsonschen Krankheit den Vorteil, dass man<br />
weiss, dass die Bewegungsstörungen direkt durch den Untergang von<br />
Nervenzellen in einem umschriebenen Hirnbereich (der so genannten<br />
Substantia nigra) verursacht werden. Diese Neuronen kommunizieren<br />
über den Neurotransmitter Dopamin mit anderen Bewegungszentren<br />
des <strong>Gehirn</strong>s. Aber das <strong>Gehirn</strong> ist dermassen komplex, dass nicht einmal<br />
diese Kenntnis zu einer Therapie führte, um den Untergang von Neuronen<br />
der Substantia nigra zu verhindern oder zumindest zu verzögern. Die gängigen<br />
Therapien, einschliesslich Levodopa (L-Dopa) <strong>und</strong> Medikamenten,<br />
welche die Wirkungen von L-Dopa imitieren, wirken rein symptomatisch,<br />
wobei es allerdings zu einer jahrelang anhaltenden Besserung kommen kann.<br />
Die meisten gebräuchlichen Therapien der Parkinsonschen Krankheit,<br />
seien sie bereits zugelassen oder noch im experimentellen Stadium, konzentrieren<br />
sich darauf, den durch die Degeneration der Neuronen in der Substantia<br />
nigra verursachten Dopaminmangel zu kompensieren. Inzwischen<br />
hat aber eine transatlantische Zusammenarbeit mit dem Ziel, vor allem die<br />
Degeneration dieser Neuronen zu verhindern, eine interessante therapeutische<br />
Perspektive eröffnet. Nachdem ein vorläufiger Kongressbericht<br />
anfangs 2002 erschienen war (vgl. unseren Jahresbericht 2003), erwartete<br />
man mit Spannung den ausführlichen Bericht des Klinikers Steven Gill
vom Frenchay Hospital in Bristol, Grossbritannien, <strong>und</strong> des Gr<strong>und</strong>lagenwissenschafters<br />
Clive Svendsen von der University of Wisconsin in<br />
Madison über die erfolgreiche Verabreichung eines Wachstumsfaktors<br />
direkt in die an Dopamin verarmten Hirnregionen. In der Mai-Ausgabe<br />
von Nature Medicine berichteten die Forscher, dieses Verfahren habe bei<br />
minimalen Nebenwirkungen zu einer Verbesserung der motorischen<br />
Symptome geführt 24 .<br />
Wachstumsfaktoren sind für die Reifung <strong>und</strong> das Überleben von Nervenzellen<br />
unerlässlich. In Tiermodellen gab es Hinweise, GDNF (glial cell linederived<br />
neurotrophic factor) könnte die Degeneration von Zellen der Substantia<br />
nigra verhindern. Erste Studien am Menschen waren allerdings<br />
zunächst enttäuschend; GDNF, in die Liquorräume der Hirnventrikel verabreicht,<br />
erreichte einerseits nicht die kritischen Hirnregionen <strong>und</strong> führte<br />
anderseits wegen der zur grossen Verteilung im <strong>Gehirn</strong> zu Nebenwirkungen.<br />
Das Team von Gill <strong>und</strong> Svendsen ging noch direkter vor <strong>und</strong> platzierte<br />
einen winzigen Katheter direkt ins Putamen, ein Bewegungszentrum, das<br />
durch den Dopaminmangel besonders stark betroffen ist. Die Kanüle führt<br />
zu einer ins Abdomen implantierten Pumpe, die GDNF kontinuierlich in<br />
kleinen Mengen abgab. Die Ergebnisse scheinen die Theorie zu bestätigen,<br />
wonach der GDNF von Nervenfasern der Substantia nigra, die ins<br />
Putamen reichen, aufgenommen wird. Wenn der Wachstumsfaktor dann<br />
über die Fasern zurücktransportiert wird, unterstützt er die Funktionsfähigkeit<br />
der Dopamin produzierenden Neuronen. Da es sich dabei<br />
nicht um einen kontrollierten Blindversuch handelte <strong>und</strong> nur fünf<br />
Kranke ohne Kontrollgruppe einbezogen wurden, war das Fehlen von<br />
Nebenwirkungen von grösserer Bedeutung als die klinische Besserung.<br />
Weitere Versuche müssen nun die Wirksamkeit <strong>und</strong> Sicherheit dieser<br />
Behandlung bestätigen.<br />
Zwar steht diese Forschung noch im Anfangsstadium, doch geben Wachstumsfaktoren<br />
auch Patienten mit ALS (in Amerika unter der Bezeichnung<br />
Lou Gehrig-Krankheit allgemein bekannt) neue Hoffnung. Die gegenwärtigen<br />
Verfahren zur Behandlung der ALS können die rasch fortschreitende<br />
Degeneration der motorischen Rückenmarksnerven, welche die Muskeln<br />
steuern, nur in geringem Masse verzögern. Die mit dem nicht rezeptpflichtigen<br />
Nahrungsergänzungsmittel Kreatin verb<strong>und</strong>enen Hoffnungen<br />
zerschlugen sich im Jahr 2003, als eine von Leonard H. van den Berg<br />
vom University Medical Center in Utrecht, Niederlande, durchgeführte 37<br />
Bewegungsstörungen <strong>und</strong> andere Störungen der Motorik
38<br />
prospektive kontrollierte Doppelblindstudie bei ALS-Kranken mit Kreatin<br />
keine signifikante Besserung ergab 25 .<br />
Klinische Studien sind indessen im Gange, um Wachstumsfaktoren durch<br />
einen gentherapeutischen Ansatz in die motorischen Rückenmarksnerven<br />
zu bringen (siehe auch das Kapitel „Schädigungen des Nervensystems“,<br />
S. 41). In der am 8. August erschienenen Ausgabe von Science berichteten<br />
Fred Gage <strong>und</strong> Mitarbeitende vom Salk Institute in La Jolla, Kalifornien,<br />
dass sie nahe daran sind eine besonders schwierige therapeutische Hürde<br />
zu überwinden, nämlich die fast <strong>und</strong>urchdringbare Blut-Hirn-Schranke.<br />
Die meisten Medikamente können diese Schranke nicht durchdringen,<br />
durch welche <strong>Gehirn</strong> <strong>und</strong> Rückenmark vor Giftstoffen im Blutkreislauf<br />
geschützt werden. Gage <strong>und</strong> Mitarbeitende entdeckten indessen, dass<br />
gewisse Viren über die Hintertüre der Muskulatur in die motorischen<br />
Rückenmarksnerven gelangen. Die Forschenden luden das Gen für den<br />
Insulinartigen Wachstumsfaktor-1 (IGF-1) im Huckepackverfahren auf ein<br />
unschädliches Virus <strong>und</strong> konnten so am Mäusemodell der ALS das Gen in<br />
motorische Nervenzellen bringen. Die Neuronen begannen, den Wachstumsfaktor<br />
zu produzieren <strong>und</strong> die Lebenserwartung der Mäuse wurde<br />
beinahe verdoppelt 26 . Dieselben Forschenden planen nun eine Studie<br />
am Menschen.<br />
Bemerkenswerte Erfolge <strong>und</strong> Misserfolge<br />
Das jährliche Meeting über Bewegungsstörungen fand Ende 2002 in<br />
Miami statt, also nach Drucklegung unseres letztjährigen Jahresberichts;<br />
wir berücksichtigen es hier, da an diesem Anlass über zwei mit Spannung<br />
erwartete klinische Studien an Parkinson-Kranken berichtet wurde. Die<br />
Ergebnisse waren uneinheitlich. Die gute Nachricht, dass eine frühzeitige<br />
Verabreichung von L-Dopa bei der Parkinsonschen Krankheit den Krankheitsverlauf<br />
nicht zu beschleunigen scheint, wurde von Stanley Fahn<br />
von der Universität Columbia als Vertreter der Parkinson’s Study Group<br />
vorgetragen. Der ELLDOPA-Versuch (Early vs. Late L-Dopa; frühes vs.<br />
spätes L-Dopa) war aufgr<strong>und</strong> des Verdachts durchgeführt worden, eine<br />
frühzeitige Abgabe des Medikaments würde zwar einige Symptome vorübergehend<br />
scheinbar bessern, dabei aber den zugr<strong>und</strong>e liegenden<br />
Krankheitsprozess beschleunigen. Die Studie scheint diese Befürchtungen<br />
zerstreut zu haben 27 .<br />
Weniger ermutigend war ein Bericht von Warren Olanow von der Mount<br />
Sinai School of Medicine in New York City über fötale Zelltransplantate,
der im September 2003 in den Annals of Neurology veröffentlicht wurde.<br />
Olanow <strong>und</strong> seine Kollegen stellten fest, dass bei der Transplantation von<br />
fötalen Dopamin-Neuronen als Ersatz der durch die Parkinsonsche Krankheit<br />
zugr<strong>und</strong>e gegangenen Nervenzellen die negativen Nebenwirkungen gegenüber<br />
den geringen positiven Wirkungen überwiegen; damit bestätigten sie<br />
die Ergebnisse einer ähnlichen vor zwei Jahren durchgeführten Untersuchung.<br />
Ebenso, wie bei der damals negativ ausgefallenen Untersuchung ging es<br />
auch diesmal um zweifelhafte methodische Aspekte im Zusammenhang<br />
mit früheren erfolgreichen Transplantationsstudien. Die Studie von Olanow<br />
<strong>und</strong> Mitarbeitenden war kontrolliert, d. h. einige Kranke erhielten<br />
fötale Zellen während bei anderen nur eine Scheinoperation durchgeführt<br />
wurde. Sie war auch doppelblind; weder die Kranken noch die Ärzte, die<br />
den postoperativen Verlauf verfolgten wussten, welche Kranken fötale<br />
Zellen erhalten hatten <strong>und</strong> welche nicht. Die Krux bei diesen Ergebnissen<br />
bestand darin, dass sich gewisse Symptome bei einigen Kranken besserten,<br />
dass aber bei anderen Kranken motorische Störungen auftraten, die<br />
vor der Operation nicht bestanden hatten <strong>und</strong> wahrscheinlich eine Nebenwirkung<br />
der Transplantate darstellten 28 .<br />
Während Experimente an Tiermodellen fortgeführt werden, sind viele<br />
Ärzte <strong>und</strong> Ärztinnen der Ansicht, eine Anwendung an Menschen solle<br />
vorderhand zurückgestellt werden.<br />
Stimulierende Nachrichten<br />
Eine Ursache, weshalb es manchen Ärzten leicht fällt, sich von den Transplantaten<br />
abzuwenden, ist der Erfolg der tiefen Hirnstimulation (deep<br />
brain stimulation, DBS) durch den so genannten „Hirn-Schrittmacher“ bei<br />
der Parkinsonschen Krankheit <strong>und</strong> anderen Erkrankungen. Der Schrittmacher<br />
selbst wird ins Abdomen eingepflanzt, wobei ein Kabel bis in jene<br />
Bereiche tief im Innern des <strong>Gehirn</strong>s reicht, welche die Bewegung steuern.<br />
Schwache, regelmässig in diese Bereiche abgegebene elektrische Impulse<br />
können Symptome wie Tremor, Starre, Bewegungsverlangsamung, Gehstörungen<br />
<strong>und</strong> das „Einfrieren“ mindern. Obgleich der Mechanismus dieser<br />
Wirkung noch im Dunkeln liegt, steht fest, dass die Stimulation die<br />
Aktivität in Hirnschaltkreisen verändert, die an der Bewegungssteuerung<br />
beteiligt sind.<br />
Im Jahr 2003 trug eine Vielzahl von Forschungsberichten dazu bei, Einsichten<br />
in diese Schaltkreise zu gewinnen. Vier verschiedene Forschungsgruppen 39<br />
Bewegungsstörungen <strong>und</strong> andere Störungen der Motorik
40<br />
– geleitet von Marjorie E. Anderson an der University of Washington<br />
in Seattle; Jerrold L. Vitek an der Emory University in Atlanta, Georgia;<br />
Marc Savasta an der Université Joseph Fourier in Grenoble, Frankreich;<br />
<strong>und</strong> Joel S. Perlmutter an der Washington University in St. Louis, Missouri –<br />
verwendeten verschiedene Verfahren, die unter anderem die Registrierung<br />
der elektrischen Hirnaktivität in den Schaltkreisen 29, 30 sowie die<br />
Bestimmung der Konzentration von Neurontransmittern 31 <strong>und</strong> der Durchblutungsmuster<br />
in diesen Bereichen umfassten 32 . Dank diesen neuen<br />
Erkenntnissen über die Wirkweise der DBS werden die Forschenden<br />
besser bestimmen können, welche Symptome durch die Stimulation<br />
unterschiedlicher Orte im Bewegungsschaltkreis am wirksamsten beeinflusst<br />
werden können.<br />
Diese Fortschritte dürften sich ausser auf die Parkinsonsche Krankheit<br />
auch auf andere Erkrankungen auswirken. Seit mehreren Jahren wenden<br />
Ärzte die DBS versuchsweise bei Patienten an, die an Dystonie leiden, eine<br />
Krankheit, bei der länger dauernde Muskelkontraktionen vorherrschen;<br />
diese können von einem einfachen Schreibkrampf bis hin zu schwerwiegenden<br />
Verrenkungen ganzer Körperpartien reichen, die die Betroffenen<br />
zu einem Leben im Rollstuhl verurteilen. Einige Dystonien beruhen auf<br />
Verletzungen von Hirnbereichen, die Bewegungen steuern, andere haben<br />
eine genetische Ursache, treten oft schon in der Kindheit auf <strong>und</strong> verschlimmern<br />
sich progressiv.<br />
Einzelbeobachtungen weisen deutlich darauf hin, dass DBS in denselben<br />
Bewegungsschaltkreisen, die bei der Parkinsonschen Krankheit stimuliert<br />
werden, bei Dystonie-Kranken zu einer entscheidenden Besserung führen<br />
kann. Da die Wissenschaft Einzelberichten stets skeptisch gegenübersteht,<br />
ist es für Dystonie-Kranke eine gute Nachricht, dass die erste grössere<br />
retrospektive Studie der Wirkung von DBS bei erwachsenen Dystoniepatienten<br />
die positive Wirkung bestätigt. Einem Bericht des<br />
Neurochirurgen Tipu Aziz <strong>und</strong> Mitarbeitenden vom Radcliffe Infirmary in<br />
Oxford, Grossbritannien zufolge, kam es bei den meisten der 25 Dystonie-<br />
Kranken, die in ihrer Klinik mit DBS behandelt wurden, zu dauerhaften<br />
Besserungen. Eine interessante Beobachtung, die allerdings noch verifiziert<br />
werden muss, ist die, dass einige Kranke nach der Operation kontinuierlich<br />
Fortschritte zu machen scheinen. Dies lässt vermuten, dass die elektrische<br />
Stimulation nicht nur den geschädigten Bewegungsschaltkreis<br />
kompensiert, sondern darüber hinaus bis zu einem gewissen Grade eine<br />
Genesung ermöglichen könnte 33, 34 .
Schädigungen<br />
des Nervensystems<br />
Nervenfasern regenerieren 42<br />
Fortschritte in der Gentherapie 43<br />
Stammzellen nutzbar machen 44<br />
Neuroprotektion 46<br />
Akutbehandlung bei Hirnschlag 46<br />
Risiko <strong>und</strong> Prävention von Hirnschlag 47<br />
41
42<br />
Im Jahr 2003 kam die Wissenschaft dem unfassbaren Ziel näher, traumatisiertes<br />
Nervengewebe, etwa infolge eines Hirnschlags oder einer Rükkenmarksverletzung,<br />
zu regenerieren <strong>und</strong> zu reparieren. Verschiedene<br />
neue Entdeckungen zeigten den Weg, wie Axone (die Fasern, die aus dem<br />
Nervenzellkörper herauswachsen <strong>und</strong> Impulse an andere Nervenzellen<br />
übertragen) zum Nachwachsen veranlasst werden können, um eine<br />
verloren gegangene Funktion wieder herzustellen; dies lässt hoffen, dass<br />
die Wiederherstellungsmedizin ihre therapeutischen Versprechen wird<br />
einlösen können.<br />
Nervenfasern regenerieren<br />
Eines der grössten Hindernisse für die Genesung von Rückenmarksverletzungen<br />
ist die Unfähigkeit von Axonen, über die verletzte Stelle hinweg zu<br />
wachsen <strong>und</strong> wieder Verbindungen zwischen Nervenfasern des Rückenmarks<br />
<strong>und</strong> dem Hirn herzustellen. Neuere Bef<strong>und</strong>e lassen uns besser verstehen,<br />
wie gewisse Proteine in der Myelinscheide, welche die Axone isoliert,<br />
das Nachwachsen entweder hemmen oder fördern; diese Fortschritte<br />
führten zu etlichen neuen Ansatzpunkten für therapeutische Interventionen.<br />
Nogo, eine Gruppe von Myelin-Proteinen mit starken inhibitorischen Wirkungen<br />
auf das Nachwachsen von Axonen, weckt weiterhin grosses Interesse.<br />
Drei verschiedene Forschungsteams, die von Martin Schwab von<br />
der Universität Zürich, von Stephen Strittmatter von der Yale Medical<br />
School, bzw. von Marc Tessier-Lavigne von der Stanford University geleitet<br />
wurden, berichteten in der Ausgabe vom 24. April 2003 der Fachzeitschrift<br />
Neuron gleichzeitig über die Entwicklung von drei Stämmen von<br />
„knockout“-Mäusen, denen Subtypen von Nogo fehlten. Unerwarteter<br />
Weise berichteten die Gruppen widersprüchliche Ergebnisse: Strittmatter<br />
fand eine erhebliche Aussprossung der Axone <strong>und</strong> verbesserte motorische<br />
Funktion nach einer Rückenmarksverletzung 35 , Schwab berichtete<br />
von einer gewissen Regeneration von Axonen 36 <strong>und</strong> Tessier-Lavigne fand<br />
überhaupt keine 37 . Weshalb die Ergebnisse so verschiedenartig ausfielen,<br />
ist weiterhin unklar, könnte aber auf technische Unterschiede bei der Entwicklung<br />
der Mäuse zurückzuführen sein <strong>und</strong> darauf, welche weiteren<br />
Proteine möglicherweise betroffen waren. In derselben Ausgabe von Neuron<br />
berichtete ein anderes Team aus Stanford unter der Leitung von Chris<br />
Garcia über die molekulare Struktur des Nogo-Rezeptors <strong>und</strong> lieferte<br />
damit einen detaillierten Rahmen für weitere Untersuchungen, um die<br />
Wirkungen von durch Nogo vermittelten Interaktionen zwischen Proteinen<br />
zu bestimmen 38 . Schwabs Team konnte später nachweisen, dass das
Nogo-A-Protein über drei aktive Regionen verfügt, die je ganz bestimmte<br />
Aspekte der axonalen Inhibition regulieren 39 .<br />
Diese neuen Erkenntnisse über Nogo sollen zur Entwicklung neuer Therapien<br />
führen <strong>und</strong> die Wissenschaft hat bereits wichtige Schritte auf dieses<br />
Ziel hin unternommen. Aufbauend auf Schwabs früherer Arbeit, die ergeben<br />
hatte, dass die Hemmung von Nogo die axonale Regeneration fördert,<br />
wiesen Strittmatter <strong>und</strong> sein Kollege Shuxin Li nach, dass es bei Tieren, die<br />
mit einem Nogo-Rezeptor-Antagonisten (einem Peptid mit der Bezeichnung<br />
NEP1-40) behandelt wurden, nach einer Rückenmarksverletzung zu<br />
einem erheblichen Auswachsen von Axonen, einer Neubildung von Synapsen<br />
<strong>und</strong> einer wesentlichen Besserung der Motorik kam. Zudem fanden<br />
sie diese Ergebnisse selbst dann, wenn mit der Behandlung erst bis zu<br />
einer Woche nach der Verletzung begonnen wurde; dies lässt auf ein therapeutisches<br />
Fenster hoffen, das klinisch praktikabler ist als eine unmittelbare<br />
Verabreichung 40 .<br />
Im Gegensatz zu Nogo handelt es sich bei Semaphorin-7a um ein erst kürzlich<br />
entdecktes Protein, das das axonale Wachstum eher anregt als hemmt<br />
<strong>und</strong> damit unter den Geschwistern einer Proteinfamilie, die für das Abstossen<br />
von Axonen bestens bekannt ist, aus der Reihe tanzt. Ein Team von<br />
Johns Hopkins unter der Leitung von Jeroen Pasterkamp fand heraus, dass<br />
im Labor kultivierte Rattennerven mehr <strong>und</strong> längere Axone an der Stelle<br />
aussprossten, die einer Quelle von Semaphorin-7a am nächsten lag <strong>und</strong><br />
dass Mäuse, denen dieses Protein fehlte, Nervenfasern entwickelten, die<br />
ihr Ziel verfehlten 41 . Nun untersuchen die Forschenden, auf welche Weise<br />
das Protein das Wachstum von Axonen beeinflusst <strong>und</strong> hoffen, Mechanismen<br />
identifizieren zu können, die sich im Sinne einer therapeutischen<br />
Besserung manipulieren lassen.<br />
Fortschritte in der Gentherapie<br />
Forschende am Niederländischen Institut für Hirnforschung untersuchen<br />
die Durchführbarkeit einer Methode der Gentherapie, welche die Regeneration<br />
nach einer zervikalen Rückenmarksverletzung verbessern soll.<br />
Unter der Leitung von Joost Verhaagen beeinflussten die Forschenden<br />
zuerst mit genetischen Methoden Hirnzellen, die den olfaktorischen Nerv<br />
(die sogenannte olfaktorische umhüllende Glia; olfactory ensheathing glia,<br />
OEG) isolieren, so dass sie den Nervenwachstumsfaktor BDNF verstärkt<br />
exprimierten, <strong>und</strong> implantierten diese Zellen dann in ein Rattenmodell für<br />
Rückenmarksverletzungen. Im Vergleich mit unbehandelten Ratten wiesen 43<br />
Schädigungen des Nervensystems
44<br />
behandelte Ratten eine verbesserte funktionelle Erholung auf, was den<br />
Autoren zufolge darauf hinweist, dass die genetische Modifizierung von<br />
OEG nicht nur eine Zelle hervorbrachte, die das Auswachsen von Axonen<br />
wirksamer förderte, sondern dass es auch zu einer beschleunigten<br />
Heilung nach einer Verletzung führen konnte, möglicherweise indem es<br />
die nach einer Verletzung eintretende Degeneration von Rückenmarksgewebe<br />
verhinderte 42 . Fred Gage <strong>und</strong> Mitarbeitende am Salk Institute<br />
benutzten ein adeno-assoziiertes Virus, um therapeutische Moleküle aus<br />
der Muskulatur ins Rückenmark zu transportieren (siehe auch das Kapitel<br />
„Bewegungsstörungen“ S. 35). Die Untersuchung konzentrierte sich zwar<br />
auf ein Mäusemodell der Amyotrophen Lateralsklerose, doch lassen die<br />
Ergebnisse vermuten, dass ein ähnliches Verfahren angewendet werden<br />
könnte, um wachstumsfördernde Proteine sicher <strong>und</strong> wirksam in verletztes<br />
Rückenmark zu transportieren 43 .<br />
Es ist zwar sehr wichtig, die dem Rückenmark inhärenten Mechanismen,<br />
welche die Regeneration von Axonen hemmen, zu überwinden, doch<br />
stellt dies nur einen Teil eines komplizierten Problems dar. Das zweite<br />
Haupthindernis ist das Narbengewebe, das sich am Ort einer Verletzung<br />
bildet <strong>und</strong> für Axone eine Art Strassensperre darstellt. Diese „Glianarbe“<br />
besteht aus dicht gewobenen Astrozyten, sternförmigen Zellen, die Neuronen<br />
nähren <strong>und</strong> stützen. Ein französisches Team unter der Leitung von<br />
Véronique Menet züchtete Knock-out-Mäuse ohne die beiden für den<br />
strukturellen Aufbau von Astrozyten entscheidenden Proteine (saures Gliafaserprotein;<br />
glial fibrillary acidic protein, GFAP <strong>und</strong> Vimentin) <strong>und</strong> stellte<br />
fest, dass es bei diesen Tieren nach einer teilweisen Durchtrennung des<br />
Rückenmarks zu einer verbesserten anatomischen <strong>und</strong> funktionellen Erholung<br />
kam 44 . In einer im August veröffentlichten Arbeit brachten Malika<br />
Boukhelifa <strong>und</strong> Mitarbeitende an der University of North Carolina at Chapel<br />
Hill ein weiteres Protein, Palladin, mit der Bildung des Narbengewebes<br />
in Zusammenhang. Palladin steigt nach Rückenmarksverletzungen schnell<br />
an; dieser Anstieg scheint die Bildung einer Narbe zu ermöglichen, indem<br />
er die Form der Astrozyten beeinflusst 45 .<br />
Stammzellen nutzbar machen<br />
Einen Fortschritt mit Implikationen sowohl für Bewegungsstörungen als<br />
auch für Traumata stellt der von Forschenden am Salk Institut entwickelte<br />
erste Entwurf einer „Zell-Fabrik“ dar, die aus embryonalen Stammzellen Motoneuronen<br />
herstellt. Soo-Kyung Lee <strong>und</strong> Samuel L. Pfaff arbeiteten mit Küken-Embryos<br />
<strong>und</strong> bildeten ein detailliertes Modell dafür, wie Stammzellen
eguliert <strong>und</strong> auf den Weg gebracht werden, dass sie sich zu jener Untergruppe<br />
von Nervenzellen entwickeln, die es dem Körper ermöglichen,<br />
sich zu bewegen. Sie machten zwei Bahnen (bezeichnet als bHLH <strong>und</strong><br />
LIM-D) ausfindig, die zusammenwirken, um die Spezialisierung von<br />
Nervenzellen zu regeln <strong>und</strong> eröffneten damit die Möglichkeit, die zugr<strong>und</strong>e<br />
liegenden Mechanismen für therapeutische Zwecke zu nutzen 46 .<br />
Auch die Anpassung des Stickoxid-Spiegels im <strong>Gehirn</strong> könnte eine wirksame<br />
Strategie darstellen, um durch Hirnschlag oder Krankheit verloren<br />
gegangene Nervenzellen zu ersetzen. Forschende unter der Leitung von<br />
Michael Packer am Cold Spring Harbor Laboratory fanden heraus, dass<br />
Stickoxid ein entscheidender natürlicher Regulator für die Entstehung<br />
neuer Nervenzellen im adulten <strong>Gehirn</strong> ist. Wenn die Stickoxid-Produktion<br />
gehemmt wird, regt dies die Vermehrung neuraler Stammzellen an <strong>und</strong><br />
führt dazu, dass die Zahl der Neuronen, die im <strong>Gehirn</strong> von adulten Ratten<br />
generiert werden, drastisch ansteigt 47 .<br />
Die Verheissungen der Stammzellen in klinische Therapien bei Hirnschlag<br />
umzusetzen bleibt weiterhin eine bedeutende Herausforderung; die vorklinische<br />
Forschung an Tiermodellen für Hirnschlag ist ein entscheidender<br />
Schritt, um die mit der Transplantation von Stammzellen zur Behandlung<br />
dieser Erkrankung einhergehenden potentiellen Vorteile – <strong>und</strong> Risiken –<br />
zu erkennen. Im Hinblick auf dieses Ziel wies ein Forschungsteam unter<br />
der Leitung von Michael Chopp vom Detroit’s Henry Ford Health Sciences<br />
Center an einem Rattenmodell für Hirnschlag nach, dass transplantierte<br />
Vorläuferzellen aus der subventrikularen Zone (der offensichtlichen Herkunft<br />
neuraler Stammzellen) in geschädigte Hirnbereiche wanderten <strong>und</strong><br />
diese Tiere anschliessend bei Tests ihrer Funktionsfähigkeit entscheidend<br />
besser abschnitten 48 . Unabhängig davon behandelte die Gruppe Mäuse<br />
mit Transplantaten einer anderen Art von Vorläuferzellen, Vorläufern des<br />
Endothels, die sich zu jenem Gewebe entwickeln, das die Herz- <strong>und</strong> Blutgefässe<br />
auskleidet. Sie stellten fest, dass die Zellen das Ausmass der Schädigung<br />
nach einem Schlaganfall begrenzten, indem sie das Wachstum<br />
neuer Blutgefässe r<strong>und</strong> um die verletzte Stelle förderten 49 .<br />
Unterdessen erforschen Wissenschafter an der University of South Florida<br />
(USF) alternative Quellen für Stammzellen. Samuel Saporta <strong>und</strong> Mitarbeitende<br />
injizierten aus menschlicher Nabelschnur gewonnene Stammzellen<br />
in Ratten mit Rückenmarksverletzungen <strong>und</strong> wiesen nach, dass die Zellen<br />
an die geschädigte Stelle wanderten <strong>und</strong> die motorische Funktionsfähigkeit 45<br />
Schädigungen des Nervensystems
46<br />
bis zu einem gewissen Grad wiederherstellten 50 . Eine andere Gruppe, die<br />
von Alison Willing von der USF geleitet wird, konzentriert sich auf stammzellartige<br />
Zellen, sogenannte periphere Blut-Progenitorzellen, die aus zirkulierendem<br />
menschlichen Blut gewonnen werden. Sie berichteten, dass die<br />
intravenöse Injektion dieser Zellen bei einem Rattenmodell für schweren<br />
Hirnschlag zu einer „entscheidenden Besserung des Verhaltens“ führte 51 .<br />
Neuroprotektion<br />
Die Suche nach neuroprotektiven Therapien, welche die nach einem<br />
Hirnschlag oder einer anderen Hirnverletzung einsetzende Kaskade<br />
von Nervenschädigungen begrenzen könnte, blieb bisher weitgehend<br />
ohne Erfolg. In etlichen gross angelegten klinischen Studien wurden<br />
Medikamente getestet, von denen man sich aufgr<strong>und</strong> von Tierversuchen<br />
viel versprochen hatte, doch trat bei Menschen die gewünschte Wirkung<br />
nicht ein. Das vergangene Jahr brachte dennoch einige hoffnungsvolle<br />
Entwicklungen. An der International Stroke Conference im Februar wurde<br />
über klinische Bef<strong>und</strong>e berichtet, wonach Hypothermie – das Herabsetzen<br />
der Hirntemperatur – Nervenzellen schützen könnte. Die Idee, das<br />
<strong>Gehirn</strong> durch Kühlung zu schützen, ist zwar mindestens 70 Jahre alt, doch<br />
lebte das Interesse an diesem Verfahren in den vergangenen Jahren<br />
wieder neu auf. Ein von Fritz Sterz von der Universität Wien geleitetes<br />
Team wies nach, dass 59% der Kranken, die nach einem Herzstillstand<br />
mit Hypothermie behandelt wurden, bei anschliessenden neurologischen<br />
Tests „gut abschnitten“; in der Kontrollgruppe waren es 39%. Die Behandlung<br />
wird nun in ersten klinischen Studien weiter untersucht 52 .<br />
Forschende am gemeinnützigen Burnham Institut in Kalifornien berichteten<br />
in Nature, Humanin, ein kürzlich im Rahmen von Untersuchungen zur<br />
Alzheimerschen Krankheit entdecktes kleines Protein, könnte über potente<br />
neuroprotektive Eigenschaften verfügen. Humanin unterdrückt die<br />
Aktivität von Bax, einem Gen, das bei etlichen Krankheiten, einschliesslich<br />
Hirnschlag, den programmierten Zelltod („Apoptose“) auslöst. Dieser<br />
Bef<strong>und</strong> des Erstautors Bin Guo <strong>und</strong> Mitarbeitenden weist darauf hin, dass<br />
Humanin synthetisch hergestellt <strong>und</strong> zu einem injizierbaren Medikament<br />
für die Akutbehandlung von Hirnschlag <strong>und</strong> Herzleiden entwickelt oder<br />
für Anwendungen in der Gentherapie genutzt werden könnte 53 .<br />
Akutbehandlung bei Hirnschlag<br />
Der Gewebe-Plasminogenaktivator (tissue plasminogenactivator, tPA) galt<br />
als Eckstein der Akuttherapie bei Hirnschlag, aber sein klinischer Nutzen
ist begrenzt, da tödliche Nebenwirkungen auftreten können <strong>und</strong> das therapeutische<br />
Fenster auf nur wenige St<strong>und</strong>en nach einem Hirnschlag<br />
begrenzt ist. Anfangs 2003 berichteten Gabriel T. Liberatore <strong>und</strong> Mitarbeitende<br />
von der Monash University in Australien von einer wirkungsvollen<br />
Gerinnung lösenden Substanz, die ursprünglich aus dem Speichel von<br />
Vampir-Fledermäusen gewonnen worden war; diese könne bis zu dreimal<br />
über das bisherige Therapiefenster hinaus verwendet werden <strong>und</strong> führe<br />
zu keinem erhöhten Risiko für weitere Hirnschädigungen. Das Enzym<br />
Desmoteplase (DSPA) ist genetisch mit dem Gerinnung lösenden tPA verwandt<br />
aber um ein Vielfaches wirksamer 54 . Inzwischen fanden Juan-Carlos<br />
Murciano <strong>und</strong> Mitarbeitende an der University of Pennsylvania eine<br />
Möglichkeit, rote Blutkörperchen mit tPA zu überziehen, ein Verfahren,<br />
das angeblich die Verfügbarkeit des Gerinnung lösenden Wirkstoffs im<br />
Blutkreislauf bis auf das Zehnfache erhöht <strong>und</strong> die Wahrscheinlichkeit<br />
einer starken Blutung, einem Hauptrisiko bei der Anwendung von tPA,<br />
verringert. Diese neue Methode der Wirkstoffabgabe war ursprünglich<br />
entwickelt worden, um der Bildung von inneren Blutgerinnseln nach chirurgischen<br />
Eingriffen vorzubeugen, doch die Forschenden glauben, dass<br />
sie auch bei Hirnschlag oder Herzinfarkt gute Dienste leisten könnte 55 .<br />
Risiko <strong>und</strong> Prävention von Hirnschlag<br />
Etliche Untersuchungen tragen dazu bei, die Risikogruppen für Hirnschlag<br />
besser bestimmen zu können, um dadurch den gezielten Einsatz präventiver<br />
Massnahmen zu verbessern. Neue Ergebnisse der Women’s Health<br />
Initiative (WHI), einer von der amerikanischen Regierung gesponserten<br />
Untersuchung an 16608 50-bis 79jährigen Frauen nach den Wechseljahren<br />
(das Durchschnittsalter lag bei 63) heizten eine anhaltende Diskussion<br />
über Hormonersatztherapien (hormone replacement therapy; HRT) weiter<br />
an. Die Kontroverse brach aus, als die Untersuchung im Juli 2002<br />
gestoppt wurde, nachdem Forschende festgestellt hatten, dass Frauen,<br />
die eine Kombination von Östrogen <strong>und</strong> Progestin (estrogen and progestin;<br />
E+P), die gebräuchlichste Form der HRT, einnahmen, im Vergleich zu<br />
Frauen, die ein Placebo erhielten, gehäuft an Brustkrebs, Hirnschlag, Lungenembolie<br />
<strong>und</strong> Herzleiden erkrankten.<br />
Während der E+P-Teil des Versuchs abgebrochen wurde, ging die Auswertung<br />
der Ergebnisse weiter <strong>und</strong> in der Mai-Ausgabe des Journal of the<br />
American Medical Association wurden weitere Berichte publiziert, darunter<br />
auch ein Bef<strong>und</strong>, wonach das Hirnschlagrisiko bei Frauen, die E+P einnahmen,<br />
um 31% höher war. Die Hauptautorin Sylvia Wassertheil-Smoller 47<br />
Schädigungen des Nervensystems
48<br />
<strong>und</strong> Mitarbeitende berichteten, das grösste Risiko betreffe den ischämischen<br />
Hirnschlag, die häufigste Form von Hirnschlag. Ein erhöhtes Risiko<br />
für alle Arten von Hirnschlag fand sich den Forschenden zufolge in allen<br />
Altersgruppen <strong>und</strong> in allen Risikogruppen für Hirnschlag unabhängig<br />
davon, ob die Frauen an Bluthochdruck litten, Herzkreislauferkrankungen<br />
durchgemacht hatten oder Hormone, Statine oder Aspirin eingenommen<br />
hatten.<br />
Kritiker behaupten, die Bef<strong>und</strong>e der WHI seien in Medienberichten übermässig<br />
vereinfacht dargestellt worden <strong>und</strong> die Ergebnisse würden für jüngere<br />
Frauen, die HRT kurz nach der Menopause einnehmen, möglicherweise<br />
nicht gelten, da nämlich die an der Untersuchung teilnehmenden<br />
Frauen eher älter waren <strong>und</strong> viele von ihnen erst 10-15 Jahre nach der<br />
Menopause mit einer HRT begonnen hatten. Gewisse Fachleute bezweifeln<br />
auch, dass die Ergebnisse auf alle Präparate von E+P (der Versuch verwendete<br />
ein Präparat, das unter dem Namen Prempro im Handel ist) <strong>und</strong><br />
auf alle Verabreichungsformen der HRT extrapoliert werden können<br />
(möglicherweise besteht ein ähnliches Risiko nicht bei Pflastern oder vaginaler<br />
Applikation) 56 .<br />
Andernorts berichteten Joachim Schrader <strong>und</strong> Mitarbeitende vom St.<br />
Josefs Spital in Deutschland, das Medikament Atacand, ein selektiver<br />
Angiotensin-II-Typ 1-Rezeptorblocker, könne bei Patienten mit Bluthochdruck<br />
die Anzahl weiterer vaskulärer Komplikationen um 45% senken,<br />
wenn es kurz nach einem akuten Hirnschlag verabreicht werde 57 . Inzwischen<br />
ergab eine von Kristi Reynolds von der Tulane University durchgeführte<br />
Meta-Analyse von 35 Untersuchungen einen Zusammenhang zwischen<br />
mässigem Alkoholkonsum <strong>und</strong> einem verminderten Risiko für<br />
totalen <strong>und</strong> ischämischen Hirnschlag, wohingegen starker Alkoholkonsum<br />
mit einem erhöhten Risiko dieser Hirnschlagformen sowie des hämorrhagischen<br />
Hinschlags verb<strong>und</strong>en war 58 .
Neuroethik<br />
Komplexe Interaktionen 51<br />
Die Leistung des <strong>Gehirn</strong>s steigern 53<br />
Klinische Fragen, kritische Entscheidungen 55<br />
49
50<br />
Neuroethik, die Beschäftigung mit den ethischen Implikationen unserer<br />
wachsenden Fähigkeit das <strong>Gehirn</strong> zu verstehen <strong>und</strong> zu verändern, findet<br />
zunehmend Beachtung. Als Spezialgebiet der Ethik gibt es sie erst seit<br />
2001 <strong>und</strong> die erste formelle Konferenz, die sich mit ihr befasste, wurde im<br />
Jahr 2002 von der <strong>Dana</strong> Fo<strong>und</strong>ation gesponsert <strong>und</strong> von der Universität<br />
Stanford <strong>und</strong> der Universität von Kalifornien, San Francisco, unter dem<br />
Titel „Neuroethik: Das Gebiet abstecken“ organisiert 59 . Sie führte aber<br />
rasch zu einem grossen Interesse der Medien <strong>und</strong> der Wissenschaft, das<br />
auch 2003 anhielt.<br />
Zum einen befasst sich die Neuroethik damit, wie die Gesellschaft mit<br />
den bei Hirnkrankheiten möglichen Bewusstseinsstörungen <strong>und</strong> Kontrollverlusten<br />
umgehen kann, zum anderen erforscht sie auch die ethischen<br />
Implikationen von Methoden, die gewisse Funktionen wie Gedächtnis<br />
<strong>und</strong> Konzentration fördern könnten. Wie soll das Gesetz Personen behandeln,<br />
die keine Kontrolle über ihre Impulse haben – ist es gerecht, sie<br />
zu bestrafen, wenn sie sich gar nicht beherrschen können? Und verschaffen<br />
sich umgekehrt Leute, die Medikamente wie Ritalin benutzen,<br />
das die Konzentration auch dann verbessern kann, wenn keine Krankheit<br />
festgestellt wurde, dadurch einen ungerechten Vorteil? Was, wenn sie<br />
ein Gen erhielten, um eine permanente Verbesserung zu erreichen?<br />
Neuroethische Fragen bezüglich Förderung <strong>und</strong> Beeinträchtigung<br />
wurden im Jahr 2003 an Meetings thematisiert <strong>und</strong> auch wissenschaftlich<br />
angegangen.<br />
Nicht nur das Medieninteresse an Neuroethik blieb gross, auch das<br />
Oberste Gericht schaltete sich mit einer Entscheidung ein; es ging dabei<br />
um einen Fall, in dem sich das Interesse des Staates, einen Betrug strafrechtlich<br />
zu verfolgen, <strong>und</strong> das Recht eines psychotischen Angeklagten,<br />
keine psychoaktiven Medikamente einzunehmen, gegenüberstanden.<br />
Im Juni organisierte die New York Academy of Sciences ein Meeting zur<br />
Ethik einer Leistungssteigerung des <strong>Gehirn</strong>s; die daraus resultierenden<br />
ethischen Richtlinien für Entscheidungsträger sollen dieses Jahr veröffentlicht<br />
werden. Im September führte die American Association for the<br />
Advancement of Science zum Thema Neurowissenschaft <strong>und</strong> Recht eine<br />
Konferenz für eingeladene Teilnehmende durch, die sich damit befasste,<br />
wie das Rechtssystem mit Beeinträchtigungen, etwa einer Sucht, umgehen<br />
sollte, die den freien Willen <strong>und</strong> die gesetzliche Haftung in Mitleidenschaft<br />
ziehen können. Die Teilnehmenden kamen zum Schluss, zurzeit
estehe kein Handlungsbedarf. Am Meeting der Society for Neuroscience<br />
im November hielt Donald Kennedy, der Chefredaktor von Science, einen<br />
Vortrag über die Zukunft der Neuroethik <strong>und</strong> unterschied zwischen ethischen<br />
Fragen bezüglich Forschung <strong>und</strong> Behandlung <strong>und</strong> solchen, die eine<br />
reine Leistungssteigerung betreffen. Er diskutierte auch das Problem der<br />
Privatsphäre, das durch Verfahren wie fMRI aufgeworfen wird, die eines<br />
Tages in der Lage sein könnten, „Gedanken zu lesen“ sowie ethische Fragen,<br />
die einen weiteren potentiellen Einsatz dieser Techniken betreffen:<br />
das Verhalten von Konsumenten vorherzusagen <strong>und</strong> möglicherweise<br />
gezielt zu steuern.<br />
Im Oktober veröffentlichte der Bioethikrat des Präsidenten den Bericht<br />
Jenseits der Therapie: Biotechnologie <strong>und</strong> die Suche nach Glück (Beyond<br />
Therapy: Biotechnology and the Pursuit of Happiness), der zum grossen<br />
Teil auf ausschliesslich neuroethische Fragen einging, wie Gedächtnissteigerung,<br />
Stimmungsaufhellung <strong>und</strong> den Einsatz von Medikamenten<br />
zur Verbesserung des Verhaltens von Kindern. Zwei Herausgeber, Reganbooks<br />
<strong>und</strong> <strong>Dana</strong> Press, stellten diesen Bericht im Dezember in einer für<br />
den Verkauf in Buchläden bestimmten Neuauflage einem breiten Publikum<br />
zur Verfügung. Die <strong>Dana</strong>-Version enthielt verschiedene zusätzliche<br />
Punkte, darunter auch Kommentare von wissenschaftlichen Ratsmitgliedern,<br />
die zur Vorsicht mahnten <strong>und</strong> betonten, dieser Bericht „diene<br />
lediglich dazu, eine Diskussion anzuregen, könne aber keine Schlussfolgerungen<br />
vorlegen“. Der Bericht, so schrieben sie, sei ein Anfang, aber<br />
keine wissenschaftliche Analyse, <strong>und</strong> einige der darin als künftig möglich<br />
dargestellten ethischen Probleme, etwa die genetische Selektion von<br />
Embryonen bezüglich des Temperaments, seien in Wirklichkeit höchst<br />
unwahrscheinlich, da sich die wissenschaftliche Arbeit, die solche Bedenken<br />
rechtfertigen könnte, möglicherweise gar nicht als durchführbar<br />
erweisen werde.<br />
Komplexe Interaktionen<br />
Ein von Avshalom Caspi <strong>und</strong> Mitarbeitenden im Juli in Science 60 veröffentlichter<br />
Artikel (siehe auch das Kapitel „Psychiatrische Erkrankungen, Verhaltensstörungen<br />
<strong>und</strong> Suchtkrankheiten“ S. 65) hat die Neuroethiker<br />
besonders fasziniert. Darin wurde festgestellt, dass Leute mit einer<br />
bestimmten Variante des Serotonin-Transporter-Gens 5-HTT auf entscheidende<br />
Lebenskrisen eher mit einer Depression reagierten als jene mit<br />
einer anderen Variante. Jene mit der längeren Form des Gens produzierten<br />
in grösserer Menge ein Protein, das Serotonin aus den Synapsen entfernt, 51<br />
Neuroethik
52<br />
was zu einer effizienteren Übertragung führt. Die kürzere Form produziert<br />
weniger von diesem Protein. Da der Mensch von jedem Gen zwei Kopien<br />
bekommt, je eine von jedem Elternteil, bestehen zahlreiche Permutationen<br />
– wobei festgestellt wurde, dass die Mehrheit der Bevölkerung über je<br />
eine Kopie der kurzen <strong>und</strong> der langen Form verfügt. Jene mit zwei langen<br />
Genen sind vor stressinduzierter Depression besonders gut geschützt;<br />
jene mit zwei kurzen sind dafür besonders anfällig.<br />
Die genetischen Unterschiede scheinen jedoch nur dann einen entscheidenden<br />
Einfluss zu haben, wenn die Forschenden die Zahl der stressigen<br />
Lebenserfahrungen in Betracht zogen, die die Personen gemacht hatten.<br />
Der Artikel zeigte eindeutig auf, wie kompliziert die Interaktion von Genen<br />
<strong>und</strong> Umwelt ist <strong>und</strong> machte klar, dass neuroethische Entscheidungen<br />
bezüglich Screening <strong>und</strong> Intervention alles andere als einfach sein werden.<br />
Würden Eltern beispielsweise erfahren wollen, ob ihr ungeborenes<br />
Kind zwei Kopien der kurzen Form hat? Wie könnten sie im Voraus wissen,<br />
mit welchem Stress ihr Kind dereinst konfrontiert wird? Würde ein<br />
solches Kind später durch Arbeitgeber oder Versicherungen diskriminiert<br />
werden, falls es eine mit hohem Stress verb<strong>und</strong>ene Stelle anstreben<br />
sollte? Zu Recht?<br />
Frühere Forschungsarbeiten derselben Gruppe warfen sogar noch kniffligere<br />
neuroethische Fragen auf 61 . Es hatte sich nämlich herausgestellt,<br />
dass sich Leute mit einer bestimmten Genvariante, falls sie als Kinder missbraucht<br />
wurden, mit grösserer Wahrscheinlichkeit zu gewalttätigen<br />
Erwachsenen entwickelten als jene mit einer anderen Form dieses Gens.<br />
Beim betroffenen Gen handelte es sich um das Enzym MAO-A, das mehrere<br />
unterschiedliche Neurotransmitter beeinflusst. „Macht“ dieses Gen<br />
aus Leuten, die als Kind missbraucht wurden, Missbraucher? Falls ja, sollte<br />
das Rechtssystem dies berücksichtigen ? Wie? Im Jahr 2003 kamen Teilnehmende<br />
der American Association for the Advancement of Science zum<br />
Schluss, die Gerichte sollten sich nicht mit solchen Fragen beschäftigen.<br />
Aber ähnliche Fragen werden sich sicher stellen.<br />
Der Beschluss des obersten Gerichts in Sachen Sell vs. United States<br />
zeigte, dass sich das Justizsystem bereits mit neuroethischen Fragen auseinandersetzt,<br />
wenn es um Behinderungen geht, die auf Hirnkrankheiten<br />
beruhen. Es befasste sich mit der Frage, wann der Staat Angeklagte, die<br />
infolge ihrer Hirnkrankheit schuldunfähig sind, zu einer medizinischen<br />
Behandlung zwingen darf.
Der Angeklagte, Dr. Charles Sell, ein in St. Louis lebender Zahnarzt, wurde<br />
des Versicherungsbetrugs bezüglich der Medicaid beschuldigt, aber<br />
wegen seines paranoiden Wahns als unzurechnungsfähig eingestuft.<br />
Obwohl man davon ausging, er stelle für niemanden eine Gefahr dar,<br />
wollte Missouri ihn zwangsbehandeln, um ihn dann strafrechtlich verfolgen<br />
zu können. Das Gericht befand, das staatliche Interesse, einen<br />
Betrug strafrechtlich zu ahnden, sei nicht so zwingend, dass es dazu<br />
berechtige, eine ungefährliche Person medizinisch zu behandeln. Sell, der<br />
bereits inhaftiert war <strong>und</strong> auf die Gerichtsverhandlung wartete, verbrachte<br />
mehr Zeit im Gefängnis, bis seinem Anspruch, sich nicht behandeln zu<br />
lassen, stattgegeben wurde als wenn er wegen der Betrugsklage verurteilt<br />
worden wäre.<br />
Verschiedene Neuroethiker, die sich nachträglich mit dem Fall befassten,<br />
hielten diese Entscheidung für richtig: Da Sell die geltende Norm für eine<br />
zwangsmässige psychiatrische Behandlung nicht erfüllte (die Person muss<br />
für sich selbst oder für andere eine Gefahr darstellen), wiegt das Interesse<br />
des Staates, einen Betrug zu ahnden nicht schwerer als das Recht des<br />
Patienten zu entscheiden, welche medizinische Behandlung er akzeptiert.<br />
Die durch Sell aufgeworfenen Fragen – ob es sich bei der medizinisch<br />
behandelten Person <strong>und</strong> bei der, die das Verbrechen begangen hat, um<br />
die gleiche Person handelt <strong>und</strong> wann der Staat das Recht hat, mittels<br />
Beeinflussung der Hirnchemie die Denkabläufe einer Person zu verändern<br />
– zeigen, dass die Gerichte bereits beginnen, sich den Herausforderungen<br />
der Neuroethik zu stellen.<br />
Die Leistung des <strong>Gehirn</strong>s steigern<br />
Eine andere im Jahr 2003 veröffentlichte Forschungsarbeit warf die Frage<br />
der Leistungssteigerung auf, da Wissenschafter bekannt gaben, sie hätten<br />
einen Chip entwickelt, der die Funktion eines für das Gedächtnis entscheidenden<br />
Gebietes, des Hippocampus, ausüben könne 62 . Zwar wurde der<br />
Chip nur an Hirnzellen von Ratten demonstriert – nicht einmal an einer<br />
lebenden Ratte – da aber Menschen über eine gleichartige Hirnregion verfügen,<br />
sind die Implikationen sowohl verheissungsvoll als auch erschreckend.<br />
Woran wir uns erinnern wollen – <strong>und</strong> was wir vergessen wollen – macht<br />
einen entscheidenden Teil unserer Persönlichkeit aus; <strong>und</strong> die Art <strong>und</strong><br />
Weise, wie wir diese Erinnerungen färben, beeinflusst auch unsere<br />
zukünftigen Entscheidungen. Wie könnten wir im Voraus wissen, wie<br />
ein ins <strong>Gehirn</strong> eingebauter mechanischer Gedächtnis-Chip unser Denken 53<br />
Neuroethik
54<br />
<strong>und</strong> Fühlen beeinflusst? Ist es denkbar, dass irgendjemand eine Einverständniserklärung<br />
abgibt, dies auszuprobieren? Ethiker vermuten, dass<br />
eine hochgradige Steigerung des Gedächtnisses sich auf Intelligenz <strong>und</strong><br />
Persönlichkeit insgesamt auswirken würde; <strong>und</strong> dies legt nahe, dass<br />
jemand, der eine solche Leistungssteigerung ausprobieren würde, tatsächlich<br />
eine andere Person werden könnte. Welche Auswirkungen<br />
hätte dies auf Beziehungen – lässt sich das im Voraus ausreichend abschätzen,<br />
so dass die betroffenen Personen eine entsprechende Entscheidung<br />
treffen können?<br />
Ähnliche Fragen werden bereits im Zusammenhang mit dem Einsatz von<br />
Medikamenten zur Behandlung der Alzheimerschen Krankheit aufgeworfen.<br />
Neuroethiker stellen fest, dass einige Medikamente, die bei der Alzheimerschen<br />
Krankheit verabreicht werden – ihre Wirkung ist allerdings<br />
gering – auch das Gedächtnis von nicht an dieser Krankheit Leidenden<br />
verbessern können. Neue Medikamente mit stärkerer Wirkung <strong>und</strong> wenig<br />
Nebenwirkungen könnten zweifellos ebenfalls zur Leistungssteigerung<br />
benutzt werden.<br />
Ethiker betonen, dass die Leistungssteigerung seit Urzeiten ein Charakteristikum<br />
der menschlichen Gesellschaft darstellt. Fast jeder Gebrauch von<br />
Substanzen, vom Kaffeetrinken bis zum Kokain, geht zumindest kurzfristig<br />
mit dem Gefühl einer Steigerung der Emotion einher, etwa dem Gefühl<br />
von Erregung, Kraft sowie erhöhter Motivation, <strong>und</strong> viele Substanzen steigern<br />
die Konzentrationsfähigkeit.<br />
Aber wir sind immer noch unsicher, wo wir die Grenze ziehen sollen;<br />
<strong>und</strong> so streiten wir endlos über den Einsatz von Ritalin bei Schulkindern,<br />
nehmen Leute fest, weil sie bestimmte Substanzen konsumieren <strong>und</strong><br />
verschreiben gleichzeitig andere, die ebenfalls mit spezifischen Gefahren<br />
verb<strong>und</strong>en sind.<br />
Ein neues Stimulans, Modafinil (Provigil), wird von Neuroethikern aufmerksam<br />
verfolgt, da zu erwarten ist, dass es bald schon nicht mehr ausschliesslich<br />
bei Narkolepsie verschrieben wird – jener Schlafstörung für<br />
die es von der Amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA (Food and Drug<br />
Administration) zugelassen wurde – sondern auch im Zusammenhang mit<br />
normaler Ermüdung. Diesem Szenario ist man im Jahr 2003 tatsächlich einen<br />
Schritt näher gekommen, als die FDA empfahl, die Zulassung so auszuweiten,<br />
dass die pharmazeutische Firma das Mittel auch für Schichtarbeiter
anwenden dürfe, deren Schlaf infolge der Nachtarbeit gestört ist. Zwar ist<br />
bisher noch kein Schwarzmarkt dafür entstanden, doch weisen Ethiker<br />
darauf hin, dass seine potentielle Leistungssteigerung durchaus dazu führen<br />
könnte.<br />
Klinische Fragen, kritische Entscheidungen<br />
Auch die Diskussion über die Grenzen der neuen Disziplin Neuroethik<br />
geht weiter. Einige sind der Ansicht, die klinische Neuroethik werde<br />
vernachlässigt. Die meisten Konferenzen <strong>und</strong> Diskussionen z. B. befassten<br />
sich mit den ethischen Implikationen von Fortschritten im Bereich<br />
der Neurowissenschaft, <strong>und</strong> vernachlässigten die Fragen, was für Patienten<br />
<strong>und</strong> ihre Familien getan werden sollte, die vor der Entscheidung<br />
stehen, wie Hirnkrankheiten behandelt (<strong>und</strong> wann sie nicht behandelt)<br />
werden sollten.<br />
Neuroethiker betonen, ethische Fragen im Zusammenhang mit einer<br />
Leistungssteigerung des <strong>Gehirn</strong>s seien zurzeit viel dringlicher als jene, die<br />
mit Genetik zusammenhängen. Zwar würden die Vorstellung, menschliche<br />
Gene zu verbessern <strong>und</strong> die mit dieser Möglichkeit verb<strong>und</strong>enen<br />
ethischen Implikationen allgemein diskutiert, doch seien die verfügbaren<br />
Techniken noch weit davon entfernt, solches Realität werden zu lassen.<br />
Die Komplexität der Gen-Umwelt-Interaktionen, wie sie etwa in den<br />
Untersuchungen über Depression <strong>und</strong> Gewalttätigkeit deutlich wurde,<br />
zeigt, dass wir noch lange nicht in der Lage sein werden, glücklichere,<br />
gescheitere <strong>und</strong> nettere Menschen zu herzustellen. Aber Provigil, Ritalin<br />
<strong>und</strong> andere Medikamente zur Funktionssteigerung des <strong>Gehirn</strong>s existieren<br />
schon heute – <strong>und</strong> führen unter Ethikern bereits zu Meinungsverschiedenheiten.<br />
Neuroethik<br />
55
Schmerz<br />
Opiate ohne die Schattenseite der Atemhemmung 58<br />
Die Stimulierung von CB2-Cannabinoid-Rezeptoren<br />
lindert neuropathischen Schmerz 59<br />
Gen-Therapie zur Schmerzbekämpfung 60<br />
Geschlechtsunterschiede bei Schmerz<br />
<strong>und</strong> Analgesie erklärt 62<br />
57
58<br />
Die medizinische Forschung sucht intensiv nach besseren Möglichkeiten<br />
der Schmerzbekämpfung. Die Schmerzforschung versucht, dieses<br />
Ziel auf viele Weisen zu erreichen <strong>und</strong> macht dabei ermutigende Fortschritte;<br />
doch erinnert uns die grosse Vielfalt ihrer Ergebnisse auch daran, wie kompliziert<br />
<strong>und</strong> facettenreich Schmerz ist. Die bemerkenswerten Erfolge des<br />
vergangenen Jahres stützen diese Aussage. Ein Ergebnis weist darauf hin,<br />
wie bei einer Überdosis Morphin eine Atemhemmung verhindert werden<br />
kann; ein anderes deckt einen Zusammenhang zwischen Schmerz, dem<br />
Immunsystem <strong>und</strong> einem bestimmten Rezeptortyp auf, der mit Marihuana<br />
zusammenhängt; ein drittes demonstriert ein neues Schema, wie sich<br />
Gentherapie zur Schmerzbekämpfung einsetzen lässt. Ausserdem gab es<br />
2003 eine Entdeckung, mit der sicher niemand gerechnet hatte: der<br />
Zusammenhang zwischen Schmerz, Geschlecht <strong>und</strong> – wer hätte das<br />
gedacht – roten Haaren.<br />
Opiate ohne die Schattenseite der Atemhemmung<br />
Opiate sind ausgezeichnete Schmerzmittel, aber mit dem Risiko behaftet,<br />
die Atmung zu verlangsamen oder gar völlig zu unterdrücken. Der Neurowissenschafter<br />
Diethelm Richter von der Universität Göttingen, Deutschland,<br />
versuchte herauszufinden, ob er die schmerzlindernden Wirkungen<br />
des verbreiteten Opiats Fentanyl von der potentiell gefährlichen Atemdepression<br />
trennen könnte, von der angenommen wird, sie sei für viele<br />
Todesfälle im Verlauf der Rettungsaktion von Geiseln in einem Moskauer<br />
Theater im Jahr 2003 verantwortlich gewesen.<br />
Zusammen mit seinem Team begann er, eine kleine Region im Hirnstamm<br />
von Ratten zu untersuchen, die für die Generation der neuralen Aktivität<br />
der Atmung verantwortlich ist, den Prä-Bötzinger Komplex (pre-Botzinger<br />
complex, PBC). Dort fanden sie Serotoninrezeptoren – der endogene<br />
Neurotransmitter Serotonin beeinflusst bekanntlich die Aktivität des<br />
Atmungszentrums – <strong>und</strong> Mü-Opiat-Rezeptoren, bei denen man davon<br />
ausging, dass sie mit der Mü-Opiat-Schmerzleitung interagieren. Sie<br />
entdeckten, dass der Einsatz eines Agonisten, um einen Subtyp des Serotoninrezeptors,<br />
5-HT4(a) zu aktivieren, die durch Fentanyl induzierte<br />
Atemdepression verhinderte, ohne dessen schmerzlindernde Wirkung<br />
zu verringern.<br />
In diesen Experimenten behandelten sie Ratten mit dem 5-HT4(a)-Agonisten<br />
BIMU8. Zuerst verifizierten sie, dass durch Fentanyl aktivierte<br />
Mü-Opiat-Rezeptoren zu Schmerzunempfindlichkeit führten (nachgewiesen
durch einen üblichen Schmerztest, bei dem der Schwanz einer Ratte<br />
einem Hitzestimulus ausgesetzt wird) <strong>und</strong> die Atmung hemmten. Dann<br />
gingen sie der Frage nach, ob eine Aktivierung der 5-HT4(a)-Rezeptoren<br />
den durch Fentanyl induzierten Atemstillstand verhindern könnte. Tatsächlich:<br />
BIMU8, das den Ratten nach Fentanyl verabreicht wurde, stellte<br />
wieder eine stabile Atemtätigkeit her. Und schliesslich untersuchten sie,<br />
ob die Behandlung mit BIMU8 nach der Verabreichung von Fentanyl die<br />
schmerzlindernde Reaktion zunichte machte, <strong>und</strong> stellten fest, dass dies<br />
nicht der Fall war.<br />
Ihre im Juli in Science 63 publizierten Experimente zeigen, dass es möglich<br />
ist, bei den Wirkungen eines Opiat-Schmerzmittels Feinabstimmungen<br />
vorzunehmen. Richter vermutet, dass für den Menschen entwickelte<br />
selektive 5-HT4(a)-Serotonin-Agonisten bei einer Opiat-Überdosis die<br />
Atmung wieder herstellen <strong>und</strong> chronische Schmerz-Patienten, die Opiate<br />
hoch dosiert einnehmen, vor einer Atemdepression schützen können.<br />
5-HT4(a)-Agonisten könnten auch nach einer in Opiatnarkose durchgeführten<br />
Operation die spontane Atmung der Kranken wieder herstellen.<br />
Die Stimulierung von CB2-Cannabinoid-Rezeptoren<br />
lindert neuropathischen Schmerz<br />
CB1-Rezeptoren sind Cannabinoid-Rezeptoren innerhalb des Zentralnervensystems<br />
(ZNS); ausserhalb gibt es CB2-Rezeptoren, die sich auf peripheren<br />
Immunzellen <strong>und</strong> Mastzellen befinden. THC, der aktive Bestandteil<br />
von Cannabis sativa oder Marihuana, stimuliert beide Rezeptortypen;<br />
seine allgemein bekannte sedierende <strong>und</strong> euphorisierende Wirkung<br />
beruht auf der Stimulierung von CB1-Rezeptoren im ZNS.<br />
Von neuropathischem Schmerz, der bei krankhaften Vorgängen von<br />
peripheren Nerven wie etwa bei Diabetes auftritt, sind etwa 1-2% der<br />
Bevölkerung betroffen. Trotz dieser weiten Verbreitung war eine wirksame<br />
Behandlung bisher kaum möglich. Die gegen neuropathischen<br />
Schmerz verfügbaren Medikamente wirken über das ZNS <strong>und</strong> können<br />
unerwünschte Nebenwirkungen wie Schwindel <strong>und</strong> Schläfrigkeit hervorrufen.<br />
Philip Malan von der Universität Arizona wusste, dass eine<br />
gezielte Wirkstofffreisetzung an den Cannabinoid-Rezeptoren neuropathischen<br />
Schmerz lindert, aber manchmal unerwünschte Wirkungen<br />
im ZNS verursacht. Deshalb dachte er, ein Medikament, das auf Schmerzrezeptoren<br />
ausserhalb des ZNS einwirke, könnte diese Nebenwirkungen<br />
nicht aufweisen. 59<br />
Schmerz
60<br />
Wie Malan <strong>und</strong> sein Team im August in Proceedings of the National Academy<br />
of Sciences 64 berichteten, hatten sie an einem experimentellen<br />
Mäusemodell für neuropathischen Schmerz ein schmerzstillendes Mittel<br />
namens AM1241 getestet, das von Alex Makriyannis von der Universität<br />
Connecticut entworfen <strong>und</strong> synthetisiert worden war. Dabei entdeckten<br />
sie, dass AM1241 bei Mäusen chirurgisch induzierten neuropathischen<br />
Schmerz aufhob. Im Weiteren stellten sie fest, dass ein CB2-Rezeptor-<br />
Antagonist die Schmerzhemmung durch AM1241 blockierte, während<br />
dies bei einem CB1-Rezeptor-Antagonisten nicht der Fall war. Dies war ein<br />
Hinweis darauf, dass CB2-Rezeptoren die durch AM1241 bewirkte<br />
Schmerzfreiheit vermitteln.<br />
Sie verstehen zwar noch nicht genau, wie AM1241 wirkt, vermuten aber,<br />
dass es über die Aktivierung von CB2-Rezeptoren die Freisetzung von<br />
schmerz-sensibilisierenden Substanzen aus den umliegenden Mast- <strong>und</strong><br />
Immunzellen verhindert <strong>und</strong> so die Empfindlichkeit der afferenten Neuronen<br />
vermindert. Bemerkenswert ist dabei, dass sie keinerlei Hinweise<br />
dafür fanden, dass AM1241 die Immuntätigkeit hemmt, obwohl der CB2-<br />
Rezeptor auf Immunzellen vorkommt.<br />
Malan untersuchte AM1241 bei zwei anderen Arten von Schmerz – dem<br />
entzündungsbedingten <strong>und</strong> dem nozizeptiven – <strong>und</strong> stellte fest, dass es<br />
auch bei diesen wirksam war. (Schmerz <strong>und</strong> weitere Entzündungszeichen<br />
wie Rötung, Schwellung <strong>und</strong> Wärme werden durch biochemische Reaktionen<br />
innerhalb der Blutgefässe in der Umgebung von verletztem<br />
Gewebe hervorgerufen. Nozizeptiver Schmerz, üblicherweise ein dumpfer<br />
Schmerz, ist auf einen krankhaften Vorgang oder eine Verletzung<br />
ausserhalb des Nervensystems zurückzuführen – im Gegensatz zum neuropathischen<br />
Schmerz von geschädigtem Nervengewebe.) Malan stellte<br />
fest, dass viele Schmerzzustände, etwa der Krebsschmerz, aus mehr als<br />
einem Schmerztyp zusammengesetzt sind. Ein Schmerzmittel wie AM1241,<br />
das gegen neuropathischen <strong>und</strong> andere Schmerztypen wirksam ist, würde,<br />
wenn es der Überprüfung an Menschen standhält, einen enormen Fortschritt<br />
darstellen. Inzwischen haben Malan <strong>und</strong> seine Mitarbeitenden<br />
vor, AM1241 an weiteren Tiermodellen für Schmerz zu testen, etwa dem<br />
viszeralen Schmerz, der bei der entzündlichen Darm-Krankheit vorkommt.<br />
Gen-Therapie zur Schmerzbekämpfung<br />
Eine Schmerzbehandlung mittels Gentherapie könnte es Patienten ermöglichen,<br />
mit kleineren Mengen von Opiaten auszukommen, was mit weniger
Nebenwirkungen, einer längeren Wirksamkeit <strong>und</strong> einer kleineren Wahrscheinlichkeit<br />
der Toleranzentwicklung verb<strong>und</strong>en sein könnte. In einer<br />
Forschungsarbeit, die im Mai in Proceedings of the National Academy of<br />
Sciences 65 veröffentlicht wurde, haben Li-Yen Mae Huang <strong>und</strong> Mitarbeitende<br />
von der University of Texas Medical Branch in Galveston einen<br />
Schritt in diese Richtung getan.<br />
Frühere von anderen Forschenden an Tieren durchgeführte Experimente<br />
mit Gentherapie lieferten Vorläufer-Gene für Opiat-Peptide <strong>und</strong> bewirkten<br />
eine Schmerzlinderung von bis zu 8 Wochen – allerdings verb<strong>und</strong>en mit<br />
einer gewissen Toxizität. Huang <strong>und</strong> ihr Team hofften sowohl die Nebenwirkungen<br />
als auch die Wirksamkeit verbessern zu können. Ihr Ansatz<br />
war, Schmerzfreiheit nicht direkt über Vorläufer-Gene zu bewirken,<br />
sondern über die Erhöhung der Zahl von Mü-Opiat-Rezeptoren eine<br />
Schmerzlinderung bereits durch niedrig dosierte Opiate zu ermöglichen.<br />
Als Gentherapie-Vektor wählte das Team ein rekombinantes adenoviralassoziiertes<br />
Virus (rAAV), da es eine relativ kleine Toxizität aufweist <strong>und</strong><br />
eine lang anhaltende Genexpression sicherzustellen vermag. Indem sie<br />
den rAAV-Gentherapie-Vektor mit dem Mü-Opiat-Rezeptor-Gen (MOR)<br />
<strong>und</strong> nicht mit einem Gen für ein schmerzlinderndes Opiat-Peptid koppelten,<br />
hofften sie, eine Toleranzentwicklung <strong>und</strong> Atemdepression vermeiden<br />
zu können.<br />
Mittels Gentherapie führte Huang das MOR-Gen zusammen mit einem<br />
Neuronen spezifischen Promoter direkt in die Spinalganglien (dorsal root<br />
ganglia, DRG) von Ratten ein. Präsynaptische Neuronen der DRG leiten<br />
Schmerzsignale über das Hinterhorn des Rückenmarks zum <strong>Gehirn</strong>.<br />
Um den Einfluss des MOR-Gens auf die Schmerzreaktion der Ratten festzustellen,<br />
wurden die Tiere einem Test mit Wärmestimulation der Pfoten<br />
unterzogen. Huang stellte fest, dass die MOR-Gentherapie eine langfristige<br />
Genexpression in DRG-Neuronen bewirkte, was die schmerzlindernde<br />
Wirkung von Morphin bei durch thermische Stimuli hervorgerufenen<br />
Schmerzen deutlich verbesserte.<br />
Huang weist darauf hin, dass Gentherapie zur Schmerzlinderung bei<br />
Menschen durchgeführt werden kann, wobei jedoch der besseren<br />
Zugänglichkeit <strong>und</strong> Sicherheit wegen das Gen in den Ischiasnerv <strong>und</strong> nicht<br />
in das DRG appliziert werden sollte. Von einem solchen genetischen<br />
Verfahren der Schmerzbekämpfung könnten Patienten profitieren, die an 61<br />
Schmerz
62<br />
chronischen Krebs-Schmerzen oder anderen Erkrankungen leiden, die<br />
eine Langzeittherapie mit Opiaten nötig machen.<br />
Geschlechtsunterschiede bei Schmerz<br />
<strong>und</strong> Analgesie erklärt<br />
Es ist eine verbreitete ärztliche Erfahrung, dass Männer <strong>und</strong> Frauen<br />
Schmerz unterschiedlich erleben. Beispielsweise wurde festgestellt, dass<br />
gewisse Schmerzmittel bei Frauen anscheinend wirksamer sind als bei<br />
Männern. In einer überraschenden neuen Forschungsarbeit identifizierte<br />
Jeffrey Mogil von der McGill-Universität in Montreal ein Gen, das einen<br />
der geschlechtsspezifischen neuralen Mechanismen steuert, die diesen<br />
Unterschieden zugr<strong>und</strong>e liegen.<br />
Vor zehn Jahren hatte Mogil entdeckt, dass männliche <strong>und</strong> weibliche<br />
Mäuse Schmerz über zwei unterschiedliche Systeme verarbeiten. Er<br />
fand heraus, dass ein experimentelles Medikament, MK-801, stressinduzierte<br />
Schmerzunempfindlichkeit bei männlichen Mäusen aufzuheben<br />
vermochte, nicht aber bei weiblichen. Demnach verfügten die<br />
Weibchen über ein separates System der Schmerzverarbeitung.<br />
Anschliessend wies er nach, dass das spezifisch weibliche Schmerzverarbeitungssystem<br />
durch zirkulierende Östrogenhormone ein- bzw. ausgeschaltet<br />
wird.<br />
In seiner neuesten Forschungsarbeit, die im April in Proceedings of the<br />
National Academy of Sciences 66 veröffentlicht wurde, untersuchte er ein<br />
weiteres geschlechtsabhängiges Schmerzverarbeitungssystem. Er <strong>und</strong> sein<br />
Team gingen den Geschlechtsunterschieden der Kappa-Opiat-Schmerzmittel<br />
nach, die vielen Berichten zufolge bei Frauen wirksam sind, nicht<br />
aber bei Männern. Aufgr<strong>und</strong> der Genkartierung ordneten sie die Kappa-<br />
Opiat-Schmerzverarbeitung dem Melanocortin-1-Rezeptor (MC1R)-Gen<br />
zu, das bei Mäusen auf Chromosom 8 lokalisiert ist. Dieser Rezeptor war<br />
bereits wohl bekannt, jedoch in einem völlig anderen Zusammenhang: Er<br />
beeinflusst beim Menschen die Haar- <strong>und</strong> Hautfarbe <strong>und</strong> bei Mäusen die<br />
Farbe des Fells.<br />
Mogils Team entdeckte, dass MC1R nur bei Weibchen die Kappa-Opiat-<br />
Schmerzhemmung vermittelt. Sie testeten männliche <strong>und</strong> weibliche<br />
Mäuse mit Pentazocin, einem Kappa-Opiat, das bei ischämischem <strong>und</strong><br />
thermischem Schmerz wirkt. MC1R-Genvarianten beeinflussten die<br />
Schmerzlinderung durch Pentazocin, jedoch nur bei Weibchen.
Bezüglich beider Arten von Schmerz war die Schmerzlinderung durch<br />
Pentazocin ausgeprägter bei rothaarigen <strong>und</strong> hellhäutigen Frauen mit zwei<br />
Varianten von MC1R-Allelen als bei jeder anderen Gruppe. Ganz allgemein<br />
zeigt Mogils Arbeit, die potentielle Bedeutung der Pharmakogenetik:<br />
dass nämlich die genetische Information über Patienten Ärzte helfen<br />
kann, das richtige Medikament zu verschreiben. Und aufgr<strong>und</strong> derselben<br />
Überlegung könnten neue Erkenntnisse über die Genetik der Schmerzkontrolle<br />
zur Entwicklung von Medikamenten beitragen, die bei besonderen<br />
Populationen eine bessere Wirkung zeigen.<br />
Schmerz<br />
63
Psychiatrische Erkrankungen,<br />
Verhaltensstörungen<br />
<strong>und</strong> Suchtkrankheiten<br />
Depression 66<br />
Manisch-depressive Erkrankung <strong>und</strong> Schizophrenie 67<br />
Essstörungen 67<br />
Alkoholismus 68<br />
Nikotinabhängigkeit 68<br />
Kokainabhängigkeit 69<br />
Heroinabhängigkeit 70<br />
Das Rätsel des Rückfalls 70<br />
65
66<br />
Psychiatrische Erkrankungen, Verhaltensstörungen <strong>und</strong> Suchtkrankheiten<br />
stellen für das amerikanische Ges<strong>und</strong>heitswesen eine grosse Herausforderung<br />
dar. Jedes Jahr entwickeln schätzungsweise 5-7% der Erwachsenen<br />
<strong>und</strong> 5-9% der Kinder eine schwere Geisteskrankheit oder eine ernsthafte<br />
emotionale Störung, <strong>und</strong> insgesamt sind psychiatrische Erkrankungen<br />
heute in den USA die Hauptursache für Invalidität. Zudem zeigen zwei im<br />
November 2003 veröffentlichte Untersuchungen auf, dass Drogenmissbrauch<br />
oft mit anderen medizinischen oder psychiatrischen Störungen<br />
einhergeht 67, 68 . Glücklicherweise wird die Forschung weiterhin gut finanziert;<br />
das Jahr 2003 konnte Erfolge verzeichnen, was das Verständnis <strong>und</strong> die<br />
Behandlung einiger Geisteskrankheiten anbelangt, sowie ständige Fortschritte<br />
in anderen Bereichen <strong>und</strong> auch faszinierende neue Erkenntnisse.<br />
Depression<br />
Eine von Ronald Kessler <strong>und</strong> Mitarbeitenden an der Harvard Medical<br />
School erarbeitete epidemiologische Bestandesaufnahme ergab, dass die<br />
Prävalenz schwerer depressiver Störungen im Verlauf eines Lebens in den<br />
USA 16,2% beträgt – also jede sechste Person – bzw. in jedem Jahr 6,6% 69 .<br />
Diese Ergebnisse, die auf der direkten Befragung von über 9000 Erwachsenen<br />
beruhen, führten die universitäre Abteilung für Ges<strong>und</strong>heitsversorgung<br />
zum Schluss, schwere depressive Erkrankungen seien „in der Bevölkerung<br />
weit verbreitet <strong>und</strong> im Allgemeinen mit ernsthaften Symptomen<br />
<strong>und</strong> Funktionseinbussen verb<strong>und</strong>en“. Die Autoren empfehlen, ergänzend<br />
zum bereits intensiv durchgeführten Screening für Depression <strong>und</strong> ihrer<br />
immer umfassenderen Behandlung sollten auch Anstrengungen unternommen<br />
werden, um die Behandlungsqualität zu verbessern, ein Gebiet,<br />
das weitere Forschung erfordert.<br />
Eine im Juli 2003 veröffentlichte Studie illustriert gut, wie die Lebensbedingungen<br />
eines Menschen <strong>und</strong> genetische Faktoren zusammenwirken<br />
können <strong>und</strong> so die Entstehung einer psychischen Erkrankung, in diesem<br />
Fall eine Depression, verursachen (vgl. auch das Kapitel „Neuroethik“,<br />
S. 49). A. R. Hariri vom National Institute of Mental Health <strong>und</strong> Mitarbeitende<br />
erforschten die Auswirkungen einer genetischen Variation, die im<br />
Jahr zuvor auf dem Serotonin-Transportergen lokalisiert worden war. (Es<br />
handelt sich dabei um den Transporter, dem die entscheidende Aufgabe<br />
zukommt, den Neurotransmitter Serotonin aus dem sie umgebenden<br />
Raum in die Zelle hinein zu pumpen.) Der Promotorbereich dieses Gens<br />
existiert sowohl als kurzes als auch als langes Allel <strong>und</strong> frühere Untersuchungen<br />
hatten ergeben, dass Leute mit zwei Kopien des kurzen Allels
allgemein dazu neigen, mehr Angst zu haben als die Heterozygoten oder<br />
als die Träger von zwei Kopien des langen Allels 70 . Träger des kurzen Allels<br />
reagieren auf angsterregende Stimuli auch mit einer grösseren Aktivität<br />
in der Amygdala, jener Hirnregion, die für unsere Reaktion auf Gefahr<br />
zuständig ist. Die Untersuchung aus dem Jahr 2003 71 ergab, dass<br />
diese genetische Variation einen entscheidenden Einfluss darauf hat, ob<br />
stresshafte Lebensereignisse bei jemandem depressive Symptome, eine<br />
schwere Depression oder Suizidneigungen verursachen.<br />
Manisch-depressive Erkrankung <strong>und</strong> Schizophrenie<br />
Schizophrenie <strong>und</strong> die manisch-depressive Erkrankung, die je bei 1% einer<br />
jeden Population vorkommen, werden üblicherweise als zwei verschiedene<br />
Krankheiten angesehen. Nun hat allerdings eine von Dmitri Tkachev<br />
<strong>und</strong> Mitarbeitenden am Babraham Institute in Cambridge, England, durchgeführte<br />
Studie gezeigt, dass sie in Bezug auf die Genexpression erstaunliche<br />
Ähnlichkeiten aufweisen 72 . Die Autoren verwendeten eine<br />
Methode, die als Polymerase-Kettenreaktion (polymerase chain reaction,<br />
PCR) bezeichnet wird, sowie Microarray-Analyse <strong>und</strong> führten eine postmortem<br />
Untersuchung an 45 zur Verfügung gestellten <strong>Gehirn</strong>en durch:<br />
15 stammten von Personen mit einer manisch-depressiven Erkrankung,<br />
15 von solchen mit einer Schizophrenie <strong>und</strong> 15 von Kontrollpersonen. Im<br />
<strong>Gehirn</strong> der schizophrenen <strong>und</strong> der manisch-depressiven Kranken fanden<br />
sie im Vergleich zum <strong>Gehirn</strong> der Kontrollpersonen eine beträchtliche<br />
Reduktion jener Gene, die für die Produktion von Myelin verantwortlich<br />
sind, jenem fetthaltigen Material, das Nervenfasern isoliert; sie stellten<br />
auch signifikant tiefere Spiegel jener Proteine fest, die durch diese Gene<br />
synthetisiert werden. Diese Reduktion war ähnlich im <strong>Gehirn</strong> von schizophrenen<br />
<strong>und</strong> manisch-depressiven Kranken. Diese Korrelationen sind<br />
deutliche Hinweise dafür, dass manisch-depressive Erkrankung <strong>und</strong> Schizophrenie<br />
zumindest teilweise eine gemeinsame genetische Ursache<br />
haben – eine, die es noch intensiv zu erforschen gilt.<br />
Essstörungen<br />
Gene, die mit Anorexia nervosa verknüpft sind, fanden im Jahr 2003<br />
grosse Aufmerksamkeit. Eine von Andrew Bergen <strong>und</strong> Mitarbeitenden<br />
durchgeführte Linkage-Analyse rückte das Serotonin 1D Rezeptorgen<br />
(HTR1D) <strong>und</strong> das Opiat Delta Rezeptorgen (OPRD1) in den Mittelpunkt,<br />
die beide auf Chromosom 1 lokalisiert sind 73 . Diese Ergebnisse bestätigen<br />
frühere Hinweise darauf, dass die Neurotransmittersysteme für Serotonin<br />
<strong>und</strong> für opiatartige Peptide bei der Entstehung von Essstörungen eine 67<br />
Psychiatrische Erkrankungen, Verhaltensstörungen <strong>und</strong> Suchtkrankheiten
68<br />
wichtige Rolle spielen. Bezüglich der Bulimia nervosa deutete eine von<br />
Cynthia M. Bulik <strong>und</strong> Mitarbeitenden durchgeführte Linkage-Analyse auf<br />
ein Gen oder auf mehrere Gene auf Chromosom 14q hin, <strong>und</strong> möglicherweise<br />
auf ein weiteres auf Chromosom 10p 74 . Der Hinweis auf Chromosom<br />
10p passt besonders gut zum bereits bekannten Vererbungsmuster<br />
von selbst herbeigeführtem Erbrechen, einem für Bulimie charakteristischen<br />
Verhalten. Die Autoren weisen jedoch darauf hin, dass dieser<br />
Bereich von Chromosom 10 ein Gen enthält, das Personen für Bulimie<br />
anfällig machen könnte, wobei es jedoch nicht zwingend ist, dass sie die<br />
Störung tatsächlich entwickeln.<br />
Alkoholismus<br />
Ein Warnzeichen für möglichen Alkoholismus ist die Fähigkeit einer Person<br />
„trinkfest“ zu sein oder wissenschaftlich ausgedrückt, auf Alkoholeinnahme<br />
nur wenig zu reagieren. Dieses Merkmal beruht auf dem Metabolismus<br />
der betreffenden Person <strong>und</strong> den Reaktionen ihres <strong>Gehirn</strong>s auf<br />
Ethanol, Faktoren, die ihrerseits von Genen bestimmt werden. Im Allgemeinen<br />
weisen Personen, die sich später zu Alkoholikern entwickeln,<br />
bereits früh eine Alkoholtoleranz auf <strong>und</strong> niedrige Dosen zeigen bei ihnen<br />
wenig Wirkung. Um die Suche nach den für eine geringe Reaktion auf<br />
Alkohol verantwortlichen Genen einzugrenzen, unterzogen Kirk Wilhelmsen<br />
vom Ernest Gallo Clinic and Research Center 139 Geschwisterpaare im<br />
frühen Erwachsenenalter einem Screening bezüglich neun chromosomalen<br />
Regionen; das deutlichste Resultat betraf Regionen auf den Chromosomen<br />
10, 11 <strong>und</strong> 22 75 . Dieser Bef<strong>und</strong> bildet erst den Anfang der Suche,<br />
denn jede chromosomale Region umfasst durchschnittlich etwa 200-300<br />
Gene <strong>und</strong> davon dürften vermutlich nur wenige mit der Reaktion des<br />
<strong>Gehirn</strong>s auf Alkohol zu tun haben. Das Gallo-Forscherteam hofft, die<br />
Suche werde sie zu einem Gen oder mehreren Genen führen, deren Funktionen<br />
bereits mindestens teilweise bekannt sind; andernfalls werden die<br />
Wissenschafter alle Gene in den drei oben genannten Regionen systematisch<br />
untersuchen.<br />
Nikotinabhängigkeit<br />
Bekanntlich haben die meisten langjährigen Raucher diese Gewohnheit<br />
während der Adoleszenz begonnen. Woran liegt es, dass sich eine Nikotinabhängigkeit<br />
in den Jahren vor dem Erwachsenwerden besonders leicht<br />
entwickelt? Eine neue, am Duke University Medical Center durchgeführte<br />
Forschungsarbeit verwendete Ratten als Tiermodell, um herauszufinden,<br />
ob die Selbstverabreichung von Nikotin variiert, je nach dem in welchem
Alter die Substanz erstmals eingenommen wird. Forschende unter der Leitung<br />
von Edward Levin wiesen in einer Reihe von Experimenten nach, dass<br />
das Alter, in dem Ratten mit dem Nikotinkonsum begannen, tatsächlich<br />
einen entscheidenden Einfluss hatte 76 . Adoleszente (54-62 Tage alt) nahmen<br />
beinahe doppelt so viel Nikotin zu sich wie Adulte (84-90 Tage alt) <strong>und</strong><br />
behielten dieses höhere Quantum dann auch im Erwachsenenalter bei.<br />
Die Forschenden nehmen an, der Weg zur Abhängigkeit werde durch den<br />
stärkeren Konsum der Adoleszenten gebahnt. In einer anderen Untersuchung<br />
befassten sich Kimberly Horn <strong>und</strong> Mitarbeitende mit Adoleszenten,<br />
die versuchten das Rauchen aufzugeben; sie fanden heraus, dass das<br />
Resultat vom Ausmass der körperlichen Nikotinabhängigkeit einer Person<br />
abhängt: Während eine kurze Selbsthilfeaktion bei nur leicht abhängigen<br />
Rauchern wirksam war, sprachen Personen mit einer starken Abhängigkeit<br />
besser auf ein intensives Kursprogramm mit mehreren Sitzungen an 77 .<br />
Kokainabhängigkeit<br />
Eine neue Perspektive zur Behandlung der Kokainabhängigkeit eröffnete<br />
sich von einer ganz unerwarteten Seite, nämlich durch ein Medikament,<br />
dass zurzeit in vielen Ländern zur Behandlung epileptischer Anfälle verwendet<br />
wird. In den USA wurde Gamma-Vinyl-GABA (GVG) zwar für<br />
diese Anwendung noch nicht freigegeben, doch erforscht wird es schon<br />
seit langem, da es die Dopaminkonzentration in bestimmten Hirnbereichen<br />
reduziert <strong>und</strong> sowohl das auf Kokain ausgerichtete Verhalten hemmt<br />
als auch die Schwelle für Belohnung erhöht, welche durch Kokain induziert<br />
wird. Nun wurde in Baja California, Mexiko, unter der Leitung von Jonathan<br />
Brodie an einer kleinen Gruppe von Erwachsenen, die während mindestens<br />
drei Jahren täglich Kokain konsumiert hatten, eine von den USA<br />
gesponserte klinische Studie durchgeführt, bei der eine psychosoziale<br />
Therapie mit täglich zweimaliger Abgabe von GVG gekoppelt wurde; Ziel<br />
war es, mindestens 28 Tage auf Kokain zu verzichten 78 . Acht der 20 Versuchspersonen<br />
übertrafen das Ziel <strong>und</strong> lebten während 46 bis 58 Tagen<br />
kokainabstinent; vier weitere gaben das Kokain zwar nicht ganz auf, reduzierten<br />
ihren Konsum jedoch um 50-80% <strong>und</strong> gaben an, die Droge vermittle<br />
ihnen nicht mehr das gewohnte Hochgefühl. Bemerkenswert ist,<br />
dass jene acht Personen, die das 28-Tage-Ziel überboten, berichteten,<br />
GVG hätte ihr Verlangen nach Kokain innert zwei bis drei Wochen völlig<br />
beseitigt – ein Effekt, der sogar während der „Schlussphase“ der Studie<br />
anhielt, als die Dosierung von GVG allmählich auf Null reduziert wurde.<br />
Diese Kleinstudie zeigt die Wirksamkeit von GVG in Kombination mit<br />
psychosozialer Beratung auf <strong>und</strong> macht deutlich, dass es beim Kampf 69<br />
Psychiatrische Erkrankungen, Verhaltensstörungen <strong>und</strong> Suchtkrankheiten
70<br />
gegen Missbrauch <strong>und</strong> Abhängigkeit ganz entscheidend darum geht, das<br />
Verlangen nach der Droge zu beseitigen. Als Nächstes sollte, so die Autoren,<br />
ein grösserer, Placebo kontrollierter Doppelblindversuch folgen.<br />
Heroinabhängigkeit<br />
Auch in der Behandlung der Heroinabhängigkeit stösst eine überraschende<br />
neue Perspektive auf beachtliches Interesse: Bei abhängigen Personen,<br />
die mit Methadon allein ohne Erfolg behandelt wurden, scheint der<br />
überwachte Konsum von Heroin <strong>und</strong> Methadon substantielle Verbesserungen<br />
der körperlichen, mentalen <strong>und</strong>/oder sozialen Funktionsfähigkeit<br />
(einschliesslich einer signifikanten Abnahme des kriminellen Verhaltens)<br />
zu bewirken. In einer in den Niederlanden unter der Leitung von Wim van<br />
den Brink 79 durchgeführten multizentrischen Studie wurden 549 Heroinabhängige<br />
zufällig einer von drei Gruppen zugeteilt: Gruppe A erhielt<br />
während 12 Monaten nur Methadon, Gruppe B erhielt Methadon plus<br />
Heroin (entweder als Injektion oder als Inhalation) <strong>und</strong> Gruppe C erhielt<br />
6 Monate lang nur Methadon <strong>und</strong> anschliessend 6 Monate lang Methadon<br />
plus Heroin. Unabhängig davon, ob das Heroin injiziert oder inhaliert<br />
wurde, war die Kur mit Methadon plus Heroin signifikant wirksamer als die<br />
Behandlung mit Methadon allein <strong>und</strong> erwies sich als ebenso sicher. Die<br />
kombinierte Behandlung bleibt umstritten, sollte jedoch unbedingt weiter<br />
erforscht werden.<br />
Das Rätsel des Rückfalls<br />
Was geschieht im <strong>Gehirn</strong>, wenn mit dem Drogenkonsum assoziierte<br />
visuelle oder auditive Auslöser ehemals Abhängige zu einem Rückfall verleiten?<br />
Unter der Leitung von Udi E. Ghitza trainierten Psychologen an der<br />
Rutgers University Ratten darauf, einen bestimmten musikalischen Ton mit<br />
der Selbstverabreichung von Kokain zu assoziieren; dann, nach drei- bis<br />
vierwöchiger Abstinenz, kontrollierten die Forschenden mittels Einzel-<br />
Neuron-Ableitungen die Reaktion in einem Hirnbereich, der mit Sucht in<br />
Verbindung gebracht wird, dem so genannten Nucleus accumbens 80 . Die<br />
Neuronen des Nucleus accumbens reagierten nur auf den mit der Droge<br />
assoziierten Ton <strong>und</strong> zwar ebenso stark, wie vor der langen Abstinenzperiode<br />
– obwohl die Ratten die Erfahrung machten, dass die Betätigung des<br />
Hebels, der sie ursprünglich mit Kokain belohnt hatte, jetzt nur Salzwasser<br />
lieferte. Die Identifizierung jener spezifischen Neuronen, die Assoziationen<br />
speichern, welche einen Rückfall auslösen, könnte den Weg zu einer<br />
zielgerichteten Behandlung der Abhängigkeit <strong>und</strong> zur Prävention von<br />
Rückfällen ebnen.
Störungen der Sinnes-<br />
<strong>und</strong> Körperfunktion<br />
Stabilität <strong>und</strong> Instabilität im visuellen<br />
System erkennen 72<br />
Die Retina als Verarbeitungsstation 72<br />
Die Übertragung des Signals vom Auge zum Hirn 74<br />
Kartierung von funktionellen Regionen<br />
in den visuellen Systemen 75<br />
Die zirkadiane Uhr stellen 76<br />
71
72<br />
Im Bereich der Sinnes- <strong>und</strong> Körperfunktion stand im Jahr 2003 die Erforschung<br />
des Sehens im Vordergr<strong>und</strong>; es kam zu neuen Erkenntnissen<br />
darüber wie das visuelle System verschaltet ist, welche Aufgabe die Retina<br />
bei der Signalverarbeitung erfüllt <strong>und</strong> wie verschiedene Regionen der<br />
Grosshirnrinde unterschiedliche visuelle Signale verarbeiten.<br />
Stabilität <strong>und</strong> Instabilität im visuellen System erkennen<br />
Im Jahr 2000, 40 Jahre nachdem Michael May im Alter von drei Jahren auf<br />
beiden Augen erblindet war, wurde bei ihm eine kombinierte Transplantation<br />
von Stammzellen des Limbus <strong>und</strong> der Hornhaut im rechten Auge<br />
durchgeführt. Heute kann er mit diesem Auge sehen, aber auch zwei Jahre<br />
nach der Operation ist seine visuelle Wahrnehmung mangelhaft. Er<br />
erkennt zwar Bewegung, Farbe <strong>und</strong> einfache Umrisse, jedoch keine komplizierten<br />
oder dreidimensionalen (3-D) Formen. Er hat Mühe, Gegenstände<br />
oder Gesichter zu erkennen. Die seit der Operation festgestellte<br />
Besserung seiner visuellen Fähigkeiten beruht grösstenteils auf kognitiven<br />
Fortschritten <strong>und</strong> nicht auf Steigerungen der visuellen Verarbeitung per<br />
se; dies wird in einem Bericht über die Genesung <strong>und</strong> den funktionellen<br />
Status von May beschrieben, den Ione Fine <strong>und</strong> Mitarbeitende an der<br />
University of Southern California veröffentlicht haben 81 . Zwar hat May<br />
gelernt, das Gesehene besser zu interpretieren, doch sind viele der visuellen<br />
Verarbeitungssysteme, über die er verfügt hatte bis er mit 3 Jahren<br />
seine Sehfähigkeit verlor, im Verlauf der 40 Jahre, in denen er sie nicht<br />
benutzen konnte, zugr<strong>und</strong>e gegangen <strong>und</strong> bilden sich nicht neu.<br />
Die Untersuchung der von May gemachten Fortschritte gibt Fachleuten<br />
die seltene Gelegenheit herauszufinden, welche Teile des <strong>Gehirn</strong>s fest<br />
verkabelt sind oder sich in der frühen Kindheit entwickeln, <strong>und</strong> welche<br />
weiterhin auf Inputs aus der Umwelt angewiesen sind, um normal zu funktionieren.<br />
Im Fall von May wurde deutlich, dass unterschiedliche Teile des<br />
visuellen Systems in unterschiedlichen Zeitperioden zugr<strong>und</strong>e gehen –<br />
dies hatte niemand erwartet. Die Verarbeitung von Bewegung beispielsweise<br />
scheint im Alter von dreieinhalb Jahren voll entwickelt zu sein <strong>und</strong><br />
sie überdauert auch eine 40 Jahre lange Deprivation. Im Gegensatz dazu,<br />
ging die Fähigkeit, Information über Gesichter visuell zu verarbeiten <strong>und</strong><br />
diese zu erkennen ohne fortdauernde Stimulation verloren.<br />
Die Retina als Verarbeitungsstation<br />
Das visuelle System besteht aus dem Auge als sensorischem Organ <strong>und</strong> aus<br />
den grösstenteils in der Grosshirnrinde gelegenen Verarbeitungsstrukturen.
Allerdings wurde die Grenze zwischen der Aufnahme <strong>und</strong> Verarbeitung<br />
von Signalen in letzter Zeit weniger klar, nachdem festgestellt worden war,<br />
dass die im hinteren Augenabschnitt lokalisierte Retina nicht nur als Relaisstation<br />
dient, sondern auch selber Informationsverarbeitung initiiert.<br />
Licht dringt durch die Linse ein <strong>und</strong> wird in der Retina, die aus lichtempfindlichen<br />
Stäbchen <strong>und</strong> Zapfen zusammengesetzt ist, gebündelt. Die<br />
in diesen Photorezeptoren vorhandene Information wird an zwischengeschaltete<br />
Neuronen in der Retina, deren Existenz erst vor kurzem<br />
nachgewiesen wurde, <strong>und</strong> dann zu den Ganglienzellen der Netzhaut<br />
weitergeleitet, welche die Information ins <strong>Gehirn</strong> übermitteln. Diese<br />
zwischengeschalteten Neuronen scheinen der Retina bisher nicht vermutete<br />
Verarbeitungsfähigkeiten zu verleihen.<br />
Im Jahr 2003 entdeckten Markus Meister <strong>und</strong> Mitarbeitende an der Harvard<br />
Universität, dass die Interneuronen entscheidend dazu beitragen,<br />
dass ein Tier zwischen ruhenden <strong>und</strong> sich bewegenden Objekten unterscheiden<br />
kann. Diese Unterscheidung ist deshalb so kompliziert, da sich<br />
das Auge selbst dann, wenn das Tier bewusst ein Objekt oder einen<br />
Bereich in seiner Umgebung fixiert, in zufälligen kleinen Bewegungen hin<br />
<strong>und</strong> her bewegt. So muss das visuelle System irgendwie zwischen diesen<br />
kleinen zufälligen Bewegungen, die das Auge selbst generiert, <strong>und</strong> einer<br />
tatsächlich in der Umgebung auftretenden Bewegung unterscheiden, <strong>und</strong><br />
dies selbst dann, wenn die Unterschiede subtil sind.<br />
Indem die Forschenden die speziellen Eigenschaften der visuellen Systeme<br />
mehrerer unterschiedlicher Wirbeltiere miteinander verglichen, erkannten<br />
sie, dass diese Aufgabe logischerweise der Retina selbst zufallen müsste 82 .<br />
Um diese Möglichkeit zu untersuchen, mass das Team die elektrischen<br />
Impulse, die eine Ganglienzelle durchliefen, wenn der isolierten Netzhaut<br />
eines Salamanders oder eines Kaninchens entweder ein gestreiftes Hintergr<strong>und</strong>muster<br />
präsentiert wurde, das sich in zufälliger Weise bewegte <strong>und</strong><br />
so die intakten Bewegungen eines fixierten Auges imitierte, oder derselbe<br />
Hintergr<strong>und</strong>, auf dem ein kontrastreiches gestreiftes Objekt lag. Sie stellten<br />
fest, dass bei der blossen Bewegung des Hintergr<strong>und</strong>s kein Signal in<br />
die Ganglienzellen abgegeben wurde – als fände in diesem Sehfeld überhaupt<br />
keine Bewegung statt. Dasselbe geschah, wenn sich das Objekt <strong>und</strong><br />
der Hintergr<strong>und</strong> in koordinierter Weise bewegten. Wenn sich aber Objekt<br />
<strong>und</strong> Hintergr<strong>und</strong> in einer nicht aufeinander abgestimmten Weise bewegten,<br />
feuerten die neuralen Ganglienzellen <strong>und</strong> zeigten so Bewegung an. 73<br />
Störungen der Sinnes- <strong>und</strong> Körperfunktion
74<br />
Insgesamt schliessen die Forschenden aus diesen Beobachtungen, dass<br />
etwas in der Retina jede festgestellte Bewegung des Hintergr<strong>und</strong>es wirksam<br />
kompensiert. Als sie einige der intervenierenden Neuronen untersuchten,<br />
fanden sie, dass eine Zellklasse „polyaxonal“ ist, d. h. dass diese<br />
Zellen viele Projektionsbereiche des Axons haben, die sowohl ein enges<br />
Gebiet der Retina umfassen, was dem rezeptiven Feld der Zelle entspricht,<br />
als auch ein viel grösseres Gebiet der angrenzenden Retina. Sobald das<br />
polyaxonale Zwischenneuron sowohl im rezeptiven Feld als auch im weiteren<br />
Bereich der Retina eine kohärente Bewegung feststellt, sendet es<br />
einen inhibitorischen Impuls aus, der die Übertragung eines Signals an die<br />
Ganglienzelle blockiert <strong>und</strong> jede wahrgenommene Bewegung wirksam<br />
ausblendet. Falls das Zwischenneuron jedoch nur von einigen Axonen<br />
elektrische Impulse erhält, von anderen aber nicht, wird kein inhibitorisches<br />
Signal abgegeben <strong>und</strong> die retinale Ganglienzelle kann dem Hirn ein<br />
Warnsignal senden, dass sich irgendetwas im visuellen Feld bewegt.<br />
Die Übertragung des Signals vom Auge zum Hirn<br />
Sobald Licht auf der Netzhaut verarbeitet wird, senden retinale Ganglienzellen<br />
elektrische Signale an das corpus geniculatum laterale, CGL des<br />
Thalamus, der diese seinerseits an den primären visuellen Kortex (V1) der<br />
Grosshirnrinde weiterleitet, die erste wichtige Station der visuellen Verarbeitung.<br />
Von dort werden die neuralen Signale an die kortikalen Areale<br />
V2, V3, V4 <strong>und</strong> den mittleren temporalen (MT) Bereich weitergeleitet.<br />
Zwar war die allgemeine Verschaltung des visuellen Systems bereits<br />
bekannt, doch im Jahr 2003 konnte nachgewiesen werden, welchen Einfluss<br />
eine einzige retinale Zelle auf ein einzelnes Neuron im primären<br />
visuellen Kortex hat. Prakash Kara <strong>und</strong> R. Clay Reid von der Harvard Medical<br />
School massen gleichzeitig die elektrische Aktivität von Neuronenpaaren,<br />
einem in der Retina <strong>und</strong> einem im primären visuellen Cortex 83 . Bei<br />
jedem Paar reagierten beide Zellen auf den selben Bereich des Gesichtsfelds<br />
<strong>und</strong> sind über zwei sequentielle Synapsen miteinander verb<strong>und</strong>en,<br />
von denen eine die retinale Ganglienzelle mit einer Relaiszelle im CGL verbindet<br />
<strong>und</strong> die andere diese Zelle an die V1-Zelle selbst anschliesst. Kara<br />
<strong>und</strong> Reid stellten fest, dass ein Aktionspotential einer retinalen Zelle für 3%<br />
der Aktivität des V1-Neurons verantwortlich ist, was darauf hinweist, dass<br />
jede kortikale Zelle von etwa 30 CGL-Neuronen gleichzeitig Inputs erhält.<br />
Im weiteren fand das Team heraus, dass ein einzelnes Aktionspotential in<br />
der Retina mit grösserer Wahrscheinlichkeit im visuellen Kortex exakt
epliziert wird, wenn die retinale Zelle innert 4-9 Millisek<strong>und</strong>en wiederholt<br />
feuert. Diese Verstärkung durch paarweise Aktionspotentiale führt dazu,<br />
dass das visuelle System auf einen starken Input heftig reagiert <strong>und</strong><br />
„störende“ Signale von schwachen visuellen Stimuli auf natürliche Weise<br />
ausfiltern kann.<br />
Kartierung von funktionellen Regionen<br />
in den visuellen Systemen<br />
Obwohl wissenschaftlich erwiesen ist, welche Hirnregionen dafür verantwortlich<br />
sind, dass elektrische Impulse in ein Bild der Aussenwelt umgewandelt<br />
werden, ist immer noch unklar, wie <strong>und</strong> wo die einzelnen Aspekte<br />
der Bildverarbeitung erfolgen. Die Forschung ist weiterhin daran abzuklären,<br />
wie die Struktur der visuellen rezeptiven Felder von einzelnen Neuronen<br />
im <strong>Gehirn</strong> zu den charakteristischen Eigenschaften der visuellen Wahrnehmungen,<br />
also dem Sehen, führt. Zu diesem Thema erscheinen jedes<br />
Jahr viele wissenschaftliche Arbeiten, die jeweils eine spezifische Funktion<br />
einem lokalisierten Bereich im Kortex zuordnen; zwei der diesjährigen<br />
Untersuchungen ragen als besonders interessante Beispiele heraus.<br />
Dass kleine repetitive Segmente des sek<strong>und</strong>ären visuellen (V2) Kortex, so<br />
genannte dünne Streifen, für die Wahrnehmung von Farbe verantwortlich<br />
sind, war bereits bekannt. In diesem Jahr berichteten Daniel J. Felleman<br />
<strong>und</strong> Mitarbeitende vom University of Texas Medical Center in Houston, sie<br />
könnten Gruppen von Zellen unterscheiden, die besonders stark auf verschiedene<br />
Farben reagierten 84 . Beispielsweise reagiere eine Gruppe von<br />
Zellen intensiv, wenn in ihrem Gesichtsfeld gelb vorkomme, eine andere<br />
dagegen reagiere nur schwach auf gelb, jedoch stark auf grün.<br />
Ausserdem stellte das Team fest, dass die Zellgruppen innerhalb der dünnen<br />
Streifen in systematischer Weise angeordnet sind, wobei benachbarte Gruppen<br />
auf ähnliche Farben reagieren. Felleman hebt hervor, die Organisation<br />
der benachbarten Farben widerspiegle, wie wir Farbe wahrnehmen: Zellen,<br />
die auf purpur reagieren liegen nämlich in der Nähe von solchen, die auf rot<br />
<strong>und</strong> blau reagieren; sie sind also weder zufällig angeordnet noch reflektieren<br />
sie die physikalischen Eigenschaften des Lichts, da sonst purpur <strong>und</strong><br />
rot aufgr<strong>und</strong> der Verschiedenheit ihrer Wellenlängen an gegenüberliegenden<br />
Enden des Spektrums zu finden wären. Diese geordnete räumliche<br />
Organisation der Farbwahrnehmung in V2 entspricht dem, was in anderen<br />
Bereichen des visuellen Systems gef<strong>und</strong>en wurde, wo benachbarte Zellen<br />
ebenfalls eng miteinander verwandte Aufgaben <strong>und</strong> Charakteristika haben. 75<br />
Störungen der Sinnes- <strong>und</strong> Körperfunktion
76<br />
In einer weiteren Kartierungsstudie zeigten Forschende, dass Neuronen<br />
im mittleren temporalen (MT) Bereich des <strong>Gehirn</strong>s, der bekanntlich zur<br />
Verarbeitung von Informationen über Bewegung <strong>und</strong> räumliche Tiefe beiträgt,<br />
auch detailliert darüber Informationen vermitteln, wie dreidimensionale<br />
Objekte in die Umgebung eingebettet sind 85 . Primaten vermögen<br />
innerhalb von etwa h<strong>und</strong>ert Fuss zu unterscheiden, wie weit das eine Auge<br />
von einem bestimmten Gegenstand entfernt ist <strong>und</strong> wie weit das andere.<br />
Zwar nehmen wir diese binokulare Disparität, wie dieser Unterschied<br />
genannt wird, nicht bewusst wahr, doch verwenden Neuronen im visuellen<br />
Kortex diese Information, um Entfernung <strong>und</strong> Tiefe im Gesichtsfeld<br />
abzuschätzen. Jerry D. Nguyenkim <strong>und</strong> Gregory C. DeAngelis von der<br />
Washington University Medical School in St. Louis, Missouri, stellten fest,<br />
dass bestimmte MT-Neuronen aktiv werden, wenn in dieser binokularen<br />
Disparität innerhalb des rezeptiven Felds der Zellen ein Gradient besteht<br />
oder eine Veränderung erfolgt. Mit anderen Worten, diese Neuronen sind<br />
besonders geeignet, die Neigung eines Objekts zu erkennen, etwa die<br />
Ecke eines Bilderrahmens auf einem Pult <strong>und</strong> eine Verdrehung, bei der<br />
die Oberfläche eines Objekts ein wenig auf die eine oder andere Seite<br />
verdreht ist.<br />
Ausserdem, werden einzelne MT-Neuronen, ebenso wie die farbempfindlichen<br />
Neuronen in V2, jeweils vorzugsweise von einem spezifischen Neigungs-<br />
oder Drehwinkel aktiviert. Betrachtet man also einen Bilderrahmen,<br />
der nur ein klein wenig aus der Vertikalen gekippt ist, wird eine<br />
Gruppe von Neuronen aktiviert, befindet sich jedoch die daneben liegende<br />
Fotografie in einer stärkeren Schieflage, so wird eine andere Gruppe<br />
von Neuronen aktiviert.<br />
Die Tatsache, dass das Team eine Selektivität auf Schieflage <strong>und</strong> Neigung<br />
feststellte, ohne dass der visuelle Stimulus in Bewegung war, weist darauf<br />
hin, dass MT bei der Bestimmung der 3-D-Struktur einer Situation ganz<br />
allgemein involviert ist, auch unabhängig von einer Bewegungsanalyse.<br />
Die zirkadiane Uhr stellen<br />
Im Verlauf der letzten paar Jahre haben Wissenschafter in der Retina von<br />
Säugetieren einen neuen Typ von Photorezeptoren entdeckt. Zusätzlich<br />
zu den längst bekannten Stäbchen- <strong>und</strong> Zapfen-Rezeptoren, die für die<br />
visuelle Wahrnehmung verantwortlich sind, gibt es etwa 600 Photorezeptoren,<br />
die Melanopsin, ein photoreaktives Pigment, enthalten. Seit der<br />
Entdeckung dieser neuartigen Photorezeptoren wurde nachgewiesen,
dass die Melanopsin enthaltenden Zellen bei der Verarbeitung von Reaktionen<br />
auf Licht mitwirken, die nicht mit Bildern zusammenhängen;<br />
dazu gehört etwa die Phasenverschiebung des zirkadianen Rhythmus<br />
eines Tieres <strong>und</strong> die durch Licht hervorgerufene Kontraktion der Pupille.<br />
Zwei Forschungsgruppen, die eine unter der Leitung von King-Wai Yau an<br />
der Johns Hopkins University <strong>und</strong> die andere unter John Hogenesch am<br />
Scripps Research Institute <strong>und</strong> dem Genomics Institute der Novartis Research<br />
Fo<strong>und</strong>ation in San Diego, fanden inzwischen unabhängig voneinander<br />
klare Hinweise, dass die Stäbchen- <strong>und</strong> Zapfen- sowie die Melanopsin-Photorezeptor-Systeme<br />
die einzigen sind, die es in der Retina gibt <strong>und</strong><br />
gemeinsam für sämtliche durch Licht bedingten Verhaltensweisen verantwortlich<br />
sind 86, 87 .<br />
Mittels Gentechnik schalteten beide Teams das Melanopsin-Gen <strong>und</strong><br />
damit die spezialisierten Photorezeptoren aus. Unter diesen Bedingungen<br />
zeigte sich, dass die Stäbchen- <strong>und</strong> Zapfen-Photorezeptoren die Funktion<br />
des Melanopsin-Rezeptors kompensieren können, indem sie als Ersatzsystem<br />
die nicht-visuellen Reaktionen auf Licht steuern.<br />
Als die Forschenden anschliessend eine Mutation erzeugten, die bei diesen<br />
Tieren mit fehlendem Melanopsin auch das Stäbchen- <strong>und</strong> Zapfensystem<br />
beeinträchtigte, stellten sie fest, dass die Tiere praktisch überhaupt<br />
nicht mehr auf Licht reagierten. Ihre Aktivitätszyklen verkürzten sich auf<br />
etwas weniger als 24 St<strong>und</strong>en, was für Mäuse typisch ist, die in konstanter<br />
Dunkelheit gehalten werden. Hielt man sie unter zyklischem Lichtbedingungen<br />
mit 8 St<strong>und</strong>en Licht <strong>und</strong> 16 St<strong>und</strong>en Dunkelheit, waren die Tiere<br />
zu zufälligen Zeiten aktiv; Wildtyp-Mäuse, bei denen eines der beiden<br />
Rezeptorsysteme intakt ist, sind unter solchen Bedingungen nur während<br />
der dunklen St<strong>und</strong>en aktiv. Ausserdem zeigten die mutierten Tiere<br />
keinerlei Pupillenreaktion auf Licht, obwohl das neurale System, das eine<br />
Puppillenkontraktion bewirkt, funktionsfähig war.<br />
Bei den einfachsten Systemen ist eine einzelne Funktion jeweils nur einem<br />
Zelltyp zugeordnet. Aber anstatt den einfachsten Weg einzuschlagen,<br />
versah die Evolution das visuelle System mit einem eleganteren <strong>und</strong><br />
widerstandsfähigeren System <strong>und</strong> fügte in den Ablauf eine gewisse<br />
Red<strong>und</strong>anz sowie Funktionen ein, die einander ergänzen.<br />
Störungen der Sinnes- <strong>und</strong> Körperfunktion<br />
77
Stammzellen<br />
<strong>und</strong> Neurogenese<br />
Stammzellen-Debatte: Pluripotenz oder Verschmelzung 80<br />
Neues „Stemness“-Gen identifiziert 82<br />
Antidepressiva <strong>und</strong> Neurogenese im <strong>Gehirn</strong> 82<br />
79
80<br />
Der Nachweis, dass es Stammzellen (unreife Zellen, die sich theoretisch<br />
zu jedem Zelltyp entwickeln können) bei Erwachsenen gibt, hat Hoffnungen<br />
geweckt, dass diese Zellen zur Behandlung vieler Krankheiten,<br />
einschliesslich degenerativer Erkrankungen des Nervensystems verwendet<br />
werden können. Dadurch liessen sich sowohl die ethischen Probleme<br />
vermeiden, die mit der Verwendung von Zellen von Embryonen verb<strong>und</strong>en<br />
sind als auch Probleme der Gewebeabstossung bei Transplantaten<br />
von tierischen Zellen.<br />
Stammzellen-Debatte: Pluripotenz oder Verschmelzung<br />
Untersuchungen der letzten Jahre weisen auf eine hohe Anpassungsfähigkeit<br />
von Stammzellen, die so genannte Pluripotenz, hin <strong>und</strong> zeigen, dass<br />
dem Knochenmark entnommene Zellen, Lebergewebe wieder besiedeln<br />
oder Neuronen im <strong>Gehirn</strong> generieren können. Die Forschung hat jedoch<br />
eine neue Wende genommen, denn verschiedene Berichte stellen die<br />
Idee der Pluripotenz in Frage <strong>und</strong> nehmen an, dass Stammzellen zwar verschiedene<br />
Gewebearten hervorbringen können, dass sie dies aber durch<br />
die Verschmelzung mit bestehenden Zellen des Gewebes tun <strong>und</strong> nicht<br />
durch einen geänderten Verlauf ihrer eigenen Differenzierung. Mehrere<br />
Untersuchungen stützen diese neue Vorstellung. So wurden etwa „hämatopoetische“<br />
Stammzellen oder Blutzellen produzierende Stammzellen<br />
aus dem Knochenmark transplantiert <strong>und</strong> Spuren dieser Zellen im Lebergewebe<br />
gef<strong>und</strong>en. Anfangs 2003 erbrachte ein Team den Nachweis, dass<br />
dies über den Weg der Zellverschmelzung <strong>und</strong> nicht der Pluripotenz<br />
erfolgt. Die Forschenden untersuchten das Gewebe von Mäusen mit<br />
einer Lebererkrankung, die Knochenmarktransplantate erhalten hatten.<br />
Die Analyse ergab, dass sowohl Zellen mit der genetischen Signatur der<br />
Spendermäuse als auch solche der Empfänger die geschädigte Leber wieder<br />
besiedelten. Zudem wiesen die Leberzellen der Empfängermäuse,<br />
alles Männchen, sowohl X als auch Y Chromosomen auf, was anzeigt, dass<br />
es sich bei den neuen Zellen um ein zusammengesetztes Produkt der<br />
hämatopoetischen Stammzellen (hematopoietic stem cells, HSC) der<br />
weiblichen Spender <strong>und</strong> der Empfänger handelte 88 .<br />
Diese auf einem überzeugenden Bericht von Ende 2002 in Science beruhenden<br />
Ergebnisse stellen die Theorie in Frage, wonach HSC die Fähigkeit<br />
haben, sich in andere Zelltypen zu verwandeln. In dieser Untersuchung<br />
transplantierten die Forschenden Mäusen, bei denen die Bildung von Blutzellen<br />
durch Bestrahlung verhindert worden war, eine einzelne hämatopoetische<br />
Stammzelle; diese wurde einem Stamm von Spendermäusen
entnommen, der gentechnisch so verändert worden war, dass die Tiere in<br />
all ihren Genen ein grün fluoreszierendes Protein exprimierten. Als die<br />
Forschenden bei den Empfängermäusen nach Anzeichen des grünen Proteins<br />
suchten, stellten sie fest, dass, obwohl die einzelne Stammzelle die<br />
Blutzellen der bestrahlten Tiere regeneriert hatte, in anderen Geweben<br />
keine Spur des grünen Proteins zu finden war. In einem verwandten Experiment<br />
mit Mäusen, deren Blutversorgung durch einen chirurgischen Eingriff<br />
zusammengeschlossen worden war, wurden grün-markierte Blutzellen<br />
der Spendermaus den Blutzellen des Empfängers eingepflanzt, aber<br />
auch in diesem Fall stellte man in anderen Geweben keinen entsprechenden<br />
„Chimärismus“ fest 89 .<br />
Im Februar 2003 zeigte eine weitere Untersuchung, dass Knochenmarkzellen<br />
in spezifische Neuronen, die so genannten Purkinje Zellen, im<br />
menschlichen <strong>Gehirn</strong> inkorporiert werden können. Die Forschenden<br />
untersuchten Hirngewebe, das bei der Autopsie von weiblichen Leukämiekranken<br />
entnommen worden war, die Knochenmarktransplantate von<br />
männlichen Spendern erhalten hatten. Da Purkinje Neuronen gross sind<br />
<strong>und</strong> eine eindeutige Form aufweisen, liessen sich ihre Kerne leicht auf das<br />
Vorhandensein von Chromosomen des anderen Geschlechts überprüfen.<br />
Das Team fand vier Neuronen, die sowohl ein X- als auch ein Y-Chromosom<br />
enthielten <strong>und</strong> zwei weitere mit mehr als der üblichen Anzahl an<br />
Chromosomen. Zwar scheint die Zahl klein zu sein, doch betonen die Forschenden,<br />
jegliches Vorkommen sei überraschend, da zuvor noch nie<br />
etwas Ähnliches dokumentiert worden war. Sie kamen zum Schluss, dass<br />
zwei Erklärungen möglich waren: Entweder hatten sich Stammzellen vom<br />
Knochenmark – die einzig mögliche Quelle des falsch zugeordneten Chromosoms<br />
– in neue Purkinje Neuronen verwandelt, oder die Stammzellen<br />
hatten sich mit den Neuronen verschmolzen. In einer solchen Verschmelzung<br />
liegt ein therapeutisches Potential. Es ist nicht bekannt, dass sich Purkinje<br />
Neuronen, die für Funktionen wie Gleichgewicht <strong>und</strong> Bewegung<br />
eine Schlüsselfunktion ausüben, im adulten <strong>Gehirn</strong> reproduzieren; ihr<br />
Untergang führt zu verschiedenen charakteristischen Erkrankungen wie<br />
der Bewegungsstörung Ataxie, zu alkoholischer Demenz, bekannt als<br />
Wernicke-Korsakoff-Syndrom, <strong>und</strong> zu Prionenerkrankungen, etwa den<br />
Creutzfeldt-Jakob Erkrankungen 90 .<br />
Insgesamt weisen die Untersuchungen darauf hin, dass Zellverschmelzung<br />
der Weg ist, über den Stammzellen verschiedene Gewebearten wieder<br />
besiedeln. Diese Erkenntnis vermindert den therapeutischen Wert von 81<br />
Stammzellen <strong>und</strong> Neurogenese
82<br />
Stammzellen nicht, zeigt indessen, dass sich Wissenschafter mit neuen<br />
Gr<strong>und</strong>sätzen vertraut machen müssen, um dieses Potential therapeutisch<br />
zu nutzen. Ausserdem könnte Zellverschmelzung die Anwendungsmöglichkeiten<br />
von Stammzellen erweitern, einschliesslich jener, eine geschädigte<br />
Zelle durch Zufuhr von vollständigen, ges<strong>und</strong>en Chromosomen zu „retten“.<br />
Neues „Stemness“-Gen identifiziert<br />
Um Stammzellen in einen gewünschten Zelltyp zu transformieren, muss<br />
man die Signale, die die Zelldifferenzierung steuern, kennen <strong>und</strong> verstehen.<br />
Im Mai 2003 identifizierten Forschende einen neuen genetischen<br />
Faktor, der embryonale Stammzellen dazu bringt, sich zu teilen <strong>und</strong> gleichzeitig<br />
verhindert, dass sie sich ausdifferenzieren. Da dieser Faktor Zellen in<br />
ihrem unreifen Zustand bewahrt, nannten ihn die in Schottland beheimateten<br />
Forschenden Nanog, dies nach Tir nan Og, dem Land der Jugend in<br />
der keltischen Mythologie. Das Team nimmt an, Nanog könnte eines von<br />
einer ganzen Gruppe von „Stemness“-Genen sein; weitere Forschungsarbeiten<br />
sind notwendig um zu ermitteln, ob es bei der Pluripotenz eine<br />
Rolle spielt <strong>und</strong> ob es einzig bei embryonalen Stammzellen vorkommt.<br />
Ausserdem könnte es nun, nachdem Nanog identifiziert wurde, möglich<br />
sein, jene Gene genau zu bestimmen, auf die es einwirkt – dies würde Wissenschafter<br />
in die Lage versetzen, Stammzellen so zu animieren, dass sie<br />
auf dem gewünschten Weg der Ausdifferenzierung bleiben 91 .<br />
Antidepressiva <strong>und</strong> Neurogenese im <strong>Gehirn</strong><br />
Die Wissenschaft ist dabei, das Potential der Neurogenese – die Geburt<br />
von neuen Neuronen im adulten <strong>Gehirn</strong> – zur Behandlung jener Krankheiten<br />
nutzbar zu machen, bei denen es zum Untergang von Hirnzellen<br />
kommt, etwa der Alzheimerschen <strong>und</strong> der Parkinsonschen Krankheit.<br />
Neurogenese könnte aber auch bei Erkrankungen eine Rolle spielen, die<br />
nicht so offensichtlich mit dem Verlust von Hirnzellen zusammenhängen.<br />
Die Forschung deutet darauf hin, dass Depression teilweise auf der Abwesenheit<br />
von Neurogenese in Hirnregionen beruht, in denen sie normalerweise<br />
vorkommt; Untersuchungen an Tieren zeigen, dass Antidepressiva<br />
dadurch wirksam sein könnten, dass sie das Wachstum neuer Hirnzellen<br />
anregen. Ein in der Ausgabe vom 8. August 2003 in Science erschienener<br />
Bericht gibt einen ersten Hinweis darauf, dass eine durch Antidepressiva<br />
ausgelöste Neurogenese zur Heilung einer Depression führen könnte. Die<br />
Forschenden verwendeten einen Standardtest <strong>und</strong> zeigten einer Gruppe<br />
von hungrigen Mäusen eine Schüssel mit Futterkörnern unter einem hellen<br />
Licht, das Mäuse gewöhnlich zu meiden trachten. Mäuse, die sich trotz
ihres Hungers nicht ans Licht wagen, gelten als Tiere mit einer für Mäuse<br />
charakteristischen Angst oder Depression. Eine vierwöchige Behandlung<br />
mit Fluoxetin (Prozac) oder einer anderen Klasse von Antidepressiva<br />
brachte die Mäuse dazu, Mut zu fassen <strong>und</strong> ihre hell erleuchteten Mahlzeiten<br />
zu essen; bei diesen Mäusen nahm auch die Zahl der sich teilenden<br />
Zellen im Hippocampus um 60% zu, einer Verbindungsstelle von Gedächtnis<br />
<strong>und</strong> räumlicher Orientierung <strong>und</strong> einem Bereich, in dem Neurogenese<br />
stattfindet. In der nächsten Phase des Experiments wurden die Mäuse<br />
Röntgenstrahlen exponiert, wodurch die sich teilenden Zellen, also<br />
Stammzellen <strong>und</strong> neuronale Vorläuferzellen, die sich zu neuen Neuronen<br />
entwickeln, vernichtet wurden. Diesmal führte dieselbe Behandlung nicht<br />
zur Neurogenese <strong>und</strong> die Mäuse blieben so ängstlich wie zuvor, was deutlich<br />
darauf hinweist, dass die Antidepressiva die Entstehung neuer Zellen<br />
ausgelöst hatten <strong>und</strong> dass diese Neurogenese das Verhalten <strong>und</strong> (so die<br />
Folgerung) die Stimmung der Tiere veränderte. Zwar könnte eine Bestrahlung<br />
neben der Zerstörung von sich teilenden Zellen auch andere Auswirkungen<br />
auf das <strong>Gehirn</strong> haben, doch erbringt die Untersuchung den ersten<br />
überzeugenden Hinweis auf Ursache <strong>und</strong> Wirkung. Wenn wir Depression<br />
als ein Ausbleiben der Neurogenese <strong>und</strong> nicht nur als Ungleichgewicht<br />
der Hirnchemie betrachten, könnte dies das Verständnis dieser Krankheit<br />
vertiefen <strong>und</strong> zu besseren Behandlungsmöglichkeiten führen 92 .<br />
Stammzellen <strong>und</strong> Neurogenese<br />
83
Denk- <strong>und</strong><br />
Erinnerungsstörungen<br />
Veränderungen in der<br />
Therapie der Alzheimerschen Krankheit 86<br />
Bildgebung <strong>und</strong> Gedächtnis 88<br />
Die normale Gedächtnistätigkeit verstehen 90<br />
85
86<br />
Es ist zu erwarten, dass die Zahl der Amerikaner, die an der Alzheimerschen<br />
Krankheit (Alzheimer’s disease, AD) leiden, von 4,5 Millionen<br />
im Jahr 2000 auf 13 Millionen im Jahr 2050 ansteigen wird, falls nicht neue<br />
Möglichkeiten gef<strong>und</strong>en werden, diese Krankheit zu verhindern oder zu<br />
behandeln; zu diesem Schluss kommt ein Bericht, der 2003 von Denis<br />
Evans <strong>und</strong> Mitarbeitenden am Rush Institute on Healthy Aging in Chicago<br />
veröffentlicht wurde 93 . Die meisten AD-Forschenden sind jedoch weiterhin<br />
optimistisch, dass neue Strategien verhindern werden, dass die Krankheit<br />
einen derart grossen Tribut fordert.<br />
Bereits im Verlauf des Jahres 2003 wurde ein neues Medikament zur<br />
Behandlung der Alzheimerschen Krankheit zugelassen <strong>und</strong> das Verständnis<br />
der normalen Gedächtnisfunktion <strong>und</strong> seiner Störungen nimmt weiterhin<br />
zu.<br />
Veränderungen in der<br />
Therapie der Alzheimerschen Krankheit<br />
Am 24. September empfahl die für Medikamente des peripheren <strong>und</strong> zentralen<br />
Nervensystems zuständige beratende Kommission der amerikanischen<br />
Arzneimittelbehörde FDA, Memantin zur Behandlung der leichten<br />
bis schweren AD (siehe auch das Kapitel „Neuroethik“, S. 49) zuzulassen<br />
94 . Es wird das erste in den USA erhältliche Medikament zur Behandlung<br />
der fortgeschrittenen Alzheimerschen Krankheit sein.<br />
Memantin steht für eine völlig neue Klasse von Medikamenten zur<br />
Behandlung der AD. Bei allen vier bisher auf dem Markt befindlichen<br />
Medikamenten handelt es sich um Cholinesterase Inhibitoren, einschliesslich<br />
Donepezil (mit dem Handelsnamen Aricept). Schon früh im<br />
Verlauf der AD nimmt das im <strong>Gehirn</strong> vorhandene Acetylcholin ab, ein<br />
für die Signalübertragung zwischen gewissen Neuronen im <strong>Gehirn</strong> notwendiger<br />
Neurotransmitter; die Cholinesterase Inhibitoren wirken diesem<br />
Defizit dadurch entgegen, dass sie den Abbau von Acetylcholin verlangsamen<br />
<strong>und</strong> so die Verfügbarkeit des Neurotransmitters vorübergehend<br />
erhöhen. Im Gegensatz dazu wirkt Memantin auf eine andere Untergruppe<br />
von Neuronen ein, die durch den Neurotransmitter Glutamat<br />
stimuliert werden. Abnorm hohe Glutamatspiegel, wie sie bei einigen<br />
degenerativen Erkrankungen des Nervensystems, einschliesslich der AD,<br />
vorkommen, können die Neuronen zerstören. Memantin verhindert diesen<br />
Zelltod, indem es die NMDA-Rezeptoren (N-Methyl-D-Aspartate), an die<br />
Glutamat bindet, blockiert.
In einer der drei Studien, die vom Beratungskomitee der FDA geprüft wurden,<br />
hatten Pierre Tariot vom University of Rochester Medical Center <strong>und</strong><br />
seine Mitarbeitenden festgestellt, dass die Kombination von Memantin<br />
<strong>und</strong> Donepezil zur Behandlung von Kranken mit moderater bis schwerer<br />
AD wirksamer war als Donepezil allein 95 . In dieser Untersuchung hatte<br />
man 403 Patienten mit moderater bis schwerer AD, die seit mindestens<br />
sechs Monaten mit Donepezil behandelt worden waren, zufällig einer von<br />
zwei Untersuchungsgruppen zugeteilt. Eine Patientengruppe bekam täglich<br />
Donepezil <strong>und</strong> Memantin, während Patienten der zweiten Gruppe<br />
Donepezil <strong>und</strong> eine Placebo-Tablette erhielten, die ähnlich aussah wie<br />
Memantin, aber keine Wirkstoffe enthielt. Während der 24 Wochen dauernden<br />
Studie wussten weder die Kranken noch ihre Ärzte, wer Placebo<br />
<strong>und</strong> wer Memantin erhielt. Bei Abschluss der Untersuchung hatten sich<br />
die kognitiven Fähigkeiten der Kranken, die beide Medikamente erhalten<br />
hatten, im Vergleich zu denen, die die Placebo-Kombination eingenommen<br />
hatten, statistisch signifikant verbessert. Bei den Kranken mit der<br />
Kombinationstherapie hatte auch die Fähigkeit, tägliche Aufgaben zu<br />
bewältigen, etwa sich selbst anzuziehen, weniger abgenommen.<br />
Im Gegensatz zu den erfolgreichen Versuchen mit Memantin, war der allererste<br />
klinische Versuch mit einer Impftherapie gegen AD anfangs 2002<br />
vorzeitig abgebrochen worden, da 17 von 300 Kranken Symptome einer<br />
Meningoenzephalitis, einer Entzündung des <strong>Gehirn</strong>s <strong>und</strong> des angrenzenden<br />
Gewebes, entwickelt hatten 96 . Im April 2003 veröffentlichten James<br />
Nicoll <strong>und</strong> Mitarbeitende von der Universität Southampton, Grossbritannien,<br />
die Ergebnisse der Autopsie eines Patienten, der nach der Behandlung<br />
mit dem Impfstoff AN-1792 an Meningoenzephalitis erkrankt war 97 .<br />
Nicoll’s Team stellte fest, dass bei diesem Patienten ganze Bereiche der<br />
Grosshirnrinde frei von Plaques waren, was man im <strong>Gehirn</strong> von unbehandelten<br />
Patienten in einem vergleichbaren Stadium der AD nie gesehen<br />
hatte. Allerdings wiesen dieselben Hirnregionen dennoch andere mit AD<br />
zusammenhängende Pathologien auf, etwa Alzheimer Fibrillen (neurofibrillary<br />
tangles); somit hatten die durch den Impfstoff induzierten Antikörper<br />
zwar beta-amyloides (ßA) Protein beseitigt, jedoch nicht das<br />
ganze potentiell schädigende Material aufgelöst. Forschende auf diesem<br />
Gebiet betonen, dass dies ein besonders wichtiger Punkt sei; bisher steht<br />
nämlich nicht fest, ob ßA Plaques den kognitiven Verfall verursachen oder<br />
mit ihm bloss in einer nicht ursächlichen Weise zusammenhängen. Selbst<br />
wenn also die Behandlung mit einem Impfstoff die gesamten ßA Plaques 87<br />
Denk- <strong>und</strong> Erinnerungsstörungen
88<br />
beseitigen würde, könnte sie möglicherweise die normale Gedächtnisleistung<br />
nicht wiederherstellen.<br />
Bezeichnenderweise ergab die Autopsie auch Hinweise auf eine schädigende<br />
Immunreaktion. Der Impfstoff scheint nicht nur die Produktion von<br />
Antikörpern ausgelöst sondern auch eine Reaktion der T-Zellen hervorgerufen<br />
zu haben, was zu einer Entzündung führt <strong>und</strong> den kognitiven Verfall<br />
des Kranken beschleunigte. (Für weitere follow-up Untersuchungen, vgl.<br />
das Kapitel „Neuroimmunologische Erkrankungen“, S. 26.)<br />
Aufgr<strong>und</strong> dieser verschiedenartigen Ergebnisse – offensichtliche Beseitigung<br />
der Plaques <strong>und</strong> durch den Impfstoff induzierte Schädigung –<br />
sind viele in diesem Bereich Forschende der Ansicht, man müsse die<br />
immuntherapeutischen Schemata zwar anpassen, jedoch nicht völlig aufgeben<br />
98, 99 . Eine Möglichkeit besteht darin, von einer aktiven Impfung, bei<br />
der dem Patienten ein Protein injiziert wird, das sein eigenes Immunsystem<br />
stimuliert, wie dies bei AN-1792 der Fall war, zu einer passiven Therapie zu<br />
wechseln, bei der einem Patienten bereits produzierte Antikörper verabreicht<br />
werden, die das schädigende Agens erkennen. Die Hoffnung bei<br />
einer solchen passiven Immunisierung ist, die Vorteile der durch Antikörper<br />
induzierten Beseitigung der ßA Plaques zu erlangen, ohne jedoch die<br />
eine Entzündung induzierende zelluläre Immunreaktion zu aktivieren. Verschiedene<br />
Untersuchungen zeigen, dass die passive Immunisierung mit<br />
Antikörpern gegen ßA die Plaques im <strong>Gehirn</strong> von Mäusemodellen der AD<br />
zu beseitigen vermag 100 .<br />
Bildgebung <strong>und</strong> Gedächtnis<br />
Eine der Schwierigkeiten, Behandlungen der AD zu entwickeln besteht<br />
darin, dass wir die Pathophysiologie dieser Krankheit noch nicht ganz verstehen.<br />
Allerdings wurden in den letzten Jahren die bildgebenden Verfahren<br />
verbessert, dank denen Ärzte <strong>und</strong> Ärztinnen sehen können, was im<br />
<strong>Gehirn</strong> von Demenzkranken vor sich geht, <strong>und</strong> die Forschenden beginnen<br />
nun, die einzelnen Schritte des Krankheitsprozesses aufzudecken.<br />
In einer solchen Untersuchung verwendeten Reisa Sperling <strong>und</strong> Mitarbeitende<br />
von der Universität Harvard das bildgebende Verfahren der<br />
funktionellen Magnetresonanz (functional magnetic resonance imgaging;<br />
fMRI), bei dem der Blutfluss im <strong>Gehirn</strong> dargestellt wird, um herauszufinden,<br />
wie sich die Hirnaktivität von Kranken mit leichter AD von der<br />
junger <strong>und</strong> älterer ges<strong>und</strong>er Kontrollpersonen unterscheidet, während sie
assoziative Gedächtnisaufgaben lösen 101 . Man zeigte den Leuten eine<br />
Reihe von Gesichtern, wobei unter jeder Fotografie in leicht lesbarer<br />
Schrift ein Vorname stand <strong>und</strong> stellte ihnen die Aufgabe, sich den zum<br />
jeweiligen Gesicht gehörenden Namen zu merken. Während sich die<br />
Patienten die Fotografien ansahen, machte der MRI-Apparat Bilder ihres<br />
<strong>Gehirn</strong>s. Durch den Vergleich der Bilder, können die Forschenden feststellen,<br />
welcher Teil des <strong>Gehirn</strong>s bei einer bestimmten Aufgabe tätig ist<br />
<strong>und</strong> herausfinden, ob diese Aktivität bei den verschiedenen Versuchsgruppen<br />
mit gleicher Intensität <strong>und</strong> am selben Ort auftritt.<br />
Im Vergleich zur älteren Kontrollgruppe wurde bei AD-Kranken eine signifikant<br />
verminderte Aktivität in der Region des Hippokampus festgestellt.<br />
Eine Vermutung ist, diese Reduktion beruhe zum Teil auf dem mit dem<br />
Fortschreiten der Krankheit einhergehenden Verlust von Neuronen des<br />
Hippokampus. Allerdings liessen sich weitere Unterschiede erkennen, die<br />
zudem auf eine Fehlfunktion der verbleibenden Neuronen hinweisen.<br />
Demgegenüber fanden die Forschenden, beim Vergleich der Hirnaktivität<br />
von jungen <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>en älteren Kontrollpersonen, dass die Aktivität im<br />
Hippokampus ähnlich war, wobei sie allerdings bei jungen Personen symmetrischer<br />
<strong>und</strong> über ein etwas grösseres Gebiet verteilt auftrat. Diese beiden<br />
Gruppen unterschieden sich in Bezug auf das Ausmass der Aktivität<br />
im präfrontalen Kortex <strong>und</strong> in der parietalen Region. Aufgr<strong>und</strong> all dieser<br />
Ergebnisse kommen die Forschenden zum Schluss, der während des normalen<br />
Alterns auftretende Gedächtnisverlust habe eine andere Ursache<br />
als der bei AD auftretende. Allerdings mahnen sie zur Vorsicht, da ihre<br />
Untersuchung mit nur 27 Personen klein war <strong>und</strong> eindeutige Schlüsse erst<br />
aufgr<strong>und</strong> einer grösseren Studie gezogen werden können.<br />
Um solche Projekte zu fördern, kündigte das National Institute on Aging im<br />
Jahr 2003 eine neue Initiative an, welche Untersuchungen an Kranken mit<br />
einer leichten kognitiven Störung (mild cognitive impairment; MCI) <strong>und</strong><br />
AD sowie an ges<strong>und</strong>en Kontrollpersonen mittels bildgebenden Verfahren<br />
unterstützen soll. Die Initiative wird durch öffentliche <strong>und</strong> private Mittel<br />
finanziert. Sämtliche gesammelten Informationen, sowohl das Bildmaterial<br />
als auch die Blut- <strong>und</strong> Liquorproben sollen so rasch wie möglich allen interessierten<br />
Forschergruppen zugänglich gemacht werden.<br />
Im Zuge dieser Initiative werden Wissenschafter in r<strong>und</strong> 25 über die ganzen<br />
USA verteilten klinischen Institutionen 150 Patienten im Anfangsstadium<br />
der AD, 350 Personen mit einer leichten kognitiven Behinderung 89<br />
Denk- <strong>und</strong> Erinnerungsstörungen
90<br />
(MCI) <strong>und</strong> 150 ges<strong>und</strong>e Kontrollpersonen evaluieren <strong>und</strong> untersuchen.<br />
Die Teilnehmenden werden alle drei Monate einer Positronen-Emissionstomographie<br />
(PET) <strong>und</strong> dem bildgebenden Verfahren der Magnetresonanz<br />
(magnetic resonance imgaging; MRI) unterzogen. Die Forschenden<br />
werden die MCI-Kranken <strong>und</strong> die ges<strong>und</strong>en Kontrollpersonen während<br />
drei, die AD-Kranken während zwei Jahren verfolgen.<br />
Zusätzlich zu den PET <strong>und</strong> MRI-Scans werden im Liquor potentielle Biomarker<br />
wie Serumproteine <strong>und</strong> die Konzentration des Beta-Amyloid-Proteins<br />
bestimmt, um sowohl dem biologischen Krankheitsverlauf als auch<br />
diagnostischen <strong>und</strong> prognostischen Markern auf die Spur zu kommen.<br />
PET-Bildgebung misst die Menge der in verschiedenen Hirnregionen vorhandenen<br />
Glukose <strong>und</strong> bildet die Stoffwechselaktivität im ganzen <strong>Gehirn</strong><br />
ab. Es ist bereits bekannt, das AD-Patienten in einigen Hirnregionen eine<br />
herabgesetzte Stoffelwechseltätigkeit aufweisen; aufgr<strong>und</strong> der geplanten<br />
Longitudinalstudie, die Patienten über längere Zeit hinweg verfolgt, wird<br />
man bestimmen können, wann solche Veränderung in Bezug auf kognitive<br />
Einbussen auftreten. MRI dagegen, vermittelt ein anatomisches Bild des<br />
<strong>Gehirn</strong>s. Im Verlauf der AD verringern sich der Umfang der Grosshirnrinde<br />
<strong>und</strong> des Hippokampus, die für Gedächtnis <strong>und</strong> Lernen wichtig sind. Aber<br />
auch hier gilt, dass zurzeit nicht bekannt ist, wie diese Veränderungen mit<br />
den kognitiven Leistungen korreliert sind; wir wissen nicht einmal, ob die<br />
Reduktion der Hirnsubstanz dem Gedächtnisverlust vorausgeht oder auf<br />
ihn folgt.<br />
Die neue Initiative wird es den Forschenden ermöglichen, den natürlichen<br />
Verlauf der Krankheit zu verfolgen <strong>und</strong> darüber hinaus die Wirkungen verschiedener<br />
potentieller Medikamente <strong>und</strong> Interventionen zu untersuchen.<br />
Möglicherweise vermag ein neues Medikament die im <strong>Gehirn</strong> eines AD-<br />
Patienten auftretenden Veränderungen rückgängig zu machen oder zu<br />
verlangsamen, ohne unmittelbar kognitive Verbesserungen zu induzieren.<br />
In diesem Fall wären Verfahren zur Bestimmung anatomischer Veränderungen,<br />
was durch die Initiative realisiert werden soll, für die Entwicklung<br />
von Medikamenten besonders wichtig.<br />
Die normale Gedächtnistätigkeit verstehen<br />
Forschende, welche die durch die Demenz bedingten Gedächtnisstörungen<br />
untersuchen, wollen auch wissen, wie das normale Gedächtnis<br />
zustande kommt. Im Jahr 2003 gab es diesbezüglich mehrere wichtige<br />
Bef<strong>und</strong>e, einschliesslich einer Reihe von Untersuchungen, die neue
Einsichten in die Rolle des Hippokampus bei der Bildung <strong>und</strong> Abfrage von<br />
Gedächtnisinhalten brachten.<br />
Larry Squire <strong>und</strong> seine Kollegen an der University of California, San Diego,<br />
<strong>und</strong> am San Diego Veteran’s Affairs Medical Center konnten aufgr<strong>und</strong><br />
ihrer Untersuchung an Amnesiepatienten verschiedene, seit langem<br />
bestehende Fragen beantworten, welche die Rolle des Hippokampus <strong>und</strong><br />
der angrenzenden Hirnregionen, etwa der entorhinalen, perirhinalen <strong>und</strong><br />
parahippocampalen Kortizes bei der Kodierung <strong>und</strong> Abfrage des Gedächtnisses<br />
betreffen. So wurde etwa vermutet, die kortikalen Bereiche r<strong>und</strong><br />
um den Hippokampus reichten aus, um einen Gegenstand als bekannt<br />
oder unbekannt einzuordnen, dass jedoch für die komplexere Aufgabe,<br />
sich daran zu erinnern woher man einen Gegenstand kennt, die Tätigkeit<br />
des Hippokampus nötig sei 102 . Zur Prüfung dieser Hypothese untersuchte<br />
die Gruppe von Squire sieben Amnesiepatienten, deren neurale Schädigung<br />
auf den Hippokampus selbst beschränkt war <strong>und</strong> sich nicht auf die<br />
angrenzenden Kortizes erstreckte. Squires Team zeigte den Patienten eine<br />
Reihe von Gegenständen <strong>und</strong> fragte zuerst, ob sie diese erkannten <strong>und</strong><br />
dann, ob sie sich erinnern könnten, woher sie sie kannten. Die Kranken<br />
schnitten bei beiden Aufgaben gleich schlecht ab, was darauf hinweist,<br />
dass der Hippokampus sowohl für die gr<strong>und</strong>legende Aufgabe, ein Objekt<br />
zu erkennen notwendig ist als auch für die komplexere, sich zu erinnern,<br />
woher man ihn kennt.<br />
In zwei nachfolgenden Untersuchungen, in denen ebenfalls Amnesiepatienten<br />
getestet wurden, konnte das Team die Rolle des Hippokampus<br />
näher eingrenzen. Neurobiologen sind sich einig, dass die Tätigkeit des<br />
Hippokampus für die Kodierung episodischer Gedächtnisinhalte (Erinnerungen<br />
an Ereignisse, die mit einem bestimmten Ort <strong>und</strong> einer bestimmten<br />
Zeit verknüpft sind) nötig ist, aber es war weniger klar, ob das semantische<br />
Gedächtnis (Erinnerungen an Sachinformationen, etwa den Namen des<br />
Präsidenten oder die Hauptstadt von Süddakota) auch auf dem Hippokampus<br />
beruht. Als die Forschenden Amnesiepatienten über Sachinformationen<br />
befragten, die entweder vor oder nach dem Insult aufgetreten<br />
waren, stellte das Team fest, dass sich die Patienten an lange vor dem Insult<br />
gespeicherte Informationen erinnern konnten, aber nach dem Insult im<br />
Vergleich zu ges<strong>und</strong>en Kontrollpersonen signifikant weniger Sachinformationen<br />
aufgenommen hatten 103 . Dies weist darauf hin, dass die Kodierung<br />
<strong>und</strong> Erinnerung des semantischen Gedächtnisses den Hippokampus erfordert,<br />
dass aber das Altgedächtnis unabhängig von ihm besteht. Ähnlich 91<br />
Denk- <strong>und</strong> Erinnerungsstörungen
92<br />
werden autobiographische Erinnerungen zwar ursprünglich durch den<br />
Hippokampus kodiert, doch werden diese Gedächtnisinhalte, wie Squires<br />
Gruppe feststellte, schliesslich ausserhalb des Hippokampus gespeichert<br />
<strong>und</strong> können auch ohne ihn abgerufen werden 104 .<br />
Die Fachleute sind sich zwar einig, dass zwischen den verschiedenen<br />
Hirnregionen eine Arbeitsteilung bestehen muss, doch zeigen diese<br />
drei Untersuchungen, dass einfache Unterscheidungen, etwa ob man<br />
erkennt, dass einem ein Objekt bekannt ist, bzw. ob man sich erinnert,<br />
woher man diese Information hat, nicht exakt wiedergeben, was in welcher<br />
Hirnregion geschieht.<br />
Man weiss, dass der Hippokampus auch bei der Kodierung von Erinnerungen,<br />
die auf einmaligen Erlebnissen beruhen, eine entscheidende Rolle<br />
spielt; welcher Teil dieser Struktur für die Aneignung einer solchen Erinnerung<br />
nötig ist, war jedoch bis 2003 unklar. Rasches Lernen spielt in unserem<br />
täglichen Leben eine entscheidende Rolle, da die meisten Ereignisse<br />
nur einmal vorkommen; nur so können wir uns daran erinnern, was wir<br />
heute zum Frühstück gegessen oder welche Leute wir bei der gestrigen<br />
Party getroffen haben. Um zu bestimmen, welche Zellen des Hippokampus<br />
für eine solche rasche Aneignung eines Gedächtnisinhalts nötig<br />
sind, untersuchten Susumu Tonegawa <strong>und</strong> Mitarbeitende am Massachusetts<br />
Institute of Technology eine Gruppe von Zellen, die als CA3-Neurone<br />
bezeichnet werden; diese sind nämlich untereinander in Form einer<br />
Schlaufe verb<strong>und</strong>en, was die rasche Verstärkung eines Signals ermöglicht<br />
<strong>und</strong> die Wahrscheinlichkeit erhöhen könnte, dass einmalige<br />
Ereignisse als Erinnerungen kodiert werden. Um diese Möglichkeit<br />
zu überprüfen, wurden gentechnisch veränderte Mäuse verwendet,<br />
denen funktionsfähige NMDA-Rezeptoren in den CA3-Neuronen<br />
fehlten. Ohne diese Rezeptoren sind die Zellen gegenüber dem Neurotransmitter<br />
NMDA unempfindlich <strong>und</strong> können nicht mit ihren Nachbarn<br />
kommunizieren 105 .<br />
Als die Forschenden testeten, ob sich die Tiere in einem Wasserlabyrinth<br />
an den Ort einer unter Wasser gelegenen Plattform erinnern konnten,<br />
stellten sie fest, dass diese in einer raschen Test-Wiederholungstest-<br />
Anordnung signifikant schlechter abschnitten als Kontrolltiere, was impliziert,<br />
dass funktionsfähige CA3-Synapsen für eine rasche Gedächtniskodierung<br />
nötig sind. Die Tiere konnten mit der Zeit lernen, wo sich die<br />
Plattform befand, benötigten dazu aber zahlreiche Trainingsdurchgänge.
Diese Ergebnisse stützen die These, dass die schlaufenförmige Verkabelung,<br />
welche die CA3-Zellen untereinander verbindet, eine rasche<br />
Kodierung von Erinnerungen ermöglicht, <strong>und</strong> dass ohne diese interne<br />
Verstärkung des Signals ein langsamerer Prozess verwendet werden<br />
muss, um sich eine solche Information anzueignen.<br />
Denk- <strong>und</strong> Erinnerungsstörungen<br />
93
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Referenzen<br />
101
Stelle Dir<br />
eine Welt vor ...
104<br />
… in der Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson,<br />
Lou Gehrig (ALS) sowie Retinitis pigmentosa<br />
<strong>und</strong> andere Ursachen von Erblindung<br />
jeweils in einem frühen Stadium erkannt<br />
<strong>und</strong> umgehend mit Medikamenten behandelt<br />
werden, die eine Verschlimmerung, noch vor<br />
dem Auftreten schwerwiegender Schädigungen<br />
verhindern.<br />
… in der die genetischen Bahnen <strong>und</strong> die<br />
umweltbedingten Auslöser, die Menschen für<br />
Geisteskrankheiten disponieren, bekannt sind,<br />
so dass entsprechende diagnostische Tests<br />
<strong>und</strong> zielgerichtete Therapien – einschliesslich<br />
Medikamente, Beratung <strong>und</strong> vorbeugende<br />
Eingriffe – in grossem Umfang zur Verfügung<br />
stehen <strong>und</strong> umfassend angewendet werden.<br />
… in der neue Erkenntnisse über die Entwicklung<br />
des <strong>Gehirn</strong>s dazu verwendet werden,<br />
die entscheidenden Vorteile des Lernens in<br />
den ersten Lebensjahren zu fördern <strong>und</strong> mit<br />
dem Altern zusammenhängende Krankheiten<br />
zu bekämpfen.<br />
… in der Rückenmarksverletzungen nicht<br />
länger zu lebenslänglichen Lähmungen führen,<br />
da das Nervensystem dazu gebracht werden<br />
kann, Nervenschaltkreise neu zu gestalten <strong>und</strong><br />
die Bewegung der Muskeln wieder herzustellen.<br />
… in der Drogenabhängigkeit <strong>und</strong> Alkoholismus<br />
das Leben von Menschen nicht länger<br />
im Griff haben, da leicht zugängliche Behandlungen<br />
jene Veränderungen im <strong>Gehirn</strong> beeinflussen<br />
können, die für das Absetzen von<br />
Abhängigkeit erzeugenden Substanzen verantwortlich<br />
sind, aber auch Sucht <strong>und</strong> Verlangen<br />
hervorrufen können.<br />
… in der das tägliche Leben der Menschen<br />
nicht mehr von depressiven Episoden oder<br />
Angstattacken beeinträchtigt wird, da wirksamere<br />
Medikamente zur Behandlung dieser<br />
Krankheiten verfügbar werden.<br />
Es mag zwar vielen unrealistisch <strong>und</strong> utopisch<br />
vorkommen, aber wir dürfen festhalten, dass<br />
wir gegenwärtig in einer ausserordentlich<br />
aufregenden Zeit der Geschichte der Neurowissenschaft<br />
leben. Die im vergangenen Jahrzehnt<br />
erfolgten Fortschritte in der Forschung<br />
haben uns weiter gebracht als wir gehofft<br />
hatten. Wir verstehen die gr<strong>und</strong>legenden<br />
Mechanismen der Hirntätigkeit wesentlich<br />
besser <strong>und</strong> sind nun an dem Punkt angelangt,<br />
an dem wir diese Erkenntnisse für therapeutische<br />
Zwecke fruchtbar machen können.<br />
Wir haben bereits angefangen, Strategien,<br />
neue Techniken <strong>und</strong> Behandlungsformen<br />
zur Bekämpfung einer ganzen Reihe neurologischer<br />
Krankheiten <strong>und</strong> Störungen zu entwickeln.<br />
Indem wir Therapieziele festlegen<br />
<strong>und</strong> unser Wissen anwenden, werden wir<br />
wirksame Behandlungen <strong>und</strong> in einigen Fällen<br />
wohl auch Heilmethoden entwickeln.<br />
Bei allem, was wir in letzter Zeit im Bereich<br />
der Neurowissenschaft gelernt haben, erkennen<br />
wir immer deutlicher, wie vieles wir nicht<br />
wissen. Dadurch wird es immer dringlicher,<br />
dass wir die Gr<strong>und</strong>lagenforschung vorantreiben,<br />
die sich mit der weiterreichenden Frage,<br />
wie lebende Organismen überhaupt funktionieren,<br />
befasst. Dies wird dazu beitragen,<br />
jene komplexen Fragestellungen anzugehen,<br />
welche zu wissenschaftlichen Entdeckungen<br />
führen.<br />
Die koordinierte Arbeit von Tausenden, die<br />
in den verschiedenen Bereichen der Gr<strong>und</strong>lagenforschung<br />
<strong>und</strong> der klinischen Forschung<br />
wissenschaftlich tätig sind, hat uns eine<br />
grosse Menge an Informationen gebracht;<br />
sie umfassen so unterschiedliche Gebiete<br />
wie die Strukturanalyse von Molekülen, die<br />
gezielte Entwicklung neuer Pharmaka, die Genomforschung,<br />
bildgebende Untersuchungen<br />
des <strong>Gehirn</strong>s, kognitive Neurowissenschaft<br />
<strong>und</strong> klinische Studien. Dieses ganze Wissen
können wir nun breit zur Behandlung neurologischer<br />
Krankheiten <strong>und</strong> Störungen einsetzen.<br />
Diese wissenschaftliche Arbeit werden<br />
wir auch weiterhin nicht nur individuell <strong>und</strong><br />
ausgerichtet auf die das eigene spezifische<br />
Interessengebiet weiterführen, sondern gemeinsam<br />
mit Kollegen aller wissenschaftlichen<br />
Bereiche nach Möglichkeiten der interdisziplinären<br />
Zusammenarbeit suchen.<br />
Um unsere Aufgabe erfolgreich zu erfüllen,<br />
sind wir auch auf das Vertrauen der Öffentlichkeit<br />
angewiesen. Forschende <strong>und</strong> Laien<br />
müssen daher aus den neuen Erkenntnissen<br />
der Hirnforschung entstehenden ethischen<br />
<strong>und</strong> sozialen Konsequenzen gemeinsam<br />
erörtern.<br />
Die <strong>Dana</strong> Alliance for Brain Initiatives <strong>und</strong><br />
die European <strong>Dana</strong> Alliance for the Brain ist<br />
eine Gemeinschaft von Neurowissenschaftlern<br />
<strong>und</strong> Neurowissenschaftlerinnen, die sich<br />
hochgesteckte Ziele gesetzt haben; dies<br />
zeigte sich bereits im Jahre 1992, als in Cold<br />
Spring Harbor, New York, ein Forschungsplan<br />
aufgestellt wurde <strong>und</strong> dann im Jahre 1997, als<br />
die neu gebildete europäische Gruppe sich<br />
auf ihre eigenen Zielsetzungen verpflichtete.<br />
Beide Gruppen sind gegenwärtig daran, ihre<br />
konkreten Zielvorstellungen so anzupassen,<br />
dass sie die erreichten Fortschritte optimal<br />
ausnützen können. Wir stecken uns auch<br />
neue Ziele, die uns den Weg zu bald Erreichbarem<br />
weisen, <strong>und</strong> stellen langfristige Pläne<br />
auf. Indem wir uns ausmalen, welche positiven<br />
Auswirkungen diese neue Ära der Neurowissenschaft<br />
voraussichtlich haben wird, beschleunigen<br />
wir die auf das Erreichen unserer<br />
Ziele ausgerichteten Entwicklungen.<br />
Die Ziele<br />
Die verheerenden Auswirkungen der Alzheimer-Krankheit<br />
bekämpfen. Bei der Alzheimer-Krankheit<br />
kommt es zur Ansammlung<br />
eines Proteinfragments von Amyloid, welches<br />
die Nervenzellen schädigt. Der Mechanismus<br />
dieser Ansammlung wurde inzwischen in<br />
Tierversuchen biochemisch genetisch untersucht.<br />
Aufgr<strong>und</strong> dieser Tiermodelle werden<br />
gegenwärtig therapeutische Substanzen <strong>und</strong><br />
ein möglicherweise wirksamer Impfstoff entwickelt,<br />
die die Anhäufung dieser schädlichen<br />
Substanz verhindern oder ihren Abbau<br />
beschleunigen sollen. Diese neuen Therapien,<br />
die schon bald an Menschen erprobt werden<br />
können, wecken die begründete Hoffnung,<br />
dass der Krankheitsverlauf wirkungsvoll behandelt<br />
werden kann.<br />
Die optimale Behandlung der Parkinson-<br />
Krankheit herausfinden. Medikamente, die<br />
auf die Dopaminbahnen des <strong>Gehirn</strong>s einwirken,<br />
wurden erfolgreich zur Behandlung der<br />
motorischen Störungen der Parkinson-Krankheit<br />
eingesetzt. Leider verliert sich dieser therapeutische<br />
Effekt bei vielen Patienten nach<br />
5 bis 10 Jahren. Nun werden neue Medikamente<br />
entwickelt; sie sollen die Wirkung der<br />
auf Dopamin beruhenden Behandlungen verlängern<br />
<strong>und</strong> den für die Krankheit verantwortlichen<br />
selektiven Untergang von Nervenzellen<br />
verzögern. Patienten, die auf die<br />
medikamentöse Behandlung nicht ansprechen,<br />
könnten von chirurgischen Methoden,<br />
etwa der tiefen Hirnstimulation, profitieren.<br />
Dank neueren Formen der Bildgebung des<br />
<strong>Gehirn</strong>s lässt sich feststellen, ob diese Behandlungsformen<br />
tatsächlich Nervenzellen vor dem<br />
Untergang bewahren <strong>und</strong> die normalen Schaltkreise<br />
wieder herstellen können.<br />
Stelle Dir eine Welt vor ...<br />
Das Auftreten von Hirnschlag reduzieren<br />
<strong>und</strong> die Therapie des Hirnschlags verbessern.<br />
Herzkrankheiten <strong>und</strong> Hirnschlag treten<br />
beträchtlich seltener auf, wenn Leute aufhören<br />
zu rauchen, auf einen tiefen Cholesterinspiegel<br />
achten, durch Diät <strong>und</strong> sportliche<br />
Betätigung ihr normales Gewicht beibehalten<br />
<strong>und</strong> wenn ein vorhandener Diabetes 105
106<br />
diagnostiziert <strong>und</strong> behandelt wird. Wenn<br />
ein Hirnschlag aufgetreten ist, können die<br />
rasche Erhebung des Bef<strong>und</strong>s <strong>und</strong> sofortige<br />
Behandlung eine erstaunliche Verbesserung<br />
mit weniger Folgeerscheinungen bewirken.<br />
Neue Behandlungsmethoden, um die akuten<br />
Auswirkungen eines Schlaganfalls auf Hirnzellen<br />
weiter zu reduzieren, sind im Entwicklungsstadium.<br />
Weitere Verbesserungen erwarten<br />
wir von neuen Rehabilitationsverfahren,<br />
die auf der neuen Erkenntnis von<br />
Reorganisationsvorgängen im <strong>Gehirn</strong> nach<br />
Schädigungen beruhen.<br />
Erfolgreichere Behandlungen von Gemütskrankheiten<br />
entwickeln wie Depression,<br />
Schizophrenie, Zwangserkrankung <strong>und</strong><br />
manisch-depressive Erkrankung. Zwar wurden<br />
im letzten Jahrzehnt die für diese Krankheiten<br />
verantwortlichen Gene noch nicht gef<strong>und</strong>en,<br />
doch dürfte die Sequenzierung des<br />
menschlichen Genoms einige an diesen Krankheiten<br />
beteiligte Gene aufdecken. Neue bildgebende<br />
Verfahren gepaart mit Erkenntnissen<br />
über die Aktivitäten dieser Gene im<br />
<strong>Gehirn</strong> werden erkennen lassen, was bei<br />
diesen Erkrankungen des Gemüts <strong>und</strong> des<br />
Denkens in den einzelnen Hirnschaltkreisen<br />
schief läuft. Dies wird die Gr<strong>und</strong>lage für eine<br />
bessere Diagnose, für eine wirksamere Anwendung<br />
der heute zur Verfügung stehenden<br />
Medikamente <strong>und</strong> für die Entwicklung<br />
völlig neuartiger therapeutischer Substanzen<br />
bilden.<br />
Die genetischen <strong>und</strong> neurobiologischen<br />
Ursachen der Epilepsie aufdecken <strong>und</strong> die<br />
Behandlung verbessern. Das Verständnis<br />
der genetischen Gr<strong>und</strong>lagen der Epilepsie<br />
<strong>und</strong> der neuralen Vorgänge, die zu Anfällen<br />
führen, wird präventive Diagnosen <strong>und</strong> zielgerichtete<br />
Therapien ermöglichen. Die Fortschritte<br />
der elektronischen <strong>und</strong> chirurgischen<br />
Therapien lassen wirkungsvolle Behandlungsmöglichkeiten<br />
erwarten.<br />
Neue, wirkungsvolle Ansätze zur Vorbeugung<br />
<strong>und</strong> Behandlung der Multiplen Sklerose<br />
finden. Heute stehen uns erstmals<br />
Medikamente zur Verfügung, die erlauben,<br />
den Verlauf dieser Krankheit zu beeinflussen.<br />
Neue Medikamente, die die Immunreaktion<br />
des Körpers verändern, werden Anzahl <strong>und</strong><br />
Intensität der Schübe der Multiplen Sklerose<br />
weiter vermindern. Ausserdem werden wir<br />
neue Methoden anwenden, um die langfristige<br />
Progression aufzuhalten, die durch<br />
den Untergang von Nervenfasern verursacht<br />
wird.<br />
Bessere Behandlungen bei Hirntumoren<br />
entwickeln. Viele Arten von Hirntumoren, vor<br />
allem die bösartigen <strong>und</strong> solche, die durch<br />
Ableger einer Krebserkrankung ausserhalb des<br />
<strong>Gehirn</strong>s zustande kommen, lassen sich nur<br />
schwer behandeln. Bildgebende Verfahren,<br />
die Behandlung mit fokussierter Bestrahlung,<br />
verschiedene Methoden, um Medikamente<br />
in den Tumor zu bringen, <strong>und</strong> die Bestimmung<br />
von genetischen Markern, die zur Diagnose<br />
beitragen werden, bilden die Gr<strong>und</strong>lage<br />
zur Entwicklung innovativer Therapien.<br />
Die Erholung nach traumatischen Hirn- <strong>und</strong><br />
Rückenmarksverletzungen verbessern. Wir<br />
sind dabei, Behandlungsmöglichkeiten zu erproben,<br />
die unmittelbar nach einer Verletzung<br />
den Umfang des verletzten Gewebes<br />
verringern sollen. Andere Wirkstoffe zielen<br />
darauf ab, die Schaltkreise der Nervenfasern<br />
wiederherzustellen. Techniken zur Förderung<br />
der Zellregeneration im <strong>Gehirn</strong>, um die abgestorbenen<br />
<strong>und</strong> beschädigten Nervenzellen<br />
zu ersetzen, werden ausgehend von Tiermodellen<br />
schon bald auch an Menschen klinisch<br />
erprobt werden. Gegenwärtig werden<br />
elektronische Prothesen entwickelt, die die<br />
Mikrochip-Technik verwenden, um Nervenschaltkreise<br />
zu steuern <strong>und</strong> dadurch die<br />
Bewegungsaktivität gelähmter Gliedmassen<br />
wieder zu ermöglichen.
Neue Methoden für den Umgang mit<br />
Schmerzen entwickeln. Der Schmerz muss<br />
heute in der Medizin nicht mehr einfach hingenommen<br />
werden. Die Erforschung der<br />
Ursachen von Schmerzen sowie der Nervenaktivität,<br />
die für ihn verantwortlich ist, wird<br />
den Neurowissenschaftlern Mittel in die<br />
Hand geben, um wirksamere <strong>und</strong> zielgerichtete<br />
Therapien zur Schmerzbekämpfung<br />
zu entwickeln.<br />
Die Ursachen der Abhängigkeit auf der<br />
Ebene des <strong>Gehirn</strong>s behandeln. Forschende<br />
konnten jene Nervenschaltkreise im <strong>Gehirn</strong><br />
bestimmen, die an der Abhängigkeit aller<br />
gängigen Mittel beteiligt sind, <strong>und</strong> haben die<br />
wichtigsten Rezeptoren für diese Wirkstoffe<br />
geklont. Neue bildgebenden Verfahren, werden<br />
die neurobiologischen Mechanismen<br />
feststellen lassen, die ein normales <strong>Gehirn</strong> in<br />
ein abhängiges <strong>Gehirn</strong> verwandeln, <strong>und</strong> die<br />
Entwicklung von Therapien ermöglichen, um<br />
diese Veränderung entweder rückgängig zu<br />
machen oder zu kompensieren.<br />
Die Hirnmechanismen verstehen, die der<br />
Reaktion auf Stress, Angst <strong>und</strong> Depression<br />
zugr<strong>und</strong>e liegen. Geistige Ges<strong>und</strong>heit ist<br />
eine Vorbedingung für eine gute Lebensqualität.<br />
Stress, Angst <strong>und</strong> Depression schaden<br />
nicht nur dem Leben der davon betroffenen<br />
Personen, sie können auch verheerende Auswirkungen<br />
auf die Gesellschaft haben. Wenn<br />
es uns gelingt, die Stressreaktion des Organismus<br />
sowie die an Angst <strong>und</strong> Depression<br />
beteiligten Hirnschaltkreise besser zu verstehen,<br />
werden wir wirksamere präventive<br />
Massnahmen entwickeln können <strong>und</strong> auch<br />
bessere Behandlungsverfahren, um ihre Auswirkungen<br />
zu lindern.<br />
Die Strategie<br />
Die Entdeckungen der Erforschung des Genoms<br />
ausnützen. Die vollständige Sequenz<br />
aller Gene, des menschlichen Genoms wird<br />
schon bald zur Verfügung stehen. Dies<br />
bedeutet, dass wir im Verlauf der nächsten<br />
10 bis 15 Jahre in der Lage sein werden, für<br />
jeden Bereich des <strong>Gehirn</strong>s <strong>und</strong> für jedes<br />
Lebensstadium – vom frühen embryonalen<br />
Leben an, über die Kindheit, die Adoleszenz<br />
bis zum Erwachsenenalter – zu bestimmen,<br />
welche Gene aktiv sind. Wir werden feststellen<br />
können, welche Gene bei verschiedensten<br />
neurologischen <strong>und</strong> psychiatrischen Krankheiten<br />
verändert sind, so dass ihre Proteinprodukte<br />
entweder ganz fehlen oder auf eine<br />
abnorme Weise funktionieren. Dank dieser<br />
Methode ist es bereits möglich, die genetische<br />
Gr<strong>und</strong>lage von Krankheiten wie Huntington,<br />
spinozerebelläre Ataxie, Muskeldystrophie<br />
<strong>und</strong> fragiles X-Syndrom zu bestimmen.<br />
Insgesamt verspricht die Entdeckung von<br />
Genen <strong>und</strong> ihre Anwendung zur klinischen<br />
Diagnose die Neurologie <strong>und</strong> Psychiatrie<br />
gr<strong>und</strong>legend zu verändern <strong>und</strong> stellt eine der<br />
grössten Herausforderungen der Neurowissenschaft<br />
dar. Zum Glück verfügen wir über<br />
Mikroarrays oder „Gen-Chips“, die diese<br />
Entwicklungen sehr beschleunigen <strong>und</strong> uns<br />
sowohl für die Diagnose als auch für die<br />
Entwicklung neuer Therapien wirkungsvolle<br />
Mittel in die Hand geben.<br />
Stelle Dir eine Welt vor ...<br />
Unser Wissen über die Entwicklung des<br />
<strong>Gehirn</strong>s anwenden. Von der Empfängnis<br />
bis zum Tod durchläuft das <strong>Gehirn</strong> ganz<br />
bestimmte Entwicklungsstadien mit jeweils<br />
unterschiedlicher Anfälligkeit für Schädigungen<br />
<strong>und</strong> Fähigkeit zur Entwicklung, Tendenzen,<br />
die entweder gefördert oder gehemmt<br />
werden können. Um die Behandlung von<br />
Entwicklungsstörungen wie Autismus sowie<br />
Aufmerksamkeits- <strong>und</strong> Lernstörungen zu verbessern,<br />
wird die Neurowissenschaft eine<br />
detailliertere Darstellung der Hirnentwicklung<br />
erarbeiten. Da gewisse Probleme der Hirnentwicklung<br />
mit anderen Entwicklungsphasen 107
108<br />
wie der Adoleszenz oder dem Altern zusammenhängen,<br />
wird uns das Verständnis der<br />
Veränderungen des <strong>Gehirn</strong>s im Verlauf dieser<br />
Perioden neue Therapien ermöglichen.<br />
Das riesige Potential der Plastizität des<br />
<strong>Gehirn</strong>s ausnutzen. Wenn wir die Neuroplastizität<br />
– die Fähigkeit des <strong>Gehirn</strong>s sich selbst<br />
wiederherzustellen <strong>und</strong> anzupassen – ausnutzen,<br />
kann die Neurowissenschaft Behandlungen<br />
von degenerativen neurologischen<br />
Erkrankungen fördern <strong>und</strong> Möglichkeiten zur<br />
Verbesserung von ges<strong>und</strong>en <strong>und</strong> kranken<br />
Hirnfunktionen bereitstellen. In den kommenden<br />
zehn Jahren werden Zellen therapeutisch<br />
ersetzt werden <strong>und</strong> die Förderung<br />
der Neubildung von Zellen wird zu neuen<br />
Behandlungen von Hirnschlag, Rückenmarksverletzungen<br />
<strong>und</strong> der Parkinson Krankheit<br />
führen.<br />
Unser Verständnis des spezifisch Menschlichen<br />
vergrössern. Wie funktioniert das <strong>Gehirn</strong><br />
? Die Neurowissenschaft ist nun so weit,<br />
dass sie die entscheidenden Fragen nicht nur<br />
stellt, sondern auch anfängt sie zu beantworten.<br />
Welche Mechanismen <strong>und</strong> gr<strong>und</strong>legenden<br />
Nervenschaltkreise ermöglichen es uns,<br />
Erinnerungen zu speichern, aufmerksam zu<br />
sein, unsere Emotionen wahrzunehmen <strong>und</strong><br />
auszudrücken, Entscheidungen zu treffen,<br />
Sprache zu gebrauchen <strong>und</strong> kreativ zu sein?<br />
Die Bemühungen, eine „einheitliche Feldtheorie“<br />
des <strong>Gehirn</strong>s zu entwickeln, werden<br />
grosse Möglichkeiten eröffnen, das menschliche<br />
Potential zu maximieren.<br />
Die Methoden<br />
Zellen ersetzen. Ausgewachsene Nervenzelle<br />
können sich nicht replizieren, um die<br />
durch eine Krankheit oder eine Verletzung<br />
verloren gegangenen Zellen zu ersetzen.<br />
Methoden, die sich die Fähigkeit der Nervenstammzellen<br />
(den Vorläufern von Nervenzel-<br />
len) zunutze machen, sich zu neuen Nervenzellen<br />
zu differenzieren, werden die Behandlung<br />
neurologischer Erkrankungen möglicherweise<br />
revolutionieren. Die Verpflanzung von<br />
Nervenstammzellen, die bisher an Tiermodellen<br />
durchgeführt wird, wird schon bald das<br />
Stadium von klinischen Studien an Menschen<br />
erreichen. Wie die Entwicklung dieser Zellen<br />
gesteuert werden kann, wie sie an den richtigen<br />
Ort gebracht <strong>und</strong> veranlasst werden können,<br />
die geeigneten Verbindungen zu bilden,<br />
sind aktuelle Themen der Forschung.<br />
Reparaturmechanismen von Nervenzellen.<br />
Dank der dem Nervensystem innewohnenden<br />
Fähigkeit der Wiederherstellung – in<br />
gewissen Fällen werden neue Nervenzellen<br />
regeneriert, in andern die Verkabelung wiederhergestellt<br />
– hat das <strong>Gehirn</strong> die Möglichkeit,<br />
sich selbst „wieder in Ordnung zu bringen“.<br />
Wenn es uns gelingt, diese Prozesse zu<br />
fördern, dürfen wir hoffen, Patienten mit<br />
Rückenmarks- oder Kopfverletzungen heilen<br />
zu können.<br />
Verfahren, um die Degeneration des Nervensystems<br />
aufzuhalten oder ihr vorzubeugen.<br />
Viele Erkrankungen wie Parkinson, Alzheimer,<br />
Huntington <strong>und</strong> ALS sind die Folge<br />
einer Degeneration spezifischer Nervenzell-<br />
Populationen in bestimmten Hirnbereichen.<br />
Die heutigen Behandlungsmethoden beeinflussen<br />
zwar die Symptome einer Krankheit<br />
wie Parkinson, nicht aber den fortschreitenden<br />
Untergang der Nervenzellen. Techniken,<br />
die auf unseren Kenntnissen der Mechanismen<br />
des Zelltods aufbauen, werden vermutlich zu<br />
Methoden führen, die die Degeneration von<br />
Nervenzellen verhindern <strong>und</strong> damit ein Fortschreiten<br />
der Krankheit aufhalten können.<br />
Verfahren, um die Expression von Genen<br />
im <strong>Gehirn</strong> zu verändern. Es ist möglich, die<br />
Wirkung bestimmter Gene im <strong>Gehirn</strong> von<br />
Versuchstieren entweder zu verstärken oder
zu blockieren. Mutierte Gene von Menschen,<br />
die neurologische Krankheiten wie Huntington<br />
<strong>und</strong> ALS verursachen, werden bei Versuchstieren<br />
eingesetzt, um die Entwicklung<br />
neuer Therapien zur Prävention der Neurodegeneration<br />
voranzutreiben. Solche Techniken<br />
haben uns bereits wertvolle Informationen<br />
über normale Vorgänge wie die Entwicklung<br />
des <strong>Gehirn</strong>s, Lernen <strong>und</strong> die Bildung neuer<br />
Erinnerungen vermittelt. Diese Techniken bieten<br />
uns die Möglichkeit, normale <strong>und</strong> abnorme<br />
Hirnprozesse wesentlich intensiver als je<br />
zuvor zu untersuchen; sie werden wohl mit der<br />
Zeit auch klinisch zur Behandlung verschiedener<br />
Hirnkrankheiten angewendet werden.<br />
Verbesserte bildgebende Verfahren. Die Abbildungen<br />
sowohl der Hirnstrukturen wie<br />
auch der Hirnfunktionen wurden stark verbessert.<br />
Dank der Entwicklung von Verfahren,<br />
die Hirnfunktionen ebenso rasch <strong>und</strong><br />
genau abbilden wie sie stattfinden, sind<br />
„Echtzeit“-Abbildungen von Hirnfunktionen<br />
möglich geworden. Diese Techniken erlauben<br />
es den Forschenden genau zu verfolgen,<br />
welche Teile des <strong>Gehirn</strong>s am Denken, Lernen<br />
<strong>und</strong> Erleben von Emotionen beteiligt sind.<br />
Elektronische Hilfsmittel als Ersatz für nicht<br />
funktionstüchtige Hirnbahnen. Mit der Zeit<br />
wird es wohl möglich sein, verletzte Hirnbahnen<br />
zu umgehen. Wir hoffen, dass die Verwendung<br />
von Multielektroden-Implantaten<br />
<strong>und</strong> Mikro-Computer-Vorrichtungen – welche<br />
die Aktivität im <strong>Gehirn</strong> aufzeichnen <strong>und</strong><br />
in Signale übersetzen, die ans Rückenmark,<br />
an die motorischen Nerven oder direkt an die<br />
Muskeln weitergeleitet werden – uns so weit<br />
bringen wird, dass Verletzte auf die Wiederherstellung<br />
ihrer Funktionstüchtigkeit hoffen<br />
dürfen.<br />
Neuartige Methoden um Heilmittel zu entdecken.<br />
Fortschritte der strukturellen Biologie,<br />
der Genomforschung <strong>und</strong> der rechnergestüt-<br />
zen Chemie erlauben es Forschenden, neue<br />
Pharmaka in einem nie zuvor gekannten Ausmass<br />
hervorzubringen, von welchen viele in<br />
der klinischen Anwendung von beträchtlichem<br />
Nutzen sein könnten. Die Entwicklung<br />
neuer, rascher Screening-Verfahren, die auf<br />
„Gen-Chips“ <strong>und</strong> anderen hochentwickelten<br />
Techniken beruhen, werden in gewissen Fällen<br />
das Zeitintervall zwischen der Entdeckung<br />
einer neuen Substanz <strong>und</strong> ihrer klinischen<br />
Erprobung von mehreren Jahren auf einige<br />
Monate reduzieren.<br />
Unsere Verpflichtung:<br />
Vom Labor zum Krankenbett<br />
Die heutige neurowissenschaftliche Forschung<br />
profitiert von einem nie dagewesenen Ausmass<br />
an Möglichkeiten. Unser Verständnis<br />
der Funktionsweise des <strong>Gehirn</strong>s, vom Beginn<br />
<strong>und</strong> der Progredienz von Krankheiten hat<br />
zugenommen. Ein ausgeklügeltes Arsenal<br />
von Hilfsmitteln erlaubt es uns, unser Wissen<br />
anzuwenden <strong>und</strong> die Fortschritte der Hirnforschung<br />
zu beschleunigen.<br />
Als Wissenschaftler <strong>und</strong> Wissenschaftlerinnen<br />
sind wir verpflichtet, am Laborplatz<br />
auch weiterhin Fortschritte zu erzielen. Zur<br />
Bekämpfung der schweren Hirnkrankheiten<br />
wie Alzheimer-Krankheit, Hirnschlag oder<br />
Parkinson-Krankheit ist es notwendig, die<br />
Gr<strong>und</strong>lagenforschung kontinuierlich weiterzuführen,<br />
so dass Kliniker auf ihr aufbauen<br />
<strong>und</strong> neue Behandlungsmethoden <strong>und</strong> Therapien<br />
entwickeln können. Es ist unsere Verantwortung,<br />
die Forschungsarbeiten fortzusetzen<br />
<strong>und</strong> zu versuchen, die Unterstützung der<br />
Öffentlichkeit zu erlangen.<br />
Stelle Dir eine Welt vor ...<br />
Ausserdem ist es unsere Pflicht, jene Bereiche<br />
der wissenschaftlichen Forschung verständlich<br />
zu machen, die schon bald konkrete<br />
Anwendungsmöglichkeiten für den Menschen<br />
bieten könnten. Um über das Laboratorium 109
110<br />
hinaus Fortschritte zu erzielen, müssen wir<br />
die nächsten klinischen Schritte partnerschaftlich<br />
mit der Öffentlichkeit zusammen<br />
unternehmen – es gilt also, die wissenschaftlichen<br />
Erkenntnisse fruchtbar zu machen, um<br />
aus ihnen wirkliche <strong>und</strong> echte Fortschritte<br />
„am Krankenbett“ zu erzielen.<br />
Da unsere Methoden <strong>und</strong> Techniken immer<br />
raffinierter werden, können sie, wenn man<br />
den möglichen Missbrauch ins Auge fasst,<br />
auch als bedrohlich empf<strong>und</strong>en werden. Es ist<br />
wichtig, dass wir die verständlichen Ängste<br />
wahrnehmen, die Hirnforschung könnte zu<br />
Möglichkeiten führen, die zentralsten Aspekte<br />
unseres <strong>Gehirn</strong>s <strong>und</strong> Verhaltens, also genau<br />
das, was unsere menschliche Einzigartigkeit<br />
ausmacht, zu verändern. Das Vertrauen der<br />
breiten Öffentlichkeit in die Integrität der wissenschaftlich<br />
Tätigen, in die Sicherheit der klinischen<br />
Versuche – den Eckstein angewandter<br />
Forschung – <strong>und</strong> in die Sicherstellung der<br />
Vertraulichkeit von Patientendaten muss ständig<br />
aufrecht erhalten werden.<br />
Die Wissenschaft in den Zusammenhang des<br />
wirklichen Lebens zu stellen, ist immer eine<br />
Herausforderung. Die Leute wollen nicht nur<br />
wissen, wie <strong>und</strong> warum Forschung betrieben<br />
wird, sie wollen auch wissen, inwieweit sie für<br />
sie von Belang ist. Es ist daher sehr wichtig,<br />
den Bedenken der Öffentlichkeit, die Erkenntnisse<br />
der Hirnforschung könnten auf schädigende<br />
oder ethisch fragwürdige Weise angewendet<br />
werden, entgegenzutreten. So gilt es,<br />
beiden Herausforderungen gerecht zu werden,<br />
damit die von einer neurologischen oder<br />
psychiatrischen Krankheit Betroffenen von<br />
den Errungenschaften der Hirnforschung voll<br />
profitieren können.<br />
Der Auftrag der Neurowissenschaftler <strong>und</strong><br />
Neurowissenschaftlerinnen reicht über die<br />
Hirnforschung hinaus. Wir stellen uns auch<br />
der Verantwortung, in einer verständlichen<br />
Sprache zu erklären, wohin uns unsere Wissenschaft<br />
mit ihren neuen Verfahren <strong>und</strong><br />
Techniken vermutlich führen wird. Wir, die<br />
Mitglieder der amerikanischen <strong>Dana</strong> Alliance<br />
<strong>und</strong> der Europäischen <strong>Dana</strong> Alliance, sind<br />
gerne bereit, beim Aufbruch in ein neues<br />
Jahrzehnt der Hoffnung, der harten Arbeit<br />
<strong>und</strong> der Partnerschaft mit der Öffentlichkeit<br />
diese Aufgabe zu übernehmen.
Members of EDAB<br />
Yves Agid*, Hôpital de la Salpêtrière, Paris, France<br />
Adriano Aguzzi, University of Zurich, Switzerland<br />
Per Andersen*, University of Oslo, Norway<br />
João Lobo Antunes, University of Lisbon, Portugal<br />
Carlos Avendaño, University of Madrid, Spain<br />
Alan Baddeley, University of Bristol, UK<br />
Yves-Alain Barde*, Friedrich Miescher Institute,<br />
Basel, Switzerland<br />
Carlos Belmonte, Instituto de Neurosciencias,<br />
Alicante, Spain<br />
Yehezkel Ben-Ari, INSERM-INMED, France<br />
Michael Berger, University of Vienna, Austria<br />
Giovanni Berlucchi*, Università degli Studi di<br />
Verona, Italy<br />
Giorgio Bernardi, University Tor Vergata-Roma,<br />
Italy<br />
Alain Berthoz*, Collège de France, Paris, France<br />
Konrad Beyreuther*, University of Heidelberg,<br />
Germany<br />
Anders Björkl<strong>und</strong>*, University of L<strong>und</strong>, Sweden<br />
Colin Blakemore*, University of Oxford, UK<br />
Joel Bockaert, CNRS, Montpellier, France<br />
Alexander Borbély, University of Zurich,<br />
Switzerland<br />
Thomas Brandt, University of Munich, Germany<br />
Herbert Budka, University of Vienna, Austria<br />
Jan Bureˇs*, Academy of Sciences, Prague, Czech<br />
Republic<br />
Irina Bystron, University of St Petersburg, Russia<br />
Arvid Carlsson, University of Gothenburg, Sweden<br />
Jean-Pierre Changeux, Institut Pasteur, Paris, France<br />
Marina Chernisheva, University of St Petersburg,<br />
Russia<br />
François Clarac, CNRS, Marseille, France<br />
Francesco Clementi*, Unversity of Milan, Italy<br />
Graham Collingridge*, University of Bristol, UK<br />
Michel Cuénod*, University of Lausanne,<br />
Switzerland<br />
Milka Culic, University of Belgrade, Yugoslavia<br />
Kay Davies*, University of Oxford, UK<br />
Jose Maria Delgado-Garcia, Universidad Pablo<br />
de Olavide, Seville, Spain<br />
Johannes Dichgans, University of Tübingen,<br />
Germany<br />
Ray Dolan, University College London, UK<br />
Yadin Dudai*, Weizmann Institute of Science,<br />
Rehovot, Israel<br />
Károly Elekes, Hungarian Academy of Sciences,<br />
Tihany, Hungary; President of the Hungarian<br />
Neuroscience Society<br />
Ulf Eysel, Ruhr-Universität Bochum, Germany<br />
Alberto Ferrus*, Instituto Cajal, Madrid, Spain<br />
Cesare Fieschi, University of Rome, Italy<br />
Russell Foster, Imperial College of Science and<br />
Technology, London, UK<br />
Richard Frackowiak*, University College,<br />
London, UK<br />
Hans-Joachim Fre<strong>und</strong>*, University of Düsseldorf,<br />
Germany<br />
Tamás Fre<strong>und</strong>, University of Budapest, Hungary<br />
Willem Gispen*, University of Utrecht, The<br />
Netherlands<br />
Albert Gjedde*, Aarhus University, Denmark<br />
Jacques Glowinski, Collège de France, Paris,<br />
France<br />
Susan Greenfield, The Royal Institution of Great<br />
Britain, London, UK<br />
Sten Grillner*, Karolinska Institute, Stockholm,<br />
Sweden<br />
Riitta Hari*, Helsinki University of Technology,<br />
Finland<br />
Anton Hermann, University of Salzburg, Austria<br />
Norbert Herschkowitz*, University of Bern,<br />
Switzerland<br />
Florian Holsboer*, Max-Planck-Institute of<br />
Psychiatry, Munich, Germany<br />
Sir Andrew Huxley*, University of Cambridge, UK<br />
Giorgio Innocenti, Karolinska Institute, Stockholm,<br />
Sweden
Leslie Iversen, University of Oxford, UK<br />
Susan Iversen*, University of Oxford, UK<br />
Julian Jack*, University of Oxford, UK<br />
Marc Jeannerod*, Institut des Sciences Cognitives,<br />
Bron, France<br />
Barbro Johansson, L<strong>und</strong> University, Sweden<br />
Markku Kaste, University of Helsinki, Finland<br />
Ann Kato, Centre Médical Universitaire, Geneva,<br />
Switzerland<br />
Christopher Kennard, Imperial College School of<br />
Medicine, London, UK<br />
Hubert Kerschbaum, University of Salzburg,<br />
Austria<br />
Helmut Kettenmann, Max-Delbrück-Centre for<br />
Molecular Medicine, Berlin, Germany<br />
Malgorzata Kossut*, Nencki Institute of<br />
Experimental Biology, Warsaw, Poland<br />
Elias Kouvelas, University of Patras, Greece<br />
Oleg Krishtal*, Bogomoletz Institute of Physiology,<br />
Kiev, Ukraine<br />
Theodor Landis*, University Hospital Geneva,<br />
Switzerland<br />
Martin Lauritzen, University of Copenhagen,<br />
Denmark<br />
Willem Levelt*, Max-Planck-Institute for<br />
Psycholinguistics, Nijmegen, The Netherlands<br />
Rita Levi-Montalcini*, Institute of Neurobiology,<br />
CNR, Rome, Italy<br />
José Lopez-Barneo*, University of Seville, Spain<br />
Pierre J. Magistretti*, University of Lausanne,<br />
Switzerland; President of the Federation of European<br />
Neuroscience Societies<br />
Rafael Malach, Weizmann Institute of Science,<br />
Rehovot, Israel<br />
William McDonald*, Royal College of Physicians,<br />
London, UK<br />
Jacques Mehler*, CNRS/EHESS, Paris, France<br />
Eldad Melamed, Tel Aviv University, Israel<br />
Hannah Monyer*, University Hospital of<br />
Neurology, Heidelberg, Germany<br />
Richard Morris*, University of Edinburgh, Scotland<br />
Erwin Neher, Max-Planck-Institute for Biophysical<br />
Chemistry, Göttingen, Germany<br />
Manuel Nieto-Sampedro*, Instituto Cajal,<br />
Madrid, Spain<br />
Alexander Nozdrachev, State University of<br />
St Petersburg, Russia<br />
Wolfgang Oertel*, Philipps-University, Marburg,<br />
Germany<br />
Guy Orban*, Catholic University of Leuven,<br />
Belgium<br />
Gonul Peker, University of Ege Medical School,<br />
Izmir, Turkey; President of Turkish Neuroscience<br />
Society<br />
Roland Pochet, Université Libre de Bruxelles,<br />
Belgium<br />
Werner Poewe, Universitätsklinik für Neurologie,<br />
Innsbruck, Austria<br />
Dominique Poulain, Institut Francois Magendie,<br />
France<br />
Elzbieta Pyza, Jagiellonian University, Krakow,<br />
Poland<br />
Martin Raff*, University College London, UK<br />
Geoffrey Raisman, National Institute for Medical<br />
Research, London, UK<br />
Joaquim Alexandre Ribeiro, University of Lisbon,<br />
Portugal<br />
Giacomo Rizzolatti*, University of Parma, Italy<br />
Steven Rose, The Open University, Milton Keynes, UK<br />
Sir Martin Roth*, University of Cambridge, UK<br />
Sir Michael Rutter, University of London, UK<br />
Bert Sakmann, Max-Planck-Institute for Medical<br />
Research, Heidelberg, Germany<br />
Martin Schwab*, University of Zurich, Switzerland<br />
Menahem Segal, Weizmann Institute of Science,<br />
Rehovot, Israel<br />
Idan Segev, Hebrew University, Jerusalem, Israel<br />
Tim Shallice*, University College London, UK<br />
Wolf Singer*, Max-Planck-Institute for Brain<br />
Research, Frankfurt, Germany<br />
David Smith, University of Oxford, UK<br />
Henk Spekreijse*, University of Amsterdam,<br />
The Netherlands<br />
Günther Sperk, University of Innsbruck, Austria<br />
Michael Stewart, The Open University, Milton<br />
Keynes, UK
Petra Stoerig*, Heinrich-Heine University,<br />
Düsseldorf, Germany<br />
Piergiorgio Strata*, University of Turin, Italy<br />
Eva Sykova, Institute of Experimental Medicine<br />
ASCR, Prague, Czech Republic<br />
Hans Thoenen*, Max-Planck-Institute for<br />
Psychiatry, Martinsried, Germany<br />
József Toldi, University of Szeged, Hungary<br />
Eduardo Tolosa, University of Barcelona, Spain<br />
Jerzy Vetulani, Institute of Pharmacology, Poland<br />
Sylvester Vizi*, Hungarian Academy of Sciences,<br />
Budapest, Hungary<br />
Lord Walton of Detchant*, University of<br />
Oxford, UK<br />
Hans Winkler*, University of Innsbruck, Austria<br />
Semir Zeki*, University College London, UK<br />
Karl Zilles*, Heinrich-Heine-University, Düsseldorf,<br />
Germany<br />
*original signatory to the EDAB Declaration<br />
Federation of European Neuroscience Societies<br />
Presidents / Term Members<br />
Francesc Artigas, Spanish Society of<br />
Neuroscience, University of Barcelona, Spain<br />
Fabio Benfenati, Italian Neuroscience Society,<br />
University of Genova, Italy<br />
Eero Castrén, Brain Research Society of Finland,<br />
University of Helsinki, Finland<br />
Giuseppe Chiarenza, Federation of European<br />
Psychophysiology, RHO Hospital, Milan, Italy<br />
Alexander Cools, Stichting Neurofederatie,<br />
University of Nijmegen, The Netherlands<br />
Erik de Schutter, Belgian Society for<br />
Neuroscience, University of Antwerp, Belgium<br />
Mara Dierssen, International Behavioural & Genetic<br />
Society, Barcelona, Spain<br />
Barry Everitt, European Behavioural Pharmacology<br />
Society, University of Cambridge, UK<br />
Aase Frandsen, Danish Society for Neuroscience,<br />
Copenhagen University Hospital, Denmark<br />
Jean-Marc Fritschy, Swiss Society for<br />
Neuroscience, University of Zurich, Switzerland<br />
Dieter Heiss, European Federation of Neurological<br />
Societies, University of Köln, Germany<br />
Ferdinand Hucho, European Society for<br />
Neurochemistry, Freie Universität Berlin, Germany<br />
Simon Khechinashvili, Georgian Neuroscience<br />
Association, Beritsashvili Institute of Physiology,<br />
Tbilisi, Republic of Georgia<br />
Ivicia Kostovic, Croatian Society for Neuroscience,<br />
Zagreb, Croatia<br />
Ada Mitsacos, Hellenic Society for Neuroscience,<br />
University of Patras, Greece<br />
Katarzyna Nalecz, Polish Neuroscience Society,<br />
Nencki Institute of Experimental Biology, Warsaw,<br />
Poland<br />
Jes Olesen, European Brain Council, Glostrup<br />
Hospital, Copenhagen, Denmark<br />
Geneviève Rougon, Société des Neurosciences,<br />
UMR-CNRS, Marseille, France<br />
Terje Sagvolden, Norwegian Neuroscience<br />
Society, University of Oslo, Norway<br />
Susan Sara, European Brain and Behaviour Society,<br />
Université Pierre et Marie Curie, Paris, France<br />
Ana Sebastião, Portuguese Society for<br />
Neuroscience, University of Lisbon, Portugal<br />
Werner Sieghart, Austrian Neuroscience<br />
Association, Medical University Vienna, Austria<br />
Josef Syka, Czech Neuroscience Society, Academy<br />
of Sciences, Prague, Czech Republic<br />
Jan M. van Ree, European College of Neuropsychopharmacology,<br />
Utrecht, The Netherlands<br />
Marta Weinstock-Rosin, Israel Society for<br />
Neuroscience, Hebrew University, Jerusalem, Israel<br />
Leon Zagrean, National Neuroscience Society<br />
of Romania, Carol Davila University of Medicine,<br />
Bucharest, Romania<br />
Herbert Zimmermann, German Neuroscience<br />
Society, Biozentrum der J. W. Goethe-Universität,<br />
Frankfurt, Germany<br />
March 2004
A <strong>Dana</strong> Alliance for the Brain Inc Publication prepared by EDAB,<br />
the European subsidiary of DABI<br />
Gedruckt in der Schweiz 7.2004