06.08.2013 Aufrufe

Gehirn und Immunität - Dana Foundation

Gehirn und Immunität - Dana Foundation

Gehirn und Immunität - Dana Foundation

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Ein Bericht über Fortschritte in der Hirnforschung<br />

<strong>Gehirn</strong> <strong>und</strong> <strong>Immunität</strong><br />

Ausgabe 2004


Ein Bericht über Fortschritte<br />

in der Hirnforschung<br />

<strong>Gehirn</strong> <strong>und</strong> <strong>Immunität</strong><br />

Ausgabe 2004


THE EUROPEAN DANA ALLIANCE<br />

FOR THE BRAIN EXECUTIVE COMMITTEE<br />

William Safire, Chairman<br />

Edward F. Rover, President<br />

Colin Blakemore, PhD, ScD, FRS, Vice Chairman<br />

Pierre J. Magistretti, MD, PhD, Vice Chairman<br />

Carlos Belmonte, MD, PhD<br />

Anders Björkl<strong>und</strong>, MD, PhD<br />

Joël Bockaert, PhD<br />

Albert Gjedde, MD, FRSC<br />

Sten Grillner, MD, PhD<br />

Malgorzata Kossut, MSc, PhD<br />

Richard Morris, Dphil, FRSE, FRS<br />

Dominique Poulain, MD, DSc<br />

Wolf Singer, MD, PhD<br />

Piergiorgio Strata, MD, PhD<br />

Eva Syková, MD, PhD, DSc<br />

Executive Committee<br />

Barbara E. Gill, Executive Director<br />

Die European <strong>Dana</strong> Alliance for the Brain (EDAB) ist ein Zusammenschluss<br />

von r<strong>und</strong> 140 führenden Wissenschafterinnen <strong>und</strong> Wissenschaftern aus<br />

27 Ländern. Zu ihren Mitgliedern zählen fünf Nobelpreisträger. Die EDAB<br />

hat sich zum Ziel gesetzt, die Gesellschaft auf die Bedeutung der <strong>Gehirn</strong>forschung<br />

aufmerksam zu machen. Die Organisation wurde 1997 gegründet<br />

<strong>und</strong> versteht sich als Schnittstelle zwischen der medizinischen Laborarbeit,<br />

der Forschung sowie der breiten Öffentlichkeit.<br />

Für weitere Informationen:<br />

The European <strong>Dana</strong> Alliance for the Brain<br />

Dr Béatrice Roth, PhD<br />

Centre de Neurosciences Psychiatriques<br />

Site de Cery<br />

1008 Prilly<br />

e-mail: Contact.Edab@hospvd.ch


Visionen des <strong>Gehirn</strong>s:<br />

Ein Bericht über Fortschritte<br />

in der Hirnforschung<br />

Jahresbericht 2004<br />

<strong>Gehirn</strong> <strong>und</strong> <strong>Immunität</strong><br />

5 Einleitung<br />

von Eric R. Kandel, MD<br />

11 Neuroimmunologie: Zwei Systeme interagieren<br />

von Guy M. McKhann, MD <strong>und</strong> Carolyn Asbury, PhD<br />

Fortschritte in der Hirnforschung im Jahr 2003<br />

21 Neuroimmunologische Erkrankungen<br />

27 In der Kindheit auftretende Störungen<br />

35 Bewegungsstörungen <strong>und</strong> andere Störungen der Motorik<br />

41 Schädigungen des Nervensystems<br />

49 Neuroethik<br />

57 Schmerz<br />

65 Psychiatrische Erkrankungen, Verhaltensstörungen<br />

<strong>und</strong> Suchtkrankheiten<br />

71 Störungen der Sinnes- <strong>und</strong> Körperfunktion<br />

79 Stammzellen <strong>und</strong> Neurogenese<br />

85 Denk- <strong>und</strong> Erinnerungsstörungen<br />

95 Referenzen<br />

103 Stelle Dir eine Welt vor...


Einleitung<br />

von Eric R. Kandel, MD<br />

Als ich die im vorliegenden Bericht zusammengefassten<br />

Fortschritte der Hirnforschung<br />

im Jahr 2003 betrachtete, war ich davon<br />

beeindruckt, wie sehr sich die Dinge im Verlauf<br />

der vier Jahrzehnte, seit ich auf diesem Gebiet<br />

arbeite, verändert haben. Als ich das Medizinstudium<br />

im Jahr 1956 abschloss <strong>und</strong> mich der<br />

Hirnforschung zuwandte, nahmen die meisten<br />

Gr<strong>und</strong>lagenforscher an, zwischen der klinischen<br />

Bedeutung, die ein bestimmtes Problem für<br />

die Neurologie oder Psychiatrie darstellte,<br />

<strong>und</strong> der Möglichkeit, dieses Problem auf der zellulären oder molekularen<br />

Ebene genau anzugehen, bestehe eine umgekehrte Beziehung. Wie die<br />

Seiten des diesjährigen Berichts über bemerkenswerte Fortschritte deutlich<br />

machen, hat sich dies geändert. Zwischen Gr<strong>und</strong>lagenwissenschaft <strong>und</strong><br />

klinischer Forschung liegen nicht mehr Welten. Einige der interessantesten<br />

wissenschaftlichen Fragen der Neurowissenschaft hängen unmittelbar mit<br />

drängenden neurologischen <strong>und</strong> psychiatrischen Problemen zusammen.<br />

Aus der Perspektive der Neurologie lauten diese Fragen: Auf welche Weise<br />

trägt die Immunreaktion zu neurologischen Krankheiten bei? Bestehen bei<br />

den degenerativen Krankheiten gemeinsame Mechanismen? Ist es möglich,<br />

nach einem Schädeltrauma, einer Verletzung des Rückenmarks oder<br />

peripherer Nerven eine klinisch bedeutsame Regeneration zu erzielen?<br />

Aus psychiatrischer Sicht fragen wir: Welche spezifischen Systeme des<br />

<strong>Gehirn</strong>s vermitteln verschiedenartige höhere kognitive Funktionen?<br />

Inwiefern sind sie beim Autismus gestört? Bei der Schizophrenie? Bei der<br />

Depression? Welche Gene sind an diesen Krankheiten beteiligt? Worin<br />

bestehen insbesondere die biologischen Gr<strong>und</strong>lagen von komplexen multigenen<br />

mentalen Störungen <strong>und</strong> welchen Einfluss haben unterschiedliche<br />

Umweltbedingungen?<br />

Diese <strong>und</strong> weitere Fragen werden gegenwärtig auf gr<strong>und</strong>legende<br />

Weise angegangen. Dies hat dazu geführt, dass die Umsetzung von 5


6<br />

Forschungsergebnissen in die klinische Praxis nicht mehr einen begrenzten<br />

Forschungsbereich darstellt, mit dem sich einige wenige Leute in weissen<br />

Kitteln befassen. Sie ist vielmehr das eigentliche Motiv eines grossen Teils<br />

der gegenwärtigen neurowissenschaftlichen Forschung. Während der 90er<br />

Jahre, die als Dekade des <strong>Gehirn</strong>s bezeichnet werden, wurden wir alle zu<br />

Forschenden, welche die gewonnenen Erkenntnisse umsetzen. Während<br />

des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts verwandelt sich dieser Prozess<br />

in die Dekade der therapeutischen Anwendung. Als Folge davon kommen<br />

sich die Bereiche Psychiatrie <strong>und</strong> Neurologie näher. Es ist absehbar, dass in<br />

nicht allzu ferner Zukunft der Tag kommt, an dem Spitalärzte beider Fachbereiche<br />

ein gemeinsames Praktikumsjahr absolvieren werden, vergleichbar<br />

der ärztlichen Weiterbildung in Innerer Medizin, an die sich dann die<br />

Spezialisierung in völlig unterschiedliche Disziplinen wie Herzkrankheiten<br />

oder Magendarmkrankheiten anschliesst. Ich plädiere nicht für den<br />

Zusammenschluss von zwei völlig unterschiedlichen Spezialbereichen mit<br />

völlig unterschiedlichen Verantwortlichkeiten für Patienten <strong>und</strong> unterschiedlichen<br />

Therapieverfahren. Vielmehr weise ich auf die offensichtliche<br />

Tatsache hin, dass sich Neurologie <strong>und</strong> Psychiatrie mit Problemen<br />

befassen, die im selben Organ, dem <strong>Gehirn</strong>, ihren Ursprung haben.<br />

Der vorliegende, hervorragende Bericht fasst die in vielen Bereichen<br />

erzielten Fortschritte zusammen. Ich selbst beschränke mich hier auf<br />

einige Beispiele, um sowohl die Vielfalt als auch die Tiefe der gewonnenen<br />

Erkenntnisse zu illustrieren.<br />

Der Bericht beginnt mit einem ausgezeichneten Aufsatz über Neuroimmunologie<br />

von Guy McKhann <strong>und</strong> Carolyn Asbury, die uns daran erinnern,<br />

dass das Nerven- <strong>und</strong> das Immunsystem, die beiden grossen integrativen<br />

Systeme des Körpers, drei Gemeinsamkeiten aufweisen: 1) einen hohen<br />

Grad an Komplexität, 2) die Fähigkeit, neu gewonnene Informationen in<br />

einer Art Gedächtnis zu speichern, <strong>und</strong> 3) die Fähigkeit, diese Informationen<br />

als Antwort auf einen entsprechenden externen Stimulus abzurufen.<br />

Neu ist die Erkenntnis, dass diese beiden Systeme nicht nur über eine<br />

gemeinsame Logik verfügen, sondern sogar auf verschiedene massgebliche<br />

Weise miteinander interagieren.<br />

Als Erstes möchte ich auf neue Bef<strong>und</strong>e hinweisen, die belegen, dass<br />

immunologisch wichtige Moleküle, von denen man früher angenommen<br />

hatte, sie kämen im <strong>Gehirn</strong> nicht vor, im <strong>Gehirn</strong> vorhanden <strong>und</strong> für<br />

dessen Tätigkeit sogar unentbehrlich sind. In einer bemerkenswerten


Untersuchungsreihe fand Carla Shatz heraus, dass das Haupthistokompatibilitätskomplex-Gen<br />

der Klasse I (MHC), das an der zellulären Immunerkennung<br />

beteiligt ist, in Neuronen exprimiert wird, ebenso wie andere<br />

Komponenten des Signalwegs, an denen die Klasse I MHC-Moleküle<br />

beteiligt sind. Shatz untersuchte eine Vielfalt genetisch veränderter Mäuse<br />

<strong>und</strong> entdeckte, dass die Expression des Klasse I MHC-Proteins während<br />

der Elimination von Synapsen <strong>und</strong> der Feinabstimmung von synaptischen<br />

Verbindungen im Nucleus geniculatum laterale erforderlich ist, einem<br />

Kern, der für die Entwicklung des normalen Sehens notwendig ist. Diese<br />

aussergewöhnlichen Entdeckungen wurden in der Immunologie zuerst<br />

mit Skepsis aufgenommen. Sie werden aber heute allgemein als eine<br />

gr<strong>und</strong>legend neue Erkenntnis anerkannt, welche die Funktion von immunologisch<br />

bedeutenden Molekülen bei der in der Entwicklung erfolgenden<br />

Feinabstimmung von synaptischen Verbindungen im <strong>Gehirn</strong> aufzeigt.<br />

Ausser dass das Nervensystem Moleküle des Immunsystems für eigene<br />

Zwecke in Anspruch nimmt, kann auch eine Veränderung der Immunreaktion<br />

selbst bei Hirnkrankheiten eine entscheidende Rolle spielen.<br />

Besonders aufschlussreiche Beispiele dafür sind die paraneoplastischen<br />

neurologischen Erkrankungen. So beschrieb Jerome Posner das gleichzeitige<br />

Auftreten eines neurodegenerativen Syndroms <strong>und</strong> eines systemischen<br />

bösartigen Tumors bei völligem Fehlen von Metastasen. Posners<br />

Arbeit zeigte auf, dass ein Tumor im Körper mittels molekularem Mimikry<br />

zur Degeneration spezifischer Hirnregionen führen kann. Bestimmte Antigene<br />

in den Tumorzellen induzieren Antikörper, die Immunreaktionen auslösen,<br />

welche sowohl auf den Tumor als auch auf spezifische Hirnstrukturen<br />

gerichtet sind, die dieses Antigen ebenfalls exprimieren. Der sich<br />

ergebende Immunangriff führt zur Degeneration von Nervenzellen. Posner<br />

konzentrierte sich zunächst auf die mit einer Krebserkrankung im Eierstock<br />

<strong>und</strong> im Uterus einhergehende Degeneration des Kleinhirns <strong>und</strong> entdeckte<br />

hohe Titer eines bestimmten Antikörpers gegen ein selektiv in den<br />

Purkinje Neuronen des Kleinhirns exprimiertes neuronales Antigen. Als<br />

Posner andere Krebserkrankungen in diese Untersuchungen einbezog,<br />

entdeckte er, dass Tumorzellen das gleiche Protein exprimierten, das in<br />

Neuronen das angegriffene Antigen darstellte. Da Patienten mit einer<br />

paraneoplastischen neurologischen Erkrankung in erster Linie eine wirksame<br />

Immunreaktion gegen den Tumor aufbauen, reagieren sie besser auf<br />

eine Behandlung des Tumors – eine Entdeckung, welche dazu beigetragen<br />

hat, dass heute Immunverfahren zur Bekämpfung von Krebs eingesetzt<br />

werden. 7<br />

Einleitung


8<br />

Auch wenn keine Krebserkrankung vorliegt, gibt es spezifische gegen sich<br />

selbst gerichtete Reaktionen, wie etwa die Autoimmun-Attacke auf die<br />

Myelinscheide im Falle von Multipler Sklerose deutlich macht. Ausserdem<br />

ist festzuhalten, dass die Beeinflussung in beide Richtungen verläuft. Es<br />

gilt nicht nur, dass das Immunsystem im <strong>Gehirn</strong> präsent ist <strong>und</strong> Krankheiten<br />

verursachen kann, vielmehr hat Janice Kiecolt-Glaser nachgewiesen,<br />

dass umgekehrt auch vom <strong>Gehirn</strong> gesteuerte Prozesse, etwa chronischer<br />

Stress, eine Alterung des Immunsystems bewirken.<br />

Auch im Bereich der schwer zu beeinflussenden Erkrankungen der kognitiven<br />

Funktionen – von Autismus <strong>und</strong> Dyslexie auf der einen Seite bis<br />

hin zu Depression <strong>und</strong> Schizophrenie auf der anderen – haben unsere<br />

Erkenntnisse grosse Fortschritte gemacht. Auch hier spielt die Genetik<br />

eine führende Rolle.<br />

Was Autismus anbelangt, sind Statistiken besorgniserregend, die zeigen,<br />

dass diese Erkrankung das Ausmass einer kleineren Epidemie annimmt.<br />

Die Häufigkeit, mit der diese verheerende Entwicklungsstörung mit den<br />

Hauptsymptomen soziale Isolation, repetitive Bewegungen <strong>und</strong> Kommunikationsprobleme<br />

auftritt, scheint sich in den letzten 20 Jahren etwa verzehnfacht<br />

zu haben. Stephane Jamain hat jetzt zwei Autismus Kandidatengene<br />

auf dem X-Chromosom identifiziert. Bei zwei betroffenen Geschwistern<br />

kodiert das mutierte Gen in ihren beiden Familien ein Neuroligin. Neuroligin-1<br />

ist ein Protein in der postsynaptischen Zelle, das in der präsynaptischen<br />

Nervenzelle ß-Neurexin rekrutiert, was den Aufbau der präsynaptischen<br />

aktiven Zone <strong>und</strong> die Ansammlung von Bläschen zur Folge hat.<br />

Im Gegensatz zu neurologischen Erkrankungen wie der Huntingtonschen<br />

Krankheit oder dem Fragilen-X-Syndrom, bei denen ein einzelnes Gen die<br />

Ursache ist, sind die meisten psychiatrischen Krankheiten polygenetisch.<br />

Sie haben einen komplexen Erbgang <strong>und</strong> werden massgeblich durch<br />

Umwelteinflüsse moduliert. In neueren Studien über Depression findet<br />

man eindeutige Beispiele für eine Gen-Umwelt-Interaktion. Das 5-HTT-<br />

Gen kodiert ein Protein, das Serotonin aus dem synaptischen Spalt entfernt.<br />

Dieses Gen verfügt über einen Promotor, der in zwei allelen Formen<br />

existiert: einer kurzen <strong>und</strong> einer langen. Die lange Form produziert mehr<br />

Transporter <strong>und</strong> entfernt daher Serotonin wirksamer aus den Synapsen als<br />

die kurze Form, die weniger Transporter produziert. Die bahnbrechende<br />

Arbeit von A. Caspi hat nun gezeigt, dass Personen mit zwei Exemplaren<br />

des kurzen Allels mehr zu Angstempfindungen neigen als jene mit zwei


Exemplaren des langen Allels oder mit je einer Kopie von den Allelen.<br />

Zudem sind Personen mit zwei Exemplaren der kurzen Form empfänglicher<br />

für stressbedingte Depression, während jene mit zwei Exemplaren<br />

der langen Form davor geschützt sind.<br />

A. R. Hariri ist diesem Bef<strong>und</strong> auf kreative Weise nachgegangen <strong>und</strong><br />

fragte: Worin unterscheidet sich die Verarbeitung von Umweltstimuli im<br />

<strong>Gehirn</strong> bei Personen mit diesen beiden Varianten des Transportergens? Er<br />

fand, dass Personen mit den kurzen Allelen als Reaktion auf Angst erregenden<br />

Stimuli eine grössere neurale Aktivität in der Amygdala (einer für<br />

die Reaktion auf Gefahr entscheidenden Hirnregion) aufweisen, als Personen<br />

mit dem langen Allel. Wie im vorliegenden Bericht dargestellt, zeigen<br />

diese <strong>und</strong> andere Untersuchungen über die genetische Ursache von<br />

Geisteskrankheiten, dass genetische Variationen einen grossen Einfluss<br />

darauf haben, ob stressvolle Lebensereignisse zu Symptomen einer<br />

Depression oder zu einem Suizidversuch führen. Diese Gen-Umwelt-<br />

Interaktionen erinnern an frühere Bef<strong>und</strong>e des Laboratoriums von Caspi<br />

bezüglich Varianten jenes Gens, das das Enzym Monoamin Oxidase A<br />

(MAOA) kodiert. Eine Form des Gens prädisponiert Kinder, die missbraucht<br />

werden dazu, sich zu gewalttätigen Erwachsenen zu entwickeln,<br />

eine andere Form hingegen tut dies nicht.<br />

In gewissen Bereichen, etwa Sucht <strong>und</strong> Alzheimersche Krankheit, sind wir<br />

im Verlauf des letzten Jahrzehnts von einem beschränkten Wissen zu<br />

einem detaillierten Verständnis der Pathogenese verschiedener Krankheitsaspekte<br />

gelangt, <strong>und</strong> zwar auf Ebenen, die von der Epidemiologie bis<br />

hin zur molekularen Ebene reichen. Dies hat dazu geführt, dass wir nun<br />

auch im Bereich der Therapie entscheidende Entwicklungen erwarten.<br />

Was Sucht anbelangt, wissen wir heute, dass Nikotin die vermutlich am<br />

stärksten abhängig machende Droge ist, der Menschen im Allgemeinen<br />

ausgesetzt sind. Wenn Ratten schon während der Adoleszenz Nikotin<br />

erhalten, haben sie im Erwachsenenalter eine erhöhte Nikotinpräferenz im<br />

Vergleich zu Ratten, die erst als Erwachsene exponiert werden. Zudem<br />

behielten die Ratten, die den Nikotinkonsum während ihrer Adoleszenz<br />

begonnen hatten, dieselben hohen Mengen als erwachsene Tiere bei.<br />

Somit weisen diese <strong>und</strong> frühere Studien zur Einstiegs-Hypothese darauf<br />

hin, dass es möglicherweise der stärkere Konsum von Adoleszenten ist,<br />

der den Weg zur Sucht ebnet. Basierend auf der These von Berke <strong>und</strong><br />

Hyman, die in einer bedeutenden Übersichtsarbeit in Neuron vorgebracht 9<br />

Einleitung


10<br />

wurde, dass Rückfälle eine Form des Lernens darstellen, trainierte U. E.<br />

Ghitza Ratten, einen bestimmten musikalischen Ton mit der Selbstverabreichung<br />

von Kokain zu assoziieren. Ableitungen von einzelnen Neuronen<br />

ergaben in Hirnbereichen, die mit Sucht im Zusammenhang stehen, etwa<br />

dem Nucleus accumbens, starke Reaktionen auf den mit der Droge assoziierten<br />

Ton <strong>und</strong> dies auch nach lang andauernder Abstinenz.<br />

Wie also der vorliegende, ausführliche Bericht über die diesjährigen Fortschritte<br />

verdeutlicht, führt uns die Gr<strong>und</strong>lagenwissenschaft allmählich<br />

zu neuen Erkenntnissen von therapeutischer Tragweite. Diese von der<br />

Stiftung <strong>und</strong> von David Mahoney schon lange zum Ausdruck gebrachte<br />

Hoffnung erfüllt sich somit zunehmend.<br />

Literaturnachweis<br />

Berke, J.D. and Hyman, S.E. Addiction, dopamine, and the molecular mechanisms of memory.<br />

Neuron 2000; 25: 515-532.<br />

Boulanger, L.M., Huh, G.S., and Shatz, C.J. Neuronal plasticity and cellular immunity: Common<br />

molecular mechanisms. Curr. Opin. Neurobiol. 2001; 11: 568-578.<br />

Caspi, A., McClay, J., Moffitt, T.E., Mill, J., Martin, J., Craig, I.W., Taylor, A., and Poulton, R. Role<br />

of genotype in the cycle of violence in maltreated children. Science 2002; 297: 851-854.<br />

Caspi, A., Sugden, K., Moffitt, T.E., Taylor, A., Craig, I.W., Harrington, H., McClay, J., Mill, J.,<br />

Martin, J., Braithwaite, A., and Poulton, R. Influence of life stress on depression: Moderation<br />

by a polymorphism in the 5-HTT gene. Science 2003; 30: 291-293.<br />

Caspi, A., Sugden, K., Moffitt, T.E., Taylor, A., Craig, I.W., Harrington, H-L, McClay, J., Mill, J.,<br />

Martin, J., Braithwaite, A., and Poulton, R. Influence of life stress on depression: Moderation by<br />

a polymorphism in the 5-HTT genes. Science 2003; 30: 386-389.<br />

Ghitza, U.E., Fabbricatore, A.T., Prokopenko, V., Pawlak, A.P., and West, M.O. Persistent cueevoked<br />

activity of accumbens neurons after prolonged abstinence from self-administered<br />

cocaine. J. Neurosci. 2003; 23: 7239-7245.<br />

Giros, B., Leboyer, M., Gillberg, C., and Bourgeron, T. Mutations of the X-linked genes encoding<br />

neurlogins NLGN3 and NLGN4 are associated with autism. Nat. Genet. 2003; 34: 27-29.<br />

Hariri, A.R., Mattay, V.S., Tessitore, A., Kolalchana, B., Fera, F., Goldman, D., Egan, M.F., and<br />

Weinberger, D.R. Serotonin transporter gene variation and the response of the human amygdala.<br />

Science 2002; 297: 400-403.<br />

Huh, G.S., Du, H., Boulanger, L.M., Riquelme, P., Brotz, T.M., and Shatz, C.J. Functional requirement<br />

for Class I MHC in CNS development and plasticity. Science 2000; 290: 2155-2159.<br />

Levin, E.D., Resvani, A.H., Montoya, D., Rose, J.E., and Swartzwelder, H.S. Adolescent-onset nicotine<br />

self-administration modeled in female rats. Psychopharmacol. (Berl.) 2003; 169: 141-149.<br />

Perlmutter, J.S. Cortical and subcortical blood flow effects of subthalamic nucleus stimulation in PD.<br />

Neurology 2003; 61: 816-821.<br />

Posner, J.B. Neurologic Complications of Cancer. Philadelphia, PA, F.A. Davis, 1995.<br />

Yianni, J., Bain, P., Giladi, N., Auca, M., Gregory, R., Joint, C., Nandi, D., Stein, J., Scott, R., and<br />

Aziz, T. Globus pallidus internus deep brain stimulation for dystonic conditions: a prospective<br />

audit. Mov. Disord. 2003; 18: 436-424.


Neuroimmunologie:<br />

Zwei Systeme interagieren<br />

Guy M. McKhann, MD <strong>und</strong> Carolyn Asbury, PhD<br />

In diesem Jahr würdigen wir einen Zweig der Neurowissenschaft, der sich<br />

viele Jahre im Hintergr<strong>und</strong>, gleichsam im Gärstadium befand. Jetzt wird<br />

die Neuroimmunologie zu einem immer wichtigeren <strong>und</strong> aufsehenerregenden<br />

Bereich.<br />

Das Konzept, die Wechselbeziehungen von Neurologie <strong>und</strong> Immunologie<br />

zu betrachten, ist etwa 25 Jahre alt <strong>und</strong> konzentrierte sich anfänglich auf<br />

die Multiple Sklerose (MS), eine Autoimmunerkrankung des <strong>Gehirn</strong>s.<br />

Erkenntnisse der immunologischen Gr<strong>und</strong>lage verschiedener neurologischer<br />

Krankheiten, unterstützt durch atemberaubende neue Techniken<br />

der molekularen Bildgebung <strong>und</strong> der Genetik, führen zu neuen Ansätzen,<br />

um die wechselseitige Beeinflussung des Nerven- <strong>und</strong> des Immunsystems<br />

in Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit besser zu verstehen. Zudem eröffnen diese<br />

Forschungsrichtungen vielversprechende Behandlungen von so unterschiedlichen<br />

Krankheiten wie Alzheimer <strong>und</strong> rheumatoide Arthritis.<br />

Viele Beispiele bestätigen die Prämisse, dass die Neuroimmunologie die<br />

ihr entgegengebrachte wachsende Aufmerksamkeit wohl verdient.<br />

Das Nerven- <strong>und</strong> das Immunsystem sind zwei der kompliziertesten <strong>und</strong><br />

lebensnotwendigsten Systeme des menschlichen Körpers. Seit Jahren<br />

erkannte die Wissenschaft, dass das Nerven- <strong>und</strong> das Immunsystem in<br />

ihrer Komplexität vergleichbar sind. Aber man betrachtete sie als zwei<br />

weitgehend unabhängige, funktionell <strong>und</strong> biochemisch unterschiedliche 11


12<br />

Systeme, wobei das Nervensystem als eher fest verkabelt <strong>und</strong> das Immunsystem<br />

als eher reaktiv galt. Heute erkennt die Forschung, dass diese<br />

Systeme auf der biochemischen <strong>und</strong> zellulären Ebene miteinander auf<br />

ungeahnte Weise in Beziehung stehen.<br />

Weshalb wird die Zusammenarbeit von Wissenschaftern dieser beiden<br />

Gebiete gerade jetzt als Strategie anerkannt, um das Gebiet voranzubringen?<br />

Einesteils liegt dies daran, dass die technischen Fortschritte zu neuen<br />

Forschungsrichtungen führen, denen nur mit Hilfe des Wissens <strong>und</strong> des<br />

Instrumentariums beider Gebiete wirksam nachgegangen werden kann.<br />

Andernteils könnte es daran liegen, dass diese neue Zusammenarbeit die<br />

Forschenden beider Gebiete dazu veranlasst, lange gehegte Annahmen<br />

ihres jeweils eigenen Fachbereichs in Frage zu stellen. Neuroimmunologie<br />

bedingt, wie schon der Name sagt, eine Konvergenz von Perspektiven.<br />

So wissen wir z. B. seit etwa einem Jahrh<strong>und</strong>ert, dass Nervenzellen miteinander<br />

über Verbindungen, die sogenannten Synapsen, kommunizieren.<br />

Jetzt zeigt sich, dass auch Immunzellen untereinander über Synapsen ähnliche<br />

Verbindungen kommunizieren, die anscheinend gemeinsame Merkmale,<br />

einschliesslich gewisser Moleküle, mit den Nervenzell-Synapsen<br />

aufweisen. Und neuerdings weist vieles darauf hin, dass Hirnzell-Synapsen<br />

durch Immunreaktionen im <strong>Gehirn</strong> beeinflusst werden.<br />

Eine weitere Erkenntnis besteht darin, dass dasselbe Molekül, das an der<br />

Zellerkennung des Immunsystems beteiligt ist, auch bei der „Verkabelung“<br />

des <strong>Gehirn</strong>s eine bedeutende Rolle spielt. Man bezeichnet dieses Molekül<br />

als „Haupt-Histokompatibilitätskomplex“ (major histocompatability complex,<br />

MHC). Im Immunsystem nehmen MHC-Moleküle ein Fragment der<br />

Peptide eines eindringenden Erregers auf <strong>und</strong> präsentieren es bestimmten<br />

Immunzellen, damit diese lernen, den Krankheitserreger zu identifizieren<br />

<strong>und</strong> zu bekämpfen. Während der Entwicklung des Nervensystems scheinen<br />

MHC-Moleküle, wie Carla Shatz <strong>und</strong> Mitarbeitende von der Harvard<br />

Medical School kürzlich festgestellt haben, notwendig zu sein, damit eine<br />

Hirnzelle bei der „Verkabelung“ des <strong>Gehirn</strong>s entscheiden kann, zu welcher<br />

anderen sie eine Verbindung herstellt. Einige Forschende vermuten nun,<br />

dass im Immunsystem <strong>und</strong> im Nervensystem dieselbe Genfamilie für das<br />

Erkennen zuständig sein könnte.<br />

Es gibt tatsächlich immer mehr Beispiele dafür, dass einzelne Moleküle,<br />

von denen einst angenommen worden war, ihr Vorkommen sei aufs


Nervensystem beschränkt, inzwischen auch im Immunsystem gef<strong>und</strong>en<br />

wurden. Ausser den MHC-Molekülen gehört dazu auch ein „Semiphorin“<br />

genanntes Molekül, das zur Steuerung von Prozessen bestimmter autonomer<br />

Nervenzellen im Körper beiträgt. Auch auf einigen Immunzellen sind<br />

Semiphorine reichlich vorhanden, ihre Funktion dort ist allerdings noch<br />

ein Rätsel. Ausserdem spielen möglicherweise „Neurotropine“ genannte<br />

Substanzen, die von Nervenzellen produziert werden, eine Rolle bei der<br />

Regulierung von MHC-Molekülen. Diese <strong>und</strong> ähnliche Bef<strong>und</strong>e bezüglich<br />

biochemischer <strong>und</strong> zellulärer Interaktionen zwischen Zellen in den beiden<br />

Systemen beflügelten das Interesse weiter zu ergründen, wie sich die<br />

beiden Systeme wechselseitig beeinflussen.<br />

Gr<strong>und</strong>lagen des Immunsystems verstehen<br />

Um die Implikationen dieser konstanten zellulären Interaktion zu untersuchen,<br />

ist es aufschlussreich, zuerst einige Gr<strong>und</strong>lagen des Immunsystems zu<br />

beschreiben, die sich direkt auf dessen Interaktion mit dem <strong>Gehirn</strong> beziehen.<br />

Das Immunsystem hat zwei Komponenten: eine angeborene <strong>und</strong> eine<br />

adaptive. Die angeborene Immunkomponente ist die erste Verteidigungslinie<br />

des Körpers. Sie löst eine unmittelbare, generalisierte <strong>und</strong> rasche,<br />

wenn auch nur kurz dauernde Reaktion gegen Eindringlinge aus, seien<br />

diese nun Bakterien, Viren, Parasiten oder Pilze. Zu den wichtigsten Typen<br />

der angeborenen Immunzellen gehören Makrophagen, deren Stärke es<br />

ist, Bakterien zu erkennen; Granulozyten, die Bakterien <strong>und</strong> Parasiten<br />

erkennen; dendritische Zellen, die sehr gut Viren erkennen; natürliche<br />

Killerzellen, die bei der Erkennung von Viren <strong>und</strong> Tumorzellen eine Rolle<br />

spielen; sowie Mastzellen, die an allergischen Reaktionen beteiligt sind.<br />

Bei einer Entzündung beispielsweise setzen körpereigene Makrophagen,<br />

wenn sie auf Bakterien stossen, Substanzen, so genannte Zytokine <strong>und</strong><br />

Chemokine frei, die dazu beitragen, dass Granulozyten an den Ort der<br />

Infektion wandern <strong>und</strong> zum Angriff übergehen, was dann die für Infektionen<br />

typische Rötung, Schwellung, Erwärmung <strong>und</strong> den Schmerz verursacht.<br />

Die Makrophagen rufen auch die zweite Verteidigungslinie des Körpers,<br />

die adaptiven Immunzellen, zu Hilfe.<br />

Eine Hauptaufgabe der Makrophagen <strong>und</strong> dendritischen Zellen des angeborenen<br />

Immunsystems besteht darin, den Körper auf Eindringlinge abzusuchen<br />

<strong>und</strong>, falls welche gef<strong>und</strong>en werden, die zweite Verteidigungslinie<br />

des Körpers, die adaptiven Immunzellen, die so genannten „Lymphozyten“<br />

zu aktivieren. Es gibt zwei Arten von Lymphozyten, „B“- <strong>und</strong> „T“-Zellen. 13<br />

Neuroimmunologie: Zwei Systeme interagieren


14<br />

Diese adaptiven Immunzellen führen einen höchst gezielten <strong>und</strong> präzisen<br />

Angriff gegen einen spezifischen Eindringling. Im Allgemeinen ist jeder<br />

Eindringling, der ausserhalb von Körperzellen gef<strong>und</strong>en wird, das Angriffsziel<br />

einer spezifischen B-Zelle, während jeder Eindringling, der in Körperzellen<br />

eindringt, das Angriffsziel einer spezifischen T-Zelle darstellt.<br />

B-Zellen agieren, indem sie Antikörper genannte Moleküle ausscheiden,<br />

die über den Blutkreislauf an die betreffenden Orte gelangen <strong>und</strong> den<br />

Eindringling angreifen. Im Gegensatz dazu gibt es zwei Haupttypen von<br />

T-Zellen mit unterschiedlichen Aufgaben. Den einen Typ nennt man „zytotoxische<br />

T-Zellen“. Diese Zellen greifen einen Eindringling direkt an. Der<br />

andere Typ von T-Zellen trägt dazu bei, B-Zellen <strong>und</strong> Makrophagen<br />

zum Angriff anzuregen. Deshalb bezeichnet man sie als „T-Helferzellen“.<br />

Ist ein spezifischer Eindringling einmal besiegt – sei es durch B-Zellen oder<br />

T-Zellen – werden sich einige der übrig gebliebenen B- oder T-Zellen an<br />

sein Aussehen erinnern <strong>und</strong> eine raschere Reaktion auslösen, falls dieser<br />

Eindringling den Körper irgendwann wieder angreift.<br />

Immunzellen im <strong>Gehirn</strong><br />

Das <strong>Gehirn</strong> gilt als „immun-privilegierter“ Ort. Tatsächlich gibt es im<br />

<strong>Gehirn</strong> nur eine Art von Immunzellen, die Mikroglia. Diese Mikrogliazellen<br />

gleichen den angeborenen Immun-Makrophagen, die man im restlichen<br />

Körper findet. Eine erste Überlegung könnte zur Ansicht führen, die<br />

Mikroglia diene im <strong>Gehirn</strong> nur zur Erkennung von Eindringlingen wie Bakterien<br />

<strong>und</strong> Viren. Aber ganz offensichtlich löst die Mikroglia keine eigentliche<br />

Immunreaktion aus <strong>und</strong> kann in gewissen Fällen sogar Hirnzellen<br />

schädigen. Die Frage nach der Aufgabe der Mikroglia im <strong>Gehirn</strong> liess den<br />

Immunologen Ralph Steinman von der Harvard Universität vorschlagen,<br />

Neuroimmunologen sollten Methoden entwickeln um die Funktionen dieser<br />

so zahlreichen Immunzellen im <strong>Gehirn</strong> kontinuierlich im so genannten<br />

„steady-state“ zu registrieren, in einem Zustand, in welchem keine Infektion<br />

vorliegt. Um dieser Frage nachgehen zu können, werden neue Möglichkeiten<br />

geprüft, die Mikroglia zu markieren <strong>und</strong> ihre Aktivitäten sichtbar<br />

zu machen.<br />

Zusätzlich zu den im <strong>Gehirn</strong> angesiedelten Mikroglia-Zellen des angeborenen<br />

Immunsystems bringen es auch adaptive Immunzellen – die Lymphozyten<br />

– fertig, im <strong>Gehirn</strong> „ein- <strong>und</strong> auszureisen“, um gegen Eindringlinge zu<br />

patrouillieren. Diese Grenzpatrouillen bleiben normalerweise an der Oberfläche<br />

des <strong>Gehirn</strong>s <strong>und</strong> greifen Viren oder Bakterien an, die versuchen


ins <strong>Gehirn</strong> einzudringen. Nichtsdestoweniger stehen Wissenschafter der<br />

Möglichkeit, dass auch Lymphozyten ins Hirngewebe gelangen könnten,<br />

heute offener gegenüber.<br />

Aber auf welche Weise interagieren Hirnzellen <strong>und</strong> Immunzellen im <strong>Gehirn</strong>?<br />

Ebenso wie Nervenzellen miteinander über Synapsen kommunizieren,<br />

verwenden auch Immunzellen – laut Michael Dustin von der Universität<br />

New York <strong>und</strong> David Colman von der McGill-Universität – Synapsen ähnliche<br />

Verbindungen um miteinander zu kommunizieren. Darüber hinaus<br />

gibt es – Kevin Tracey <strong>und</strong> seinem Team vom North Shore Long Island<br />

Jewish Hospital zufolge – verblüffende Hinweise darauf, dass Nerven- <strong>und</strong><br />

Immunzellen über eine gemeinsame molekulare Gr<strong>und</strong>lage der Kommunikation<br />

verfügen, wobei jeweils Zellen des einen Systems Rezeptoren des<br />

andern benutzen, um Signale wechselseitig zu übermitteln. Sollte dem so<br />

sein, eröffnet dies einen völlig neuen Zugang, um die gegenseitige Beeinflussung<br />

der beiden Systeme zu erforschen.<br />

Dustin <strong>und</strong> sein Mitarbeiter an der Universität New York, Wen-Biao Gan<br />

fanden Hinweise, dass Hirnzellsynapsen durch Immunreaktionen im<br />

<strong>Gehirn</strong> beeinflusst werden. Diese Untersuchungen zeigen nicht nur, wie<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich die Neuroimmunologie unser Wissen zu erweitern vermag,<br />

sondern auch wie sehr sich die Art der Forschung an sich verändert, indem<br />

Forschungsergebnisse in wirksame Therapien <strong>und</strong> Präventionsmassnahmen<br />

umgesetzt werden.<br />

Implikationen für viele Krankheiten<br />

<strong>und</strong> deren Behandlung<br />

Der immunprivilegierte Charakter des <strong>Gehirn</strong>s zeigt sich wohl nie so deutlich<br />

wie dann, wenn Hirntumoren auftreten <strong>und</strong> ungehemmt wachsen. Bis<br />

vor kurzem konzentrierte sich die Behandlung von Hirntumoren hauptsächlich<br />

auf Chemotherapie <strong>und</strong> Bestrahlung, um die Teilung <strong>und</strong> das<br />

Wachstum von Krebszellen zu blockieren. Diese Verfahren sind jedoch<br />

nicht präzis, so dass unbeabsichtigt einige nicht krebsartige Zellen getötet<br />

werden, während einige Krebszellen übrig bleiben. Dies führt dazu, dass<br />

der Krebs immer wieder auftritt <strong>und</strong> die Prognose trotz der Behandlungsansätze<br />

nicht besser wurde. Eine andere Möglichkeit könnte allerdings<br />

darin bestehen, die Immunreaktion ausserhalb des <strong>Gehirn</strong>s künstlich zu<br />

stärken. Einige Forschende arbeiten im Laboratorium daran, adaptive<br />

Immunzellen eines Patienten dazu zu bringen, dass sie einen bösartigen<br />

Tumor erkennen; anschliessend sollen diese instruierten Immunzellen die 15<br />

Neuroimmunologie: Zwei Systeme interagieren


16<br />

Fähigkeit erlangen, ins <strong>Gehirn</strong> des Patienten einzudringen <strong>und</strong> den Tumor<br />

anzugreifen.<br />

Andere Forschungsansätze sind jene der Neurochirurgen wie Robert Martuza<br />

von Harvard, die Moleküle gezielt einsetzen, um eine Gentherapie<br />

gegen Hirntumoren zu entwickeln. Einen weiteren Weg hat die Forscherin<br />

Jennifer Allport von Harvard eingeschlagen; sie versucht zu ermitteln, ob<br />

eine Tumorbehandlung auf eine „Progenitor“-Nervenzelle (eine Zelle, die<br />

sich zu einer Hirnzelle entwickeln wird) geladen werden kann, die dann<br />

zum Tumor wandern <strong>und</strong> die therapeutische Wirkung dort ausüben<br />

könnte. Zudem werden individualisierte „therapeutische“ Impfstoffe<br />

gegen den Hirntumor eines Patienten erprobt. Im Gegensatz zu präventiven<br />

Impfstoffen, die Menschen davor schützen, sich mit einer Krankheit<br />

wie Masern anzustecken, sollen therapeutische Impfstoffe das Immunsystem<br />

des Patienten stimulieren, eine bereits bestehende Erkrankung wie<br />

Hirntumor oder Alzheimersche Krankheit wirksamer zu bekämpfen.<br />

Charakteristisch für die Alzheimersche Krankheit sind die Ansammlung<br />

von Ablagerungen des Peptids Beta-Amyloid im <strong>Gehirn</strong> sowie ein Geflecht<br />

von Nervenfasern, die so genannten „neurofibrillären Bündel“. Auch Entzündungen<br />

des <strong>Gehirn</strong>s kommen vor. Wirkt die bei der Alzheimerschen<br />

Krankheit auftretende Akkumulation von Amyloid direkt toxisch auf das<br />

<strong>Gehirn</strong> oder verursacht sie im <strong>Gehirn</strong> eine Entzündungsreaktion? Die Wissenschaft<br />

ist noch nicht in der Lage festzustellen, welche der beiden Möglichkeiten<br />

zutrifft. Es ist also unklar, ob eine Entzündung des <strong>Gehirn</strong>s bei<br />

der Alzheimerschen Krankheit zum Krankheitsverlauf gehört oder dessen<br />

Folge ist. Eine neuartige Methode besteht darin, den Körper mittels eines<br />

therapeutischen Impfstoffes so zu stimulieren, dass er Antikörper gegen<br />

Beta-Amyloid produziert. Es gibt Hinweise dafür, dass diese Methode zu<br />

einer geringeren Akkumulation von Beta-Amyloid führt. Nichtsdestoweniger<br />

entwickelten einige Kranke, die am klinischen Versuch eines therapeutischen<br />

Impfstoffes teilnahmen, eine verstärkte Entzündungsreaktion auf<br />

den Impfstoff. Dies führte dazu, dass der klinische Versuch gestoppt<br />

wurde. Die Verheissung – <strong>und</strong> die Probleme – der Impfmethode werden<br />

in den Abschnitten „Neuroimmunologie“ sowie „Denken <strong>und</strong> Gedächtnis“<br />

des vorliegenden Berichts dargestellt.<br />

Bei einer Entzündung im Körper handelt es sich um die lokalisierte Reaktion<br />

von angeborenen Immun-Makrophagen auf Eindringlinge, oft Bakterien.<br />

Makrophagen setzen Substanzen, so genannte „Zytokine“ frei, welche


die Durchlässigkeit von Blutgefässen erhöhen. Makrophagen setzen auch<br />

„Chemokine“ genannte Substanzen frei, welche die Migration gewisser<br />

angeborener Immunzellen (so genannte Neutrophile) an den Ort einer<br />

Entzündung leiten. Die Akkumulation von Flüssigkeit <strong>und</strong> Neutrophilen<br />

ruft das charakteristische rote, geschwollene, heisse <strong>und</strong> schmerzhafte<br />

Symptom einer Entzündung hervor, wie es etwa auftritt, wenn wir uns das<br />

Knie aufschlagen. Die Makrophagen rufen auch adaptive Immunantikörper<br />

auf den Plan, allerdings dauert es einige Tage, bis diese Reaktion erfolgt.<br />

Eine Entzündung tritt ausser bei der Alzheimerschen Krankheit auch bei<br />

anderen Erkrankungen auf, an denen das Nervensystem beteiligt ist. Eine<br />

dieser entzündlichen Krankheiten, an der das Nervensystem überraschenderweise<br />

beteiligt zu sein scheint, ist die rheumatoide Arthritis.<br />

Rheumatoide Arthritis ist eine von vielen „Autoimmun“-Krankheiten, bei<br />

denen die Immunzellen des Körpers irrtümlich körpereigenes Gewebe für<br />

„fremd“ halten <strong>und</strong> angreifen – ein Vorgang, der noch nicht völlig geklärt<br />

ist. Im Falle der autoimmunen rheumatoiden Arthritis könnte das Problem<br />

zum Teil vom Nervensystem, genauer vom Neurotransmitter Glutamat,<br />

herrühren. Laut Terry McNearney, einem Forscher an der Universität von<br />

Texas-Galveston, wird Glutamat durch sensorische periphere Nervenenden<br />

in Gelenke freigesetzt, was eine Entzündungsreaktion in den Gelenken<br />

hervorrufen könnte. Eine fortdauernde Entzündung kann dann zu<br />

einer Schädigung des Gewebes führen.<br />

Autoimmunität wie im Falle der rheumatoiden Arthritis trägt ganz entscheidend<br />

zu Erkrankungen des Nervensystems bei. Das bekannteste<br />

Beispiel dafür ist Multiple Sklerose (MS). Bei der MS führen Immunzellen<br />

einen fehlgeleiteten Angriff gegen Myelin durch. Diese fetthaltige<br />

Scheide umhüllt <strong>und</strong> isoliert Nervenzellen in <strong>Gehirn</strong> <strong>und</strong> Rückenmark<br />

<strong>und</strong> ist für das Weiterleiten von Signalen von einer Nervenzelle zur<br />

andern unerlässlich. Eine vom kürzlich verstorbenen Charles Janeway Jr.<br />

von Yale <strong>und</strong> seinem Kollegen Michael Carrithers postulierte Hypothese<br />

besagt, die Migrationsroute, auf der Lymphozyten die Oberfläche des<br />

<strong>Gehirn</strong>s in beide Richtungen durchqueren, breche zusammen, so dass<br />

Lymphozyten, die fälschlicherweise gelernt hätten, Myelin anzuvisieren,<br />

über diese Bahn zirkulieren, um anzugreifen.<br />

Ausserdem könnten, so die Forscher Thomas Misgeld <strong>und</strong> Martin<br />

Kerschensteiner von der Universität Washington, auch die angeborenen<br />

Immun-Mikrogliazellen im <strong>Gehirn</strong> eine Rolle spielen, indem sie die Axone 17<br />

Neuroimmunologie: Zwei Systeme interagieren


18<br />

der Nervenzellen angreifen. Solche Autoimmunreaktionen im <strong>Gehirn</strong> führen<br />

zur wichtigen Frage, wie autoimmune Hirnkrankheiten verhindert werden<br />

könnten ohne dabei die Fähigkeit des Immunsystems preiszugeben,<br />

Infektionen des <strong>Gehirn</strong>s wie etwa Meningitis zu verhindern.<br />

Die Verwendung ähnlicher Methoden<br />

zur Untersuchung von Hirn- <strong>und</strong> Immunzellen<br />

Methoden zur Untersuchung von Immuntherapien gegen Hirnkrankheiten<br />

wie etwa die Alzheimersche Krankheit eröffnen nicht nur die Möglichkeit,<br />

mehr über das <strong>Gehirn</strong> zu erfahren, sondern auch die Funktion des<br />

Immunsystems im <strong>Gehirn</strong> genauer kennenzulernen. Verschiedene Methoden,<br />

die ursprünglich zur Untersuchung des einen Systems entwickelt<br />

worden waren, werden heute auf das andere angewendet oder auf die<br />

Interaktion dieser beiden Systeme. So benutzte man etwa die zelluläre <strong>und</strong><br />

molekulare Bildgebung zuerst im Rahmen der immunologischen Krebsforschung<br />

<strong>und</strong> wendet sie heute im Bereich der Neuroimmunologie an. Techniken<br />

der zellulären <strong>und</strong> molekularen Bildgebung erlauben es, einzelne<br />

Nerven- <strong>und</strong> Immunzellen sowie deren Interaktionen sichtbar zu machen.<br />

Einige dieser zellulären Bildgebungsverfahren erlauben es, die Aktivitäten<br />

einer einzelnen Zelle fortlaufend zu verfolgen.<br />

In ähnlicher Weise hat die Neurowissenschaft seit Jahrzehnten mittels<br />

Elektrophysiologie zu verstehen gesucht, wie Substanzen dank Pumpen<br />

<strong>und</strong> Kanälen in Nervenzellen ein- <strong>und</strong> ausströmen. Dies hat zu neuen<br />

Erkenntnissen bezüglich verschiedener Krankheiten des Nervensystems<br />

geführt. Inzwischen benutzt die Immunologie dieselben Methoden, um<br />

die Dynamik von Immunzellen zu verstehen. Da wir gewisse Ähnlichkeiten<br />

des Nerven- <strong>und</strong> Immunsystems erkennen, beginnen wir auch, dieselben<br />

Verfahren anzuwenden, um die Funktionsweise von Zellen in beiden<br />

Systemen zu verstehen. Dank dieser Methoden <strong>und</strong> der Zusammenarbeit<br />

von Neurowissenschaft <strong>und</strong> Immunologie werden sich die Fragen <strong>und</strong><br />

Herausforderungen von heute in die Fortschritte von morgen verwandeln.


Fortschritte<br />

in der<br />

Hirnforschung<br />

im Jahr 2003


Neuroimmunologische<br />

Erkrankungen<br />

Neue Wege der Behandlung von Multipler Sklerose 22<br />

Zusammenhang mit Neuroimmunvorgängen bestätigt 24<br />

Ein Impfstoff gegen die Alzheimersche Krankheit? 26<br />

21


22<br />

Im Bereich der Neuroimmunologie wurden im vergangenen Jahr bemerkenswerte<br />

Fortschritte gemacht. Beispielsweise eröffneten sich 2003<br />

einige viel versprechende neue Möglichkeiten zur Behandlung der Multiplen<br />

Sklerose <strong>und</strong> es ergaben sich auch neue Hinweise auf Zusammenhänge<br />

zwischen der Aktivierung des Immunsystems <strong>und</strong> der Entstehung<br />

gewisser neurologischer Erkrankungen. Umgekehrt entdeckte man auch<br />

eine Bahn, über die das Nervensystem auf das Immunsystem einzuwirken<br />

vermag, was möglicherweise erklärt, auf welche Weise chronischer Stress<br />

die Immunreaktion schwächen <strong>und</strong> eine Erkrankung verursachen kann.<br />

Auch zwischen Immunzellen <strong>und</strong> Schmerz könnte ein Zusammenhang<br />

bestehen (vgl. das Kapitel „Schmerz“, S. 57). Die weiteren Forschungsarbeiten<br />

zur Entwicklung eines sicheren <strong>und</strong> wirksamen Impfstoffs gegen<br />

die Alzheimersche Krankheit haben ebenfalls zu einigen ermutigenden<br />

Resultaten geführt.<br />

Neue Wege der Behandlung von Multipler Sklerose<br />

Bei der Multiplen Sklerose (MS) handelt es sich um eine chronische, progressive<br />

neurologische Erkrankung, von der weltweit etwa eine Million<br />

Menschen betroffen sind 1 . Zwar sind die genauen Krankheitsprozesse<br />

noch nicht völlig bekannt, doch entsteht MS, wenn das Immunsystem<br />

einer Person ihr eigenes Zentralnervensystem (ZNS) angreift. Im Verlaufe<br />

dieses Prozesses wird die Myelinscheide, jene fetthaltige Substanz, die<br />

Nervenzellen isoliert, allmählich zerstört, was zu einem Zusammenbruch<br />

der Kommunikation zwischen Neuronen führt.<br />

Zurzeit gibt es kein Heilmittel für die MS <strong>und</strong> die Behandlung besteht<br />

normalerweise darin, immunsuppressive Medikamente zu verabreichen,<br />

die jedoch nur beschränkt wirksam sind <strong>und</strong> zahlreiche unerwünschte<br />

Wirkungen haben. Aufgr<strong>und</strong> internationaler Anstrengungen, neue effizientere<br />

Behandlungsmethoden zu entwickeln, könnte sich diese Situation<br />

allerdings in einer nicht allzu fernen Zukunft ändern.<br />

Eine neue Vorgehensweise besteht in der Transplantation von Stammzellen<br />

in die geschädigten Gebiete des ZNS, wo sie sich zu reifen Zellen<br />

entwickeln <strong>und</strong> die zerstörte Myelinschicht ersetzen können. Um diese<br />

Möglichkeit zu prüfen, injizierte ein Forschungsteam unter Gianvito<br />

Martino am Spital San Raffaele in Milano adulte Nervenstammzellkulturen<br />

entweder in den Blutkreislauf oder ins ZNS von Mäusen mit einer experimentellen<br />

Autoimmun-Enzephalomyelitis (EAE), einem Tiermodell der MS 2 .<br />

Unabhängig vom Ort der Injektion zeigte sich nach dreissig Tagen, dass


eine beträchtliche Zahl der Spenderzellen in die entzündeten Gebiete des<br />

<strong>Gehirn</strong>s gewandert waren, sich zu reifen Hirnzellen entwickelt hatten <strong>und</strong><br />

das geschädigte Myelin wirksam erneuerten.<br />

Zwar lässt sich noch nicht sagen, ob dieses Verfahren bei Menschen mit<br />

einer MS funktioniert, doch stellten die Forschenden fest, dass die durch<br />

EAE hervorgerufene funktionelle Einbusse bei den transplantierten Mäusen<br />

beinahe völlig behoben war. Bevor sie diese revolutionäre Methode<br />

bei Menschen anwenden, wollen sie sie an nicht menschlichen Primaten<br />

wie etwa den Krallenaffen testen.<br />

Ein weiterer viel versprechender Ansatz zur Behandlung der MS besteht<br />

darin, die für ihre Entstehung verantwortlichen Gene zu identifizieren <strong>und</strong><br />

auszuschalten. Diesen Weg wählten Marcin Mycko <strong>und</strong> seine Mitarbeitenden<br />

von der Medizinischen Hochschule in Lodz, Polen, <strong>und</strong> wandten<br />

eine relativ neue Technik, die so genannte „cDNA Mikroarray-Analyse“ an,<br />

um eine Reihe von Genen zu identifizieren, die mit der Läsionsaktivität bei<br />

MS in Zusammenhang gebracht werden 3 .<br />

Myckos Team analysierte Hirngewebsproben, die vier MS-Kranken weniger<br />

als acht St<strong>und</strong>en nach ihrem Tod entnommen worden waren. Um herauszufinden,<br />

welche Gene aktiv (<strong>und</strong> vermutlich ursächlich) an jenem<br />

destruktiven Prozess beteiligt sind, der bei MS auftritt, verglichen die<br />

Forschenden die Aktivitätsmuster von Genen am Rand <strong>und</strong> im Zentrum<br />

von MS-Läsionen. Frühere Untersuchungen liessen erwarten, dass die<br />

„ursächlichen“ Gene am Rand von Läsionen, nicht aber im Zentrum<br />

aktiviert würden. Aufgr<strong>und</strong> dieser Information (<strong>und</strong> dank der neuen<br />

Mikroarray-Technik) konnten die Forschenden 14 Gene identifizieren, die<br />

an der Entstehung der MS wahrscheinlich massgeblich beteiligt sind.<br />

Wenn diese Gene ausgeschaltet oder blockiert werden, liesse sich nach<br />

Ansicht der Forschenden das Fortschreiten der MS möglicherweise<br />

verhindern.<br />

Eine Forschungsgruppe unter der Leitung des Neurowissenschafters<br />

Lawrence Steinman von Stanford verwendete ebenfalls Mikroarrays (h<strong>und</strong>erte<br />

von winzigen Proteinteilen, die in Reihen <strong>und</strong> Spalten angeordnet<br />

sind), um die Evolution von Autoantikörper-Reaktionen bei Mäusen mit<br />

experimenteller Autoimmun-Enzephalomyelitis darzustellen <strong>und</strong> dann so<br />

genannte „tolerisierende DNA-Impfstoffe“ (tolerizing DNA-vaccines) zu<br />

entwickeln, die zur Bekämpfung der MS eingesetzt werden könnten 4 . Im 23<br />

Neuroimmunologische Erkrankungen


24<br />

Falle der MS könnten solche Impfstoffe das Immunsystem dazu bringen,<br />

Myelin zu tolerieren <strong>und</strong> nicht länger fälschlich als eine nicht körpereigene<br />

Substanz zu betrachten. Dieses Verfahren liesse sich mit den wiederholten<br />

Injektionen zur Behandlung von Allergien vergleichen, die den Körper<br />

gegenüber einer unbedenklichen Substanz desensibilisieren, die vordem<br />

irgendwie eine allergische Reaktion hervorgerufen hatte.<br />

Zwar ist das Konzept von tolerisierenden Impfstoffen nicht neu, doch sind<br />

die von Steinmans Gruppe entwickelten tolerisierenden DNA-Impfstoffe<br />

in der Lage, eine Immuntoleranz gegenüber einem ganzen Spektrum von<br />

Myelin-Proteinen gleichzeitig zu induzieren, was mit den bestehenden auf<br />

Peptiden <strong>und</strong> Proteinen basierenden tolerisierenden Therapien nicht<br />

erreicht werden konnte.<br />

Der Hauptvorteil von tolerisierenden DNA-Impfstoffen besteht darin, dass<br />

sie „massgeschneidert“ einzelnen Patienten <strong>und</strong> Krankheiten angepasst<br />

werden können. Ausserdem lassen sich die von Steinmans Team entwickelten<br />

Myelin-Protein-Arrays auch dazu verwenden, den Schweregrad<br />

der Krankheit zu beurteilen. Den Wissenschaftern zufolge könnten<br />

Protein-Arrays die Diagnose <strong>und</strong> Behandlung der MS sowie weiterer<br />

Autoimmunerkrankungen wie rheumatoider Arthritis <strong>und</strong> Typ-1-Diabetes<br />

revolutionieren.<br />

Zusammenhang mit Neuroimmunvorgängen bestätigt<br />

Letztes Jahr wurden neue Bef<strong>und</strong>e erhoben, die die Beteiligung des<br />

Immunsystems an einer Reihe von neurologischen Krankheiten bestätigen.<br />

Beispielsweise berichteten Timothy Vartanian, ausserordentlicher Professor<br />

an der Harvard Medical School, <strong>und</strong> seine Mitarbeitenden in einem<br />

Artikel in Proceedings of the National Academy of Sciences, dass die Aktivierung<br />

von Mikroglia (Zellen die zur angeborenen <strong>Immunität</strong> des <strong>Gehirn</strong>s<br />

gehören <strong>und</strong> es vor Infektionen schützen), verschiedene Wirkungen hat,<br />

die schliesslich zur Zerstörung von ZNS-Neuronen führen können 5 .<br />

In einem Experiment setzten die Wissenschafter Mäuse während 30 Minuten<br />

einer unnatürlich tiefen Sauerstoffkonzentration (7,7%) aus – eine Versuchsbedingung,<br />

von der sich Mäuse normalerweise erholen können.<br />

Wenn allerdings gleichzeitig auch das angeborene Immunsystem aktiviert<br />

wurde, trugen die Tiere einen irreversiblen Hirnschaden davon. Aufgr<strong>und</strong><br />

dieser Ergebnisse kamen die Forschenden zum Schluss, die Aktivierung des<br />

Immunsystems trage zum Untergang von Zellen im Zentralnervensystem


ei. Zudem könnte dieser Bef<strong>und</strong> auch erklären, auf welche Weise<br />

systemische Infektionen zu einer verstärkten Neurodegeneration führen<br />

können, die bei etlichen neurologischen Erkrankungen auftritt.<br />

Verschiedene neuere Untersuchungen mit einer ähnlichen Versuchsanordnung<br />

kamen zum Ergebnis, dass HMG-CoA-Reduktase-Inhibitoren, so<br />

genannte Statine, auf etliche Neuroimmun-Krankheiten einen positiven<br />

Einfluss auszuüben scheinen. Bei den Statinen handelt es sich um weit<br />

verbreitete Medikamente zur Senkung eines hohen Cholesterinspiegels.<br />

Statine wirken zudem entzündungshemmend <strong>und</strong> dies könnte erklären,<br />

weshalb sie auch zur Behandlung vieler anderer Erkrankungen, einschliesslich<br />

der Alzheimerschen Krankheit (Alzheimer’s disease; AD),<br />

nützlich sein könnten.<br />

Eine von Magnus Sjogren <strong>und</strong> seinen Mitarbeitenden an der Universität<br />

Göteborg, Schweden, durchgeführte Untersuchung ergab, dass eine dreimonatige<br />

Behandlung mit Simvastatin bei 19 Alzheimer-Kranken die mit<br />

dieser Krankheit einhergehende Ansammlung von amyloiden Plaques verzögerte<br />

6 . Den Autoren zufolge ist dies die erste Untersuchung, die den<br />

direkten Nachweis erbringt, dass Statine das Fortschreiten der Alzheimerschen<br />

Krankheit verlangsamen könnten (dies vermutlich aufgr<strong>und</strong> ihrer<br />

entzündungshemmenden Eigenschaften).<br />

Während diese Forschungsarbeit die Beteiligung des Immunsystem an der<br />

Entstehung gewisser neurologischer Erkrankungen nachweist, wurde<br />

umgekehrt auch festgestellt, dass das Nervensystem einen starken Einfluss<br />

auf das Immunsystem ausüben kann. Beispielsweise entdeckte eine<br />

Forschungsgruppe unter Janice Kiecolt-Glaser an der Ohio State University,<br />

dass chronischer Stress zu einer Überproduktion von IL-6 führen<br />

kann; diese Substanz wird vom Immunsystem produziert, fördert Entzündungen<br />

<strong>und</strong> wird mit altersbedingten Krankheiten einschliesslich kardiovaskulärer<br />

Erkrankungen, Osteoporose, Arthritis, Typ-2-Diabetes <strong>und</strong><br />

gewissen Arten von Krebs in Zusammenhang gebracht. In einer in Proceedings<br />

of the National Academy of Sciences publizierten Untersuchung<br />

konnten die Forschenden nachweisen, dass bei einer Gruppe von älteren<br />

Personen, die einen chronisch kranken Ehepartner betreuten, IL-6 signifikant<br />

erhöht war – dies im Vergleich zu einer Gruppe Gleichaltriger, die<br />

keine solche Aufgabe zu erfüllen hatten 7 . Da IL-6 mit einer Reihe altersbedingter<br />

Krankheiten in Zusammenhang steht, könnten die Ergebnisse<br />

dieser Untersuchung zur Erklärung beitragen, wie chronischer Stress 25<br />

Neuroimmunologische Erkrankungen


26<br />

(z. B. die Betreuung eines an der Alzheimerschen Krankheit leidenden<br />

Ehepartners) zu Krankheiten führen kann.<br />

Ein Impfstoff gegen die Alzheimersche Krankheit?<br />

Eine mögliche Methode, die Alzheimersche Krankheit zu behandeln,<br />

basiert auf der Verwendung von therapeutischen Impfstoffen (vgl. das<br />

Kapitel „Denk- <strong>und</strong> Erinnerungsstörungen“, S. 88). Dieser Ansatz beruht<br />

auf der Annahme, eine Impfung von Alzheimer-Kranken mit dem Beta-<br />

Amyloid (ßA)-Peptid, jener Substanz also, die für die Entwicklung der Alzheimerschen<br />

Krankheit als hauptverantwortlich gilt, könnte das Immunsystem<br />

der Patienten dazu veranlassen, die sich im <strong>Gehirn</strong> ansammelnden<br />

amyloiden Plaques anzugreifen <strong>und</strong> zu zerstören. Forschende der Firma<br />

Elan Pharmaceuticals in Kalifornien testeten diese Methode erstmals im<br />

Jahr 1999 an einem Mausmodell von AD <strong>und</strong> begannen – durch die positiven<br />

Ergebnisse ermutigt – 2001 mit ersten klinischen Versuchen an Menschen.<br />

Allerdings mussten diese Versuche anfangs 2002 abgebrochen<br />

werden, da es bei einigen Teilnehmenden zu einer Meningoenzephalitis<br />

(einer Entzündung des <strong>Gehirn</strong>s <strong>und</strong> des angrenzenden Gewebes) kam.<br />

Obwohl die klinischen Versuche gestoppt wurden, konnten Christoph<br />

Hock <strong>und</strong> Mitarbeitende an der Universität Zürich, Schweiz, die die Daten<br />

einer kleinen Anzahl von Kranken analysierten, zeigen, dass sich bei diesen<br />

Kranken als Reaktion auf die Impfung tatsächlich Antikörper gegen<br />

Beta-Amyloid gebildet hatten 8 . Überdies war das Vorhandensein dieser<br />

Antikörper auch mit einem verlangsamten kognitiven Abbau verb<strong>und</strong>en.<br />

Ergebnisse einer Untersuchung von JoAnne McLaurin <strong>und</strong> ihrem Team an<br />

der Universität Toronto in Kanada geben ebenfalls Anlass zu neuem Optimismus<br />

bezüglich der Entwicklung eines wirksamen Alzheimer-Impfstoffs,<br />

der keine Entzündung im <strong>Gehirn</strong> hervorruft 9 . Aufgr<strong>und</strong> einer Reihe von<br />

Experimenten an Mäusen, konnten diese Forschenden feststellen, welche<br />

spezifischen Bereiche des im ursprünglichen Impfstoff verwendeten Antigen-Moleküls<br />

für die Entstehung einer Entzündung verantwortlich waren.<br />

Wenn es gelingt, diese Bereiche zu eliminieren, sollte der Entwicklung<br />

eines sicheren <strong>und</strong> wirksamen Impfstoffs nichts mehr im Wege stehen.


In der Kindheit<br />

auftretende Störungen<br />

Neue Erkenntnisse zur zerebralen Gr<strong>und</strong>lage<br />

des Autismus 28<br />

Bildgebende Verfahren decken die neurale Gr<strong>und</strong>lage<br />

des Lesens <strong>und</strong> der Dyslexie auf 30<br />

Geistige Behinderung besser verstehen 32<br />

Einen Mythos bezüglich Cerebralparetik ausräumen 33<br />

27


28<br />

In der Kindheit auftretende Hirnkrankheiten beruhen im Allgemeinen<br />

auf einem gr<strong>und</strong>legenden Fehler in der normalen Entwicklung. Im<br />

Jahr 2003 setzten die Forschenden ihre Bemühungen fort, diese Krankheiten<br />

auf der molekularen <strong>und</strong> genetischen Ebene zu verstehen. Unser<br />

Verständnis des Autismus, der Dyslexie <strong>und</strong> der verschiedenen Formen<br />

von geistiger Behinderung hat in dieser Zeitspanne bemerkenswerte<br />

Fortschritte gemacht.<br />

Neue Erkenntnisse zur zerebralen Gr<strong>und</strong>lage des Autismus<br />

Beim Autismus handelt es sich um eine verheerende Entwicklungsstörung<br />

mit Symptomen wie emotionaler Rückzug, repetitive Bewegungen <strong>und</strong><br />

Schwierigkeiten, mit anderen zu kommunizieren. Verschiedene neuere<br />

Berichte machen deutlich, dass die Diagnose Autismus immer häufiger<br />

gestellt wird. Dies belegt auch ein Bericht, den Marshalyn Yeargin-Allsopp<br />

<strong>und</strong> Mitarbeitende vom Center for Disease Control and Prevention im<br />

Januar 2003 im Journal of the American Medical Association (JAMA) publizierten;<br />

darin stellten sie fest, dass die allgemeine Verbreitung des<br />

Autismus im Grossraum Atlanta im Jahr 1996 3,4 Promille betrug – also<br />

ungefähr das zehnfache dessen, was in drei amerikanischen Untersuchungen<br />

der späten 80er <strong>und</strong> frühen 90er Jahre berichtet worden war, <strong>und</strong><br />

näher den Verhältnissen, wie sie 2001 in einer Untersuchung aus New<br />

Jersey <strong>und</strong> in verschiedenen neueren europäischen Untersuchungen<br />

festgestellt wurden 10 . Die Frage, ob die Verbreitung des Autismus tatsächlich<br />

zunimmt, oder ob wir es mit der Kombination von einer grösseren<br />

öffentlichen Aufmerksamkeit <strong>und</strong> verbesserten Diagnosetechniken zu tun<br />

haben, ist noch offen.<br />

Die Ursache des Autismus ist weiterhin unklar. Ein strittiger Punkt, den<br />

die meisten Wissenschafter als irreführendes Argument betrachten – die<br />

Ungefährlichkeit von Impfstoffen für Kinder – konnte immer noch nicht<br />

aus der Welt geschafft werden. Allen überwältigenden gegenteiligen<br />

Hinweisen zum Trotz behaupten gewisse lautstarke Befürwortergruppen,<br />

Thimerosal, ein bis vor kurzem bei Impfstoffen für Kinder gebräuchliches<br />

quecksilberhaltiges Konservierungsmittel, verursache Autismus. Zwei dieses<br />

Jahr in Pediatrics veröffentlichte Berichte liefern hingegen zusätzliche<br />

Beweise dafür, dass Thimerosal nicht verantwortlich gemacht werden<br />

kann: Karin B. Nelson <strong>und</strong> Margaret L. Bauman sichteten die bisherigen<br />

wissenschaftlichen Bef<strong>und</strong>e <strong>und</strong> kamen im März zum Schluss, Thimerosal<br />

sei nicht die Ursache von Autismus 11 ; diese Schlussfolgerung wurde<br />

im September durch einen Bericht von Kreesten M. Madsen <strong>und</strong>


Mitarbeitenden gestützt, die feststellten, dass Autismus in Dänemark nach<br />

1992, dem Jahr, in dem dieses Land als eines der ersten thimerosalhaltige<br />

Impfstoffe verboten hatte, häufiger diagnostiziert wurde 12 . Eine separate<br />

Untersuchung von Anders Hviid <strong>und</strong> Mitarbeitenden, die im Oktober in<br />

JAMA veröffentlicht wurde, analysierte die Krankengeschichten aller zwischen<br />

1990 <strong>und</strong> 1996 in Dänemark geborenen Kinder <strong>und</strong> verglich den<br />

Ges<strong>und</strong>heitszustand von mit thimerosalhaltigen <strong>und</strong> thimerosalfreien<br />

Impfstoff behandelten Kindern 13 . Autismus kam in den beiden Gruppen<br />

ungefähr gleich oft vor, ein weiterer Beweis dafür, dass Thimerosal das<br />

Krankheitsrisiko nicht erhöht.<br />

Am besten belegt ist wohl die Annahme, Autismus werde durch die Interaktion<br />

verschiedener Gene verursacht. Forschende haben jahrelang Familien<br />

mit mehr als einem autistischen Kind untersucht <strong>und</strong> gehofft, Hinweise<br />

auf verantwortliche Chromosomen finden zu können – allerdings<br />

ohne grossen Erfolg. Eine im März in Nature Genetics veröffentlichte<br />

Untersuchung scheint jedoch viel versprechend zu sein. Ein französisches<br />

Team unter der Leitung von Stéphane Jamain berichtete, es hätte zwei<br />

Gene auf dem X-Chromosom identifiziert, die möglicherweise zu gewissen<br />

Fällen von Autismus beitrugen 14 . Dieses Chromosom ist besonders<br />

interessant, da viermal so viele Buben von Autismus betroffen sind wie<br />

Mädchen, eine Geschlechtspräferenz, die für mit dem X-Chromosom in<br />

Zusammenhang stehende Krankheiten typisch ist. Die Forschenden untersuchten<br />

158 Personen, in deren Familie Autismus vorkam oder das Asperger<br />

Syndrom, eine zum autistischen Spektrum gehörende Erkrankung, die<br />

durch eine normale oder überdurchschnittliche Intelligenz <strong>und</strong> ausgeprägte<br />

Schwierigkeiten im sozialen Bereich charakterisiert ist. Sie fanden<br />

in einer Familie bei zwei betroffenen Geschwistern eine Mutation des<br />

Gens NLGN3 <strong>und</strong> in einer anderen Familie bei zwei betroffenen Geschwistern<br />

eine Mutation des Gens NLGN4. Für beide Fälle gilt, dass diese<br />

Mutationen bei H<strong>und</strong>erten von Kontrollpersonen nicht zu finden waren.<br />

Sowohl NLGN3 als auch NLGN4, kodieren für Proteine namens Neurologine,<br />

welche an der Kommunikation zwischen Neuronen beteiligt sind.<br />

Neurologine sind den Zellen anhaftende oder „klebrige“ Moleküle, Proteine<br />

also, die es einem Neuron ermöglichen, die richtige Zielstruktur zu<br />

identifizieren <strong>und</strong> mit ihr eine funktionsfähige Synapse zu bilden. Die festgestellten<br />

Mutationen führen zu einer fehlerhaften Form des Proteins, das<br />

dann seinerseits die einwandfreie Bildung von Synapsen beeinträchtigt –<br />

ein gr<strong>und</strong>legender Defekt der neuralen Kommunikation, der die bei<br />

Autismus auftretenden Verhaltensauffälligkeiten erklären könnte. Sollte 29<br />

In der Kindheit auftretende Störungen


30<br />

sich dieser Bef<strong>und</strong> bestätigen, wären dies die ersten Gene, die eindeutig<br />

mit Autismus in Zusammenhang gebracht werden können.<br />

Ein im Juli in JAMA erschienener Bericht eines anderen Teams lieferte weitere<br />

Hinweise darauf, dass Autismus auf einer frühen Abnormität der Hirnentwicklung<br />

beruhen könnte 15 . Eric Courchesne <strong>und</strong> Mitarbeitende an<br />

der University of California, San Diego, sichteten die Krankengeschichten<br />

von 48 autistischen Vorschulkindern <strong>und</strong> gleichaltrigen ges<strong>und</strong>en Kontrollpersonen.<br />

Die Forschenden fanden heraus, dass der Kopfumfang von<br />

Kindern, bei denen später Autismus diagnostiziert wurde, bei der Geburt<br />

kleiner war als normal, sich jedoch während des ersten Lebensjahres plötzlich<br />

drastisch vergrösserte. Der Kopf von autistischen Kindern wuchs im<br />

Verlauf von 6 – 14 Monaten im Durchschnitt vom 25. aufs 84. Perzentil an.<br />

Das Wachstum korrelierte stark mit einem grösseren Hirnvolumen, das<br />

mittels MRI-Scans gemessen wurde, als die Kinder zwei bis fünf Jahre alt<br />

waren. Wie die Autoren schreiben, könnte die Messung des Kopfumfanges,<br />

falls diese Untersuchung bestätigt würde, einen einfachen Weg darstellen,<br />

um Risikokinder zu erfassen <strong>und</strong> die Diagnose zu verfeinern. Janet<br />

E. Lainhart von der Universität Utah hält jedoch in einem Kommentar zu<br />

diesem Bericht fest, auf diese Weise könnten pro 10000 untersuchten<br />

Babys schätzungsweise nur 10 autistische Kinder gef<strong>und</strong>en werden, so<br />

dass der Bef<strong>und</strong> wohl mehr den Forschenden als den klinischen Ärzten<br />

nützen werde 16 .<br />

Bildgebende Verfahren decken die neurale Gr<strong>und</strong>lage<br />

des Lesens <strong>und</strong> der Dyslexie auf<br />

Von einer Dyslexie oder „Wort-Blindheit“, die zu Lese- <strong>und</strong> Lernstörungen<br />

führen kann, sind etwa 5-10% der amerikanischen Bevölkerung betroffen.<br />

Zwei im Jahr 2003 vorgestellte Untersuchungen verwendeten ein bildgebendes<br />

Verfahren in „Echtzeit“, die funktionelle Magnetresonanzbildgebung<br />

(fMRI), um die neurale Gr<strong>und</strong>lage des Lesens zu dokumentieren<br />

<strong>und</strong> spezifische Abnormitäten, die diese Fähigkeit beeinträchtigen,<br />

zu identifizieren.<br />

Guinevere Eden <strong>und</strong> Mitarbeitende berichteten in der Juli-Ausgabe von<br />

Nature Neuroscience über ihre fMRI Studie mit dem Ziel die Hirnregionen<br />

festzustellen, welche während des Lesens aktiviert sind <strong>und</strong> abzuklären,<br />

ob sich das Aktivitätsmuster verändert, wenn sich die Lesefähigkeit bessert<br />

17 . Die Forschenden untersuchten 41 Kinder <strong>und</strong> junge Erwachsene im<br />

Alter von 6 bis 22 Jahren <strong>und</strong> korrelierten den Bef<strong>und</strong> der fMRI-Scans mit


der Lesequalität. Sie stellten fest, dass Kinder, die lesen lernen, mehr <strong>und</strong><br />

mehr den für Sprachverarbeitung verantwortlichen Teil der linken Hirnhälfte<br />

aktivieren. Je besser sie lesen können, umso mehr unterdrücken sie<br />

die Aktivität im „visuellen“ Teil der rechten Hirnhälfte. Diese Untersuchung<br />

liefert einen Hightech-Nachweis für eine Jahrzehnte alte Theorie<br />

des Dyslexie-Forschers Samuel Orton, der bereits 1925 angenommen<br />

hatte, normale Leser lernten, die visuellen Bilder der rechten Hirnhälfte zu<br />

unterdrücken, die die Sprachverarbeitung der linken Hirnhälfte stören<br />

könnten. Die Forschenden aus Georgetown liefern auch erstmals Beweise<br />

dafür, dass verschiedenen Arten der phonologischen Verarbeitung (der<br />

Fähigkeit, Wörter herauszuhören) unterschiedliche neurale Schaltkreise<br />

im <strong>Gehirn</strong> zugr<strong>und</strong>e liegen. Dies bedeutet, dass es verschiedene Unterarten<br />

der Dyslexie geben könnte, die auf spezifischen neuralen Defekten<br />

der phonologischen Verarbeitung beruhen.<br />

Ebenfalls im Juli berichteten Sally E. Shaywitz <strong>und</strong> Mitarbeitende von der<br />

Universität Yale in Biological Psychiatry, dass von Dyslexie Betroffene, die<br />

hinlänglich lesen lernen, ihr <strong>Gehirn</strong> anders einsetzen als jene, deren Leseschwierigkeiten<br />

bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben – <strong>und</strong> beide<br />

Gruppen unterscheiden sich von normalen Lesern 18 . Die Forschenden<br />

untersuchten mittels fMRI drei Gruppen – normale Leser, von Dyslexie<br />

Betroffene, die gut lesen gelernt hatten sowie von Dyslexie Betroffene, die<br />

schlechte Leser geblieben waren. Dabei stellten sie fest, dass Dyslektiker,<br />

deren Lesefähigkeit sich im Laufe der Zeit gebessert hatte, nicht in der<br />

Lage waren, jene neuralen Systeme zu aktivieren, die normalerweise<br />

gebraucht werden, um Töne <strong>und</strong> Sprache zu verarbeiten, sondern die<br />

Aufgaben lösten, indem sie kompensatorisch auf andere Hirnbereiche<br />

zurückgriffen. Als Erwachsene lasen diese Personen zwar langsam, verstanden<br />

aber, was sie lasen. Zu ihrer Überraschung stellten die Forschenden<br />

fest, dass die zweite Gruppe der Dyslektiker, die schlechte Leser<br />

geblieben waren, den richtigen neuralen Schaltkreis zur Verfügung hatte,<br />

um Töne <strong>und</strong> Sprache zu verarbeiten, ihn aber nicht so aktivierte wie normale<br />

Leser. Vielmehr verliessen sich die schlechten Leser auf ihr Gedächtnis,<br />

um die Bedeutung von Wörtern zu verstehen – ein mühsamer <strong>und</strong><br />

wenig effizienter Hirnprozess, der wahrscheinlich das fehlende Leseverständnis<br />

erklärt. Die Untersuchung ist nicht nur deshalb von Bedeutung,<br />

weil sie weitere Erkenntnisse zu jenen Anomalien des <strong>Gehirn</strong>s liefert, welche<br />

Dyslexie verursachen, sondern auch, weil sie zeigt, dass eine verbesserte<br />

Lesefähigkeit eine neurale Gr<strong>und</strong>lage haben könnte. Indirekt unterstreicht<br />

die Untersuchung, wie wichtig eine pädagogische Anleitung ist, 31<br />

In der Kindheit auftretende Störungen


32<br />

die Kinder darin unterstützt, wie auch immer geartete angeborene Abnormitäten<br />

zu kompensieren.<br />

Geistige Behinderung besser verstehen<br />

Geistige Behinderung, zunehmend als allgemeine Entwicklungsverzögerung<br />

verstanden, ist ein weiter Begriff, der über tausend Krankheiten<br />

umfasst, die zu Beeinträchtigungen des Erkenntnisvermögens <strong>und</strong> der<br />

Entwicklung führen 19 <strong>und</strong> oft in unterschiedlicher Ausprägung auftreten<br />

sowie von zusätzlichen medizinischen Komplikationen begleitet werden.<br />

Die American Academy of Neurology <strong>und</strong> die Child Neurology Society<br />

gaben dieses Jahr neue Richtlinien zur Diagnose von geistiger Behinderung<br />

20 heraus, um den Pädiatern die Unterscheidung der verschiedenen<br />

Krankheiten zu erleichtern. Diese soll ihnen behilflich sein, die geeigneten<br />

Untersuchungen anzuordnen, eine Prognose zu stellen, Eingriffe zu planen<br />

<strong>und</strong> mit Komplikationen umzugehen.<br />

Gleichzeitig bemüht sich die Wissenschaft weiterhin herauszufinden,<br />

was eine geistige Behinderung verursacht. Verschiedene in diesem Jahr<br />

veröffentlichte Untersuchungen zeigen, dass die Forschung eine neue<br />

Richtung eingeschlagen hat. Die Forschenden sehen in den verschiedenen<br />

Arten geistiger Behinderung heute nicht mehr so sehr umfassend definierte<br />

chromosomale Erkrankungen (z. B. Trisomie- Erkrankungen wie das<br />

Down-Syndrom <strong>und</strong> mit dem X-Chromosom verb<strong>und</strong>ene Erkrankungen<br />

wie das Fragile-X-Syndrom), sondern konzentrieren sich immer mehr auf<br />

spezifische molekulare Defekte, wobei sie bei scheinbar verschiedenartigen<br />

Krankheiten gewisse Überlappungen feststellen. Dieses Jahr veröffentlichten<br />

beispielsweise Michael V. Johnston <strong>und</strong> Mitarbeitende von der<br />

John Hopkins Universität in Pediatric Research eine Übersicht über neuere<br />

Berichte <strong>und</strong> fanden dabei ein gemeinsames Muster von molekularen<br />

Defekten bei so unterschiedlichen Krankheiten wie der Neurofibromatose<br />

Typ 1, dem Rett-Syndrom <strong>und</strong> verschiedenen mit dem X-Chromosom<br />

assoziierten Syndromen geistiger Behinderung 21 . Die Autoren stellten<br />

fest, dass bei allen Krankheiten die für das Gedächtnis wichtige Abfolge<br />

molekularer Schritte (wissenschaftlich „Signalweg“ genannt) irgendwie<br />

unterbrochen war. Das Lernen kann erfolgen, wenn das <strong>Gehirn</strong> in der Lage<br />

ist, die unmittelbare Erinnerung an ein Ereignis oder eine Fertigkeit in langfristiges<br />

Wissen umzuwandeln. Auf der biologischen Ebene umfasst dies<br />

eine Reihe molekularer Signale, die zwischen den zahlreichen Synapsen<br />

eines Neurons <strong>und</strong> seinem Zellkern hin <strong>und</strong> her gesandt werden. Wenn<br />

dieser Vorgang korrekt abläuft, werden bestimmte Synapsen in einer


Weise verstärkt, die eine Langzeitspeicherung <strong>und</strong> das erneute Abrufen<br />

des Wissens ermöglicht. Verschiedene Arten von geistiger Behinderung<br />

entstehen, wenn genetische Fehler verhindern, dass dieses System richtig<br />

funktioniert. Vorläufig finden diese Untersuchungen zwar noch auf der<br />

Ebene der Gr<strong>und</strong>lagenforschung statt, doch hoffen die Forschenden, die<br />

Bestimmung spezifischer Übertragungsfehler könnte schliesslich zu neuen<br />

Therapieansätzen führen.<br />

Die molekulare Forschungsrichtung hat bei einer verbreiteten Art von<br />

angeborener geistiger Behinderung, dem Fragilen-X-Syndrom, bereits zu<br />

entscheidenden Erkenntnissen geführt. Seit einem Jahrzehnt steht wissenschaftlich<br />

fest, dass sich diese Störung entwickelt, wenn ein genetischer<br />

Defekt Hirnzellen daran hindert, das fragile X-Protein (FMRP) zu bilden;<br />

es blieb jedoch unklar, auf welche Weise der Ausfall dieses Proteins<br />

zu Symptomen wie kognitiven Einbussen <strong>und</strong> Aufmerksamkeitsstörung<br />

führt. In einem Übersichtsartikel, der im März in Trends in Biochemical<br />

Science 22 erschien, berichten Stephen T. Warren <strong>und</strong> Peng Jin von der<br />

Universität Emory über neue Erkenntnisse, dass FMRP bei der Bildung von<br />

synaptischen Verbindungen im <strong>Gehirn</strong> eine entscheidende Rolle spielt.<br />

Der Ausfall des Proteins scheint die synaptische Plastizität, also jene<br />

Abfolge von Veränderungen, die Lernen überhaupt ermöglicht, zu beeinträchtigen.<br />

Die Forschenden konnten auch eine besondere molekulare<br />

Kaskade von Ereignissen identifizieren, die zur Bildung von FMRP führt.<br />

Nun wird untersucht, ob Medikamente, die bestimmte Substanzen in dieser<br />

Kaskade beeinflussen, die Bildung von FMRP auslösen <strong>und</strong> dadurch<br />

eine Behandlung der Krankheit ermöglichen könnten.<br />

Einen Mythos bezüglich Cerebralparetik ausräumen<br />

Die meisten Leute <strong>und</strong> auch viele Ärzte gehen davon aus, dass ein Sauerstoffmangel<br />

bei der Geburt, der medizinische Ausdruck lautet Hypoxie, im<br />

Allgemeinen für verschiedene Arten von frühkindlichen Hirnschädigungen,<br />

einschliesslich der Cerebralparetik, verantwortlich ist. Ein im Januar<br />

2003 vom American College of Obstetricians and Gynecologists <strong>und</strong> der<br />

American Academy of Pediatrics erstellter Bericht räumt diesen Mythos<br />

aus <strong>und</strong> hält fest, dass nur eine von zehn frühkindlichen Hirnschädigungen<br />

auf eine Hypoxie zurückzuführen ist. Die Autoren kommen zum Schluss,<br />

dass die meisten frühkindlichen Hirnschädigungen durch genetische Störungen,<br />

Stoffwechselanomalien, Infektionen, Traumata, vorgeburtlichen<br />

Hirnschlag oder durch eine Kombination von Faktoren im Mutterleib vor<br />

der Niederkunft verursacht werden 23 . Darüber hinaus folgern die Autoren, 33<br />

In der Kindheit auftretende Störungen


34<br />

dass das meist gebräuchliche frühe Warnzeichen zur Beurteilung, ob<br />

eine Hypoxie eintritt – ein abnormaler Herzschlag des Fötus, der Stress<br />

anzeigt – aus einer ganzen Reihe von Gründen auftreten kann <strong>und</strong> deshalb<br />

für sich allein genommen nicht geeignet ist, einen Sauerstoffmangel festzustellen<br />

oder zu verhindern. Zwar lassen sich die meisten frühkindlichen<br />

Hirnschädigungen nicht verhindern, doch hoffen die Wissenschafter, der<br />

Bericht werde dazu beitragen, dass Forschende die Umstände, unter<br />

denen eine Hirnschädigung aufgr<strong>und</strong> einer Hypoxie erfolgt <strong>und</strong> die spezifischen<br />

frühen Warnsignale besser bestimmen können; daraus sollen<br />

schliesslich Richtlinien für Ärzte erarbeitet werden, um diese 10% der Fälle<br />

verhindern zu helfen.


Bewegungsstörungen <strong>und</strong><br />

andere Störungen der Motorik<br />

Wachsendes Interesse an Wachstumsfaktoren 36<br />

Bemerkenswerte Erfolge <strong>und</strong> Misserfolge 38<br />

Stimulierende Nachrichten 39<br />

35


36<br />

Schwierigkeiten mit der Bewegung kommen bei den verschiedensten<br />

Krankheiten vor, angefangen bei den „klassischen“ vom <strong>Gehirn</strong> ausgehenden<br />

Bewegungsstörungen der Neurologie, wie der Parkinsonschen<br />

Krankheit, bis hin zu degenerativen Erkrankungen des Nervensystems,<br />

einschliesslich der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS), bei der die Bewegungskontrolle<br />

auf der Ebene des Rückenmarks unterbrochen wird. Zu<br />

den Symptomen gehört entweder die Unfähigkeit, Willkürbewegungen<br />

zu beginnen <strong>und</strong> zu steuern, oder das Problem, unbeabsichtigte Bewegungen<br />

zu verhindern. Forschungsberichte aus diesen Bereichen widerspiegeln<br />

in den letzten Jahren das gewohnte Muster therapeutischer Fortschritte:<br />

eine Mischung von Begeisterung über das Vorankommen der<br />

Gr<strong>und</strong>lagenwissenschaften, Enttäuschung über Therapieversuche, die<br />

der klinischen Erprobung nicht standhalten, <strong>und</strong> einige Berichte von tatsächlichen<br />

Erfolgen.<br />

Wachsendes Interesse an Wachstumsfaktoren<br />

Die Parkinsonsche Krankheit ist ein gutes Beispiel für die Aufgabe, ein im<br />

Laboratorium entwickeltes Therapieverfahren bei kranken Menschen zur<br />

Anwendung zu bringen. Im Vergleich zu vielen anderen Erkrankungen<br />

hatte die Erforschung der Parkinsonschen Krankheit den Vorteil, dass man<br />

weiss, dass die Bewegungsstörungen direkt durch den Untergang von<br />

Nervenzellen in einem umschriebenen Hirnbereich (der so genannten<br />

Substantia nigra) verursacht werden. Diese Neuronen kommunizieren<br />

über den Neurotransmitter Dopamin mit anderen Bewegungszentren<br />

des <strong>Gehirn</strong>s. Aber das <strong>Gehirn</strong> ist dermassen komplex, dass nicht einmal<br />

diese Kenntnis zu einer Therapie führte, um den Untergang von Neuronen<br />

der Substantia nigra zu verhindern oder zumindest zu verzögern. Die gängigen<br />

Therapien, einschliesslich Levodopa (L-Dopa) <strong>und</strong> Medikamenten,<br />

welche die Wirkungen von L-Dopa imitieren, wirken rein symptomatisch,<br />

wobei es allerdings zu einer jahrelang anhaltenden Besserung kommen kann.<br />

Die meisten gebräuchlichen Therapien der Parkinsonschen Krankheit,<br />

seien sie bereits zugelassen oder noch im experimentellen Stadium, konzentrieren<br />

sich darauf, den durch die Degeneration der Neuronen in der Substantia<br />

nigra verursachten Dopaminmangel zu kompensieren. Inzwischen<br />

hat aber eine transatlantische Zusammenarbeit mit dem Ziel, vor allem die<br />

Degeneration dieser Neuronen zu verhindern, eine interessante therapeutische<br />

Perspektive eröffnet. Nachdem ein vorläufiger Kongressbericht<br />

anfangs 2002 erschienen war (vgl. unseren Jahresbericht 2003), erwartete<br />

man mit Spannung den ausführlichen Bericht des Klinikers Steven Gill


vom Frenchay Hospital in Bristol, Grossbritannien, <strong>und</strong> des Gr<strong>und</strong>lagenwissenschafters<br />

Clive Svendsen von der University of Wisconsin in<br />

Madison über die erfolgreiche Verabreichung eines Wachstumsfaktors<br />

direkt in die an Dopamin verarmten Hirnregionen. In der Mai-Ausgabe<br />

von Nature Medicine berichteten die Forscher, dieses Verfahren habe bei<br />

minimalen Nebenwirkungen zu einer Verbesserung der motorischen<br />

Symptome geführt 24 .<br />

Wachstumsfaktoren sind für die Reifung <strong>und</strong> das Überleben von Nervenzellen<br />

unerlässlich. In Tiermodellen gab es Hinweise, GDNF (glial cell linederived<br />

neurotrophic factor) könnte die Degeneration von Zellen der Substantia<br />

nigra verhindern. Erste Studien am Menschen waren allerdings<br />

zunächst enttäuschend; GDNF, in die Liquorräume der Hirnventrikel verabreicht,<br />

erreichte einerseits nicht die kritischen Hirnregionen <strong>und</strong> führte<br />

anderseits wegen der zur grossen Verteilung im <strong>Gehirn</strong> zu Nebenwirkungen.<br />

Das Team von Gill <strong>und</strong> Svendsen ging noch direkter vor <strong>und</strong> platzierte<br />

einen winzigen Katheter direkt ins Putamen, ein Bewegungszentrum, das<br />

durch den Dopaminmangel besonders stark betroffen ist. Die Kanüle führt<br />

zu einer ins Abdomen implantierten Pumpe, die GDNF kontinuierlich in<br />

kleinen Mengen abgab. Die Ergebnisse scheinen die Theorie zu bestätigen,<br />

wonach der GDNF von Nervenfasern der Substantia nigra, die ins<br />

Putamen reichen, aufgenommen wird. Wenn der Wachstumsfaktor dann<br />

über die Fasern zurücktransportiert wird, unterstützt er die Funktionsfähigkeit<br />

der Dopamin produzierenden Neuronen. Da es sich dabei<br />

nicht um einen kontrollierten Blindversuch handelte <strong>und</strong> nur fünf<br />

Kranke ohne Kontrollgruppe einbezogen wurden, war das Fehlen von<br />

Nebenwirkungen von grösserer Bedeutung als die klinische Besserung.<br />

Weitere Versuche müssen nun die Wirksamkeit <strong>und</strong> Sicherheit dieser<br />

Behandlung bestätigen.<br />

Zwar steht diese Forschung noch im Anfangsstadium, doch geben Wachstumsfaktoren<br />

auch Patienten mit ALS (in Amerika unter der Bezeichnung<br />

Lou Gehrig-Krankheit allgemein bekannt) neue Hoffnung. Die gegenwärtigen<br />

Verfahren zur Behandlung der ALS können die rasch fortschreitende<br />

Degeneration der motorischen Rückenmarksnerven, welche die Muskeln<br />

steuern, nur in geringem Masse verzögern. Die mit dem nicht rezeptpflichtigen<br />

Nahrungsergänzungsmittel Kreatin verb<strong>und</strong>enen Hoffnungen<br />

zerschlugen sich im Jahr 2003, als eine von Leonard H. van den Berg<br />

vom University Medical Center in Utrecht, Niederlande, durchgeführte 37<br />

Bewegungsstörungen <strong>und</strong> andere Störungen der Motorik


38<br />

prospektive kontrollierte Doppelblindstudie bei ALS-Kranken mit Kreatin<br />

keine signifikante Besserung ergab 25 .<br />

Klinische Studien sind indessen im Gange, um Wachstumsfaktoren durch<br />

einen gentherapeutischen Ansatz in die motorischen Rückenmarksnerven<br />

zu bringen (siehe auch das Kapitel „Schädigungen des Nervensystems“,<br />

S. 41). In der am 8. August erschienenen Ausgabe von Science berichteten<br />

Fred Gage <strong>und</strong> Mitarbeitende vom Salk Institute in La Jolla, Kalifornien,<br />

dass sie nahe daran sind eine besonders schwierige therapeutische Hürde<br />

zu überwinden, nämlich die fast <strong>und</strong>urchdringbare Blut-Hirn-Schranke.<br />

Die meisten Medikamente können diese Schranke nicht durchdringen,<br />

durch welche <strong>Gehirn</strong> <strong>und</strong> Rückenmark vor Giftstoffen im Blutkreislauf<br />

geschützt werden. Gage <strong>und</strong> Mitarbeitende entdeckten indessen, dass<br />

gewisse Viren über die Hintertüre der Muskulatur in die motorischen<br />

Rückenmarksnerven gelangen. Die Forschenden luden das Gen für den<br />

Insulinartigen Wachstumsfaktor-1 (IGF-1) im Huckepackverfahren auf ein<br />

unschädliches Virus <strong>und</strong> konnten so am Mäusemodell der ALS das Gen in<br />

motorische Nervenzellen bringen. Die Neuronen begannen, den Wachstumsfaktor<br />

zu produzieren <strong>und</strong> die Lebenserwartung der Mäuse wurde<br />

beinahe verdoppelt 26 . Dieselben Forschenden planen nun eine Studie<br />

am Menschen.<br />

Bemerkenswerte Erfolge <strong>und</strong> Misserfolge<br />

Das jährliche Meeting über Bewegungsstörungen fand Ende 2002 in<br />

Miami statt, also nach Drucklegung unseres letztjährigen Jahresberichts;<br />

wir berücksichtigen es hier, da an diesem Anlass über zwei mit Spannung<br />

erwartete klinische Studien an Parkinson-Kranken berichtet wurde. Die<br />

Ergebnisse waren uneinheitlich. Die gute Nachricht, dass eine frühzeitige<br />

Verabreichung von L-Dopa bei der Parkinsonschen Krankheit den Krankheitsverlauf<br />

nicht zu beschleunigen scheint, wurde von Stanley Fahn<br />

von der Universität Columbia als Vertreter der Parkinson’s Study Group<br />

vorgetragen. Der ELLDOPA-Versuch (Early vs. Late L-Dopa; frühes vs.<br />

spätes L-Dopa) war aufgr<strong>und</strong> des Verdachts durchgeführt worden, eine<br />

frühzeitige Abgabe des Medikaments würde zwar einige Symptome vorübergehend<br />

scheinbar bessern, dabei aber den zugr<strong>und</strong>e liegenden<br />

Krankheitsprozess beschleunigen. Die Studie scheint diese Befürchtungen<br />

zerstreut zu haben 27 .<br />

Weniger ermutigend war ein Bericht von Warren Olanow von der Mount<br />

Sinai School of Medicine in New York City über fötale Zelltransplantate,


der im September 2003 in den Annals of Neurology veröffentlicht wurde.<br />

Olanow <strong>und</strong> seine Kollegen stellten fest, dass bei der Transplantation von<br />

fötalen Dopamin-Neuronen als Ersatz der durch die Parkinsonsche Krankheit<br />

zugr<strong>und</strong>e gegangenen Nervenzellen die negativen Nebenwirkungen gegenüber<br />

den geringen positiven Wirkungen überwiegen; damit bestätigten sie<br />

die Ergebnisse einer ähnlichen vor zwei Jahren durchgeführten Untersuchung.<br />

Ebenso, wie bei der damals negativ ausgefallenen Untersuchung ging es<br />

auch diesmal um zweifelhafte methodische Aspekte im Zusammenhang<br />

mit früheren erfolgreichen Transplantationsstudien. Die Studie von Olanow<br />

<strong>und</strong> Mitarbeitenden war kontrolliert, d. h. einige Kranke erhielten<br />

fötale Zellen während bei anderen nur eine Scheinoperation durchgeführt<br />

wurde. Sie war auch doppelblind; weder die Kranken noch die Ärzte, die<br />

den postoperativen Verlauf verfolgten wussten, welche Kranken fötale<br />

Zellen erhalten hatten <strong>und</strong> welche nicht. Die Krux bei diesen Ergebnissen<br />

bestand darin, dass sich gewisse Symptome bei einigen Kranken besserten,<br />

dass aber bei anderen Kranken motorische Störungen auftraten, die<br />

vor der Operation nicht bestanden hatten <strong>und</strong> wahrscheinlich eine Nebenwirkung<br />

der Transplantate darstellten 28 .<br />

Während Experimente an Tiermodellen fortgeführt werden, sind viele<br />

Ärzte <strong>und</strong> Ärztinnen der Ansicht, eine Anwendung an Menschen solle<br />

vorderhand zurückgestellt werden.<br />

Stimulierende Nachrichten<br />

Eine Ursache, weshalb es manchen Ärzten leicht fällt, sich von den Transplantaten<br />

abzuwenden, ist der Erfolg der tiefen Hirnstimulation (deep<br />

brain stimulation, DBS) durch den so genannten „Hirn-Schrittmacher“ bei<br />

der Parkinsonschen Krankheit <strong>und</strong> anderen Erkrankungen. Der Schrittmacher<br />

selbst wird ins Abdomen eingepflanzt, wobei ein Kabel bis in jene<br />

Bereiche tief im Innern des <strong>Gehirn</strong>s reicht, welche die Bewegung steuern.<br />

Schwache, regelmässig in diese Bereiche abgegebene elektrische Impulse<br />

können Symptome wie Tremor, Starre, Bewegungsverlangsamung, Gehstörungen<br />

<strong>und</strong> das „Einfrieren“ mindern. Obgleich der Mechanismus dieser<br />

Wirkung noch im Dunkeln liegt, steht fest, dass die Stimulation die<br />

Aktivität in Hirnschaltkreisen verändert, die an der Bewegungssteuerung<br />

beteiligt sind.<br />

Im Jahr 2003 trug eine Vielzahl von Forschungsberichten dazu bei, Einsichten<br />

in diese Schaltkreise zu gewinnen. Vier verschiedene Forschungsgruppen 39<br />

Bewegungsstörungen <strong>und</strong> andere Störungen der Motorik


40<br />

– geleitet von Marjorie E. Anderson an der University of Washington<br />

in Seattle; Jerrold L. Vitek an der Emory University in Atlanta, Georgia;<br />

Marc Savasta an der Université Joseph Fourier in Grenoble, Frankreich;<br />

<strong>und</strong> Joel S. Perlmutter an der Washington University in St. Louis, Missouri –<br />

verwendeten verschiedene Verfahren, die unter anderem die Registrierung<br />

der elektrischen Hirnaktivität in den Schaltkreisen 29, 30 sowie die<br />

Bestimmung der Konzentration von Neurontransmittern 31 <strong>und</strong> der Durchblutungsmuster<br />

in diesen Bereichen umfassten 32 . Dank diesen neuen<br />

Erkenntnissen über die Wirkweise der DBS werden die Forschenden<br />

besser bestimmen können, welche Symptome durch die Stimulation<br />

unterschiedlicher Orte im Bewegungsschaltkreis am wirksamsten beeinflusst<br />

werden können.<br />

Diese Fortschritte dürften sich ausser auf die Parkinsonsche Krankheit<br />

auch auf andere Erkrankungen auswirken. Seit mehreren Jahren wenden<br />

Ärzte die DBS versuchsweise bei Patienten an, die an Dystonie leiden, eine<br />

Krankheit, bei der länger dauernde Muskelkontraktionen vorherrschen;<br />

diese können von einem einfachen Schreibkrampf bis hin zu schwerwiegenden<br />

Verrenkungen ganzer Körperpartien reichen, die die Betroffenen<br />

zu einem Leben im Rollstuhl verurteilen. Einige Dystonien beruhen auf<br />

Verletzungen von Hirnbereichen, die Bewegungen steuern, andere haben<br />

eine genetische Ursache, treten oft schon in der Kindheit auf <strong>und</strong> verschlimmern<br />

sich progressiv.<br />

Einzelbeobachtungen weisen deutlich darauf hin, dass DBS in denselben<br />

Bewegungsschaltkreisen, die bei der Parkinsonschen Krankheit stimuliert<br />

werden, bei Dystonie-Kranken zu einer entscheidenden Besserung führen<br />

kann. Da die Wissenschaft Einzelberichten stets skeptisch gegenübersteht,<br />

ist es für Dystonie-Kranke eine gute Nachricht, dass die erste grössere<br />

retrospektive Studie der Wirkung von DBS bei erwachsenen Dystoniepatienten<br />

die positive Wirkung bestätigt. Einem Bericht des<br />

Neurochirurgen Tipu Aziz <strong>und</strong> Mitarbeitenden vom Radcliffe Infirmary in<br />

Oxford, Grossbritannien zufolge, kam es bei den meisten der 25 Dystonie-<br />

Kranken, die in ihrer Klinik mit DBS behandelt wurden, zu dauerhaften<br />

Besserungen. Eine interessante Beobachtung, die allerdings noch verifiziert<br />

werden muss, ist die, dass einige Kranke nach der Operation kontinuierlich<br />

Fortschritte zu machen scheinen. Dies lässt vermuten, dass die elektrische<br />

Stimulation nicht nur den geschädigten Bewegungsschaltkreis<br />

kompensiert, sondern darüber hinaus bis zu einem gewissen Grade eine<br />

Genesung ermöglichen könnte 33, 34 .


Schädigungen<br />

des Nervensystems<br />

Nervenfasern regenerieren 42<br />

Fortschritte in der Gentherapie 43<br />

Stammzellen nutzbar machen 44<br />

Neuroprotektion 46<br />

Akutbehandlung bei Hirnschlag 46<br />

Risiko <strong>und</strong> Prävention von Hirnschlag 47<br />

41


42<br />

Im Jahr 2003 kam die Wissenschaft dem unfassbaren Ziel näher, traumatisiertes<br />

Nervengewebe, etwa infolge eines Hirnschlags oder einer Rükkenmarksverletzung,<br />

zu regenerieren <strong>und</strong> zu reparieren. Verschiedene<br />

neue Entdeckungen zeigten den Weg, wie Axone (die Fasern, die aus dem<br />

Nervenzellkörper herauswachsen <strong>und</strong> Impulse an andere Nervenzellen<br />

übertragen) zum Nachwachsen veranlasst werden können, um eine<br />

verloren gegangene Funktion wieder herzustellen; dies lässt hoffen, dass<br />

die Wiederherstellungsmedizin ihre therapeutischen Versprechen wird<br />

einlösen können.<br />

Nervenfasern regenerieren<br />

Eines der grössten Hindernisse für die Genesung von Rückenmarksverletzungen<br />

ist die Unfähigkeit von Axonen, über die verletzte Stelle hinweg zu<br />

wachsen <strong>und</strong> wieder Verbindungen zwischen Nervenfasern des Rückenmarks<br />

<strong>und</strong> dem Hirn herzustellen. Neuere Bef<strong>und</strong>e lassen uns besser verstehen,<br />

wie gewisse Proteine in der Myelinscheide, welche die Axone isoliert,<br />

das Nachwachsen entweder hemmen oder fördern; diese Fortschritte<br />

führten zu etlichen neuen Ansatzpunkten für therapeutische Interventionen.<br />

Nogo, eine Gruppe von Myelin-Proteinen mit starken inhibitorischen Wirkungen<br />

auf das Nachwachsen von Axonen, weckt weiterhin grosses Interesse.<br />

Drei verschiedene Forschungsteams, die von Martin Schwab von<br />

der Universität Zürich, von Stephen Strittmatter von der Yale Medical<br />

School, bzw. von Marc Tessier-Lavigne von der Stanford University geleitet<br />

wurden, berichteten in der Ausgabe vom 24. April 2003 der Fachzeitschrift<br />

Neuron gleichzeitig über die Entwicklung von drei Stämmen von<br />

„knockout“-Mäusen, denen Subtypen von Nogo fehlten. Unerwarteter<br />

Weise berichteten die Gruppen widersprüchliche Ergebnisse: Strittmatter<br />

fand eine erhebliche Aussprossung der Axone <strong>und</strong> verbesserte motorische<br />

Funktion nach einer Rückenmarksverletzung 35 , Schwab berichtete<br />

von einer gewissen Regeneration von Axonen 36 <strong>und</strong> Tessier-Lavigne fand<br />

überhaupt keine 37 . Weshalb die Ergebnisse so verschiedenartig ausfielen,<br />

ist weiterhin unklar, könnte aber auf technische Unterschiede bei der Entwicklung<br />

der Mäuse zurückzuführen sein <strong>und</strong> darauf, welche weiteren<br />

Proteine möglicherweise betroffen waren. In derselben Ausgabe von Neuron<br />

berichtete ein anderes Team aus Stanford unter der Leitung von Chris<br />

Garcia über die molekulare Struktur des Nogo-Rezeptors <strong>und</strong> lieferte<br />

damit einen detaillierten Rahmen für weitere Untersuchungen, um die<br />

Wirkungen von durch Nogo vermittelten Interaktionen zwischen Proteinen<br />

zu bestimmen 38 . Schwabs Team konnte später nachweisen, dass das


Nogo-A-Protein über drei aktive Regionen verfügt, die je ganz bestimmte<br />

Aspekte der axonalen Inhibition regulieren 39 .<br />

Diese neuen Erkenntnisse über Nogo sollen zur Entwicklung neuer Therapien<br />

führen <strong>und</strong> die Wissenschaft hat bereits wichtige Schritte auf dieses<br />

Ziel hin unternommen. Aufbauend auf Schwabs früherer Arbeit, die ergeben<br />

hatte, dass die Hemmung von Nogo die axonale Regeneration fördert,<br />

wiesen Strittmatter <strong>und</strong> sein Kollege Shuxin Li nach, dass es bei Tieren, die<br />

mit einem Nogo-Rezeptor-Antagonisten (einem Peptid mit der Bezeichnung<br />

NEP1-40) behandelt wurden, nach einer Rückenmarksverletzung zu<br />

einem erheblichen Auswachsen von Axonen, einer Neubildung von Synapsen<br />

<strong>und</strong> einer wesentlichen Besserung der Motorik kam. Zudem fanden<br />

sie diese Ergebnisse selbst dann, wenn mit der Behandlung erst bis zu<br />

einer Woche nach der Verletzung begonnen wurde; dies lässt auf ein therapeutisches<br />

Fenster hoffen, das klinisch praktikabler ist als eine unmittelbare<br />

Verabreichung 40 .<br />

Im Gegensatz zu Nogo handelt es sich bei Semaphorin-7a um ein erst kürzlich<br />

entdecktes Protein, das das axonale Wachstum eher anregt als hemmt<br />

<strong>und</strong> damit unter den Geschwistern einer Proteinfamilie, die für das Abstossen<br />

von Axonen bestens bekannt ist, aus der Reihe tanzt. Ein Team von<br />

Johns Hopkins unter der Leitung von Jeroen Pasterkamp fand heraus, dass<br />

im Labor kultivierte Rattennerven mehr <strong>und</strong> längere Axone an der Stelle<br />

aussprossten, die einer Quelle von Semaphorin-7a am nächsten lag <strong>und</strong><br />

dass Mäuse, denen dieses Protein fehlte, Nervenfasern entwickelten, die<br />

ihr Ziel verfehlten 41 . Nun untersuchen die Forschenden, auf welche Weise<br />

das Protein das Wachstum von Axonen beeinflusst <strong>und</strong> hoffen, Mechanismen<br />

identifizieren zu können, die sich im Sinne einer therapeutischen<br />

Besserung manipulieren lassen.<br />

Fortschritte in der Gentherapie<br />

Forschende am Niederländischen Institut für Hirnforschung untersuchen<br />

die Durchführbarkeit einer Methode der Gentherapie, welche die Regeneration<br />

nach einer zervikalen Rückenmarksverletzung verbessern soll.<br />

Unter der Leitung von Joost Verhaagen beeinflussten die Forschenden<br />

zuerst mit genetischen Methoden Hirnzellen, die den olfaktorischen Nerv<br />

(die sogenannte olfaktorische umhüllende Glia; olfactory ensheathing glia,<br />

OEG) isolieren, so dass sie den Nervenwachstumsfaktor BDNF verstärkt<br />

exprimierten, <strong>und</strong> implantierten diese Zellen dann in ein Rattenmodell für<br />

Rückenmarksverletzungen. Im Vergleich mit unbehandelten Ratten wiesen 43<br />

Schädigungen des Nervensystems


44<br />

behandelte Ratten eine verbesserte funktionelle Erholung auf, was den<br />

Autoren zufolge darauf hinweist, dass die genetische Modifizierung von<br />

OEG nicht nur eine Zelle hervorbrachte, die das Auswachsen von Axonen<br />

wirksamer förderte, sondern dass es auch zu einer beschleunigten<br />

Heilung nach einer Verletzung führen konnte, möglicherweise indem es<br />

die nach einer Verletzung eintretende Degeneration von Rückenmarksgewebe<br />

verhinderte 42 . Fred Gage <strong>und</strong> Mitarbeitende am Salk Institute<br />

benutzten ein adeno-assoziiertes Virus, um therapeutische Moleküle aus<br />

der Muskulatur ins Rückenmark zu transportieren (siehe auch das Kapitel<br />

„Bewegungsstörungen“ S. 35). Die Untersuchung konzentrierte sich zwar<br />

auf ein Mäusemodell der Amyotrophen Lateralsklerose, doch lassen die<br />

Ergebnisse vermuten, dass ein ähnliches Verfahren angewendet werden<br />

könnte, um wachstumsfördernde Proteine sicher <strong>und</strong> wirksam in verletztes<br />

Rückenmark zu transportieren 43 .<br />

Es ist zwar sehr wichtig, die dem Rückenmark inhärenten Mechanismen,<br />

welche die Regeneration von Axonen hemmen, zu überwinden, doch<br />

stellt dies nur einen Teil eines komplizierten Problems dar. Das zweite<br />

Haupthindernis ist das Narbengewebe, das sich am Ort einer Verletzung<br />

bildet <strong>und</strong> für Axone eine Art Strassensperre darstellt. Diese „Glianarbe“<br />

besteht aus dicht gewobenen Astrozyten, sternförmigen Zellen, die Neuronen<br />

nähren <strong>und</strong> stützen. Ein französisches Team unter der Leitung von<br />

Véronique Menet züchtete Knock-out-Mäuse ohne die beiden für den<br />

strukturellen Aufbau von Astrozyten entscheidenden Proteine (saures Gliafaserprotein;<br />

glial fibrillary acidic protein, GFAP <strong>und</strong> Vimentin) <strong>und</strong> stellte<br />

fest, dass es bei diesen Tieren nach einer teilweisen Durchtrennung des<br />

Rückenmarks zu einer verbesserten anatomischen <strong>und</strong> funktionellen Erholung<br />

kam 44 . In einer im August veröffentlichten Arbeit brachten Malika<br />

Boukhelifa <strong>und</strong> Mitarbeitende an der University of North Carolina at Chapel<br />

Hill ein weiteres Protein, Palladin, mit der Bildung des Narbengewebes<br />

in Zusammenhang. Palladin steigt nach Rückenmarksverletzungen schnell<br />

an; dieser Anstieg scheint die Bildung einer Narbe zu ermöglichen, indem<br />

er die Form der Astrozyten beeinflusst 45 .<br />

Stammzellen nutzbar machen<br />

Einen Fortschritt mit Implikationen sowohl für Bewegungsstörungen als<br />

auch für Traumata stellt der von Forschenden am Salk Institut entwickelte<br />

erste Entwurf einer „Zell-Fabrik“ dar, die aus embryonalen Stammzellen Motoneuronen<br />

herstellt. Soo-Kyung Lee <strong>und</strong> Samuel L. Pfaff arbeiteten mit Küken-Embryos<br />

<strong>und</strong> bildeten ein detailliertes Modell dafür, wie Stammzellen


eguliert <strong>und</strong> auf den Weg gebracht werden, dass sie sich zu jener Untergruppe<br />

von Nervenzellen entwickeln, die es dem Körper ermöglichen,<br />

sich zu bewegen. Sie machten zwei Bahnen (bezeichnet als bHLH <strong>und</strong><br />

LIM-D) ausfindig, die zusammenwirken, um die Spezialisierung von<br />

Nervenzellen zu regeln <strong>und</strong> eröffneten damit die Möglichkeit, die zugr<strong>und</strong>e<br />

liegenden Mechanismen für therapeutische Zwecke zu nutzen 46 .<br />

Auch die Anpassung des Stickoxid-Spiegels im <strong>Gehirn</strong> könnte eine wirksame<br />

Strategie darstellen, um durch Hirnschlag oder Krankheit verloren<br />

gegangene Nervenzellen zu ersetzen. Forschende unter der Leitung von<br />

Michael Packer am Cold Spring Harbor Laboratory fanden heraus, dass<br />

Stickoxid ein entscheidender natürlicher Regulator für die Entstehung<br />

neuer Nervenzellen im adulten <strong>Gehirn</strong> ist. Wenn die Stickoxid-Produktion<br />

gehemmt wird, regt dies die Vermehrung neuraler Stammzellen an <strong>und</strong><br />

führt dazu, dass die Zahl der Neuronen, die im <strong>Gehirn</strong> von adulten Ratten<br />

generiert werden, drastisch ansteigt 47 .<br />

Die Verheissungen der Stammzellen in klinische Therapien bei Hirnschlag<br />

umzusetzen bleibt weiterhin eine bedeutende Herausforderung; die vorklinische<br />

Forschung an Tiermodellen für Hirnschlag ist ein entscheidender<br />

Schritt, um die mit der Transplantation von Stammzellen zur Behandlung<br />

dieser Erkrankung einhergehenden potentiellen Vorteile – <strong>und</strong> Risiken –<br />

zu erkennen. Im Hinblick auf dieses Ziel wies ein Forschungsteam unter<br />

der Leitung von Michael Chopp vom Detroit’s Henry Ford Health Sciences<br />

Center an einem Rattenmodell für Hirnschlag nach, dass transplantierte<br />

Vorläuferzellen aus der subventrikularen Zone (der offensichtlichen Herkunft<br />

neuraler Stammzellen) in geschädigte Hirnbereiche wanderten <strong>und</strong><br />

diese Tiere anschliessend bei Tests ihrer Funktionsfähigkeit entscheidend<br />

besser abschnitten 48 . Unabhängig davon behandelte die Gruppe Mäuse<br />

mit Transplantaten einer anderen Art von Vorläuferzellen, Vorläufern des<br />

Endothels, die sich zu jenem Gewebe entwickeln, das die Herz- <strong>und</strong> Blutgefässe<br />

auskleidet. Sie stellten fest, dass die Zellen das Ausmass der Schädigung<br />

nach einem Schlaganfall begrenzten, indem sie das Wachstum<br />

neuer Blutgefässe r<strong>und</strong> um die verletzte Stelle förderten 49 .<br />

Unterdessen erforschen Wissenschafter an der University of South Florida<br />

(USF) alternative Quellen für Stammzellen. Samuel Saporta <strong>und</strong> Mitarbeitende<br />

injizierten aus menschlicher Nabelschnur gewonnene Stammzellen<br />

in Ratten mit Rückenmarksverletzungen <strong>und</strong> wiesen nach, dass die Zellen<br />

an die geschädigte Stelle wanderten <strong>und</strong> die motorische Funktionsfähigkeit 45<br />

Schädigungen des Nervensystems


46<br />

bis zu einem gewissen Grad wiederherstellten 50 . Eine andere Gruppe, die<br />

von Alison Willing von der USF geleitet wird, konzentriert sich auf stammzellartige<br />

Zellen, sogenannte periphere Blut-Progenitorzellen, die aus zirkulierendem<br />

menschlichen Blut gewonnen werden. Sie berichteten, dass die<br />

intravenöse Injektion dieser Zellen bei einem Rattenmodell für schweren<br />

Hirnschlag zu einer „entscheidenden Besserung des Verhaltens“ führte 51 .<br />

Neuroprotektion<br />

Die Suche nach neuroprotektiven Therapien, welche die nach einem<br />

Hirnschlag oder einer anderen Hirnverletzung einsetzende Kaskade<br />

von Nervenschädigungen begrenzen könnte, blieb bisher weitgehend<br />

ohne Erfolg. In etlichen gross angelegten klinischen Studien wurden<br />

Medikamente getestet, von denen man sich aufgr<strong>und</strong> von Tierversuchen<br />

viel versprochen hatte, doch trat bei Menschen die gewünschte Wirkung<br />

nicht ein. Das vergangene Jahr brachte dennoch einige hoffnungsvolle<br />

Entwicklungen. An der International Stroke Conference im Februar wurde<br />

über klinische Bef<strong>und</strong>e berichtet, wonach Hypothermie – das Herabsetzen<br />

der Hirntemperatur – Nervenzellen schützen könnte. Die Idee, das<br />

<strong>Gehirn</strong> durch Kühlung zu schützen, ist zwar mindestens 70 Jahre alt, doch<br />

lebte das Interesse an diesem Verfahren in den vergangenen Jahren<br />

wieder neu auf. Ein von Fritz Sterz von der Universität Wien geleitetes<br />

Team wies nach, dass 59% der Kranken, die nach einem Herzstillstand<br />

mit Hypothermie behandelt wurden, bei anschliessenden neurologischen<br />

Tests „gut abschnitten“; in der Kontrollgruppe waren es 39%. Die Behandlung<br />

wird nun in ersten klinischen Studien weiter untersucht 52 .<br />

Forschende am gemeinnützigen Burnham Institut in Kalifornien berichteten<br />

in Nature, Humanin, ein kürzlich im Rahmen von Untersuchungen zur<br />

Alzheimerschen Krankheit entdecktes kleines Protein, könnte über potente<br />

neuroprotektive Eigenschaften verfügen. Humanin unterdrückt die<br />

Aktivität von Bax, einem Gen, das bei etlichen Krankheiten, einschliesslich<br />

Hirnschlag, den programmierten Zelltod („Apoptose“) auslöst. Dieser<br />

Bef<strong>und</strong> des Erstautors Bin Guo <strong>und</strong> Mitarbeitenden weist darauf hin, dass<br />

Humanin synthetisch hergestellt <strong>und</strong> zu einem injizierbaren Medikament<br />

für die Akutbehandlung von Hirnschlag <strong>und</strong> Herzleiden entwickelt oder<br />

für Anwendungen in der Gentherapie genutzt werden könnte 53 .<br />

Akutbehandlung bei Hirnschlag<br />

Der Gewebe-Plasminogenaktivator (tissue plasminogenactivator, tPA) galt<br />

als Eckstein der Akuttherapie bei Hirnschlag, aber sein klinischer Nutzen


ist begrenzt, da tödliche Nebenwirkungen auftreten können <strong>und</strong> das therapeutische<br />

Fenster auf nur wenige St<strong>und</strong>en nach einem Hirnschlag<br />

begrenzt ist. Anfangs 2003 berichteten Gabriel T. Liberatore <strong>und</strong> Mitarbeitende<br />

von der Monash University in Australien von einer wirkungsvollen<br />

Gerinnung lösenden Substanz, die ursprünglich aus dem Speichel von<br />

Vampir-Fledermäusen gewonnen worden war; diese könne bis zu dreimal<br />

über das bisherige Therapiefenster hinaus verwendet werden <strong>und</strong> führe<br />

zu keinem erhöhten Risiko für weitere Hirnschädigungen. Das Enzym<br />

Desmoteplase (DSPA) ist genetisch mit dem Gerinnung lösenden tPA verwandt<br />

aber um ein Vielfaches wirksamer 54 . Inzwischen fanden Juan-Carlos<br />

Murciano <strong>und</strong> Mitarbeitende an der University of Pennsylvania eine<br />

Möglichkeit, rote Blutkörperchen mit tPA zu überziehen, ein Verfahren,<br />

das angeblich die Verfügbarkeit des Gerinnung lösenden Wirkstoffs im<br />

Blutkreislauf bis auf das Zehnfache erhöht <strong>und</strong> die Wahrscheinlichkeit<br />

einer starken Blutung, einem Hauptrisiko bei der Anwendung von tPA,<br />

verringert. Diese neue Methode der Wirkstoffabgabe war ursprünglich<br />

entwickelt worden, um der Bildung von inneren Blutgerinnseln nach chirurgischen<br />

Eingriffen vorzubeugen, doch die Forschenden glauben, dass<br />

sie auch bei Hirnschlag oder Herzinfarkt gute Dienste leisten könnte 55 .<br />

Risiko <strong>und</strong> Prävention von Hirnschlag<br />

Etliche Untersuchungen tragen dazu bei, die Risikogruppen für Hirnschlag<br />

besser bestimmen zu können, um dadurch den gezielten Einsatz präventiver<br />

Massnahmen zu verbessern. Neue Ergebnisse der Women’s Health<br />

Initiative (WHI), einer von der amerikanischen Regierung gesponserten<br />

Untersuchung an 16608 50-bis 79jährigen Frauen nach den Wechseljahren<br />

(das Durchschnittsalter lag bei 63) heizten eine anhaltende Diskussion<br />

über Hormonersatztherapien (hormone replacement therapy; HRT) weiter<br />

an. Die Kontroverse brach aus, als die Untersuchung im Juli 2002<br />

gestoppt wurde, nachdem Forschende festgestellt hatten, dass Frauen,<br />

die eine Kombination von Östrogen <strong>und</strong> Progestin (estrogen and progestin;<br />

E+P), die gebräuchlichste Form der HRT, einnahmen, im Vergleich zu<br />

Frauen, die ein Placebo erhielten, gehäuft an Brustkrebs, Hirnschlag, Lungenembolie<br />

<strong>und</strong> Herzleiden erkrankten.<br />

Während der E+P-Teil des Versuchs abgebrochen wurde, ging die Auswertung<br />

der Ergebnisse weiter <strong>und</strong> in der Mai-Ausgabe des Journal of the<br />

American Medical Association wurden weitere Berichte publiziert, darunter<br />

auch ein Bef<strong>und</strong>, wonach das Hirnschlagrisiko bei Frauen, die E+P einnahmen,<br />

um 31% höher war. Die Hauptautorin Sylvia Wassertheil-Smoller 47<br />

Schädigungen des Nervensystems


48<br />

<strong>und</strong> Mitarbeitende berichteten, das grösste Risiko betreffe den ischämischen<br />

Hirnschlag, die häufigste Form von Hirnschlag. Ein erhöhtes Risiko<br />

für alle Arten von Hirnschlag fand sich den Forschenden zufolge in allen<br />

Altersgruppen <strong>und</strong> in allen Risikogruppen für Hirnschlag unabhängig<br />

davon, ob die Frauen an Bluthochdruck litten, Herzkreislauferkrankungen<br />

durchgemacht hatten oder Hormone, Statine oder Aspirin eingenommen<br />

hatten.<br />

Kritiker behaupten, die Bef<strong>und</strong>e der WHI seien in Medienberichten übermässig<br />

vereinfacht dargestellt worden <strong>und</strong> die Ergebnisse würden für jüngere<br />

Frauen, die HRT kurz nach der Menopause einnehmen, möglicherweise<br />

nicht gelten, da nämlich die an der Untersuchung teilnehmenden<br />

Frauen eher älter waren <strong>und</strong> viele von ihnen erst 10-15 Jahre nach der<br />

Menopause mit einer HRT begonnen hatten. Gewisse Fachleute bezweifeln<br />

auch, dass die Ergebnisse auf alle Präparate von E+P (der Versuch verwendete<br />

ein Präparat, das unter dem Namen Prempro im Handel ist) <strong>und</strong><br />

auf alle Verabreichungsformen der HRT extrapoliert werden können<br />

(möglicherweise besteht ein ähnliches Risiko nicht bei Pflastern oder vaginaler<br />

Applikation) 56 .<br />

Andernorts berichteten Joachim Schrader <strong>und</strong> Mitarbeitende vom St.<br />

Josefs Spital in Deutschland, das Medikament Atacand, ein selektiver<br />

Angiotensin-II-Typ 1-Rezeptorblocker, könne bei Patienten mit Bluthochdruck<br />

die Anzahl weiterer vaskulärer Komplikationen um 45% senken,<br />

wenn es kurz nach einem akuten Hirnschlag verabreicht werde 57 . Inzwischen<br />

ergab eine von Kristi Reynolds von der Tulane University durchgeführte<br />

Meta-Analyse von 35 Untersuchungen einen Zusammenhang zwischen<br />

mässigem Alkoholkonsum <strong>und</strong> einem verminderten Risiko für<br />

totalen <strong>und</strong> ischämischen Hirnschlag, wohingegen starker Alkoholkonsum<br />

mit einem erhöhten Risiko dieser Hirnschlagformen sowie des hämorrhagischen<br />

Hinschlags verb<strong>und</strong>en war 58 .


Neuroethik<br />

Komplexe Interaktionen 51<br />

Die Leistung des <strong>Gehirn</strong>s steigern 53<br />

Klinische Fragen, kritische Entscheidungen 55<br />

49


50<br />

Neuroethik, die Beschäftigung mit den ethischen Implikationen unserer<br />

wachsenden Fähigkeit das <strong>Gehirn</strong> zu verstehen <strong>und</strong> zu verändern, findet<br />

zunehmend Beachtung. Als Spezialgebiet der Ethik gibt es sie erst seit<br />

2001 <strong>und</strong> die erste formelle Konferenz, die sich mit ihr befasste, wurde im<br />

Jahr 2002 von der <strong>Dana</strong> Fo<strong>und</strong>ation gesponsert <strong>und</strong> von der Universität<br />

Stanford <strong>und</strong> der Universität von Kalifornien, San Francisco, unter dem<br />

Titel „Neuroethik: Das Gebiet abstecken“ organisiert 59 . Sie führte aber<br />

rasch zu einem grossen Interesse der Medien <strong>und</strong> der Wissenschaft, das<br />

auch 2003 anhielt.<br />

Zum einen befasst sich die Neuroethik damit, wie die Gesellschaft mit<br />

den bei Hirnkrankheiten möglichen Bewusstseinsstörungen <strong>und</strong> Kontrollverlusten<br />

umgehen kann, zum anderen erforscht sie auch die ethischen<br />

Implikationen von Methoden, die gewisse Funktionen wie Gedächtnis<br />

<strong>und</strong> Konzentration fördern könnten. Wie soll das Gesetz Personen behandeln,<br />

die keine Kontrolle über ihre Impulse haben – ist es gerecht, sie<br />

zu bestrafen, wenn sie sich gar nicht beherrschen können? Und verschaffen<br />

sich umgekehrt Leute, die Medikamente wie Ritalin benutzen,<br />

das die Konzentration auch dann verbessern kann, wenn keine Krankheit<br />

festgestellt wurde, dadurch einen ungerechten Vorteil? Was, wenn sie<br />

ein Gen erhielten, um eine permanente Verbesserung zu erreichen?<br />

Neuroethische Fragen bezüglich Förderung <strong>und</strong> Beeinträchtigung<br />

wurden im Jahr 2003 an Meetings thematisiert <strong>und</strong> auch wissenschaftlich<br />

angegangen.<br />

Nicht nur das Medieninteresse an Neuroethik blieb gross, auch das<br />

Oberste Gericht schaltete sich mit einer Entscheidung ein; es ging dabei<br />

um einen Fall, in dem sich das Interesse des Staates, einen Betrug strafrechtlich<br />

zu verfolgen, <strong>und</strong> das Recht eines psychotischen Angeklagten,<br />

keine psychoaktiven Medikamente einzunehmen, gegenüberstanden.<br />

Im Juni organisierte die New York Academy of Sciences ein Meeting zur<br />

Ethik einer Leistungssteigerung des <strong>Gehirn</strong>s; die daraus resultierenden<br />

ethischen Richtlinien für Entscheidungsträger sollen dieses Jahr veröffentlicht<br />

werden. Im September führte die American Association for the<br />

Advancement of Science zum Thema Neurowissenschaft <strong>und</strong> Recht eine<br />

Konferenz für eingeladene Teilnehmende durch, die sich damit befasste,<br />

wie das Rechtssystem mit Beeinträchtigungen, etwa einer Sucht, umgehen<br />

sollte, die den freien Willen <strong>und</strong> die gesetzliche Haftung in Mitleidenschaft<br />

ziehen können. Die Teilnehmenden kamen zum Schluss, zurzeit


estehe kein Handlungsbedarf. Am Meeting der Society for Neuroscience<br />

im November hielt Donald Kennedy, der Chefredaktor von Science, einen<br />

Vortrag über die Zukunft der Neuroethik <strong>und</strong> unterschied zwischen ethischen<br />

Fragen bezüglich Forschung <strong>und</strong> Behandlung <strong>und</strong> solchen, die eine<br />

reine Leistungssteigerung betreffen. Er diskutierte auch das Problem der<br />

Privatsphäre, das durch Verfahren wie fMRI aufgeworfen wird, die eines<br />

Tages in der Lage sein könnten, „Gedanken zu lesen“ sowie ethische Fragen,<br />

die einen weiteren potentiellen Einsatz dieser Techniken betreffen:<br />

das Verhalten von Konsumenten vorherzusagen <strong>und</strong> möglicherweise<br />

gezielt zu steuern.<br />

Im Oktober veröffentlichte der Bioethikrat des Präsidenten den Bericht<br />

Jenseits der Therapie: Biotechnologie <strong>und</strong> die Suche nach Glück (Beyond<br />

Therapy: Biotechnology and the Pursuit of Happiness), der zum grossen<br />

Teil auf ausschliesslich neuroethische Fragen einging, wie Gedächtnissteigerung,<br />

Stimmungsaufhellung <strong>und</strong> den Einsatz von Medikamenten<br />

zur Verbesserung des Verhaltens von Kindern. Zwei Herausgeber, Reganbooks<br />

<strong>und</strong> <strong>Dana</strong> Press, stellten diesen Bericht im Dezember in einer für<br />

den Verkauf in Buchläden bestimmten Neuauflage einem breiten Publikum<br />

zur Verfügung. Die <strong>Dana</strong>-Version enthielt verschiedene zusätzliche<br />

Punkte, darunter auch Kommentare von wissenschaftlichen Ratsmitgliedern,<br />

die zur Vorsicht mahnten <strong>und</strong> betonten, dieser Bericht „diene<br />

lediglich dazu, eine Diskussion anzuregen, könne aber keine Schlussfolgerungen<br />

vorlegen“. Der Bericht, so schrieben sie, sei ein Anfang, aber<br />

keine wissenschaftliche Analyse, <strong>und</strong> einige der darin als künftig möglich<br />

dargestellten ethischen Probleme, etwa die genetische Selektion von<br />

Embryonen bezüglich des Temperaments, seien in Wirklichkeit höchst<br />

unwahrscheinlich, da sich die wissenschaftliche Arbeit, die solche Bedenken<br />

rechtfertigen könnte, möglicherweise gar nicht als durchführbar<br />

erweisen werde.<br />

Komplexe Interaktionen<br />

Ein von Avshalom Caspi <strong>und</strong> Mitarbeitenden im Juli in Science 60 veröffentlichter<br />

Artikel (siehe auch das Kapitel „Psychiatrische Erkrankungen, Verhaltensstörungen<br />

<strong>und</strong> Suchtkrankheiten“ S. 65) hat die Neuroethiker<br />

besonders fasziniert. Darin wurde festgestellt, dass Leute mit einer<br />

bestimmten Variante des Serotonin-Transporter-Gens 5-HTT auf entscheidende<br />

Lebenskrisen eher mit einer Depression reagierten als jene mit<br />

einer anderen Variante. Jene mit der längeren Form des Gens produzierten<br />

in grösserer Menge ein Protein, das Serotonin aus den Synapsen entfernt, 51<br />

Neuroethik


52<br />

was zu einer effizienteren Übertragung führt. Die kürzere Form produziert<br />

weniger von diesem Protein. Da der Mensch von jedem Gen zwei Kopien<br />

bekommt, je eine von jedem Elternteil, bestehen zahlreiche Permutationen<br />

– wobei festgestellt wurde, dass die Mehrheit der Bevölkerung über je<br />

eine Kopie der kurzen <strong>und</strong> der langen Form verfügt. Jene mit zwei langen<br />

Genen sind vor stressinduzierter Depression besonders gut geschützt;<br />

jene mit zwei kurzen sind dafür besonders anfällig.<br />

Die genetischen Unterschiede scheinen jedoch nur dann einen entscheidenden<br />

Einfluss zu haben, wenn die Forschenden die Zahl der stressigen<br />

Lebenserfahrungen in Betracht zogen, die die Personen gemacht hatten.<br />

Der Artikel zeigte eindeutig auf, wie kompliziert die Interaktion von Genen<br />

<strong>und</strong> Umwelt ist <strong>und</strong> machte klar, dass neuroethische Entscheidungen<br />

bezüglich Screening <strong>und</strong> Intervention alles andere als einfach sein werden.<br />

Würden Eltern beispielsweise erfahren wollen, ob ihr ungeborenes<br />

Kind zwei Kopien der kurzen Form hat? Wie könnten sie im Voraus wissen,<br />

mit welchem Stress ihr Kind dereinst konfrontiert wird? Würde ein<br />

solches Kind später durch Arbeitgeber oder Versicherungen diskriminiert<br />

werden, falls es eine mit hohem Stress verb<strong>und</strong>ene Stelle anstreben<br />

sollte? Zu Recht?<br />

Frühere Forschungsarbeiten derselben Gruppe warfen sogar noch kniffligere<br />

neuroethische Fragen auf 61 . Es hatte sich nämlich herausgestellt,<br />

dass sich Leute mit einer bestimmten Genvariante, falls sie als Kinder missbraucht<br />

wurden, mit grösserer Wahrscheinlichkeit zu gewalttätigen<br />

Erwachsenen entwickelten als jene mit einer anderen Form dieses Gens.<br />

Beim betroffenen Gen handelte es sich um das Enzym MAO-A, das mehrere<br />

unterschiedliche Neurotransmitter beeinflusst. „Macht“ dieses Gen<br />

aus Leuten, die als Kind missbraucht wurden, Missbraucher? Falls ja, sollte<br />

das Rechtssystem dies berücksichtigen ? Wie? Im Jahr 2003 kamen Teilnehmende<br />

der American Association for the Advancement of Science zum<br />

Schluss, die Gerichte sollten sich nicht mit solchen Fragen beschäftigen.<br />

Aber ähnliche Fragen werden sich sicher stellen.<br />

Der Beschluss des obersten Gerichts in Sachen Sell vs. United States<br />

zeigte, dass sich das Justizsystem bereits mit neuroethischen Fragen auseinandersetzt,<br />

wenn es um Behinderungen geht, die auf Hirnkrankheiten<br />

beruhen. Es befasste sich mit der Frage, wann der Staat Angeklagte, die<br />

infolge ihrer Hirnkrankheit schuldunfähig sind, zu einer medizinischen<br />

Behandlung zwingen darf.


Der Angeklagte, Dr. Charles Sell, ein in St. Louis lebender Zahnarzt, wurde<br />

des Versicherungsbetrugs bezüglich der Medicaid beschuldigt, aber<br />

wegen seines paranoiden Wahns als unzurechnungsfähig eingestuft.<br />

Obwohl man davon ausging, er stelle für niemanden eine Gefahr dar,<br />

wollte Missouri ihn zwangsbehandeln, um ihn dann strafrechtlich verfolgen<br />

zu können. Das Gericht befand, das staatliche Interesse, einen<br />

Betrug strafrechtlich zu ahnden, sei nicht so zwingend, dass es dazu<br />

berechtige, eine ungefährliche Person medizinisch zu behandeln. Sell, der<br />

bereits inhaftiert war <strong>und</strong> auf die Gerichtsverhandlung wartete, verbrachte<br />

mehr Zeit im Gefängnis, bis seinem Anspruch, sich nicht behandeln zu<br />

lassen, stattgegeben wurde als wenn er wegen der Betrugsklage verurteilt<br />

worden wäre.<br />

Verschiedene Neuroethiker, die sich nachträglich mit dem Fall befassten,<br />

hielten diese Entscheidung für richtig: Da Sell die geltende Norm für eine<br />

zwangsmässige psychiatrische Behandlung nicht erfüllte (die Person muss<br />

für sich selbst oder für andere eine Gefahr darstellen), wiegt das Interesse<br />

des Staates, einen Betrug zu ahnden nicht schwerer als das Recht des<br />

Patienten zu entscheiden, welche medizinische Behandlung er akzeptiert.<br />

Die durch Sell aufgeworfenen Fragen – ob es sich bei der medizinisch<br />

behandelten Person <strong>und</strong> bei der, die das Verbrechen begangen hat, um<br />

die gleiche Person handelt <strong>und</strong> wann der Staat das Recht hat, mittels<br />

Beeinflussung der Hirnchemie die Denkabläufe einer Person zu verändern<br />

– zeigen, dass die Gerichte bereits beginnen, sich den Herausforderungen<br />

der Neuroethik zu stellen.<br />

Die Leistung des <strong>Gehirn</strong>s steigern<br />

Eine andere im Jahr 2003 veröffentlichte Forschungsarbeit warf die Frage<br />

der Leistungssteigerung auf, da Wissenschafter bekannt gaben, sie hätten<br />

einen Chip entwickelt, der die Funktion eines für das Gedächtnis entscheidenden<br />

Gebietes, des Hippocampus, ausüben könne 62 . Zwar wurde der<br />

Chip nur an Hirnzellen von Ratten demonstriert – nicht einmal an einer<br />

lebenden Ratte – da aber Menschen über eine gleichartige Hirnregion verfügen,<br />

sind die Implikationen sowohl verheissungsvoll als auch erschreckend.<br />

Woran wir uns erinnern wollen – <strong>und</strong> was wir vergessen wollen – macht<br />

einen entscheidenden Teil unserer Persönlichkeit aus; <strong>und</strong> die Art <strong>und</strong><br />

Weise, wie wir diese Erinnerungen färben, beeinflusst auch unsere<br />

zukünftigen Entscheidungen. Wie könnten wir im Voraus wissen, wie<br />

ein ins <strong>Gehirn</strong> eingebauter mechanischer Gedächtnis-Chip unser Denken 53<br />

Neuroethik


54<br />

<strong>und</strong> Fühlen beeinflusst? Ist es denkbar, dass irgendjemand eine Einverständniserklärung<br />

abgibt, dies auszuprobieren? Ethiker vermuten, dass<br />

eine hochgradige Steigerung des Gedächtnisses sich auf Intelligenz <strong>und</strong><br />

Persönlichkeit insgesamt auswirken würde; <strong>und</strong> dies legt nahe, dass<br />

jemand, der eine solche Leistungssteigerung ausprobieren würde, tatsächlich<br />

eine andere Person werden könnte. Welche Auswirkungen<br />

hätte dies auf Beziehungen – lässt sich das im Voraus ausreichend abschätzen,<br />

so dass die betroffenen Personen eine entsprechende Entscheidung<br />

treffen können?<br />

Ähnliche Fragen werden bereits im Zusammenhang mit dem Einsatz von<br />

Medikamenten zur Behandlung der Alzheimerschen Krankheit aufgeworfen.<br />

Neuroethiker stellen fest, dass einige Medikamente, die bei der Alzheimerschen<br />

Krankheit verabreicht werden – ihre Wirkung ist allerdings<br />

gering – auch das Gedächtnis von nicht an dieser Krankheit Leidenden<br />

verbessern können. Neue Medikamente mit stärkerer Wirkung <strong>und</strong> wenig<br />

Nebenwirkungen könnten zweifellos ebenfalls zur Leistungssteigerung<br />

benutzt werden.<br />

Ethiker betonen, dass die Leistungssteigerung seit Urzeiten ein Charakteristikum<br />

der menschlichen Gesellschaft darstellt. Fast jeder Gebrauch von<br />

Substanzen, vom Kaffeetrinken bis zum Kokain, geht zumindest kurzfristig<br />

mit dem Gefühl einer Steigerung der Emotion einher, etwa dem Gefühl<br />

von Erregung, Kraft sowie erhöhter Motivation, <strong>und</strong> viele Substanzen steigern<br />

die Konzentrationsfähigkeit.<br />

Aber wir sind immer noch unsicher, wo wir die Grenze ziehen sollen;<br />

<strong>und</strong> so streiten wir endlos über den Einsatz von Ritalin bei Schulkindern,<br />

nehmen Leute fest, weil sie bestimmte Substanzen konsumieren <strong>und</strong><br />

verschreiben gleichzeitig andere, die ebenfalls mit spezifischen Gefahren<br />

verb<strong>und</strong>en sind.<br />

Ein neues Stimulans, Modafinil (Provigil), wird von Neuroethikern aufmerksam<br />

verfolgt, da zu erwarten ist, dass es bald schon nicht mehr ausschliesslich<br />

bei Narkolepsie verschrieben wird – jener Schlafstörung für<br />

die es von der Amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA (Food and Drug<br />

Administration) zugelassen wurde – sondern auch im Zusammenhang mit<br />

normaler Ermüdung. Diesem Szenario ist man im Jahr 2003 tatsächlich einen<br />

Schritt näher gekommen, als die FDA empfahl, die Zulassung so auszuweiten,<br />

dass die pharmazeutische Firma das Mittel auch für Schichtarbeiter


anwenden dürfe, deren Schlaf infolge der Nachtarbeit gestört ist. Zwar ist<br />

bisher noch kein Schwarzmarkt dafür entstanden, doch weisen Ethiker<br />

darauf hin, dass seine potentielle Leistungssteigerung durchaus dazu führen<br />

könnte.<br />

Klinische Fragen, kritische Entscheidungen<br />

Auch die Diskussion über die Grenzen der neuen Disziplin Neuroethik<br />

geht weiter. Einige sind der Ansicht, die klinische Neuroethik werde<br />

vernachlässigt. Die meisten Konferenzen <strong>und</strong> Diskussionen z. B. befassten<br />

sich mit den ethischen Implikationen von Fortschritten im Bereich<br />

der Neurowissenschaft, <strong>und</strong> vernachlässigten die Fragen, was für Patienten<br />

<strong>und</strong> ihre Familien getan werden sollte, die vor der Entscheidung<br />

stehen, wie Hirnkrankheiten behandelt (<strong>und</strong> wann sie nicht behandelt)<br />

werden sollten.<br />

Neuroethiker betonen, ethische Fragen im Zusammenhang mit einer<br />

Leistungssteigerung des <strong>Gehirn</strong>s seien zurzeit viel dringlicher als jene, die<br />

mit Genetik zusammenhängen. Zwar würden die Vorstellung, menschliche<br />

Gene zu verbessern <strong>und</strong> die mit dieser Möglichkeit verb<strong>und</strong>enen<br />

ethischen Implikationen allgemein diskutiert, doch seien die verfügbaren<br />

Techniken noch weit davon entfernt, solches Realität werden zu lassen.<br />

Die Komplexität der Gen-Umwelt-Interaktionen, wie sie etwa in den<br />

Untersuchungen über Depression <strong>und</strong> Gewalttätigkeit deutlich wurde,<br />

zeigt, dass wir noch lange nicht in der Lage sein werden, glücklichere,<br />

gescheitere <strong>und</strong> nettere Menschen zu herzustellen. Aber Provigil, Ritalin<br />

<strong>und</strong> andere Medikamente zur Funktionssteigerung des <strong>Gehirn</strong>s existieren<br />

schon heute – <strong>und</strong> führen unter Ethikern bereits zu Meinungsverschiedenheiten.<br />

Neuroethik<br />

55


Schmerz<br />

Opiate ohne die Schattenseite der Atemhemmung 58<br />

Die Stimulierung von CB2-Cannabinoid-Rezeptoren<br />

lindert neuropathischen Schmerz 59<br />

Gen-Therapie zur Schmerzbekämpfung 60<br />

Geschlechtsunterschiede bei Schmerz<br />

<strong>und</strong> Analgesie erklärt 62<br />

57


58<br />

Die medizinische Forschung sucht intensiv nach besseren Möglichkeiten<br />

der Schmerzbekämpfung. Die Schmerzforschung versucht, dieses<br />

Ziel auf viele Weisen zu erreichen <strong>und</strong> macht dabei ermutigende Fortschritte;<br />

doch erinnert uns die grosse Vielfalt ihrer Ergebnisse auch daran, wie kompliziert<br />

<strong>und</strong> facettenreich Schmerz ist. Die bemerkenswerten Erfolge des<br />

vergangenen Jahres stützen diese Aussage. Ein Ergebnis weist darauf hin,<br />

wie bei einer Überdosis Morphin eine Atemhemmung verhindert werden<br />

kann; ein anderes deckt einen Zusammenhang zwischen Schmerz, dem<br />

Immunsystem <strong>und</strong> einem bestimmten Rezeptortyp auf, der mit Marihuana<br />

zusammenhängt; ein drittes demonstriert ein neues Schema, wie sich<br />

Gentherapie zur Schmerzbekämpfung einsetzen lässt. Ausserdem gab es<br />

2003 eine Entdeckung, mit der sicher niemand gerechnet hatte: der<br />

Zusammenhang zwischen Schmerz, Geschlecht <strong>und</strong> – wer hätte das<br />

gedacht – roten Haaren.<br />

Opiate ohne die Schattenseite der Atemhemmung<br />

Opiate sind ausgezeichnete Schmerzmittel, aber mit dem Risiko behaftet,<br />

die Atmung zu verlangsamen oder gar völlig zu unterdrücken. Der Neurowissenschafter<br />

Diethelm Richter von der Universität Göttingen, Deutschland,<br />

versuchte herauszufinden, ob er die schmerzlindernden Wirkungen<br />

des verbreiteten Opiats Fentanyl von der potentiell gefährlichen Atemdepression<br />

trennen könnte, von der angenommen wird, sie sei für viele<br />

Todesfälle im Verlauf der Rettungsaktion von Geiseln in einem Moskauer<br />

Theater im Jahr 2003 verantwortlich gewesen.<br />

Zusammen mit seinem Team begann er, eine kleine Region im Hirnstamm<br />

von Ratten zu untersuchen, die für die Generation der neuralen Aktivität<br />

der Atmung verantwortlich ist, den Prä-Bötzinger Komplex (pre-Botzinger<br />

complex, PBC). Dort fanden sie Serotoninrezeptoren – der endogene<br />

Neurotransmitter Serotonin beeinflusst bekanntlich die Aktivität des<br />

Atmungszentrums – <strong>und</strong> Mü-Opiat-Rezeptoren, bei denen man davon<br />

ausging, dass sie mit der Mü-Opiat-Schmerzleitung interagieren. Sie<br />

entdeckten, dass der Einsatz eines Agonisten, um einen Subtyp des Serotoninrezeptors,<br />

5-HT4(a) zu aktivieren, die durch Fentanyl induzierte<br />

Atemdepression verhinderte, ohne dessen schmerzlindernde Wirkung<br />

zu verringern.<br />

In diesen Experimenten behandelten sie Ratten mit dem 5-HT4(a)-Agonisten<br />

BIMU8. Zuerst verifizierten sie, dass durch Fentanyl aktivierte<br />

Mü-Opiat-Rezeptoren zu Schmerzunempfindlichkeit führten (nachgewiesen


durch einen üblichen Schmerztest, bei dem der Schwanz einer Ratte<br />

einem Hitzestimulus ausgesetzt wird) <strong>und</strong> die Atmung hemmten. Dann<br />

gingen sie der Frage nach, ob eine Aktivierung der 5-HT4(a)-Rezeptoren<br />

den durch Fentanyl induzierten Atemstillstand verhindern könnte. Tatsächlich:<br />

BIMU8, das den Ratten nach Fentanyl verabreicht wurde, stellte<br />

wieder eine stabile Atemtätigkeit her. Und schliesslich untersuchten sie,<br />

ob die Behandlung mit BIMU8 nach der Verabreichung von Fentanyl die<br />

schmerzlindernde Reaktion zunichte machte, <strong>und</strong> stellten fest, dass dies<br />

nicht der Fall war.<br />

Ihre im Juli in Science 63 publizierten Experimente zeigen, dass es möglich<br />

ist, bei den Wirkungen eines Opiat-Schmerzmittels Feinabstimmungen<br />

vorzunehmen. Richter vermutet, dass für den Menschen entwickelte<br />

selektive 5-HT4(a)-Serotonin-Agonisten bei einer Opiat-Überdosis die<br />

Atmung wieder herstellen <strong>und</strong> chronische Schmerz-Patienten, die Opiate<br />

hoch dosiert einnehmen, vor einer Atemdepression schützen können.<br />

5-HT4(a)-Agonisten könnten auch nach einer in Opiatnarkose durchgeführten<br />

Operation die spontane Atmung der Kranken wieder herstellen.<br />

Die Stimulierung von CB2-Cannabinoid-Rezeptoren<br />

lindert neuropathischen Schmerz<br />

CB1-Rezeptoren sind Cannabinoid-Rezeptoren innerhalb des Zentralnervensystems<br />

(ZNS); ausserhalb gibt es CB2-Rezeptoren, die sich auf peripheren<br />

Immunzellen <strong>und</strong> Mastzellen befinden. THC, der aktive Bestandteil<br />

von Cannabis sativa oder Marihuana, stimuliert beide Rezeptortypen;<br />

seine allgemein bekannte sedierende <strong>und</strong> euphorisierende Wirkung<br />

beruht auf der Stimulierung von CB1-Rezeptoren im ZNS.<br />

Von neuropathischem Schmerz, der bei krankhaften Vorgängen von<br />

peripheren Nerven wie etwa bei Diabetes auftritt, sind etwa 1-2% der<br />

Bevölkerung betroffen. Trotz dieser weiten Verbreitung war eine wirksame<br />

Behandlung bisher kaum möglich. Die gegen neuropathischen<br />

Schmerz verfügbaren Medikamente wirken über das ZNS <strong>und</strong> können<br />

unerwünschte Nebenwirkungen wie Schwindel <strong>und</strong> Schläfrigkeit hervorrufen.<br />

Philip Malan von der Universität Arizona wusste, dass eine<br />

gezielte Wirkstofffreisetzung an den Cannabinoid-Rezeptoren neuropathischen<br />

Schmerz lindert, aber manchmal unerwünschte Wirkungen<br />

im ZNS verursacht. Deshalb dachte er, ein Medikament, das auf Schmerzrezeptoren<br />

ausserhalb des ZNS einwirke, könnte diese Nebenwirkungen<br />

nicht aufweisen. 59<br />

Schmerz


60<br />

Wie Malan <strong>und</strong> sein Team im August in Proceedings of the National Academy<br />

of Sciences 64 berichteten, hatten sie an einem experimentellen<br />

Mäusemodell für neuropathischen Schmerz ein schmerzstillendes Mittel<br />

namens AM1241 getestet, das von Alex Makriyannis von der Universität<br />

Connecticut entworfen <strong>und</strong> synthetisiert worden war. Dabei entdeckten<br />

sie, dass AM1241 bei Mäusen chirurgisch induzierten neuropathischen<br />

Schmerz aufhob. Im Weiteren stellten sie fest, dass ein CB2-Rezeptor-<br />

Antagonist die Schmerzhemmung durch AM1241 blockierte, während<br />

dies bei einem CB1-Rezeptor-Antagonisten nicht der Fall war. Dies war ein<br />

Hinweis darauf, dass CB2-Rezeptoren die durch AM1241 bewirkte<br />

Schmerzfreiheit vermitteln.<br />

Sie verstehen zwar noch nicht genau, wie AM1241 wirkt, vermuten aber,<br />

dass es über die Aktivierung von CB2-Rezeptoren die Freisetzung von<br />

schmerz-sensibilisierenden Substanzen aus den umliegenden Mast- <strong>und</strong><br />

Immunzellen verhindert <strong>und</strong> so die Empfindlichkeit der afferenten Neuronen<br />

vermindert. Bemerkenswert ist dabei, dass sie keinerlei Hinweise<br />

dafür fanden, dass AM1241 die Immuntätigkeit hemmt, obwohl der CB2-<br />

Rezeptor auf Immunzellen vorkommt.<br />

Malan untersuchte AM1241 bei zwei anderen Arten von Schmerz – dem<br />

entzündungsbedingten <strong>und</strong> dem nozizeptiven – <strong>und</strong> stellte fest, dass es<br />

auch bei diesen wirksam war. (Schmerz <strong>und</strong> weitere Entzündungszeichen<br />

wie Rötung, Schwellung <strong>und</strong> Wärme werden durch biochemische Reaktionen<br />

innerhalb der Blutgefässe in der Umgebung von verletztem<br />

Gewebe hervorgerufen. Nozizeptiver Schmerz, üblicherweise ein dumpfer<br />

Schmerz, ist auf einen krankhaften Vorgang oder eine Verletzung<br />

ausserhalb des Nervensystems zurückzuführen – im Gegensatz zum neuropathischen<br />

Schmerz von geschädigtem Nervengewebe.) Malan stellte<br />

fest, dass viele Schmerzzustände, etwa der Krebsschmerz, aus mehr als<br />

einem Schmerztyp zusammengesetzt sind. Ein Schmerzmittel wie AM1241,<br />

das gegen neuropathischen <strong>und</strong> andere Schmerztypen wirksam ist, würde,<br />

wenn es der Überprüfung an Menschen standhält, einen enormen Fortschritt<br />

darstellen. Inzwischen haben Malan <strong>und</strong> seine Mitarbeitenden<br />

vor, AM1241 an weiteren Tiermodellen für Schmerz zu testen, etwa dem<br />

viszeralen Schmerz, der bei der entzündlichen Darm-Krankheit vorkommt.<br />

Gen-Therapie zur Schmerzbekämpfung<br />

Eine Schmerzbehandlung mittels Gentherapie könnte es Patienten ermöglichen,<br />

mit kleineren Mengen von Opiaten auszukommen, was mit weniger


Nebenwirkungen, einer längeren Wirksamkeit <strong>und</strong> einer kleineren Wahrscheinlichkeit<br />

der Toleranzentwicklung verb<strong>und</strong>en sein könnte. In einer<br />

Forschungsarbeit, die im Mai in Proceedings of the National Academy of<br />

Sciences 65 veröffentlicht wurde, haben Li-Yen Mae Huang <strong>und</strong> Mitarbeitende<br />

von der University of Texas Medical Branch in Galveston einen<br />

Schritt in diese Richtung getan.<br />

Frühere von anderen Forschenden an Tieren durchgeführte Experimente<br />

mit Gentherapie lieferten Vorläufer-Gene für Opiat-Peptide <strong>und</strong> bewirkten<br />

eine Schmerzlinderung von bis zu 8 Wochen – allerdings verb<strong>und</strong>en mit<br />

einer gewissen Toxizität. Huang <strong>und</strong> ihr Team hofften sowohl die Nebenwirkungen<br />

als auch die Wirksamkeit verbessern zu können. Ihr Ansatz<br />

war, Schmerzfreiheit nicht direkt über Vorläufer-Gene zu bewirken,<br />

sondern über die Erhöhung der Zahl von Mü-Opiat-Rezeptoren eine<br />

Schmerzlinderung bereits durch niedrig dosierte Opiate zu ermöglichen.<br />

Als Gentherapie-Vektor wählte das Team ein rekombinantes adenoviralassoziiertes<br />

Virus (rAAV), da es eine relativ kleine Toxizität aufweist <strong>und</strong><br />

eine lang anhaltende Genexpression sicherzustellen vermag. Indem sie<br />

den rAAV-Gentherapie-Vektor mit dem Mü-Opiat-Rezeptor-Gen (MOR)<br />

<strong>und</strong> nicht mit einem Gen für ein schmerzlinderndes Opiat-Peptid koppelten,<br />

hofften sie, eine Toleranzentwicklung <strong>und</strong> Atemdepression vermeiden<br />

zu können.<br />

Mittels Gentherapie führte Huang das MOR-Gen zusammen mit einem<br />

Neuronen spezifischen Promoter direkt in die Spinalganglien (dorsal root<br />

ganglia, DRG) von Ratten ein. Präsynaptische Neuronen der DRG leiten<br />

Schmerzsignale über das Hinterhorn des Rückenmarks zum <strong>Gehirn</strong>.<br />

Um den Einfluss des MOR-Gens auf die Schmerzreaktion der Ratten festzustellen,<br />

wurden die Tiere einem Test mit Wärmestimulation der Pfoten<br />

unterzogen. Huang stellte fest, dass die MOR-Gentherapie eine langfristige<br />

Genexpression in DRG-Neuronen bewirkte, was die schmerzlindernde<br />

Wirkung von Morphin bei durch thermische Stimuli hervorgerufenen<br />

Schmerzen deutlich verbesserte.<br />

Huang weist darauf hin, dass Gentherapie zur Schmerzlinderung bei<br />

Menschen durchgeführt werden kann, wobei jedoch der besseren<br />

Zugänglichkeit <strong>und</strong> Sicherheit wegen das Gen in den Ischiasnerv <strong>und</strong> nicht<br />

in das DRG appliziert werden sollte. Von einem solchen genetischen<br />

Verfahren der Schmerzbekämpfung könnten Patienten profitieren, die an 61<br />

Schmerz


62<br />

chronischen Krebs-Schmerzen oder anderen Erkrankungen leiden, die<br />

eine Langzeittherapie mit Opiaten nötig machen.<br />

Geschlechtsunterschiede bei Schmerz<br />

<strong>und</strong> Analgesie erklärt<br />

Es ist eine verbreitete ärztliche Erfahrung, dass Männer <strong>und</strong> Frauen<br />

Schmerz unterschiedlich erleben. Beispielsweise wurde festgestellt, dass<br />

gewisse Schmerzmittel bei Frauen anscheinend wirksamer sind als bei<br />

Männern. In einer überraschenden neuen Forschungsarbeit identifizierte<br />

Jeffrey Mogil von der McGill-Universität in Montreal ein Gen, das einen<br />

der geschlechtsspezifischen neuralen Mechanismen steuert, die diesen<br />

Unterschieden zugr<strong>und</strong>e liegen.<br />

Vor zehn Jahren hatte Mogil entdeckt, dass männliche <strong>und</strong> weibliche<br />

Mäuse Schmerz über zwei unterschiedliche Systeme verarbeiten. Er<br />

fand heraus, dass ein experimentelles Medikament, MK-801, stressinduzierte<br />

Schmerzunempfindlichkeit bei männlichen Mäusen aufzuheben<br />

vermochte, nicht aber bei weiblichen. Demnach verfügten die<br />

Weibchen über ein separates System der Schmerzverarbeitung.<br />

Anschliessend wies er nach, dass das spezifisch weibliche Schmerzverarbeitungssystem<br />

durch zirkulierende Östrogenhormone ein- bzw. ausgeschaltet<br />

wird.<br />

In seiner neuesten Forschungsarbeit, die im April in Proceedings of the<br />

National Academy of Sciences 66 veröffentlicht wurde, untersuchte er ein<br />

weiteres geschlechtsabhängiges Schmerzverarbeitungssystem. Er <strong>und</strong> sein<br />

Team gingen den Geschlechtsunterschieden der Kappa-Opiat-Schmerzmittel<br />

nach, die vielen Berichten zufolge bei Frauen wirksam sind, nicht<br />

aber bei Männern. Aufgr<strong>und</strong> der Genkartierung ordneten sie die Kappa-<br />

Opiat-Schmerzverarbeitung dem Melanocortin-1-Rezeptor (MC1R)-Gen<br />

zu, das bei Mäusen auf Chromosom 8 lokalisiert ist. Dieser Rezeptor war<br />

bereits wohl bekannt, jedoch in einem völlig anderen Zusammenhang: Er<br />

beeinflusst beim Menschen die Haar- <strong>und</strong> Hautfarbe <strong>und</strong> bei Mäusen die<br />

Farbe des Fells.<br />

Mogils Team entdeckte, dass MC1R nur bei Weibchen die Kappa-Opiat-<br />

Schmerzhemmung vermittelt. Sie testeten männliche <strong>und</strong> weibliche<br />

Mäuse mit Pentazocin, einem Kappa-Opiat, das bei ischämischem <strong>und</strong><br />

thermischem Schmerz wirkt. MC1R-Genvarianten beeinflussten die<br />

Schmerzlinderung durch Pentazocin, jedoch nur bei Weibchen.


Bezüglich beider Arten von Schmerz war die Schmerzlinderung durch<br />

Pentazocin ausgeprägter bei rothaarigen <strong>und</strong> hellhäutigen Frauen mit zwei<br />

Varianten von MC1R-Allelen als bei jeder anderen Gruppe. Ganz allgemein<br />

zeigt Mogils Arbeit, die potentielle Bedeutung der Pharmakogenetik:<br />

dass nämlich die genetische Information über Patienten Ärzte helfen<br />

kann, das richtige Medikament zu verschreiben. Und aufgr<strong>und</strong> derselben<br />

Überlegung könnten neue Erkenntnisse über die Genetik der Schmerzkontrolle<br />

zur Entwicklung von Medikamenten beitragen, die bei besonderen<br />

Populationen eine bessere Wirkung zeigen.<br />

Schmerz<br />

63


Psychiatrische Erkrankungen,<br />

Verhaltensstörungen<br />

<strong>und</strong> Suchtkrankheiten<br />

Depression 66<br />

Manisch-depressive Erkrankung <strong>und</strong> Schizophrenie 67<br />

Essstörungen 67<br />

Alkoholismus 68<br />

Nikotinabhängigkeit 68<br />

Kokainabhängigkeit 69<br />

Heroinabhängigkeit 70<br />

Das Rätsel des Rückfalls 70<br />

65


66<br />

Psychiatrische Erkrankungen, Verhaltensstörungen <strong>und</strong> Suchtkrankheiten<br />

stellen für das amerikanische Ges<strong>und</strong>heitswesen eine grosse Herausforderung<br />

dar. Jedes Jahr entwickeln schätzungsweise 5-7% der Erwachsenen<br />

<strong>und</strong> 5-9% der Kinder eine schwere Geisteskrankheit oder eine ernsthafte<br />

emotionale Störung, <strong>und</strong> insgesamt sind psychiatrische Erkrankungen<br />

heute in den USA die Hauptursache für Invalidität. Zudem zeigen zwei im<br />

November 2003 veröffentlichte Untersuchungen auf, dass Drogenmissbrauch<br />

oft mit anderen medizinischen oder psychiatrischen Störungen<br />

einhergeht 67, 68 . Glücklicherweise wird die Forschung weiterhin gut finanziert;<br />

das Jahr 2003 konnte Erfolge verzeichnen, was das Verständnis <strong>und</strong> die<br />

Behandlung einiger Geisteskrankheiten anbelangt, sowie ständige Fortschritte<br />

in anderen Bereichen <strong>und</strong> auch faszinierende neue Erkenntnisse.<br />

Depression<br />

Eine von Ronald Kessler <strong>und</strong> Mitarbeitenden an der Harvard Medical<br />

School erarbeitete epidemiologische Bestandesaufnahme ergab, dass die<br />

Prävalenz schwerer depressiver Störungen im Verlauf eines Lebens in den<br />

USA 16,2% beträgt – also jede sechste Person – bzw. in jedem Jahr 6,6% 69 .<br />

Diese Ergebnisse, die auf der direkten Befragung von über 9000 Erwachsenen<br />

beruhen, führten die universitäre Abteilung für Ges<strong>und</strong>heitsversorgung<br />

zum Schluss, schwere depressive Erkrankungen seien „in der Bevölkerung<br />

weit verbreitet <strong>und</strong> im Allgemeinen mit ernsthaften Symptomen<br />

<strong>und</strong> Funktionseinbussen verb<strong>und</strong>en“. Die Autoren empfehlen, ergänzend<br />

zum bereits intensiv durchgeführten Screening für Depression <strong>und</strong> ihrer<br />

immer umfassenderen Behandlung sollten auch Anstrengungen unternommen<br />

werden, um die Behandlungsqualität zu verbessern, ein Gebiet,<br />

das weitere Forschung erfordert.<br />

Eine im Juli 2003 veröffentlichte Studie illustriert gut, wie die Lebensbedingungen<br />

eines Menschen <strong>und</strong> genetische Faktoren zusammenwirken<br />

können <strong>und</strong> so die Entstehung einer psychischen Erkrankung, in diesem<br />

Fall eine Depression, verursachen (vgl. auch das Kapitel „Neuroethik“,<br />

S. 49). A. R. Hariri vom National Institute of Mental Health <strong>und</strong> Mitarbeitende<br />

erforschten die Auswirkungen einer genetischen Variation, die im<br />

Jahr zuvor auf dem Serotonin-Transportergen lokalisiert worden war. (Es<br />

handelt sich dabei um den Transporter, dem die entscheidende Aufgabe<br />

zukommt, den Neurotransmitter Serotonin aus dem sie umgebenden<br />

Raum in die Zelle hinein zu pumpen.) Der Promotorbereich dieses Gens<br />

existiert sowohl als kurzes als auch als langes Allel <strong>und</strong> frühere Untersuchungen<br />

hatten ergeben, dass Leute mit zwei Kopien des kurzen Allels


allgemein dazu neigen, mehr Angst zu haben als die Heterozygoten oder<br />

als die Träger von zwei Kopien des langen Allels 70 . Träger des kurzen Allels<br />

reagieren auf angsterregende Stimuli auch mit einer grösseren Aktivität<br />

in der Amygdala, jener Hirnregion, die für unsere Reaktion auf Gefahr<br />

zuständig ist. Die Untersuchung aus dem Jahr 2003 71 ergab, dass<br />

diese genetische Variation einen entscheidenden Einfluss darauf hat, ob<br />

stresshafte Lebensereignisse bei jemandem depressive Symptome, eine<br />

schwere Depression oder Suizidneigungen verursachen.<br />

Manisch-depressive Erkrankung <strong>und</strong> Schizophrenie<br />

Schizophrenie <strong>und</strong> die manisch-depressive Erkrankung, die je bei 1% einer<br />

jeden Population vorkommen, werden üblicherweise als zwei verschiedene<br />

Krankheiten angesehen. Nun hat allerdings eine von Dmitri Tkachev<br />

<strong>und</strong> Mitarbeitenden am Babraham Institute in Cambridge, England, durchgeführte<br />

Studie gezeigt, dass sie in Bezug auf die Genexpression erstaunliche<br />

Ähnlichkeiten aufweisen 72 . Die Autoren verwendeten eine<br />

Methode, die als Polymerase-Kettenreaktion (polymerase chain reaction,<br />

PCR) bezeichnet wird, sowie Microarray-Analyse <strong>und</strong> führten eine postmortem<br />

Untersuchung an 45 zur Verfügung gestellten <strong>Gehirn</strong>en durch:<br />

15 stammten von Personen mit einer manisch-depressiven Erkrankung,<br />

15 von solchen mit einer Schizophrenie <strong>und</strong> 15 von Kontrollpersonen. Im<br />

<strong>Gehirn</strong> der schizophrenen <strong>und</strong> der manisch-depressiven Kranken fanden<br />

sie im Vergleich zum <strong>Gehirn</strong> der Kontrollpersonen eine beträchtliche<br />

Reduktion jener Gene, die für die Produktion von Myelin verantwortlich<br />

sind, jenem fetthaltigen Material, das Nervenfasern isoliert; sie stellten<br />

auch signifikant tiefere Spiegel jener Proteine fest, die durch diese Gene<br />

synthetisiert werden. Diese Reduktion war ähnlich im <strong>Gehirn</strong> von schizophrenen<br />

<strong>und</strong> manisch-depressiven Kranken. Diese Korrelationen sind<br />

deutliche Hinweise dafür, dass manisch-depressive Erkrankung <strong>und</strong> Schizophrenie<br />

zumindest teilweise eine gemeinsame genetische Ursache<br />

haben – eine, die es noch intensiv zu erforschen gilt.<br />

Essstörungen<br />

Gene, die mit Anorexia nervosa verknüpft sind, fanden im Jahr 2003<br />

grosse Aufmerksamkeit. Eine von Andrew Bergen <strong>und</strong> Mitarbeitenden<br />

durchgeführte Linkage-Analyse rückte das Serotonin 1D Rezeptorgen<br />

(HTR1D) <strong>und</strong> das Opiat Delta Rezeptorgen (OPRD1) in den Mittelpunkt,<br />

die beide auf Chromosom 1 lokalisiert sind 73 . Diese Ergebnisse bestätigen<br />

frühere Hinweise darauf, dass die Neurotransmittersysteme für Serotonin<br />

<strong>und</strong> für opiatartige Peptide bei der Entstehung von Essstörungen eine 67<br />

Psychiatrische Erkrankungen, Verhaltensstörungen <strong>und</strong> Suchtkrankheiten


68<br />

wichtige Rolle spielen. Bezüglich der Bulimia nervosa deutete eine von<br />

Cynthia M. Bulik <strong>und</strong> Mitarbeitenden durchgeführte Linkage-Analyse auf<br />

ein Gen oder auf mehrere Gene auf Chromosom 14q hin, <strong>und</strong> möglicherweise<br />

auf ein weiteres auf Chromosom 10p 74 . Der Hinweis auf Chromosom<br />

10p passt besonders gut zum bereits bekannten Vererbungsmuster<br />

von selbst herbeigeführtem Erbrechen, einem für Bulimie charakteristischen<br />

Verhalten. Die Autoren weisen jedoch darauf hin, dass dieser<br />

Bereich von Chromosom 10 ein Gen enthält, das Personen für Bulimie<br />

anfällig machen könnte, wobei es jedoch nicht zwingend ist, dass sie die<br />

Störung tatsächlich entwickeln.<br />

Alkoholismus<br />

Ein Warnzeichen für möglichen Alkoholismus ist die Fähigkeit einer Person<br />

„trinkfest“ zu sein oder wissenschaftlich ausgedrückt, auf Alkoholeinnahme<br />

nur wenig zu reagieren. Dieses Merkmal beruht auf dem Metabolismus<br />

der betreffenden Person <strong>und</strong> den Reaktionen ihres <strong>Gehirn</strong>s auf<br />

Ethanol, Faktoren, die ihrerseits von Genen bestimmt werden. Im Allgemeinen<br />

weisen Personen, die sich später zu Alkoholikern entwickeln,<br />

bereits früh eine Alkoholtoleranz auf <strong>und</strong> niedrige Dosen zeigen bei ihnen<br />

wenig Wirkung. Um die Suche nach den für eine geringe Reaktion auf<br />

Alkohol verantwortlichen Genen einzugrenzen, unterzogen Kirk Wilhelmsen<br />

vom Ernest Gallo Clinic and Research Center 139 Geschwisterpaare im<br />

frühen Erwachsenenalter einem Screening bezüglich neun chromosomalen<br />

Regionen; das deutlichste Resultat betraf Regionen auf den Chromosomen<br />

10, 11 <strong>und</strong> 22 75 . Dieser Bef<strong>und</strong> bildet erst den Anfang der Suche,<br />

denn jede chromosomale Region umfasst durchschnittlich etwa 200-300<br />

Gene <strong>und</strong> davon dürften vermutlich nur wenige mit der Reaktion des<br />

<strong>Gehirn</strong>s auf Alkohol zu tun haben. Das Gallo-Forscherteam hofft, die<br />

Suche werde sie zu einem Gen oder mehreren Genen führen, deren Funktionen<br />

bereits mindestens teilweise bekannt sind; andernfalls werden die<br />

Wissenschafter alle Gene in den drei oben genannten Regionen systematisch<br />

untersuchen.<br />

Nikotinabhängigkeit<br />

Bekanntlich haben die meisten langjährigen Raucher diese Gewohnheit<br />

während der Adoleszenz begonnen. Woran liegt es, dass sich eine Nikotinabhängigkeit<br />

in den Jahren vor dem Erwachsenwerden besonders leicht<br />

entwickelt? Eine neue, am Duke University Medical Center durchgeführte<br />

Forschungsarbeit verwendete Ratten als Tiermodell, um herauszufinden,<br />

ob die Selbstverabreichung von Nikotin variiert, je nach dem in welchem


Alter die Substanz erstmals eingenommen wird. Forschende unter der Leitung<br />

von Edward Levin wiesen in einer Reihe von Experimenten nach, dass<br />

das Alter, in dem Ratten mit dem Nikotinkonsum begannen, tatsächlich<br />

einen entscheidenden Einfluss hatte 76 . Adoleszente (54-62 Tage alt) nahmen<br />

beinahe doppelt so viel Nikotin zu sich wie Adulte (84-90 Tage alt) <strong>und</strong><br />

behielten dieses höhere Quantum dann auch im Erwachsenenalter bei.<br />

Die Forschenden nehmen an, der Weg zur Abhängigkeit werde durch den<br />

stärkeren Konsum der Adoleszenten gebahnt. In einer anderen Untersuchung<br />

befassten sich Kimberly Horn <strong>und</strong> Mitarbeitende mit Adoleszenten,<br />

die versuchten das Rauchen aufzugeben; sie fanden heraus, dass das<br />

Resultat vom Ausmass der körperlichen Nikotinabhängigkeit einer Person<br />

abhängt: Während eine kurze Selbsthilfeaktion bei nur leicht abhängigen<br />

Rauchern wirksam war, sprachen Personen mit einer starken Abhängigkeit<br />

besser auf ein intensives Kursprogramm mit mehreren Sitzungen an 77 .<br />

Kokainabhängigkeit<br />

Eine neue Perspektive zur Behandlung der Kokainabhängigkeit eröffnete<br />

sich von einer ganz unerwarteten Seite, nämlich durch ein Medikament,<br />

dass zurzeit in vielen Ländern zur Behandlung epileptischer Anfälle verwendet<br />

wird. In den USA wurde Gamma-Vinyl-GABA (GVG) zwar für<br />

diese Anwendung noch nicht freigegeben, doch erforscht wird es schon<br />

seit langem, da es die Dopaminkonzentration in bestimmten Hirnbereichen<br />

reduziert <strong>und</strong> sowohl das auf Kokain ausgerichtete Verhalten hemmt<br />

als auch die Schwelle für Belohnung erhöht, welche durch Kokain induziert<br />

wird. Nun wurde in Baja California, Mexiko, unter der Leitung von Jonathan<br />

Brodie an einer kleinen Gruppe von Erwachsenen, die während mindestens<br />

drei Jahren täglich Kokain konsumiert hatten, eine von den USA<br />

gesponserte klinische Studie durchgeführt, bei der eine psychosoziale<br />

Therapie mit täglich zweimaliger Abgabe von GVG gekoppelt wurde; Ziel<br />

war es, mindestens 28 Tage auf Kokain zu verzichten 78 . Acht der 20 Versuchspersonen<br />

übertrafen das Ziel <strong>und</strong> lebten während 46 bis 58 Tagen<br />

kokainabstinent; vier weitere gaben das Kokain zwar nicht ganz auf, reduzierten<br />

ihren Konsum jedoch um 50-80% <strong>und</strong> gaben an, die Droge vermittle<br />

ihnen nicht mehr das gewohnte Hochgefühl. Bemerkenswert ist,<br />

dass jene acht Personen, die das 28-Tage-Ziel überboten, berichteten,<br />

GVG hätte ihr Verlangen nach Kokain innert zwei bis drei Wochen völlig<br />

beseitigt – ein Effekt, der sogar während der „Schlussphase“ der Studie<br />

anhielt, als die Dosierung von GVG allmählich auf Null reduziert wurde.<br />

Diese Kleinstudie zeigt die Wirksamkeit von GVG in Kombination mit<br />

psychosozialer Beratung auf <strong>und</strong> macht deutlich, dass es beim Kampf 69<br />

Psychiatrische Erkrankungen, Verhaltensstörungen <strong>und</strong> Suchtkrankheiten


70<br />

gegen Missbrauch <strong>und</strong> Abhängigkeit ganz entscheidend darum geht, das<br />

Verlangen nach der Droge zu beseitigen. Als Nächstes sollte, so die Autoren,<br />

ein grösserer, Placebo kontrollierter Doppelblindversuch folgen.<br />

Heroinabhängigkeit<br />

Auch in der Behandlung der Heroinabhängigkeit stösst eine überraschende<br />

neue Perspektive auf beachtliches Interesse: Bei abhängigen Personen,<br />

die mit Methadon allein ohne Erfolg behandelt wurden, scheint der<br />

überwachte Konsum von Heroin <strong>und</strong> Methadon substantielle Verbesserungen<br />

der körperlichen, mentalen <strong>und</strong>/oder sozialen Funktionsfähigkeit<br />

(einschliesslich einer signifikanten Abnahme des kriminellen Verhaltens)<br />

zu bewirken. In einer in den Niederlanden unter der Leitung von Wim van<br />

den Brink 79 durchgeführten multizentrischen Studie wurden 549 Heroinabhängige<br />

zufällig einer von drei Gruppen zugeteilt: Gruppe A erhielt<br />

während 12 Monaten nur Methadon, Gruppe B erhielt Methadon plus<br />

Heroin (entweder als Injektion oder als Inhalation) <strong>und</strong> Gruppe C erhielt<br />

6 Monate lang nur Methadon <strong>und</strong> anschliessend 6 Monate lang Methadon<br />

plus Heroin. Unabhängig davon, ob das Heroin injiziert oder inhaliert<br />

wurde, war die Kur mit Methadon plus Heroin signifikant wirksamer als die<br />

Behandlung mit Methadon allein <strong>und</strong> erwies sich als ebenso sicher. Die<br />

kombinierte Behandlung bleibt umstritten, sollte jedoch unbedingt weiter<br />

erforscht werden.<br />

Das Rätsel des Rückfalls<br />

Was geschieht im <strong>Gehirn</strong>, wenn mit dem Drogenkonsum assoziierte<br />

visuelle oder auditive Auslöser ehemals Abhängige zu einem Rückfall verleiten?<br />

Unter der Leitung von Udi E. Ghitza trainierten Psychologen an der<br />

Rutgers University Ratten darauf, einen bestimmten musikalischen Ton mit<br />

der Selbstverabreichung von Kokain zu assoziieren; dann, nach drei- bis<br />

vierwöchiger Abstinenz, kontrollierten die Forschenden mittels Einzel-<br />

Neuron-Ableitungen die Reaktion in einem Hirnbereich, der mit Sucht in<br />

Verbindung gebracht wird, dem so genannten Nucleus accumbens 80 . Die<br />

Neuronen des Nucleus accumbens reagierten nur auf den mit der Droge<br />

assoziierten Ton <strong>und</strong> zwar ebenso stark, wie vor der langen Abstinenzperiode<br />

– obwohl die Ratten die Erfahrung machten, dass die Betätigung des<br />

Hebels, der sie ursprünglich mit Kokain belohnt hatte, jetzt nur Salzwasser<br />

lieferte. Die Identifizierung jener spezifischen Neuronen, die Assoziationen<br />

speichern, welche einen Rückfall auslösen, könnte den Weg zu einer<br />

zielgerichteten Behandlung der Abhängigkeit <strong>und</strong> zur Prävention von<br />

Rückfällen ebnen.


Störungen der Sinnes-<br />

<strong>und</strong> Körperfunktion<br />

Stabilität <strong>und</strong> Instabilität im visuellen<br />

System erkennen 72<br />

Die Retina als Verarbeitungsstation 72<br />

Die Übertragung des Signals vom Auge zum Hirn 74<br />

Kartierung von funktionellen Regionen<br />

in den visuellen Systemen 75<br />

Die zirkadiane Uhr stellen 76<br />

71


72<br />

Im Bereich der Sinnes- <strong>und</strong> Körperfunktion stand im Jahr 2003 die Erforschung<br />

des Sehens im Vordergr<strong>und</strong>; es kam zu neuen Erkenntnissen<br />

darüber wie das visuelle System verschaltet ist, welche Aufgabe die Retina<br />

bei der Signalverarbeitung erfüllt <strong>und</strong> wie verschiedene Regionen der<br />

Grosshirnrinde unterschiedliche visuelle Signale verarbeiten.<br />

Stabilität <strong>und</strong> Instabilität im visuellen System erkennen<br />

Im Jahr 2000, 40 Jahre nachdem Michael May im Alter von drei Jahren auf<br />

beiden Augen erblindet war, wurde bei ihm eine kombinierte Transplantation<br />

von Stammzellen des Limbus <strong>und</strong> der Hornhaut im rechten Auge<br />

durchgeführt. Heute kann er mit diesem Auge sehen, aber auch zwei Jahre<br />

nach der Operation ist seine visuelle Wahrnehmung mangelhaft. Er<br />

erkennt zwar Bewegung, Farbe <strong>und</strong> einfache Umrisse, jedoch keine komplizierten<br />

oder dreidimensionalen (3-D) Formen. Er hat Mühe, Gegenstände<br />

oder Gesichter zu erkennen. Die seit der Operation festgestellte<br />

Besserung seiner visuellen Fähigkeiten beruht grösstenteils auf kognitiven<br />

Fortschritten <strong>und</strong> nicht auf Steigerungen der visuellen Verarbeitung per<br />

se; dies wird in einem Bericht über die Genesung <strong>und</strong> den funktionellen<br />

Status von May beschrieben, den Ione Fine <strong>und</strong> Mitarbeitende an der<br />

University of Southern California veröffentlicht haben 81 . Zwar hat May<br />

gelernt, das Gesehene besser zu interpretieren, doch sind viele der visuellen<br />

Verarbeitungssysteme, über die er verfügt hatte bis er mit 3 Jahren<br />

seine Sehfähigkeit verlor, im Verlauf der 40 Jahre, in denen er sie nicht<br />

benutzen konnte, zugr<strong>und</strong>e gegangen <strong>und</strong> bilden sich nicht neu.<br />

Die Untersuchung der von May gemachten Fortschritte gibt Fachleuten<br />

die seltene Gelegenheit herauszufinden, welche Teile des <strong>Gehirn</strong>s fest<br />

verkabelt sind oder sich in der frühen Kindheit entwickeln, <strong>und</strong> welche<br />

weiterhin auf Inputs aus der Umwelt angewiesen sind, um normal zu funktionieren.<br />

Im Fall von May wurde deutlich, dass unterschiedliche Teile des<br />

visuellen Systems in unterschiedlichen Zeitperioden zugr<strong>und</strong>e gehen –<br />

dies hatte niemand erwartet. Die Verarbeitung von Bewegung beispielsweise<br />

scheint im Alter von dreieinhalb Jahren voll entwickelt zu sein <strong>und</strong><br />

sie überdauert auch eine 40 Jahre lange Deprivation. Im Gegensatz dazu,<br />

ging die Fähigkeit, Information über Gesichter visuell zu verarbeiten <strong>und</strong><br />

diese zu erkennen ohne fortdauernde Stimulation verloren.<br />

Die Retina als Verarbeitungsstation<br />

Das visuelle System besteht aus dem Auge als sensorischem Organ <strong>und</strong> aus<br />

den grösstenteils in der Grosshirnrinde gelegenen Verarbeitungsstrukturen.


Allerdings wurde die Grenze zwischen der Aufnahme <strong>und</strong> Verarbeitung<br />

von Signalen in letzter Zeit weniger klar, nachdem festgestellt worden war,<br />

dass die im hinteren Augenabschnitt lokalisierte Retina nicht nur als Relaisstation<br />

dient, sondern auch selber Informationsverarbeitung initiiert.<br />

Licht dringt durch die Linse ein <strong>und</strong> wird in der Retina, die aus lichtempfindlichen<br />

Stäbchen <strong>und</strong> Zapfen zusammengesetzt ist, gebündelt. Die<br />

in diesen Photorezeptoren vorhandene Information wird an zwischengeschaltete<br />

Neuronen in der Retina, deren Existenz erst vor kurzem<br />

nachgewiesen wurde, <strong>und</strong> dann zu den Ganglienzellen der Netzhaut<br />

weitergeleitet, welche die Information ins <strong>Gehirn</strong> übermitteln. Diese<br />

zwischengeschalteten Neuronen scheinen der Retina bisher nicht vermutete<br />

Verarbeitungsfähigkeiten zu verleihen.<br />

Im Jahr 2003 entdeckten Markus Meister <strong>und</strong> Mitarbeitende an der Harvard<br />

Universität, dass die Interneuronen entscheidend dazu beitragen,<br />

dass ein Tier zwischen ruhenden <strong>und</strong> sich bewegenden Objekten unterscheiden<br />

kann. Diese Unterscheidung ist deshalb so kompliziert, da sich<br />

das Auge selbst dann, wenn das Tier bewusst ein Objekt oder einen<br />

Bereich in seiner Umgebung fixiert, in zufälligen kleinen Bewegungen hin<br />

<strong>und</strong> her bewegt. So muss das visuelle System irgendwie zwischen diesen<br />

kleinen zufälligen Bewegungen, die das Auge selbst generiert, <strong>und</strong> einer<br />

tatsächlich in der Umgebung auftretenden Bewegung unterscheiden, <strong>und</strong><br />

dies selbst dann, wenn die Unterschiede subtil sind.<br />

Indem die Forschenden die speziellen Eigenschaften der visuellen Systeme<br />

mehrerer unterschiedlicher Wirbeltiere miteinander verglichen, erkannten<br />

sie, dass diese Aufgabe logischerweise der Retina selbst zufallen müsste 82 .<br />

Um diese Möglichkeit zu untersuchen, mass das Team die elektrischen<br />

Impulse, die eine Ganglienzelle durchliefen, wenn der isolierten Netzhaut<br />

eines Salamanders oder eines Kaninchens entweder ein gestreiftes Hintergr<strong>und</strong>muster<br />

präsentiert wurde, das sich in zufälliger Weise bewegte <strong>und</strong><br />

so die intakten Bewegungen eines fixierten Auges imitierte, oder derselbe<br />

Hintergr<strong>und</strong>, auf dem ein kontrastreiches gestreiftes Objekt lag. Sie stellten<br />

fest, dass bei der blossen Bewegung des Hintergr<strong>und</strong>s kein Signal in<br />

die Ganglienzellen abgegeben wurde – als fände in diesem Sehfeld überhaupt<br />

keine Bewegung statt. Dasselbe geschah, wenn sich das Objekt <strong>und</strong><br />

der Hintergr<strong>und</strong> in koordinierter Weise bewegten. Wenn sich aber Objekt<br />

<strong>und</strong> Hintergr<strong>und</strong> in einer nicht aufeinander abgestimmten Weise bewegten,<br />

feuerten die neuralen Ganglienzellen <strong>und</strong> zeigten so Bewegung an. 73<br />

Störungen der Sinnes- <strong>und</strong> Körperfunktion


74<br />

Insgesamt schliessen die Forschenden aus diesen Beobachtungen, dass<br />

etwas in der Retina jede festgestellte Bewegung des Hintergr<strong>und</strong>es wirksam<br />

kompensiert. Als sie einige der intervenierenden Neuronen untersuchten,<br />

fanden sie, dass eine Zellklasse „polyaxonal“ ist, d. h. dass diese<br />

Zellen viele Projektionsbereiche des Axons haben, die sowohl ein enges<br />

Gebiet der Retina umfassen, was dem rezeptiven Feld der Zelle entspricht,<br />

als auch ein viel grösseres Gebiet der angrenzenden Retina. Sobald das<br />

polyaxonale Zwischenneuron sowohl im rezeptiven Feld als auch im weiteren<br />

Bereich der Retina eine kohärente Bewegung feststellt, sendet es<br />

einen inhibitorischen Impuls aus, der die Übertragung eines Signals an die<br />

Ganglienzelle blockiert <strong>und</strong> jede wahrgenommene Bewegung wirksam<br />

ausblendet. Falls das Zwischenneuron jedoch nur von einigen Axonen<br />

elektrische Impulse erhält, von anderen aber nicht, wird kein inhibitorisches<br />

Signal abgegeben <strong>und</strong> die retinale Ganglienzelle kann dem Hirn ein<br />

Warnsignal senden, dass sich irgendetwas im visuellen Feld bewegt.<br />

Die Übertragung des Signals vom Auge zum Hirn<br />

Sobald Licht auf der Netzhaut verarbeitet wird, senden retinale Ganglienzellen<br />

elektrische Signale an das corpus geniculatum laterale, CGL des<br />

Thalamus, der diese seinerseits an den primären visuellen Kortex (V1) der<br />

Grosshirnrinde weiterleitet, die erste wichtige Station der visuellen Verarbeitung.<br />

Von dort werden die neuralen Signale an die kortikalen Areale<br />

V2, V3, V4 <strong>und</strong> den mittleren temporalen (MT) Bereich weitergeleitet.<br />

Zwar war die allgemeine Verschaltung des visuellen Systems bereits<br />

bekannt, doch im Jahr 2003 konnte nachgewiesen werden, welchen Einfluss<br />

eine einzige retinale Zelle auf ein einzelnes Neuron im primären<br />

visuellen Kortex hat. Prakash Kara <strong>und</strong> R. Clay Reid von der Harvard Medical<br />

School massen gleichzeitig die elektrische Aktivität von Neuronenpaaren,<br />

einem in der Retina <strong>und</strong> einem im primären visuellen Cortex 83 . Bei<br />

jedem Paar reagierten beide Zellen auf den selben Bereich des Gesichtsfelds<br />

<strong>und</strong> sind über zwei sequentielle Synapsen miteinander verb<strong>und</strong>en,<br />

von denen eine die retinale Ganglienzelle mit einer Relaiszelle im CGL verbindet<br />

<strong>und</strong> die andere diese Zelle an die V1-Zelle selbst anschliesst. Kara<br />

<strong>und</strong> Reid stellten fest, dass ein Aktionspotential einer retinalen Zelle für 3%<br />

der Aktivität des V1-Neurons verantwortlich ist, was darauf hinweist, dass<br />

jede kortikale Zelle von etwa 30 CGL-Neuronen gleichzeitig Inputs erhält.<br />

Im weiteren fand das Team heraus, dass ein einzelnes Aktionspotential in<br />

der Retina mit grösserer Wahrscheinlichkeit im visuellen Kortex exakt


epliziert wird, wenn die retinale Zelle innert 4-9 Millisek<strong>und</strong>en wiederholt<br />

feuert. Diese Verstärkung durch paarweise Aktionspotentiale führt dazu,<br />

dass das visuelle System auf einen starken Input heftig reagiert <strong>und</strong><br />

„störende“ Signale von schwachen visuellen Stimuli auf natürliche Weise<br />

ausfiltern kann.<br />

Kartierung von funktionellen Regionen<br />

in den visuellen Systemen<br />

Obwohl wissenschaftlich erwiesen ist, welche Hirnregionen dafür verantwortlich<br />

sind, dass elektrische Impulse in ein Bild der Aussenwelt umgewandelt<br />

werden, ist immer noch unklar, wie <strong>und</strong> wo die einzelnen Aspekte<br />

der Bildverarbeitung erfolgen. Die Forschung ist weiterhin daran abzuklären,<br />

wie die Struktur der visuellen rezeptiven Felder von einzelnen Neuronen<br />

im <strong>Gehirn</strong> zu den charakteristischen Eigenschaften der visuellen Wahrnehmungen,<br />

also dem Sehen, führt. Zu diesem Thema erscheinen jedes<br />

Jahr viele wissenschaftliche Arbeiten, die jeweils eine spezifische Funktion<br />

einem lokalisierten Bereich im Kortex zuordnen; zwei der diesjährigen<br />

Untersuchungen ragen als besonders interessante Beispiele heraus.<br />

Dass kleine repetitive Segmente des sek<strong>und</strong>ären visuellen (V2) Kortex, so<br />

genannte dünne Streifen, für die Wahrnehmung von Farbe verantwortlich<br />

sind, war bereits bekannt. In diesem Jahr berichteten Daniel J. Felleman<br />

<strong>und</strong> Mitarbeitende vom University of Texas Medical Center in Houston, sie<br />

könnten Gruppen von Zellen unterscheiden, die besonders stark auf verschiedene<br />

Farben reagierten 84 . Beispielsweise reagiere eine Gruppe von<br />

Zellen intensiv, wenn in ihrem Gesichtsfeld gelb vorkomme, eine andere<br />

dagegen reagiere nur schwach auf gelb, jedoch stark auf grün.<br />

Ausserdem stellte das Team fest, dass die Zellgruppen innerhalb der dünnen<br />

Streifen in systematischer Weise angeordnet sind, wobei benachbarte Gruppen<br />

auf ähnliche Farben reagieren. Felleman hebt hervor, die Organisation<br />

der benachbarten Farben widerspiegle, wie wir Farbe wahrnehmen: Zellen,<br />

die auf purpur reagieren liegen nämlich in der Nähe von solchen, die auf rot<br />

<strong>und</strong> blau reagieren; sie sind also weder zufällig angeordnet noch reflektieren<br />

sie die physikalischen Eigenschaften des Lichts, da sonst purpur <strong>und</strong><br />

rot aufgr<strong>und</strong> der Verschiedenheit ihrer Wellenlängen an gegenüberliegenden<br />

Enden des Spektrums zu finden wären. Diese geordnete räumliche<br />

Organisation der Farbwahrnehmung in V2 entspricht dem, was in anderen<br />

Bereichen des visuellen Systems gef<strong>und</strong>en wurde, wo benachbarte Zellen<br />

ebenfalls eng miteinander verwandte Aufgaben <strong>und</strong> Charakteristika haben. 75<br />

Störungen der Sinnes- <strong>und</strong> Körperfunktion


76<br />

In einer weiteren Kartierungsstudie zeigten Forschende, dass Neuronen<br />

im mittleren temporalen (MT) Bereich des <strong>Gehirn</strong>s, der bekanntlich zur<br />

Verarbeitung von Informationen über Bewegung <strong>und</strong> räumliche Tiefe beiträgt,<br />

auch detailliert darüber Informationen vermitteln, wie dreidimensionale<br />

Objekte in die Umgebung eingebettet sind 85 . Primaten vermögen<br />

innerhalb von etwa h<strong>und</strong>ert Fuss zu unterscheiden, wie weit das eine Auge<br />

von einem bestimmten Gegenstand entfernt ist <strong>und</strong> wie weit das andere.<br />

Zwar nehmen wir diese binokulare Disparität, wie dieser Unterschied<br />

genannt wird, nicht bewusst wahr, doch verwenden Neuronen im visuellen<br />

Kortex diese Information, um Entfernung <strong>und</strong> Tiefe im Gesichtsfeld<br />

abzuschätzen. Jerry D. Nguyenkim <strong>und</strong> Gregory C. DeAngelis von der<br />

Washington University Medical School in St. Louis, Missouri, stellten fest,<br />

dass bestimmte MT-Neuronen aktiv werden, wenn in dieser binokularen<br />

Disparität innerhalb des rezeptiven Felds der Zellen ein Gradient besteht<br />

oder eine Veränderung erfolgt. Mit anderen Worten, diese Neuronen sind<br />

besonders geeignet, die Neigung eines Objekts zu erkennen, etwa die<br />

Ecke eines Bilderrahmens auf einem Pult <strong>und</strong> eine Verdrehung, bei der<br />

die Oberfläche eines Objekts ein wenig auf die eine oder andere Seite<br />

verdreht ist.<br />

Ausserdem, werden einzelne MT-Neuronen, ebenso wie die farbempfindlichen<br />

Neuronen in V2, jeweils vorzugsweise von einem spezifischen Neigungs-<br />

oder Drehwinkel aktiviert. Betrachtet man also einen Bilderrahmen,<br />

der nur ein klein wenig aus der Vertikalen gekippt ist, wird eine<br />

Gruppe von Neuronen aktiviert, befindet sich jedoch die daneben liegende<br />

Fotografie in einer stärkeren Schieflage, so wird eine andere Gruppe<br />

von Neuronen aktiviert.<br />

Die Tatsache, dass das Team eine Selektivität auf Schieflage <strong>und</strong> Neigung<br />

feststellte, ohne dass der visuelle Stimulus in Bewegung war, weist darauf<br />

hin, dass MT bei der Bestimmung der 3-D-Struktur einer Situation ganz<br />

allgemein involviert ist, auch unabhängig von einer Bewegungsanalyse.<br />

Die zirkadiane Uhr stellen<br />

Im Verlauf der letzten paar Jahre haben Wissenschafter in der Retina von<br />

Säugetieren einen neuen Typ von Photorezeptoren entdeckt. Zusätzlich<br />

zu den längst bekannten Stäbchen- <strong>und</strong> Zapfen-Rezeptoren, die für die<br />

visuelle Wahrnehmung verantwortlich sind, gibt es etwa 600 Photorezeptoren,<br />

die Melanopsin, ein photoreaktives Pigment, enthalten. Seit der<br />

Entdeckung dieser neuartigen Photorezeptoren wurde nachgewiesen,


dass die Melanopsin enthaltenden Zellen bei der Verarbeitung von Reaktionen<br />

auf Licht mitwirken, die nicht mit Bildern zusammenhängen;<br />

dazu gehört etwa die Phasenverschiebung des zirkadianen Rhythmus<br />

eines Tieres <strong>und</strong> die durch Licht hervorgerufene Kontraktion der Pupille.<br />

Zwei Forschungsgruppen, die eine unter der Leitung von King-Wai Yau an<br />

der Johns Hopkins University <strong>und</strong> die andere unter John Hogenesch am<br />

Scripps Research Institute <strong>und</strong> dem Genomics Institute der Novartis Research<br />

Fo<strong>und</strong>ation in San Diego, fanden inzwischen unabhängig voneinander<br />

klare Hinweise, dass die Stäbchen- <strong>und</strong> Zapfen- sowie die Melanopsin-Photorezeptor-Systeme<br />

die einzigen sind, die es in der Retina gibt <strong>und</strong><br />

gemeinsam für sämtliche durch Licht bedingten Verhaltensweisen verantwortlich<br />

sind 86, 87 .<br />

Mittels Gentechnik schalteten beide Teams das Melanopsin-Gen <strong>und</strong><br />

damit die spezialisierten Photorezeptoren aus. Unter diesen Bedingungen<br />

zeigte sich, dass die Stäbchen- <strong>und</strong> Zapfen-Photorezeptoren die Funktion<br />

des Melanopsin-Rezeptors kompensieren können, indem sie als Ersatzsystem<br />

die nicht-visuellen Reaktionen auf Licht steuern.<br />

Als die Forschenden anschliessend eine Mutation erzeugten, die bei diesen<br />

Tieren mit fehlendem Melanopsin auch das Stäbchen- <strong>und</strong> Zapfensystem<br />

beeinträchtigte, stellten sie fest, dass die Tiere praktisch überhaupt<br />

nicht mehr auf Licht reagierten. Ihre Aktivitätszyklen verkürzten sich auf<br />

etwas weniger als 24 St<strong>und</strong>en, was für Mäuse typisch ist, die in konstanter<br />

Dunkelheit gehalten werden. Hielt man sie unter zyklischem Lichtbedingungen<br />

mit 8 St<strong>und</strong>en Licht <strong>und</strong> 16 St<strong>und</strong>en Dunkelheit, waren die Tiere<br />

zu zufälligen Zeiten aktiv; Wildtyp-Mäuse, bei denen eines der beiden<br />

Rezeptorsysteme intakt ist, sind unter solchen Bedingungen nur während<br />

der dunklen St<strong>und</strong>en aktiv. Ausserdem zeigten die mutierten Tiere<br />

keinerlei Pupillenreaktion auf Licht, obwohl das neurale System, das eine<br />

Puppillenkontraktion bewirkt, funktionsfähig war.<br />

Bei den einfachsten Systemen ist eine einzelne Funktion jeweils nur einem<br />

Zelltyp zugeordnet. Aber anstatt den einfachsten Weg einzuschlagen,<br />

versah die Evolution das visuelle System mit einem eleganteren <strong>und</strong><br />

widerstandsfähigeren System <strong>und</strong> fügte in den Ablauf eine gewisse<br />

Red<strong>und</strong>anz sowie Funktionen ein, die einander ergänzen.<br />

Störungen der Sinnes- <strong>und</strong> Körperfunktion<br />

77


Stammzellen<br />

<strong>und</strong> Neurogenese<br />

Stammzellen-Debatte: Pluripotenz oder Verschmelzung 80<br />

Neues „Stemness“-Gen identifiziert 82<br />

Antidepressiva <strong>und</strong> Neurogenese im <strong>Gehirn</strong> 82<br />

79


80<br />

Der Nachweis, dass es Stammzellen (unreife Zellen, die sich theoretisch<br />

zu jedem Zelltyp entwickeln können) bei Erwachsenen gibt, hat Hoffnungen<br />

geweckt, dass diese Zellen zur Behandlung vieler Krankheiten,<br />

einschliesslich degenerativer Erkrankungen des Nervensystems verwendet<br />

werden können. Dadurch liessen sich sowohl die ethischen Probleme<br />

vermeiden, die mit der Verwendung von Zellen von Embryonen verb<strong>und</strong>en<br />

sind als auch Probleme der Gewebeabstossung bei Transplantaten<br />

von tierischen Zellen.<br />

Stammzellen-Debatte: Pluripotenz oder Verschmelzung<br />

Untersuchungen der letzten Jahre weisen auf eine hohe Anpassungsfähigkeit<br />

von Stammzellen, die so genannte Pluripotenz, hin <strong>und</strong> zeigen, dass<br />

dem Knochenmark entnommene Zellen, Lebergewebe wieder besiedeln<br />

oder Neuronen im <strong>Gehirn</strong> generieren können. Die Forschung hat jedoch<br />

eine neue Wende genommen, denn verschiedene Berichte stellen die<br />

Idee der Pluripotenz in Frage <strong>und</strong> nehmen an, dass Stammzellen zwar verschiedene<br />

Gewebearten hervorbringen können, dass sie dies aber durch<br />

die Verschmelzung mit bestehenden Zellen des Gewebes tun <strong>und</strong> nicht<br />

durch einen geänderten Verlauf ihrer eigenen Differenzierung. Mehrere<br />

Untersuchungen stützen diese neue Vorstellung. So wurden etwa „hämatopoetische“<br />

Stammzellen oder Blutzellen produzierende Stammzellen<br />

aus dem Knochenmark transplantiert <strong>und</strong> Spuren dieser Zellen im Lebergewebe<br />

gef<strong>und</strong>en. Anfangs 2003 erbrachte ein Team den Nachweis, dass<br />

dies über den Weg der Zellverschmelzung <strong>und</strong> nicht der Pluripotenz<br />

erfolgt. Die Forschenden untersuchten das Gewebe von Mäusen mit<br />

einer Lebererkrankung, die Knochenmarktransplantate erhalten hatten.<br />

Die Analyse ergab, dass sowohl Zellen mit der genetischen Signatur der<br />

Spendermäuse als auch solche der Empfänger die geschädigte Leber wieder<br />

besiedelten. Zudem wiesen die Leberzellen der Empfängermäuse,<br />

alles Männchen, sowohl X als auch Y Chromosomen auf, was anzeigt, dass<br />

es sich bei den neuen Zellen um ein zusammengesetztes Produkt der<br />

hämatopoetischen Stammzellen (hematopoietic stem cells, HSC) der<br />

weiblichen Spender <strong>und</strong> der Empfänger handelte 88 .<br />

Diese auf einem überzeugenden Bericht von Ende 2002 in Science beruhenden<br />

Ergebnisse stellen die Theorie in Frage, wonach HSC die Fähigkeit<br />

haben, sich in andere Zelltypen zu verwandeln. In dieser Untersuchung<br />

transplantierten die Forschenden Mäusen, bei denen die Bildung von Blutzellen<br />

durch Bestrahlung verhindert worden war, eine einzelne hämatopoetische<br />

Stammzelle; diese wurde einem Stamm von Spendermäusen


entnommen, der gentechnisch so verändert worden war, dass die Tiere in<br />

all ihren Genen ein grün fluoreszierendes Protein exprimierten. Als die<br />

Forschenden bei den Empfängermäusen nach Anzeichen des grünen Proteins<br />

suchten, stellten sie fest, dass, obwohl die einzelne Stammzelle die<br />

Blutzellen der bestrahlten Tiere regeneriert hatte, in anderen Geweben<br />

keine Spur des grünen Proteins zu finden war. In einem verwandten Experiment<br />

mit Mäusen, deren Blutversorgung durch einen chirurgischen Eingriff<br />

zusammengeschlossen worden war, wurden grün-markierte Blutzellen<br />

der Spendermaus den Blutzellen des Empfängers eingepflanzt, aber<br />

auch in diesem Fall stellte man in anderen Geweben keinen entsprechenden<br />

„Chimärismus“ fest 89 .<br />

Im Februar 2003 zeigte eine weitere Untersuchung, dass Knochenmarkzellen<br />

in spezifische Neuronen, die so genannten Purkinje Zellen, im<br />

menschlichen <strong>Gehirn</strong> inkorporiert werden können. Die Forschenden<br />

untersuchten Hirngewebe, das bei der Autopsie von weiblichen Leukämiekranken<br />

entnommen worden war, die Knochenmarktransplantate von<br />

männlichen Spendern erhalten hatten. Da Purkinje Neuronen gross sind<br />

<strong>und</strong> eine eindeutige Form aufweisen, liessen sich ihre Kerne leicht auf das<br />

Vorhandensein von Chromosomen des anderen Geschlechts überprüfen.<br />

Das Team fand vier Neuronen, die sowohl ein X- als auch ein Y-Chromosom<br />

enthielten <strong>und</strong> zwei weitere mit mehr als der üblichen Anzahl an<br />

Chromosomen. Zwar scheint die Zahl klein zu sein, doch betonen die Forschenden,<br />

jegliches Vorkommen sei überraschend, da zuvor noch nie<br />

etwas Ähnliches dokumentiert worden war. Sie kamen zum Schluss, dass<br />

zwei Erklärungen möglich waren: Entweder hatten sich Stammzellen vom<br />

Knochenmark – die einzig mögliche Quelle des falsch zugeordneten Chromosoms<br />

– in neue Purkinje Neuronen verwandelt, oder die Stammzellen<br />

hatten sich mit den Neuronen verschmolzen. In einer solchen Verschmelzung<br />

liegt ein therapeutisches Potential. Es ist nicht bekannt, dass sich Purkinje<br />

Neuronen, die für Funktionen wie Gleichgewicht <strong>und</strong> Bewegung<br />

eine Schlüsselfunktion ausüben, im adulten <strong>Gehirn</strong> reproduzieren; ihr<br />

Untergang führt zu verschiedenen charakteristischen Erkrankungen wie<br />

der Bewegungsstörung Ataxie, zu alkoholischer Demenz, bekannt als<br />

Wernicke-Korsakoff-Syndrom, <strong>und</strong> zu Prionenerkrankungen, etwa den<br />

Creutzfeldt-Jakob Erkrankungen 90 .<br />

Insgesamt weisen die Untersuchungen darauf hin, dass Zellverschmelzung<br />

der Weg ist, über den Stammzellen verschiedene Gewebearten wieder<br />

besiedeln. Diese Erkenntnis vermindert den therapeutischen Wert von 81<br />

Stammzellen <strong>und</strong> Neurogenese


82<br />

Stammzellen nicht, zeigt indessen, dass sich Wissenschafter mit neuen<br />

Gr<strong>und</strong>sätzen vertraut machen müssen, um dieses Potential therapeutisch<br />

zu nutzen. Ausserdem könnte Zellverschmelzung die Anwendungsmöglichkeiten<br />

von Stammzellen erweitern, einschliesslich jener, eine geschädigte<br />

Zelle durch Zufuhr von vollständigen, ges<strong>und</strong>en Chromosomen zu „retten“.<br />

Neues „Stemness“-Gen identifiziert<br />

Um Stammzellen in einen gewünschten Zelltyp zu transformieren, muss<br />

man die Signale, die die Zelldifferenzierung steuern, kennen <strong>und</strong> verstehen.<br />

Im Mai 2003 identifizierten Forschende einen neuen genetischen<br />

Faktor, der embryonale Stammzellen dazu bringt, sich zu teilen <strong>und</strong> gleichzeitig<br />

verhindert, dass sie sich ausdifferenzieren. Da dieser Faktor Zellen in<br />

ihrem unreifen Zustand bewahrt, nannten ihn die in Schottland beheimateten<br />

Forschenden Nanog, dies nach Tir nan Og, dem Land der Jugend in<br />

der keltischen Mythologie. Das Team nimmt an, Nanog könnte eines von<br />

einer ganzen Gruppe von „Stemness“-Genen sein; weitere Forschungsarbeiten<br />

sind notwendig um zu ermitteln, ob es bei der Pluripotenz eine<br />

Rolle spielt <strong>und</strong> ob es einzig bei embryonalen Stammzellen vorkommt.<br />

Ausserdem könnte es nun, nachdem Nanog identifiziert wurde, möglich<br />

sein, jene Gene genau zu bestimmen, auf die es einwirkt – dies würde Wissenschafter<br />

in die Lage versetzen, Stammzellen so zu animieren, dass sie<br />

auf dem gewünschten Weg der Ausdifferenzierung bleiben 91 .<br />

Antidepressiva <strong>und</strong> Neurogenese im <strong>Gehirn</strong><br />

Die Wissenschaft ist dabei, das Potential der Neurogenese – die Geburt<br />

von neuen Neuronen im adulten <strong>Gehirn</strong> – zur Behandlung jener Krankheiten<br />

nutzbar zu machen, bei denen es zum Untergang von Hirnzellen<br />

kommt, etwa der Alzheimerschen <strong>und</strong> der Parkinsonschen Krankheit.<br />

Neurogenese könnte aber auch bei Erkrankungen eine Rolle spielen, die<br />

nicht so offensichtlich mit dem Verlust von Hirnzellen zusammenhängen.<br />

Die Forschung deutet darauf hin, dass Depression teilweise auf der Abwesenheit<br />

von Neurogenese in Hirnregionen beruht, in denen sie normalerweise<br />

vorkommt; Untersuchungen an Tieren zeigen, dass Antidepressiva<br />

dadurch wirksam sein könnten, dass sie das Wachstum neuer Hirnzellen<br />

anregen. Ein in der Ausgabe vom 8. August 2003 in Science erschienener<br />

Bericht gibt einen ersten Hinweis darauf, dass eine durch Antidepressiva<br />

ausgelöste Neurogenese zur Heilung einer Depression führen könnte. Die<br />

Forschenden verwendeten einen Standardtest <strong>und</strong> zeigten einer Gruppe<br />

von hungrigen Mäusen eine Schüssel mit Futterkörnern unter einem hellen<br />

Licht, das Mäuse gewöhnlich zu meiden trachten. Mäuse, die sich trotz


ihres Hungers nicht ans Licht wagen, gelten als Tiere mit einer für Mäuse<br />

charakteristischen Angst oder Depression. Eine vierwöchige Behandlung<br />

mit Fluoxetin (Prozac) oder einer anderen Klasse von Antidepressiva<br />

brachte die Mäuse dazu, Mut zu fassen <strong>und</strong> ihre hell erleuchteten Mahlzeiten<br />

zu essen; bei diesen Mäusen nahm auch die Zahl der sich teilenden<br />

Zellen im Hippocampus um 60% zu, einer Verbindungsstelle von Gedächtnis<br />

<strong>und</strong> räumlicher Orientierung <strong>und</strong> einem Bereich, in dem Neurogenese<br />

stattfindet. In der nächsten Phase des Experiments wurden die Mäuse<br />

Röntgenstrahlen exponiert, wodurch die sich teilenden Zellen, also<br />

Stammzellen <strong>und</strong> neuronale Vorläuferzellen, die sich zu neuen Neuronen<br />

entwickeln, vernichtet wurden. Diesmal führte dieselbe Behandlung nicht<br />

zur Neurogenese <strong>und</strong> die Mäuse blieben so ängstlich wie zuvor, was deutlich<br />

darauf hinweist, dass die Antidepressiva die Entstehung neuer Zellen<br />

ausgelöst hatten <strong>und</strong> dass diese Neurogenese das Verhalten <strong>und</strong> (so die<br />

Folgerung) die Stimmung der Tiere veränderte. Zwar könnte eine Bestrahlung<br />

neben der Zerstörung von sich teilenden Zellen auch andere Auswirkungen<br />

auf das <strong>Gehirn</strong> haben, doch erbringt die Untersuchung den ersten<br />

überzeugenden Hinweis auf Ursache <strong>und</strong> Wirkung. Wenn wir Depression<br />

als ein Ausbleiben der Neurogenese <strong>und</strong> nicht nur als Ungleichgewicht<br />

der Hirnchemie betrachten, könnte dies das Verständnis dieser Krankheit<br />

vertiefen <strong>und</strong> zu besseren Behandlungsmöglichkeiten führen 92 .<br />

Stammzellen <strong>und</strong> Neurogenese<br />

83


Denk- <strong>und</strong><br />

Erinnerungsstörungen<br />

Veränderungen in der<br />

Therapie der Alzheimerschen Krankheit 86<br />

Bildgebung <strong>und</strong> Gedächtnis 88<br />

Die normale Gedächtnistätigkeit verstehen 90<br />

85


86<br />

Es ist zu erwarten, dass die Zahl der Amerikaner, die an der Alzheimerschen<br />

Krankheit (Alzheimer’s disease, AD) leiden, von 4,5 Millionen<br />

im Jahr 2000 auf 13 Millionen im Jahr 2050 ansteigen wird, falls nicht neue<br />

Möglichkeiten gef<strong>und</strong>en werden, diese Krankheit zu verhindern oder zu<br />

behandeln; zu diesem Schluss kommt ein Bericht, der 2003 von Denis<br />

Evans <strong>und</strong> Mitarbeitenden am Rush Institute on Healthy Aging in Chicago<br />

veröffentlicht wurde 93 . Die meisten AD-Forschenden sind jedoch weiterhin<br />

optimistisch, dass neue Strategien verhindern werden, dass die Krankheit<br />

einen derart grossen Tribut fordert.<br />

Bereits im Verlauf des Jahres 2003 wurde ein neues Medikament zur<br />

Behandlung der Alzheimerschen Krankheit zugelassen <strong>und</strong> das Verständnis<br />

der normalen Gedächtnisfunktion <strong>und</strong> seiner Störungen nimmt weiterhin<br />

zu.<br />

Veränderungen in der<br />

Therapie der Alzheimerschen Krankheit<br />

Am 24. September empfahl die für Medikamente des peripheren <strong>und</strong> zentralen<br />

Nervensystems zuständige beratende Kommission der amerikanischen<br />

Arzneimittelbehörde FDA, Memantin zur Behandlung der leichten<br />

bis schweren AD (siehe auch das Kapitel „Neuroethik“, S. 49) zuzulassen<br />

94 . Es wird das erste in den USA erhältliche Medikament zur Behandlung<br />

der fortgeschrittenen Alzheimerschen Krankheit sein.<br />

Memantin steht für eine völlig neue Klasse von Medikamenten zur<br />

Behandlung der AD. Bei allen vier bisher auf dem Markt befindlichen<br />

Medikamenten handelt es sich um Cholinesterase Inhibitoren, einschliesslich<br />

Donepezil (mit dem Handelsnamen Aricept). Schon früh im<br />

Verlauf der AD nimmt das im <strong>Gehirn</strong> vorhandene Acetylcholin ab, ein<br />

für die Signalübertragung zwischen gewissen Neuronen im <strong>Gehirn</strong> notwendiger<br />

Neurotransmitter; die Cholinesterase Inhibitoren wirken diesem<br />

Defizit dadurch entgegen, dass sie den Abbau von Acetylcholin verlangsamen<br />

<strong>und</strong> so die Verfügbarkeit des Neurotransmitters vorübergehend<br />

erhöhen. Im Gegensatz dazu wirkt Memantin auf eine andere Untergruppe<br />

von Neuronen ein, die durch den Neurotransmitter Glutamat<br />

stimuliert werden. Abnorm hohe Glutamatspiegel, wie sie bei einigen<br />

degenerativen Erkrankungen des Nervensystems, einschliesslich der AD,<br />

vorkommen, können die Neuronen zerstören. Memantin verhindert diesen<br />

Zelltod, indem es die NMDA-Rezeptoren (N-Methyl-D-Aspartate), an die<br />

Glutamat bindet, blockiert.


In einer der drei Studien, die vom Beratungskomitee der FDA geprüft wurden,<br />

hatten Pierre Tariot vom University of Rochester Medical Center <strong>und</strong><br />

seine Mitarbeitenden festgestellt, dass die Kombination von Memantin<br />

<strong>und</strong> Donepezil zur Behandlung von Kranken mit moderater bis schwerer<br />

AD wirksamer war als Donepezil allein 95 . In dieser Untersuchung hatte<br />

man 403 Patienten mit moderater bis schwerer AD, die seit mindestens<br />

sechs Monaten mit Donepezil behandelt worden waren, zufällig einer von<br />

zwei Untersuchungsgruppen zugeteilt. Eine Patientengruppe bekam täglich<br />

Donepezil <strong>und</strong> Memantin, während Patienten der zweiten Gruppe<br />

Donepezil <strong>und</strong> eine Placebo-Tablette erhielten, die ähnlich aussah wie<br />

Memantin, aber keine Wirkstoffe enthielt. Während der 24 Wochen dauernden<br />

Studie wussten weder die Kranken noch ihre Ärzte, wer Placebo<br />

<strong>und</strong> wer Memantin erhielt. Bei Abschluss der Untersuchung hatten sich<br />

die kognitiven Fähigkeiten der Kranken, die beide Medikamente erhalten<br />

hatten, im Vergleich zu denen, die die Placebo-Kombination eingenommen<br />

hatten, statistisch signifikant verbessert. Bei den Kranken mit der<br />

Kombinationstherapie hatte auch die Fähigkeit, tägliche Aufgaben zu<br />

bewältigen, etwa sich selbst anzuziehen, weniger abgenommen.<br />

Im Gegensatz zu den erfolgreichen Versuchen mit Memantin, war der allererste<br />

klinische Versuch mit einer Impftherapie gegen AD anfangs 2002<br />

vorzeitig abgebrochen worden, da 17 von 300 Kranken Symptome einer<br />

Meningoenzephalitis, einer Entzündung des <strong>Gehirn</strong>s <strong>und</strong> des angrenzenden<br />

Gewebes, entwickelt hatten 96 . Im April 2003 veröffentlichten James<br />

Nicoll <strong>und</strong> Mitarbeitende von der Universität Southampton, Grossbritannien,<br />

die Ergebnisse der Autopsie eines Patienten, der nach der Behandlung<br />

mit dem Impfstoff AN-1792 an Meningoenzephalitis erkrankt war 97 .<br />

Nicoll’s Team stellte fest, dass bei diesem Patienten ganze Bereiche der<br />

Grosshirnrinde frei von Plaques waren, was man im <strong>Gehirn</strong> von unbehandelten<br />

Patienten in einem vergleichbaren Stadium der AD nie gesehen<br />

hatte. Allerdings wiesen dieselben Hirnregionen dennoch andere mit AD<br />

zusammenhängende Pathologien auf, etwa Alzheimer Fibrillen (neurofibrillary<br />

tangles); somit hatten die durch den Impfstoff induzierten Antikörper<br />

zwar beta-amyloides (ßA) Protein beseitigt, jedoch nicht das<br />

ganze potentiell schädigende Material aufgelöst. Forschende auf diesem<br />

Gebiet betonen, dass dies ein besonders wichtiger Punkt sei; bisher steht<br />

nämlich nicht fest, ob ßA Plaques den kognitiven Verfall verursachen oder<br />

mit ihm bloss in einer nicht ursächlichen Weise zusammenhängen. Selbst<br />

wenn also die Behandlung mit einem Impfstoff die gesamten ßA Plaques 87<br />

Denk- <strong>und</strong> Erinnerungsstörungen


88<br />

beseitigen würde, könnte sie möglicherweise die normale Gedächtnisleistung<br />

nicht wiederherstellen.<br />

Bezeichnenderweise ergab die Autopsie auch Hinweise auf eine schädigende<br />

Immunreaktion. Der Impfstoff scheint nicht nur die Produktion von<br />

Antikörpern ausgelöst sondern auch eine Reaktion der T-Zellen hervorgerufen<br />

zu haben, was zu einer Entzündung führt <strong>und</strong> den kognitiven Verfall<br />

des Kranken beschleunigte. (Für weitere follow-up Untersuchungen, vgl.<br />

das Kapitel „Neuroimmunologische Erkrankungen“, S. 26.)<br />

Aufgr<strong>und</strong> dieser verschiedenartigen Ergebnisse – offensichtliche Beseitigung<br />

der Plaques <strong>und</strong> durch den Impfstoff induzierte Schädigung –<br />

sind viele in diesem Bereich Forschende der Ansicht, man müsse die<br />

immuntherapeutischen Schemata zwar anpassen, jedoch nicht völlig aufgeben<br />

98, 99 . Eine Möglichkeit besteht darin, von einer aktiven Impfung, bei<br />

der dem Patienten ein Protein injiziert wird, das sein eigenes Immunsystem<br />

stimuliert, wie dies bei AN-1792 der Fall war, zu einer passiven Therapie zu<br />

wechseln, bei der einem Patienten bereits produzierte Antikörper verabreicht<br />

werden, die das schädigende Agens erkennen. Die Hoffnung bei<br />

einer solchen passiven Immunisierung ist, die Vorteile der durch Antikörper<br />

induzierten Beseitigung der ßA Plaques zu erlangen, ohne jedoch die<br />

eine Entzündung induzierende zelluläre Immunreaktion zu aktivieren. Verschiedene<br />

Untersuchungen zeigen, dass die passive Immunisierung mit<br />

Antikörpern gegen ßA die Plaques im <strong>Gehirn</strong> von Mäusemodellen der AD<br />

zu beseitigen vermag 100 .<br />

Bildgebung <strong>und</strong> Gedächtnis<br />

Eine der Schwierigkeiten, Behandlungen der AD zu entwickeln besteht<br />

darin, dass wir die Pathophysiologie dieser Krankheit noch nicht ganz verstehen.<br />

Allerdings wurden in den letzten Jahren die bildgebenden Verfahren<br />

verbessert, dank denen Ärzte <strong>und</strong> Ärztinnen sehen können, was im<br />

<strong>Gehirn</strong> von Demenzkranken vor sich geht, <strong>und</strong> die Forschenden beginnen<br />

nun, die einzelnen Schritte des Krankheitsprozesses aufzudecken.<br />

In einer solchen Untersuchung verwendeten Reisa Sperling <strong>und</strong> Mitarbeitende<br />

von der Universität Harvard das bildgebende Verfahren der<br />

funktionellen Magnetresonanz (functional magnetic resonance imgaging;<br />

fMRI), bei dem der Blutfluss im <strong>Gehirn</strong> dargestellt wird, um herauszufinden,<br />

wie sich die Hirnaktivität von Kranken mit leichter AD von der<br />

junger <strong>und</strong> älterer ges<strong>und</strong>er Kontrollpersonen unterscheidet, während sie


assoziative Gedächtnisaufgaben lösen 101 . Man zeigte den Leuten eine<br />

Reihe von Gesichtern, wobei unter jeder Fotografie in leicht lesbarer<br />

Schrift ein Vorname stand <strong>und</strong> stellte ihnen die Aufgabe, sich den zum<br />

jeweiligen Gesicht gehörenden Namen zu merken. Während sich die<br />

Patienten die Fotografien ansahen, machte der MRI-Apparat Bilder ihres<br />

<strong>Gehirn</strong>s. Durch den Vergleich der Bilder, können die Forschenden feststellen,<br />

welcher Teil des <strong>Gehirn</strong>s bei einer bestimmten Aufgabe tätig ist<br />

<strong>und</strong> herausfinden, ob diese Aktivität bei den verschiedenen Versuchsgruppen<br />

mit gleicher Intensität <strong>und</strong> am selben Ort auftritt.<br />

Im Vergleich zur älteren Kontrollgruppe wurde bei AD-Kranken eine signifikant<br />

verminderte Aktivität in der Region des Hippokampus festgestellt.<br />

Eine Vermutung ist, diese Reduktion beruhe zum Teil auf dem mit dem<br />

Fortschreiten der Krankheit einhergehenden Verlust von Neuronen des<br />

Hippokampus. Allerdings liessen sich weitere Unterschiede erkennen, die<br />

zudem auf eine Fehlfunktion der verbleibenden Neuronen hinweisen.<br />

Demgegenüber fanden die Forschenden, beim Vergleich der Hirnaktivität<br />

von jungen <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>en älteren Kontrollpersonen, dass die Aktivität im<br />

Hippokampus ähnlich war, wobei sie allerdings bei jungen Personen symmetrischer<br />

<strong>und</strong> über ein etwas grösseres Gebiet verteilt auftrat. Diese beiden<br />

Gruppen unterschieden sich in Bezug auf das Ausmass der Aktivität<br />

im präfrontalen Kortex <strong>und</strong> in der parietalen Region. Aufgr<strong>und</strong> all dieser<br />

Ergebnisse kommen die Forschenden zum Schluss, der während des normalen<br />

Alterns auftretende Gedächtnisverlust habe eine andere Ursache<br />

als der bei AD auftretende. Allerdings mahnen sie zur Vorsicht, da ihre<br />

Untersuchung mit nur 27 Personen klein war <strong>und</strong> eindeutige Schlüsse erst<br />

aufgr<strong>und</strong> einer grösseren Studie gezogen werden können.<br />

Um solche Projekte zu fördern, kündigte das National Institute on Aging im<br />

Jahr 2003 eine neue Initiative an, welche Untersuchungen an Kranken mit<br />

einer leichten kognitiven Störung (mild cognitive impairment; MCI) <strong>und</strong><br />

AD sowie an ges<strong>und</strong>en Kontrollpersonen mittels bildgebenden Verfahren<br />

unterstützen soll. Die Initiative wird durch öffentliche <strong>und</strong> private Mittel<br />

finanziert. Sämtliche gesammelten Informationen, sowohl das Bildmaterial<br />

als auch die Blut- <strong>und</strong> Liquorproben sollen so rasch wie möglich allen interessierten<br />

Forschergruppen zugänglich gemacht werden.<br />

Im Zuge dieser Initiative werden Wissenschafter in r<strong>und</strong> 25 über die ganzen<br />

USA verteilten klinischen Institutionen 150 Patienten im Anfangsstadium<br />

der AD, 350 Personen mit einer leichten kognitiven Behinderung 89<br />

Denk- <strong>und</strong> Erinnerungsstörungen


90<br />

(MCI) <strong>und</strong> 150 ges<strong>und</strong>e Kontrollpersonen evaluieren <strong>und</strong> untersuchen.<br />

Die Teilnehmenden werden alle drei Monate einer Positronen-Emissionstomographie<br />

(PET) <strong>und</strong> dem bildgebenden Verfahren der Magnetresonanz<br />

(magnetic resonance imgaging; MRI) unterzogen. Die Forschenden<br />

werden die MCI-Kranken <strong>und</strong> die ges<strong>und</strong>en Kontrollpersonen während<br />

drei, die AD-Kranken während zwei Jahren verfolgen.<br />

Zusätzlich zu den PET <strong>und</strong> MRI-Scans werden im Liquor potentielle Biomarker<br />

wie Serumproteine <strong>und</strong> die Konzentration des Beta-Amyloid-Proteins<br />

bestimmt, um sowohl dem biologischen Krankheitsverlauf als auch<br />

diagnostischen <strong>und</strong> prognostischen Markern auf die Spur zu kommen.<br />

PET-Bildgebung misst die Menge der in verschiedenen Hirnregionen vorhandenen<br />

Glukose <strong>und</strong> bildet die Stoffwechselaktivität im ganzen <strong>Gehirn</strong><br />

ab. Es ist bereits bekannt, das AD-Patienten in einigen Hirnregionen eine<br />

herabgesetzte Stoffelwechseltätigkeit aufweisen; aufgr<strong>und</strong> der geplanten<br />

Longitudinalstudie, die Patienten über längere Zeit hinweg verfolgt, wird<br />

man bestimmen können, wann solche Veränderung in Bezug auf kognitive<br />

Einbussen auftreten. MRI dagegen, vermittelt ein anatomisches Bild des<br />

<strong>Gehirn</strong>s. Im Verlauf der AD verringern sich der Umfang der Grosshirnrinde<br />

<strong>und</strong> des Hippokampus, die für Gedächtnis <strong>und</strong> Lernen wichtig sind. Aber<br />

auch hier gilt, dass zurzeit nicht bekannt ist, wie diese Veränderungen mit<br />

den kognitiven Leistungen korreliert sind; wir wissen nicht einmal, ob die<br />

Reduktion der Hirnsubstanz dem Gedächtnisverlust vorausgeht oder auf<br />

ihn folgt.<br />

Die neue Initiative wird es den Forschenden ermöglichen, den natürlichen<br />

Verlauf der Krankheit zu verfolgen <strong>und</strong> darüber hinaus die Wirkungen verschiedener<br />

potentieller Medikamente <strong>und</strong> Interventionen zu untersuchen.<br />

Möglicherweise vermag ein neues Medikament die im <strong>Gehirn</strong> eines AD-<br />

Patienten auftretenden Veränderungen rückgängig zu machen oder zu<br />

verlangsamen, ohne unmittelbar kognitive Verbesserungen zu induzieren.<br />

In diesem Fall wären Verfahren zur Bestimmung anatomischer Veränderungen,<br />

was durch die Initiative realisiert werden soll, für die Entwicklung<br />

von Medikamenten besonders wichtig.<br />

Die normale Gedächtnistätigkeit verstehen<br />

Forschende, welche die durch die Demenz bedingten Gedächtnisstörungen<br />

untersuchen, wollen auch wissen, wie das normale Gedächtnis<br />

zustande kommt. Im Jahr 2003 gab es diesbezüglich mehrere wichtige<br />

Bef<strong>und</strong>e, einschliesslich einer Reihe von Untersuchungen, die neue


Einsichten in die Rolle des Hippokampus bei der Bildung <strong>und</strong> Abfrage von<br />

Gedächtnisinhalten brachten.<br />

Larry Squire <strong>und</strong> seine Kollegen an der University of California, San Diego,<br />

<strong>und</strong> am San Diego Veteran’s Affairs Medical Center konnten aufgr<strong>und</strong><br />

ihrer Untersuchung an Amnesiepatienten verschiedene, seit langem<br />

bestehende Fragen beantworten, welche die Rolle des Hippokampus <strong>und</strong><br />

der angrenzenden Hirnregionen, etwa der entorhinalen, perirhinalen <strong>und</strong><br />

parahippocampalen Kortizes bei der Kodierung <strong>und</strong> Abfrage des Gedächtnisses<br />

betreffen. So wurde etwa vermutet, die kortikalen Bereiche r<strong>und</strong><br />

um den Hippokampus reichten aus, um einen Gegenstand als bekannt<br />

oder unbekannt einzuordnen, dass jedoch für die komplexere Aufgabe,<br />

sich daran zu erinnern woher man einen Gegenstand kennt, die Tätigkeit<br />

des Hippokampus nötig sei 102 . Zur Prüfung dieser Hypothese untersuchte<br />

die Gruppe von Squire sieben Amnesiepatienten, deren neurale Schädigung<br />

auf den Hippokampus selbst beschränkt war <strong>und</strong> sich nicht auf die<br />

angrenzenden Kortizes erstreckte. Squires Team zeigte den Patienten eine<br />

Reihe von Gegenständen <strong>und</strong> fragte zuerst, ob sie diese erkannten <strong>und</strong><br />

dann, ob sie sich erinnern könnten, woher sie sie kannten. Die Kranken<br />

schnitten bei beiden Aufgaben gleich schlecht ab, was darauf hinweist,<br />

dass der Hippokampus sowohl für die gr<strong>und</strong>legende Aufgabe, ein Objekt<br />

zu erkennen notwendig ist als auch für die komplexere, sich zu erinnern,<br />

woher man ihn kennt.<br />

In zwei nachfolgenden Untersuchungen, in denen ebenfalls Amnesiepatienten<br />

getestet wurden, konnte das Team die Rolle des Hippokampus<br />

näher eingrenzen. Neurobiologen sind sich einig, dass die Tätigkeit des<br />

Hippokampus für die Kodierung episodischer Gedächtnisinhalte (Erinnerungen<br />

an Ereignisse, die mit einem bestimmten Ort <strong>und</strong> einer bestimmten<br />

Zeit verknüpft sind) nötig ist, aber es war weniger klar, ob das semantische<br />

Gedächtnis (Erinnerungen an Sachinformationen, etwa den Namen des<br />

Präsidenten oder die Hauptstadt von Süddakota) auch auf dem Hippokampus<br />

beruht. Als die Forschenden Amnesiepatienten über Sachinformationen<br />

befragten, die entweder vor oder nach dem Insult aufgetreten<br />

waren, stellte das Team fest, dass sich die Patienten an lange vor dem Insult<br />

gespeicherte Informationen erinnern konnten, aber nach dem Insult im<br />

Vergleich zu ges<strong>und</strong>en Kontrollpersonen signifikant weniger Sachinformationen<br />

aufgenommen hatten 103 . Dies weist darauf hin, dass die Kodierung<br />

<strong>und</strong> Erinnerung des semantischen Gedächtnisses den Hippokampus erfordert,<br />

dass aber das Altgedächtnis unabhängig von ihm besteht. Ähnlich 91<br />

Denk- <strong>und</strong> Erinnerungsstörungen


92<br />

werden autobiographische Erinnerungen zwar ursprünglich durch den<br />

Hippokampus kodiert, doch werden diese Gedächtnisinhalte, wie Squires<br />

Gruppe feststellte, schliesslich ausserhalb des Hippokampus gespeichert<br />

<strong>und</strong> können auch ohne ihn abgerufen werden 104 .<br />

Die Fachleute sind sich zwar einig, dass zwischen den verschiedenen<br />

Hirnregionen eine Arbeitsteilung bestehen muss, doch zeigen diese<br />

drei Untersuchungen, dass einfache Unterscheidungen, etwa ob man<br />

erkennt, dass einem ein Objekt bekannt ist, bzw. ob man sich erinnert,<br />

woher man diese Information hat, nicht exakt wiedergeben, was in welcher<br />

Hirnregion geschieht.<br />

Man weiss, dass der Hippokampus auch bei der Kodierung von Erinnerungen,<br />

die auf einmaligen Erlebnissen beruhen, eine entscheidende Rolle<br />

spielt; welcher Teil dieser Struktur für die Aneignung einer solchen Erinnerung<br />

nötig ist, war jedoch bis 2003 unklar. Rasches Lernen spielt in unserem<br />

täglichen Leben eine entscheidende Rolle, da die meisten Ereignisse<br />

nur einmal vorkommen; nur so können wir uns daran erinnern, was wir<br />

heute zum Frühstück gegessen oder welche Leute wir bei der gestrigen<br />

Party getroffen haben. Um zu bestimmen, welche Zellen des Hippokampus<br />

für eine solche rasche Aneignung eines Gedächtnisinhalts nötig<br />

sind, untersuchten Susumu Tonegawa <strong>und</strong> Mitarbeitende am Massachusetts<br />

Institute of Technology eine Gruppe von Zellen, die als CA3-Neurone<br />

bezeichnet werden; diese sind nämlich untereinander in Form einer<br />

Schlaufe verb<strong>und</strong>en, was die rasche Verstärkung eines Signals ermöglicht<br />

<strong>und</strong> die Wahrscheinlichkeit erhöhen könnte, dass einmalige<br />

Ereignisse als Erinnerungen kodiert werden. Um diese Möglichkeit<br />

zu überprüfen, wurden gentechnisch veränderte Mäuse verwendet,<br />

denen funktionsfähige NMDA-Rezeptoren in den CA3-Neuronen<br />

fehlten. Ohne diese Rezeptoren sind die Zellen gegenüber dem Neurotransmitter<br />

NMDA unempfindlich <strong>und</strong> können nicht mit ihren Nachbarn<br />

kommunizieren 105 .<br />

Als die Forschenden testeten, ob sich die Tiere in einem Wasserlabyrinth<br />

an den Ort einer unter Wasser gelegenen Plattform erinnern konnten,<br />

stellten sie fest, dass diese in einer raschen Test-Wiederholungstest-<br />

Anordnung signifikant schlechter abschnitten als Kontrolltiere, was impliziert,<br />

dass funktionsfähige CA3-Synapsen für eine rasche Gedächtniskodierung<br />

nötig sind. Die Tiere konnten mit der Zeit lernen, wo sich die<br />

Plattform befand, benötigten dazu aber zahlreiche Trainingsdurchgänge.


Diese Ergebnisse stützen die These, dass die schlaufenförmige Verkabelung,<br />

welche die CA3-Zellen untereinander verbindet, eine rasche<br />

Kodierung von Erinnerungen ermöglicht, <strong>und</strong> dass ohne diese interne<br />

Verstärkung des Signals ein langsamerer Prozess verwendet werden<br />

muss, um sich eine solche Information anzueignen.<br />

Denk- <strong>und</strong> Erinnerungsstörungen<br />

93


Referenzen<br />

1 Steinman L. Multiple sclerosis: a two stage disease. Nature Immunology 2003; 2: 762-765.<br />

2 Pluchino S, Quattrini A, Brambilla E, et al. Injection of adult neurospheres induces recovery in a<br />

chronic model of multiple sclerosis. Nature 2003; 422: 688-694.<br />

3 Mycko MP, Papoian R, Boschert U, et al. cDNA microarray analysis in multiple sclerosis lesions:<br />

detection of genes associated with disease activity. Brain 2003; 126: 1048-1057.<br />

4 Robinson WH, Fontoura P, Lee BJ, et al. Protein microarrays guide tolerizing DNA vaccine treatment<br />

of autoimmune encephalomyelitis. Nature Biotechnology 2003; 21(9): 1-7.<br />

5 Lehnardt S, Massillon L, Follett P, et al. Activation of innate immunity in the CNS triggers neurodegeneration<br />

through a Toll-like receptor 4-dependent pathway. Proceedings of the National<br />

Academy of Sciences 2003; 100(14): 8514-19.<br />

6 Sjogren M, Gustafsson K, Syversen S, et al. Treatment with simvastatin in patients with<br />

Alzheimer’s disease lowers both alpha- and beta-cleaved amyloid precursor protein. Dementia<br />

and Geriatric Cognitive Disorders 2003; 16(1): 25-30.<br />

7 Kiecolt-Glaser JK, Preacher KJ, MacCallum RC, et al. Chronic stress and age-related increases<br />

in the proinflammatory cytokine IL-6. Proceedings of the National Academy of Sciences 2003;<br />

100(15): 9090-5.<br />

8 Hock C, Konietzko U, Streffer JR, et al. Antibodies against beta-amyloid slow cognitive decline<br />

in Alzheimer’s disease. Neuron 2003; 38(4): 547-54.<br />

9 McLaurin J, Cecal R, Kierstead ME, et al. Therapeutically effective antibodies against amyloid-ß<br />

peptide target amyloid-ß residues 4-10 and inhibit cytotoxicity and fibrillogenesis. Nature<br />

Medicine 2003; 8 : 1263-12.<br />

10 Yeargin-Allsopp M, Rice C, Karapurkar T, Doernberg N, Boyle C, Murphy C. Prevalence of<br />

autism in a US metropolitan area. JAMA 2003 Jan. 1; 289(1): 49-55.<br />

11 Nelson KB, Bauman ML. Thimerosal and autism? Pediatrics 2003 March; 111(3): 674-679.<br />

12 Madsen KM, Lauritsen MB, Pedersen CB, Thorsen P, Plesner AM, Andersen PH, Mortensen PB.<br />

Thimerosal and the occurrence of autism: negative ecological evidence from Danish populationbased<br />

data. Pediatrics 2003 Sept.; 112(3 Pt 1): 604-606.<br />

13 Hviid A, Stellfeld M, Wohlfahrt J, Melbye M. Association between thimerosal-containing vaccine<br />

and autism. JAMA 2003 Oct. 1; 290(13): 1763-1766.<br />

14 Jamain S, Quach H, Betancur C, Rastam M, Colineaux C, Gillberg IC, Soderstrom H, Giros B,<br />

Leboyer M, Gillberg C, Bourgeron T. Mutations of the X-linked genes encoding neurologins<br />

NLGN3 and NLGN4 are associated with autism. Nat. Genet. 2003 May; 34(1): 27-29.<br />

15 Courchesne E, Carper R, Akshoomoff N. Evidence of brain overgrowth in the first year of life in<br />

autism. JAMA 2003 July 16; 290(3): 337-344.<br />

16 Lainhart JE. Increased rate of head growth during infancy in autism. JAMA 2003 July 16;<br />

290(3): 393-394.<br />

17 Turkeltaub PE, Gareau L, Flowers DL, Zeffiro TA, Eden GF. Development of neural mechanisms<br />

for reading. Nature Neuroscience 2003 July; 6(7): 767-773.<br />

18 Shaywitz SE, Shaywitz BA, Fulbright RK, Skudlarski P, Mencl WE, Constable RT, Pugh KR,<br />

Holahan JM, Marchione KE, Fletcher JM, Lyon GR, Gore JC. Neural systems for compensation<br />

and persistence: young adult outcome of childhood reading disability. Biol. Psychiatry 2003<br />

July 1; 54(1): 25-33. 95


96<br />

19 Johnston MV, Alemi L, Harum KH. Learning, memory and transcription factors. Pediatric<br />

Research 2003; 53(3): 369-374.<br />

20 Shevell M, Ashwal S, Donley D, Flint J, Gingold M, Hirtz D, Majnemer A, Noetzel M, Sheth RD.<br />

Practice parameter: evaluation of the child with global developmental delay: report of the<br />

Quality Standards Subcommittee of the American Academy of Neurology and the Practice<br />

Committee of the Child Neurology Society. Neurology 2003 Febr. 11; 60(3): 367-380.<br />

21 See 19 .<br />

22 Jin P, Warren ST. New insights into fragile X syndrome: from molecules to neurobehaviors.<br />

Trends Biochem. Science 2003 March; 28(3): 152-158.<br />

23 American College of Obstetricians and Gynecologists and the American Academy of Pediatrics.<br />

Neonatal Encephalopathy and Cerebral Palsy: Defining the Pathogenesis and Pathophysiology<br />

(Monograph). January 2003.<br />

24 Gill SS, Patel NK, Hotton GR, O’Sullivan K, McCarter R, Bunnage M, Brooks DJ, Svendsen CN,<br />

Heywood P. Direct brain infusion of glial cell line-derived neurotrophic factor in Parkinson<br />

disease. Nat. Med. 2003 May; 9(5): 589-95.<br />

25 Groeneveld JG, Veldink JH, van der Tweel I, Kalmijn S, Beijer C, de Visser M, Wokke JH,<br />

Franssen H, van den Berg LH. A randomized sequential trial of Creatine in amyotrophic lateral<br />

sclerosis. Ann. Neurol. 2003 Apr.; 53(4): 437-45.<br />

26 Kaspar BK, Llado J, Sherkat N, Rothstein JD, Gage FH. Retrograde viral delivery of IGF-1 prolongs<br />

survival in a mouse ALS model. Science 2003 Aug. 8; 301(5634): 839-42.<br />

27 Fahn S et al. Results of the ELLDOPA (Earlier vs. Later Levodopa) study. Mov. Disord. 2002;<br />

17 (suppl 5): S13.<br />

28 Olanow CM, Goetz CG, Kordower JH, Stoessl AJ, Sossi B, Brin MF, Shannon KM, Nauest GM,<br />

Perl DP, Godnold J, Freeman TB. A double-blind controlled trial of bilateral fetal nigral transplantion<br />

in Parkinson’s Disease. Ann. Neurol. 2003 Sept.; 54: 403-14.<br />

29 Anderson ME, Postupna N, Ruffo M. Effects of high-frequency stimulation in the internal globus<br />

pallidus on the activity of thalamic neurons in the awake monkey. J. Neurophysiol. 2003 Febr.;<br />

89(2): 1150-60.<br />

30 Hashimoto T, Elder CM, Okun MS, Patrick SK, Vitek JL. Stimulation of the subthalamic nucleus<br />

changes the firing pattern of pallidal neurons. J. Neuroscience 2003 March 1; 23(5): 1916-23.<br />

31 Windels F, Bruet N, Poupard A, Feuerstein C, Bertrand A, Savasta M. Influence of the frequency<br />

parameter on extracellular glutamate and gamma-aminobutyric acid in substantia nigra and<br />

globus pallidus during electrical stimulation of subthalamic nucleus in rats. Neuroscience Res.<br />

2003 Apr. 15; 72(2): 259-67.<br />

32 Hershey T, Revilla FJ, Wernle AR, McGee-Minnich L, Antenor JV, Videen TO, Dowling JL, Mink<br />

JW, Perlmutter JS. Cortical and subcortical blood flow effects of subthalamic nucleus stimulation<br />

in PD. Neurology 2003 Sept. 23; 61(6): 816-821.<br />

33 Yianni J, Bain P, Giladi N, Auca M, Gregory R, Joint C, Nandi D, Stein J, Scott R, Aziz T. Globus<br />

pallidus internus deep brain stimulation for dystonic conditions: a prospective audit. Mov.<br />

Disord. 2003 Apr.; 18(4): 436-42.<br />

34 Yianni J, Bain PG, Gregory RP, Nandi D, Joint C, Scott RB, Stein JF, Aziz TZ. Abstract Postoperative<br />

progress of dystonia patients following globus pallidus internus deep brain stimulation.<br />

Eur. J. Neurol. 2003 May; 10(3): 239-47.<br />

35 Kim JE, Li S, GrandPre T, Qiu D, Strittmatter SM. Axon regeneration in young adult mice lacking<br />

Nogo-A/B. Neuron 2003. 38(2): 187-99.


36 Simonen M, Pedersen V, Weinmann O, Schnell L, Buss A, Ledermann B, Christ F, Sansig G,<br />

van der Putten H, Schwab ME. Systemic deletion of the myelin-associated outgrowth inhibitor<br />

Nogo-A improves regenerative and plastic responses after spinal cord injury. Neuron 2003.<br />

38(2): 201-11.<br />

37 Zheng B, Ho C, Li S, Keirstead H, Steward O, Tessier-Lavigne M. Lack of enhanced spinal regeneration<br />

in Nogo-deficient mice. Neuron 2003. 38(2): 213-24.<br />

38 He XL, Bazan JF, McDermott G, Park JB, Wang K, Tessier-Lavigne M, He Z, Garcia KC. Structure<br />

of the Nogo receptor ectodomain: a recognition module implicated in myelin inhibition. Neuron<br />

2003. 38(2): 177-85.<br />

39 Oertle T, van der Haar ME, Bandtlow CE, Robeva A, Burfeind P, Buss A, Huber AB, Simonen M,<br />

Schnell L, Brosamle C, Kaupmann K, Vallon R, Schwab ME. Nogo-A inhibits neurite outgrowth<br />

and cell spreading with three discrete regions. J. Neuroscience 2003 July 2; 23(13): 5393-406.<br />

40 Li S, Strittmatter SM. Delayed systemic Nogo-66 receptor antagonist promotes recovery from<br />

spinal cord injury. J. Neuroscience 2003 May 15; 23(10): 4219-27.<br />

41 Pasterkamp RJ, Peschon JJ, Spriggs MK, Kolodkin AL. Semaphorin 7A promotes axon outgrowth<br />

through integrins and MAPKs. Nature 2003 July 24; 424(6947): 398-405.<br />

42 Ruitenberg MJ, Plant GW, Hamers FP, Wortel J, Blits B, Dijkhuizen PA, Gispen WH, Boer GJ,<br />

Verhaagen J. Ex Vivo Adenoviral Vector-Mediated Neurotrophin Gene Transfer to Olfactory<br />

Ensheathing Glia: Effects on Rubrospinal Tract Regeneration, Lesion Size, and Functional<br />

Recovery after Implantation in the Injured Rat Spinal Cord. J. Neuroscience 2003 Aug. 6;<br />

23(18): 7045-58.<br />

43 Kaspar BK, Llado J, Sherkat N, Rothstein JD, Gage FH. Retrograde viral delivery of IGF-1 prolongs<br />

survival in a mouse ALS model. Science 2003 Aug. 8; 301(5634): 839-42.<br />

44 Menet V, Prieto M, Privat A, Gimenez y Ribotta M. Axonal plasticity and functional recovery after<br />

spinal cord injury in mice deficient in both glial fibrillary acidic protein and vimentin genes. Proc.<br />

Natl Acad. of Sciences 2003, USA July 22; 100(15): 8999-9004.<br />

45 Boukhelifa M, Hwang SJ, Valtschanoff JG, Meeker RB, Rustioni A, Otey CA. A critical role for<br />

palladin in astrocyte morphology and response to injury. Mol. Cell Neuroscience 2003 Aug.;<br />

23(4): 661-8.<br />

46 Lee S-K, Pfaff S. Synchronization of neurogenesis and motor neuron specification by direct<br />

coupling of bHLH and homeodomain transcription factors. Neuron 2003. 38: 731-745.<br />

47 Packer MA, Stasiv Y, Benraiss A, Chmielnicki E, Grinberg A, Westphal H, Goldman SA,<br />

Enikolopov G. Nitric oxide negatively regulates mammalian adult neurogenesis. Proc. Natl Acad.<br />

Sciences 2003, USA Aug. 5; 100(16): 9566-71.<br />

48 Katakowski M, Wang L, Chen J, et al. Ischemic subventricular zone cell spheres demonstrate<br />

enhanced migratory properties in vitro. Program and abstracts of the 28th International Stroke<br />

Conference; February 13-15, 2003; Phoenix, Arizona. Abstract 10081.<br />

49 Tuagucki A, Matsuyama T, Soma T, et al. Transplantation of endothelial progenitor cells following<br />

focal cerebral ischemia prevents brain damage through neovascularization. Program and abstracts<br />

of the 28th International Stroke Conference; February 13-15, 2003; Phoenix, Arizona.<br />

Abstract 100577.<br />

50 Saporta S, Kim JJ, Willing AE, Fu ES, Davis CD, Sanberg PR. Human umbilical cord blood stem<br />

cells infusion in spinal cord injury : engraftment and beneficial influence on behavior.<br />

J. Hematother Stem Cell Res. 2003 June; 12(3): 271-8.<br />

51 Willing AE, Vendrame M, Mallery J, Cassady CJ, Davis CD, Sanchez-Ramos J, Sanberg PR.<br />

Mobilized peripheral blood cells administered intravenously produce functional recovery in<br />

stroke. Cell Transplant. 2003. 12(4): 449-54. 97<br />

Referenzen


98<br />

52 Sterz F. Cardiac Arrest: Results from the clinical trials of hypothermia and neurological outcome<br />

from cardiac arrest. Plenary session (February 14, 2003). Program and abstracts of the 28th<br />

International Stroke Conference. February 13-15; Phoenix, Arizona.<br />

53 Guo B, Zhai D, Cabezas E, Welsh K, Nouraini S, Satterthwait AC, Reed JC. Humanin peptide<br />

suppresses apoptosis by interfering with Bax activation. Nature 2003 May 22; 423(6938):<br />

456-61.<br />

54 Liberatore GT, Samson A, Bladin C, Schleuning WD, Medcalf RL. Vampire bat salivary plasminogen<br />

activator (desmoteplase): a unique fibrinolytic enzyme that does not promote neurodegeneration.<br />

Stroke 2003 Febr.; 34(2): 537-43.<br />

55 Murciano JC, Medinilla S, Eslin D, Atochina E, Cines DB, Muzykantov VR. Prophylactic fibrinolysis<br />

through selective dissolution of nascent clots by tPA-carrying erythrocytes. Nat.<br />

Biotechnol. 2003 Aug; 21(8): 891-6.<br />

56 Wassertheil-Smoller S, Hendrix SL, Limacher M, Heiss G, Kooperberg C, Baird A, Kotchen T,<br />

Curb JD, Black H, Rossouw JE, Aragaki A, Safford M, Stein E, Laowattana S, Mysiw WJ; WHI<br />

Investigators. Effect of estrogen plus progestin on stroke in postmenopausal women: the<br />

Women’s Health Initiative: a randomized trial. JAMA 2003 May 28; 289(20): 2673-84.<br />

57 Schrader J, Luders S, Kulschewski A, Berger J, Zidek W, Treib J, Einhaupl K, Diener HC,<br />

Dominiak P; Acute Candesartan Cilexetil Therapy in Stroke Survivors Study Group. The<br />

ACCESS Study: evaluation of Acute Candesartan Cilexetil Therapy in Stroke Survivors. Stroke<br />

2003 July; 34(7): 1699-703.<br />

58 Reynolds K, Lewis B, Nolen JD, Kinney GL, Sathya B, He J. Alcohol Consumption and Risk of<br />

Stroke: A Meta-analysis. JAMA 2003. 289(5): 579-588.<br />

59 Marcus S., ed. Neuroethics: Mapping the Field. <strong>Dana</strong> Press, 2002.<br />

60 Avshalom Caspi, Karen Sugden, Terrie E. Moffitt, Alan Taylor, Ian W. Craig, HonaLee Harrington,<br />

Joseph McClay, Jonathan Mill, Judy Martin, Antony Braithwaite, and Richie Poulton. Influence<br />

of Life Stress on Depression: Moderation by a Polymorphism in the 5-HTTGene. Science 2003<br />

July 18; 301: 386-389.<br />

61 Avshalom Caspi, Joseph McClay, Terrie E. Moffitt, Jonathan Mill, Judy Martin, Ian W. Craig, Alan<br />

Taylor, and Richie Poulton. Role of Genotype in the Cycle of Violence in Maltreated Children.<br />

Science 2002 August 2; 297: 851-854.<br />

62 Duncan Graham-Rowe. World’s First Brain Prosthesis Revealed. New Scientist 12 March 2003.<br />

63 «5-HT4 (a)(a) Receptors Avert Opioid-Induced Breathing Depression Without Loss of Analgesia.»<br />

Science, 11 July 2003; vol. 301: 226-29. Till Manzke, Ulf Guenther, Evgeni G.<br />

Ponimaskin, Miriam Haller, Mathias Dutschmann, Stephan Schwarzacher, and Diethelm W.<br />

Richter.<br />

64 «Activation of CB2 cannabinoid receptors by AM1241 inhibits experimental neuropathic pain:<br />

Pain inhibition by receptors not present in the CNS.» Proceedings of the National Academy of<br />

Sciences, USA, published Aug. 13, 2003. www.pnas.org/cgi/doi/10.1073/pnas.1834309100<br />

Mohab M. Ibrahim, Hongfeng Deng, Alexander Zvonok, Debra A. Cockayne, Joyce Kwan,<br />

Heriberto P. Mata, Todd W. Vanderah, Josephine Lai, Frank Porreca, Alexandros Makriyannis,<br />

and T. Philip Malan, Jr.<br />

65 «Adeno-associated Viral Transfer of Opioid Receptor Gene to Primary Sensory Neurons: a<br />

Strategy to Increase Opioid Antinociception.» Proc. Natl Acad. Sciences, USA 2003 May 13;<br />

100(10): 6204-9. Xu Y, Gu Y, Xu GY, Wu P, Li GW, Huang LY. Marine Biomedical Institute,<br />

University of Texas Medical Branch, Galveston 77555-1069.


66 «The Melanocortin-1 Receptor Gene Mediates Female-specific Mechanisms of Analgesia in<br />

Mice and Humans.» Proc. Natl Acad. Sciences, USA 2003 Apr. 15; 100(8): 4867-72. Mogil JS,<br />

Wilson SG, Chesler EJ, Rankin AL, Nemmani KV, Lariviere WR, Groce MK, Wallace MR, Kaplan<br />

L, Staud R, Ness TJ, Glover TL, Stankova M, Mayorov A, Hruby VJ, Grisel JE, Fillingim RB.<br />

Department of Psychology, McGill University, Montreal, QC, Canada H3A 1B1.<br />

67 Abram KM, Teplin LA, McClelland GM, Dulcan MK. Comorbid Psychiatric Disorders in Youth in<br />

Juvenile Detention. Arch. Gen. Psychiatry 2003; 60: 1097-1108.<br />

68 Mertens JR, Lu YW, Parthasarathy S, Moore C, Weisner CM. Medical and psychiatric conditions<br />

of alcohol and drug treatment patients in an HMO: Comparison with matched controls. Arch.<br />

Intern. Med. 2003; 163: 2511-2517.<br />

69 Kessler RC, Bergl<strong>und</strong> P, Demler O, Jin R, Koretz D, Merikangas KR, Rush AJ, Walters EE, Wang<br />

PS. The epidemiology of major depressive disorder: Results from the National Comorbidity<br />

Survey Replication (NCS-R). JAMA 2003 June 18; 289 (23): 3095-3105.<br />

70 Hariri AR, Mattay VS, Tessitore A, Kolachana B, Fera F, Goldman D, Egan MF, Weinberger DR.<br />

Serotonin transporter genetic variation and the response of the human amygdala. Science 2002<br />

July 19 ; 297(5580): 400-403.<br />

71 Caspi A, Sugden K, Moffitt TE, Taylor A, Craig IW, Harrington H, McClay J, Mill J, Martin J,<br />

Braithwaite A, Poulton R. Influence of life stress on depression: Moderation by a polymorphism<br />

in the 5-HTT gene. Science 2003 July 18; 301(5631): 291-293.<br />

72 Tkachev D, Mimmack ML, Ryan MM, Wayland M, Freeman T, Jones PB, Starkey M, Webster<br />

MJ, Yolken RH, Bahn S. Oligodendrocyte dysfunction in schizophrenia and bipolar disorder.<br />

Lancet 2003 Sept. 6; 362(9386): 798-805.<br />

73 Bergen AW, van den Bree MB, Yeager M, Welch R, Ganjei JK, Haque K, Bacanu S, Berrettini<br />

WH, Grice DE, Goldman D, Bulik CM, Klump K, Fichter M, Halmi K, Kaplan A, Strober M,<br />

Treasure J, Woodside B, Kaye WH. From the Price Fo<strong>und</strong>ation Collaborative Group. Candidate<br />

genes for anexoria nervosa in the 1p33-36 linkage region: Serotonin 1D and delta opioid<br />

receptor loci exhibit significant association to anorexia nervosa. Mol. Psychiatry 2003 Apr.;<br />

8(4)397-406.<br />

74 Bulik CM, Devlin B, Bacanu SA, Thornton L, Klump KL, Fichter MM, Halmi KA, Kaplan AS,<br />

Strober M, Woodside DB, Bergen AW, Ganjei JK, Crow S, Mitchell J, Rotondo A, Mauri M,<br />

Cassano G, Keel P, Berrettini WH, Kaye WH. Significant linkage on chromosome 10p in families<br />

with bulimia nervosa. Am. J. Hum. Genet. 2003 Jan.; 71(1): 200-207.<br />

75 Wilhelmsen KC, Schuckit M, Smith TL, Lee JV, Segall SK, Feiler HS, Kalmijn J. The search for<br />

genes related to a low-level response to alcohol determined by alcohol challenges. Alcohol:<br />

Clin. Exp. Res. 2003; 27(7): 1041-1047.<br />

76 Levin ED, Rezvani AH, Montoya D, Rose JE, Swartzwelder HS. Adolescent-onset nicotine selfadministration<br />

modeled in female rats. Psychopharmacol. (Berl.) 2003 Sept.; 169(2): 141-9.<br />

77 Horn K, Fernandes A, Dino G, Massey CJ, Kalsekar I. Adolescent nicotine dependence and smoking<br />

cessation outcomes. Addict. Behav. 2003 June; 28(4): 769-776.<br />

78 Brodie JD, Figueroa E, Dewey SL. Treating cocaine addiction: From preclinical to clinical trial<br />

experience with [gamma]-vinyl GABA. Synapse 2003; 50: 261-265.<br />

79 van den Brink W, Hendriks VM, Blanken P, Koeter MWJ, van Zwieten BJ, van Ree JM. Medical<br />

prescription of heroin to treatment resistant heroin addicts: Two randomised controlled trials.<br />

BMJ 2003; 327: 310-312.<br />

80 Ghitza UE, Fabbricatore AT, Prokopenko V, Pawlak AP, West MO. Persistent cue-evoked activity<br />

of accumbens neurons after prolonged abstinence from self-administered cocaine. J. Neuroscience<br />

2003 Aug.13; 23(19): 7239-7245. 99<br />

Referenzen


100<br />

81 Fine et al. 2003. «Long-Term Deprivation Affects Visual Perception And Cortex.» Nat. Neuroscience.<br />

9: 915-916.<br />

82 Ölveczky et al. 2003. «Segregation Of Object And Backgro<strong>und</strong> Motion In The Retina.» Nature.<br />

423: 401-408.<br />

83 Kara P and Reid RC. 2003. «Efficacy Of Retinal Spikes Driving Coritical Responses.» J. Neuroscience.<br />

23: 8547-8557.<br />

84 Xiao et al. 2003. «A Spatially Organized Representation Of Colour In Macaque Cortical Area<br />

V2.» Nature. 421: 535-539.<br />

85 Nguyenkim JD and DeAngelis GC. 2003. «Disparity-Based Coding Of Three-Dimensional<br />

Surface Orientation By Macaque Middle Temporal Neurons.» J. Neuroscience. 23: 7117-7128.<br />

86 Hattar et al. 2003. «Melanopsin And Rod-Cone Photoreceptive Systems Account For All Major<br />

Accessory Visual Functions In Mice.» Nature. 424: 76-81.<br />

87 Panda et al. 2003. «Melanopsin Is Required For Non-Image Forming Photic Responses In Blind<br />

Mice.» Science. 301: 525-527.<br />

88 Wang X, Willenbring H, Akkari Y, Torimaru Y, Foste M, Al-Dhalimy M, Lagasse E, Finegold M,<br />

Olson S, and Grompe M. Cell fusion is the principal source of bone-marrow-derived hepatocytes.<br />

Nature 2003 April 24; 422(6934): 897-901.<br />

89 Wagers AJ, Sherwood RI, Christensen JL, Weissman IL. Little evidence for developmental plasticity<br />

of adult hematopoietic stem cells. Science 2002 27 September; vol. 297: 2256-2259.<br />

90 Weimann JM, Charlton CA, Brazelton TR, Hackman RC, Blau HM. Contribution of transplanted<br />

bone marrow cells to Purkinje neurons in human adult brains. Proc. Natl Acad. Sciences, USA<br />

2003 Febr. 18; 100(4): 2033-93.<br />

91 Chambers I, Colby D, Robertson M, Nichols J, Lee S, Tweedie S, and Smith A. Functional expression<br />

cloning of Nanog, a pluripotency sustaining factor in embryonic stem cells. Cell<br />

2003 May 30; vol. 113: 643-655.<br />

92 Santarelli L, Saxe M, Gross C, Surget A, Battaglia F, Dulawa S, Weisstaub N, Lee J, Duman R,<br />

Arancio D, Belzung C, and Hen R. Requirement of hippocampal neurogenesis for the behavioral<br />

effects of antidepressants. Science 2003 August 8; vol. 301: 805-809.<br />

93 Hebert LE, Scherr PA, Bienias JL, Bennett DA, Evans DA. «Alzheimer disease in the US population:<br />

prevalence estimates using the 2000 census.» Arch. Neurol. 2003 Aug.; 60(8): 1119-22.<br />

94 Press release at http://www.fdaadvisorycommittee.com/FDC/AdvisoryCommittee/<br />

Committees/Peripheral+and+Central+Nervous+System+Drugs/092403_Memantine/092403_<br />

MemantineR.htm<br />

95 Tariot P, Farlow M, Grossberg G, Gergel J, Graham S, Jin J. 2003. «Memantine/donepezil dualtherapy<br />

is superior to placebo/donepezil therapy for the treatment of moderate to severe AD.»<br />

American Geriatrics Society Annual Meeting abstract #P542.<br />

96 Schenk D. Amyloid-beta immunotherapy for AD: the end of the beginning. Nat. Rev. Neuroscience<br />

2002 Oct.; 3(10): 824-8.<br />

97 Nicoll JA, Wilkinson D, Holmes C, Steart P, Markham H, Weller RO. Neuropathology of human<br />

Alzheimer disease after immunization with amyloid-beta peptide: a case report. Nat. Med. 2003<br />

Apr.; 9(4): 448-52.<br />

98 Scarpini E, Scheltens P, Feldman H. Treatment of Alzheimer’s disease: current status and new<br />

perspectives. Lancet Neurol. 2003 Sept.; 2(9): 539-47.<br />

99 Janus C. Vaccines for Alzheimer’s disease: how close are we? CNS Drugs 2003; 17(7): 457-74.<br />

100 Ibid.


101 Sperling RA, Bates JF, Chua EF, Cocchiarella AJ, Rentz DM, Rosen BR, Schacter DL, Albert MS.<br />

fMRI studies of associative encoding in young and elderly controls and mild Alzheimer’s disease.<br />

J. Neurol. Neurosurg. Psychiatry 2003 Jan.; 74(1): 44-50.<br />

102 Manns JR, Hopkins RO, Reed JM, Kitchener EG, Squire LR. Recognition memory and the human<br />

hippocampus. Neuron 2003 Jan. 9; 37(1): 171-80.<br />

103 Manns JR, Hopkins RO, Squire LR. Semantic memory and the human hippocampus. Neuron<br />

2003 Apr. 10; 38(1): 127-33.<br />

104 Bayley PJ, Hopkins RO, Squire LR. Successful recollection of remote autobiographical memories<br />

by amnesic patients with medial temporal lobe lesions. Neuron 2003 Apr. 10; 38(1): 135-44.<br />

105 Nakazawa K, Sun LD, Quirk MC, Rondi-Reig L, Wilson MA, Tonegawa S. Hippocampal CA3<br />

NMDA receptors are crucial for memory acquisition of one-time experience. Neuron 2003<br />

Apr. 24; 38(2): 305-15.<br />

Referenzen<br />

101


Stelle Dir<br />

eine Welt vor ...


104<br />

… in der Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson,<br />

Lou Gehrig (ALS) sowie Retinitis pigmentosa<br />

<strong>und</strong> andere Ursachen von Erblindung<br />

jeweils in einem frühen Stadium erkannt<br />

<strong>und</strong> umgehend mit Medikamenten behandelt<br />

werden, die eine Verschlimmerung, noch vor<br />

dem Auftreten schwerwiegender Schädigungen<br />

verhindern.<br />

… in der die genetischen Bahnen <strong>und</strong> die<br />

umweltbedingten Auslöser, die Menschen für<br />

Geisteskrankheiten disponieren, bekannt sind,<br />

so dass entsprechende diagnostische Tests<br />

<strong>und</strong> zielgerichtete Therapien – einschliesslich<br />

Medikamente, Beratung <strong>und</strong> vorbeugende<br />

Eingriffe – in grossem Umfang zur Verfügung<br />

stehen <strong>und</strong> umfassend angewendet werden.<br />

… in der neue Erkenntnisse über die Entwicklung<br />

des <strong>Gehirn</strong>s dazu verwendet werden,<br />

die entscheidenden Vorteile des Lernens in<br />

den ersten Lebensjahren zu fördern <strong>und</strong> mit<br />

dem Altern zusammenhängende Krankheiten<br />

zu bekämpfen.<br />

… in der Rückenmarksverletzungen nicht<br />

länger zu lebenslänglichen Lähmungen führen,<br />

da das Nervensystem dazu gebracht werden<br />

kann, Nervenschaltkreise neu zu gestalten <strong>und</strong><br />

die Bewegung der Muskeln wieder herzustellen.<br />

… in der Drogenabhängigkeit <strong>und</strong> Alkoholismus<br />

das Leben von Menschen nicht länger<br />

im Griff haben, da leicht zugängliche Behandlungen<br />

jene Veränderungen im <strong>Gehirn</strong> beeinflussen<br />

können, die für das Absetzen von<br />

Abhängigkeit erzeugenden Substanzen verantwortlich<br />

sind, aber auch Sucht <strong>und</strong> Verlangen<br />

hervorrufen können.<br />

… in der das tägliche Leben der Menschen<br />

nicht mehr von depressiven Episoden oder<br />

Angstattacken beeinträchtigt wird, da wirksamere<br />

Medikamente zur Behandlung dieser<br />

Krankheiten verfügbar werden.<br />

Es mag zwar vielen unrealistisch <strong>und</strong> utopisch<br />

vorkommen, aber wir dürfen festhalten, dass<br />

wir gegenwärtig in einer ausserordentlich<br />

aufregenden Zeit der Geschichte der Neurowissenschaft<br />

leben. Die im vergangenen Jahrzehnt<br />

erfolgten Fortschritte in der Forschung<br />

haben uns weiter gebracht als wir gehofft<br />

hatten. Wir verstehen die gr<strong>und</strong>legenden<br />

Mechanismen der Hirntätigkeit wesentlich<br />

besser <strong>und</strong> sind nun an dem Punkt angelangt,<br />

an dem wir diese Erkenntnisse für therapeutische<br />

Zwecke fruchtbar machen können.<br />

Wir haben bereits angefangen, Strategien,<br />

neue Techniken <strong>und</strong> Behandlungsformen<br />

zur Bekämpfung einer ganzen Reihe neurologischer<br />

Krankheiten <strong>und</strong> Störungen zu entwickeln.<br />

Indem wir Therapieziele festlegen<br />

<strong>und</strong> unser Wissen anwenden, werden wir<br />

wirksame Behandlungen <strong>und</strong> in einigen Fällen<br />

wohl auch Heilmethoden entwickeln.<br />

Bei allem, was wir in letzter Zeit im Bereich<br />

der Neurowissenschaft gelernt haben, erkennen<br />

wir immer deutlicher, wie vieles wir nicht<br />

wissen. Dadurch wird es immer dringlicher,<br />

dass wir die Gr<strong>und</strong>lagenforschung vorantreiben,<br />

die sich mit der weiterreichenden Frage,<br />

wie lebende Organismen überhaupt funktionieren,<br />

befasst. Dies wird dazu beitragen,<br />

jene komplexen Fragestellungen anzugehen,<br />

welche zu wissenschaftlichen Entdeckungen<br />

führen.<br />

Die koordinierte Arbeit von Tausenden, die<br />

in den verschiedenen Bereichen der Gr<strong>und</strong>lagenforschung<br />

<strong>und</strong> der klinischen Forschung<br />

wissenschaftlich tätig sind, hat uns eine<br />

grosse Menge an Informationen gebracht;<br />

sie umfassen so unterschiedliche Gebiete<br />

wie die Strukturanalyse von Molekülen, die<br />

gezielte Entwicklung neuer Pharmaka, die Genomforschung,<br />

bildgebende Untersuchungen<br />

des <strong>Gehirn</strong>s, kognitive Neurowissenschaft<br />

<strong>und</strong> klinische Studien. Dieses ganze Wissen


können wir nun breit zur Behandlung neurologischer<br />

Krankheiten <strong>und</strong> Störungen einsetzen.<br />

Diese wissenschaftliche Arbeit werden<br />

wir auch weiterhin nicht nur individuell <strong>und</strong><br />

ausgerichtet auf die das eigene spezifische<br />

Interessengebiet weiterführen, sondern gemeinsam<br />

mit Kollegen aller wissenschaftlichen<br />

Bereiche nach Möglichkeiten der interdisziplinären<br />

Zusammenarbeit suchen.<br />

Um unsere Aufgabe erfolgreich zu erfüllen,<br />

sind wir auch auf das Vertrauen der Öffentlichkeit<br />

angewiesen. Forschende <strong>und</strong> Laien<br />

müssen daher aus den neuen Erkenntnissen<br />

der Hirnforschung entstehenden ethischen<br />

<strong>und</strong> sozialen Konsequenzen gemeinsam<br />

erörtern.<br />

Die <strong>Dana</strong> Alliance for Brain Initiatives <strong>und</strong><br />

die European <strong>Dana</strong> Alliance for the Brain ist<br />

eine Gemeinschaft von Neurowissenschaftlern<br />

<strong>und</strong> Neurowissenschaftlerinnen, die sich<br />

hochgesteckte Ziele gesetzt haben; dies<br />

zeigte sich bereits im Jahre 1992, als in Cold<br />

Spring Harbor, New York, ein Forschungsplan<br />

aufgestellt wurde <strong>und</strong> dann im Jahre 1997, als<br />

die neu gebildete europäische Gruppe sich<br />

auf ihre eigenen Zielsetzungen verpflichtete.<br />

Beide Gruppen sind gegenwärtig daran, ihre<br />

konkreten Zielvorstellungen so anzupassen,<br />

dass sie die erreichten Fortschritte optimal<br />

ausnützen können. Wir stecken uns auch<br />

neue Ziele, die uns den Weg zu bald Erreichbarem<br />

weisen, <strong>und</strong> stellen langfristige Pläne<br />

auf. Indem wir uns ausmalen, welche positiven<br />

Auswirkungen diese neue Ära der Neurowissenschaft<br />

voraussichtlich haben wird, beschleunigen<br />

wir die auf das Erreichen unserer<br />

Ziele ausgerichteten Entwicklungen.<br />

Die Ziele<br />

Die verheerenden Auswirkungen der Alzheimer-Krankheit<br />

bekämpfen. Bei der Alzheimer-Krankheit<br />

kommt es zur Ansammlung<br />

eines Proteinfragments von Amyloid, welches<br />

die Nervenzellen schädigt. Der Mechanismus<br />

dieser Ansammlung wurde inzwischen in<br />

Tierversuchen biochemisch genetisch untersucht.<br />

Aufgr<strong>und</strong> dieser Tiermodelle werden<br />

gegenwärtig therapeutische Substanzen <strong>und</strong><br />

ein möglicherweise wirksamer Impfstoff entwickelt,<br />

die die Anhäufung dieser schädlichen<br />

Substanz verhindern oder ihren Abbau<br />

beschleunigen sollen. Diese neuen Therapien,<br />

die schon bald an Menschen erprobt werden<br />

können, wecken die begründete Hoffnung,<br />

dass der Krankheitsverlauf wirkungsvoll behandelt<br />

werden kann.<br />

Die optimale Behandlung der Parkinson-<br />

Krankheit herausfinden. Medikamente, die<br />

auf die Dopaminbahnen des <strong>Gehirn</strong>s einwirken,<br />

wurden erfolgreich zur Behandlung der<br />

motorischen Störungen der Parkinson-Krankheit<br />

eingesetzt. Leider verliert sich dieser therapeutische<br />

Effekt bei vielen Patienten nach<br />

5 bis 10 Jahren. Nun werden neue Medikamente<br />

entwickelt; sie sollen die Wirkung der<br />

auf Dopamin beruhenden Behandlungen verlängern<br />

<strong>und</strong> den für die Krankheit verantwortlichen<br />

selektiven Untergang von Nervenzellen<br />

verzögern. Patienten, die auf die<br />

medikamentöse Behandlung nicht ansprechen,<br />

könnten von chirurgischen Methoden,<br />

etwa der tiefen Hirnstimulation, profitieren.<br />

Dank neueren Formen der Bildgebung des<br />

<strong>Gehirn</strong>s lässt sich feststellen, ob diese Behandlungsformen<br />

tatsächlich Nervenzellen vor dem<br />

Untergang bewahren <strong>und</strong> die normalen Schaltkreise<br />

wieder herstellen können.<br />

Stelle Dir eine Welt vor ...<br />

Das Auftreten von Hirnschlag reduzieren<br />

<strong>und</strong> die Therapie des Hirnschlags verbessern.<br />

Herzkrankheiten <strong>und</strong> Hirnschlag treten<br />

beträchtlich seltener auf, wenn Leute aufhören<br />

zu rauchen, auf einen tiefen Cholesterinspiegel<br />

achten, durch Diät <strong>und</strong> sportliche<br />

Betätigung ihr normales Gewicht beibehalten<br />

<strong>und</strong> wenn ein vorhandener Diabetes 105


106<br />

diagnostiziert <strong>und</strong> behandelt wird. Wenn<br />

ein Hirnschlag aufgetreten ist, können die<br />

rasche Erhebung des Bef<strong>und</strong>s <strong>und</strong> sofortige<br />

Behandlung eine erstaunliche Verbesserung<br />

mit weniger Folgeerscheinungen bewirken.<br />

Neue Behandlungsmethoden, um die akuten<br />

Auswirkungen eines Schlaganfalls auf Hirnzellen<br />

weiter zu reduzieren, sind im Entwicklungsstadium.<br />

Weitere Verbesserungen erwarten<br />

wir von neuen Rehabilitationsverfahren,<br />

die auf der neuen Erkenntnis von<br />

Reorganisationsvorgängen im <strong>Gehirn</strong> nach<br />

Schädigungen beruhen.<br />

Erfolgreichere Behandlungen von Gemütskrankheiten<br />

entwickeln wie Depression,<br />

Schizophrenie, Zwangserkrankung <strong>und</strong><br />

manisch-depressive Erkrankung. Zwar wurden<br />

im letzten Jahrzehnt die für diese Krankheiten<br />

verantwortlichen Gene noch nicht gef<strong>und</strong>en,<br />

doch dürfte die Sequenzierung des<br />

menschlichen Genoms einige an diesen Krankheiten<br />

beteiligte Gene aufdecken. Neue bildgebende<br />

Verfahren gepaart mit Erkenntnissen<br />

über die Aktivitäten dieser Gene im<br />

<strong>Gehirn</strong> werden erkennen lassen, was bei<br />

diesen Erkrankungen des Gemüts <strong>und</strong> des<br />

Denkens in den einzelnen Hirnschaltkreisen<br />

schief läuft. Dies wird die Gr<strong>und</strong>lage für eine<br />

bessere Diagnose, für eine wirksamere Anwendung<br />

der heute zur Verfügung stehenden<br />

Medikamente <strong>und</strong> für die Entwicklung<br />

völlig neuartiger therapeutischer Substanzen<br />

bilden.<br />

Die genetischen <strong>und</strong> neurobiologischen<br />

Ursachen der Epilepsie aufdecken <strong>und</strong> die<br />

Behandlung verbessern. Das Verständnis<br />

der genetischen Gr<strong>und</strong>lagen der Epilepsie<br />

<strong>und</strong> der neuralen Vorgänge, die zu Anfällen<br />

führen, wird präventive Diagnosen <strong>und</strong> zielgerichtete<br />

Therapien ermöglichen. Die Fortschritte<br />

der elektronischen <strong>und</strong> chirurgischen<br />

Therapien lassen wirkungsvolle Behandlungsmöglichkeiten<br />

erwarten.<br />

Neue, wirkungsvolle Ansätze zur Vorbeugung<br />

<strong>und</strong> Behandlung der Multiplen Sklerose<br />

finden. Heute stehen uns erstmals<br />

Medikamente zur Verfügung, die erlauben,<br />

den Verlauf dieser Krankheit zu beeinflussen.<br />

Neue Medikamente, die die Immunreaktion<br />

des Körpers verändern, werden Anzahl <strong>und</strong><br />

Intensität der Schübe der Multiplen Sklerose<br />

weiter vermindern. Ausserdem werden wir<br />

neue Methoden anwenden, um die langfristige<br />

Progression aufzuhalten, die durch<br />

den Untergang von Nervenfasern verursacht<br />

wird.<br />

Bessere Behandlungen bei Hirntumoren<br />

entwickeln. Viele Arten von Hirntumoren, vor<br />

allem die bösartigen <strong>und</strong> solche, die durch<br />

Ableger einer Krebserkrankung ausserhalb des<br />

<strong>Gehirn</strong>s zustande kommen, lassen sich nur<br />

schwer behandeln. Bildgebende Verfahren,<br />

die Behandlung mit fokussierter Bestrahlung,<br />

verschiedene Methoden, um Medikamente<br />

in den Tumor zu bringen, <strong>und</strong> die Bestimmung<br />

von genetischen Markern, die zur Diagnose<br />

beitragen werden, bilden die Gr<strong>und</strong>lage<br />

zur Entwicklung innovativer Therapien.<br />

Die Erholung nach traumatischen Hirn- <strong>und</strong><br />

Rückenmarksverletzungen verbessern. Wir<br />

sind dabei, Behandlungsmöglichkeiten zu erproben,<br />

die unmittelbar nach einer Verletzung<br />

den Umfang des verletzten Gewebes<br />

verringern sollen. Andere Wirkstoffe zielen<br />

darauf ab, die Schaltkreise der Nervenfasern<br />

wiederherzustellen. Techniken zur Förderung<br />

der Zellregeneration im <strong>Gehirn</strong>, um die abgestorbenen<br />

<strong>und</strong> beschädigten Nervenzellen<br />

zu ersetzen, werden ausgehend von Tiermodellen<br />

schon bald auch an Menschen klinisch<br />

erprobt werden. Gegenwärtig werden<br />

elektronische Prothesen entwickelt, die die<br />

Mikrochip-Technik verwenden, um Nervenschaltkreise<br />

zu steuern <strong>und</strong> dadurch die<br />

Bewegungsaktivität gelähmter Gliedmassen<br />

wieder zu ermöglichen.


Neue Methoden für den Umgang mit<br />

Schmerzen entwickeln. Der Schmerz muss<br />

heute in der Medizin nicht mehr einfach hingenommen<br />

werden. Die Erforschung der<br />

Ursachen von Schmerzen sowie der Nervenaktivität,<br />

die für ihn verantwortlich ist, wird<br />

den Neurowissenschaftlern Mittel in die<br />

Hand geben, um wirksamere <strong>und</strong> zielgerichtete<br />

Therapien zur Schmerzbekämpfung<br />

zu entwickeln.<br />

Die Ursachen der Abhängigkeit auf der<br />

Ebene des <strong>Gehirn</strong>s behandeln. Forschende<br />

konnten jene Nervenschaltkreise im <strong>Gehirn</strong><br />

bestimmen, die an der Abhängigkeit aller<br />

gängigen Mittel beteiligt sind, <strong>und</strong> haben die<br />

wichtigsten Rezeptoren für diese Wirkstoffe<br />

geklont. Neue bildgebenden Verfahren, werden<br />

die neurobiologischen Mechanismen<br />

feststellen lassen, die ein normales <strong>Gehirn</strong> in<br />

ein abhängiges <strong>Gehirn</strong> verwandeln, <strong>und</strong> die<br />

Entwicklung von Therapien ermöglichen, um<br />

diese Veränderung entweder rückgängig zu<br />

machen oder zu kompensieren.<br />

Die Hirnmechanismen verstehen, die der<br />

Reaktion auf Stress, Angst <strong>und</strong> Depression<br />

zugr<strong>und</strong>e liegen. Geistige Ges<strong>und</strong>heit ist<br />

eine Vorbedingung für eine gute Lebensqualität.<br />

Stress, Angst <strong>und</strong> Depression schaden<br />

nicht nur dem Leben der davon betroffenen<br />

Personen, sie können auch verheerende Auswirkungen<br />

auf die Gesellschaft haben. Wenn<br />

es uns gelingt, die Stressreaktion des Organismus<br />

sowie die an Angst <strong>und</strong> Depression<br />

beteiligten Hirnschaltkreise besser zu verstehen,<br />

werden wir wirksamere präventive<br />

Massnahmen entwickeln können <strong>und</strong> auch<br />

bessere Behandlungsverfahren, um ihre Auswirkungen<br />

zu lindern.<br />

Die Strategie<br />

Die Entdeckungen der Erforschung des Genoms<br />

ausnützen. Die vollständige Sequenz<br />

aller Gene, des menschlichen Genoms wird<br />

schon bald zur Verfügung stehen. Dies<br />

bedeutet, dass wir im Verlauf der nächsten<br />

10 bis 15 Jahre in der Lage sein werden, für<br />

jeden Bereich des <strong>Gehirn</strong>s <strong>und</strong> für jedes<br />

Lebensstadium – vom frühen embryonalen<br />

Leben an, über die Kindheit, die Adoleszenz<br />

bis zum Erwachsenenalter – zu bestimmen,<br />

welche Gene aktiv sind. Wir werden feststellen<br />

können, welche Gene bei verschiedensten<br />

neurologischen <strong>und</strong> psychiatrischen Krankheiten<br />

verändert sind, so dass ihre Proteinprodukte<br />

entweder ganz fehlen oder auf eine<br />

abnorme Weise funktionieren. Dank dieser<br />

Methode ist es bereits möglich, die genetische<br />

Gr<strong>und</strong>lage von Krankheiten wie Huntington,<br />

spinozerebelläre Ataxie, Muskeldystrophie<br />

<strong>und</strong> fragiles X-Syndrom zu bestimmen.<br />

Insgesamt verspricht die Entdeckung von<br />

Genen <strong>und</strong> ihre Anwendung zur klinischen<br />

Diagnose die Neurologie <strong>und</strong> Psychiatrie<br />

gr<strong>und</strong>legend zu verändern <strong>und</strong> stellt eine der<br />

grössten Herausforderungen der Neurowissenschaft<br />

dar. Zum Glück verfügen wir über<br />

Mikroarrays oder „Gen-Chips“, die diese<br />

Entwicklungen sehr beschleunigen <strong>und</strong> uns<br />

sowohl für die Diagnose als auch für die<br />

Entwicklung neuer Therapien wirkungsvolle<br />

Mittel in die Hand geben.<br />

Stelle Dir eine Welt vor ...<br />

Unser Wissen über die Entwicklung des<br />

<strong>Gehirn</strong>s anwenden. Von der Empfängnis<br />

bis zum Tod durchläuft das <strong>Gehirn</strong> ganz<br />

bestimmte Entwicklungsstadien mit jeweils<br />

unterschiedlicher Anfälligkeit für Schädigungen<br />

<strong>und</strong> Fähigkeit zur Entwicklung, Tendenzen,<br />

die entweder gefördert oder gehemmt<br />

werden können. Um die Behandlung von<br />

Entwicklungsstörungen wie Autismus sowie<br />

Aufmerksamkeits- <strong>und</strong> Lernstörungen zu verbessern,<br />

wird die Neurowissenschaft eine<br />

detailliertere Darstellung der Hirnentwicklung<br />

erarbeiten. Da gewisse Probleme der Hirnentwicklung<br />

mit anderen Entwicklungsphasen 107


108<br />

wie der Adoleszenz oder dem Altern zusammenhängen,<br />

wird uns das Verständnis der<br />

Veränderungen des <strong>Gehirn</strong>s im Verlauf dieser<br />

Perioden neue Therapien ermöglichen.<br />

Das riesige Potential der Plastizität des<br />

<strong>Gehirn</strong>s ausnutzen. Wenn wir die Neuroplastizität<br />

– die Fähigkeit des <strong>Gehirn</strong>s sich selbst<br />

wiederherzustellen <strong>und</strong> anzupassen – ausnutzen,<br />

kann die Neurowissenschaft Behandlungen<br />

von degenerativen neurologischen<br />

Erkrankungen fördern <strong>und</strong> Möglichkeiten zur<br />

Verbesserung von ges<strong>und</strong>en <strong>und</strong> kranken<br />

Hirnfunktionen bereitstellen. In den kommenden<br />

zehn Jahren werden Zellen therapeutisch<br />

ersetzt werden <strong>und</strong> die Förderung<br />

der Neubildung von Zellen wird zu neuen<br />

Behandlungen von Hirnschlag, Rückenmarksverletzungen<br />

<strong>und</strong> der Parkinson Krankheit<br />

führen.<br />

Unser Verständnis des spezifisch Menschlichen<br />

vergrössern. Wie funktioniert das <strong>Gehirn</strong><br />

? Die Neurowissenschaft ist nun so weit,<br />

dass sie die entscheidenden Fragen nicht nur<br />

stellt, sondern auch anfängt sie zu beantworten.<br />

Welche Mechanismen <strong>und</strong> gr<strong>und</strong>legenden<br />

Nervenschaltkreise ermöglichen es uns,<br />

Erinnerungen zu speichern, aufmerksam zu<br />

sein, unsere Emotionen wahrzunehmen <strong>und</strong><br />

auszudrücken, Entscheidungen zu treffen,<br />

Sprache zu gebrauchen <strong>und</strong> kreativ zu sein?<br />

Die Bemühungen, eine „einheitliche Feldtheorie“<br />

des <strong>Gehirn</strong>s zu entwickeln, werden<br />

grosse Möglichkeiten eröffnen, das menschliche<br />

Potential zu maximieren.<br />

Die Methoden<br />

Zellen ersetzen. Ausgewachsene Nervenzelle<br />

können sich nicht replizieren, um die<br />

durch eine Krankheit oder eine Verletzung<br />

verloren gegangenen Zellen zu ersetzen.<br />

Methoden, die sich die Fähigkeit der Nervenstammzellen<br />

(den Vorläufern von Nervenzel-<br />

len) zunutze machen, sich zu neuen Nervenzellen<br />

zu differenzieren, werden die Behandlung<br />

neurologischer Erkrankungen möglicherweise<br />

revolutionieren. Die Verpflanzung von<br />

Nervenstammzellen, die bisher an Tiermodellen<br />

durchgeführt wird, wird schon bald das<br />

Stadium von klinischen Studien an Menschen<br />

erreichen. Wie die Entwicklung dieser Zellen<br />

gesteuert werden kann, wie sie an den richtigen<br />

Ort gebracht <strong>und</strong> veranlasst werden können,<br />

die geeigneten Verbindungen zu bilden,<br />

sind aktuelle Themen der Forschung.<br />

Reparaturmechanismen von Nervenzellen.<br />

Dank der dem Nervensystem innewohnenden<br />

Fähigkeit der Wiederherstellung – in<br />

gewissen Fällen werden neue Nervenzellen<br />

regeneriert, in andern die Verkabelung wiederhergestellt<br />

– hat das <strong>Gehirn</strong> die Möglichkeit,<br />

sich selbst „wieder in Ordnung zu bringen“.<br />

Wenn es uns gelingt, diese Prozesse zu<br />

fördern, dürfen wir hoffen, Patienten mit<br />

Rückenmarks- oder Kopfverletzungen heilen<br />

zu können.<br />

Verfahren, um die Degeneration des Nervensystems<br />

aufzuhalten oder ihr vorzubeugen.<br />

Viele Erkrankungen wie Parkinson, Alzheimer,<br />

Huntington <strong>und</strong> ALS sind die Folge<br />

einer Degeneration spezifischer Nervenzell-<br />

Populationen in bestimmten Hirnbereichen.<br />

Die heutigen Behandlungsmethoden beeinflussen<br />

zwar die Symptome einer Krankheit<br />

wie Parkinson, nicht aber den fortschreitenden<br />

Untergang der Nervenzellen. Techniken,<br />

die auf unseren Kenntnissen der Mechanismen<br />

des Zelltods aufbauen, werden vermutlich zu<br />

Methoden führen, die die Degeneration von<br />

Nervenzellen verhindern <strong>und</strong> damit ein Fortschreiten<br />

der Krankheit aufhalten können.<br />

Verfahren, um die Expression von Genen<br />

im <strong>Gehirn</strong> zu verändern. Es ist möglich, die<br />

Wirkung bestimmter Gene im <strong>Gehirn</strong> von<br />

Versuchstieren entweder zu verstärken oder


zu blockieren. Mutierte Gene von Menschen,<br />

die neurologische Krankheiten wie Huntington<br />

<strong>und</strong> ALS verursachen, werden bei Versuchstieren<br />

eingesetzt, um die Entwicklung<br />

neuer Therapien zur Prävention der Neurodegeneration<br />

voranzutreiben. Solche Techniken<br />

haben uns bereits wertvolle Informationen<br />

über normale Vorgänge wie die Entwicklung<br />

des <strong>Gehirn</strong>s, Lernen <strong>und</strong> die Bildung neuer<br />

Erinnerungen vermittelt. Diese Techniken bieten<br />

uns die Möglichkeit, normale <strong>und</strong> abnorme<br />

Hirnprozesse wesentlich intensiver als je<br />

zuvor zu untersuchen; sie werden wohl mit der<br />

Zeit auch klinisch zur Behandlung verschiedener<br />

Hirnkrankheiten angewendet werden.<br />

Verbesserte bildgebende Verfahren. Die Abbildungen<br />

sowohl der Hirnstrukturen wie<br />

auch der Hirnfunktionen wurden stark verbessert.<br />

Dank der Entwicklung von Verfahren,<br />

die Hirnfunktionen ebenso rasch <strong>und</strong><br />

genau abbilden wie sie stattfinden, sind<br />

„Echtzeit“-Abbildungen von Hirnfunktionen<br />

möglich geworden. Diese Techniken erlauben<br />

es den Forschenden genau zu verfolgen,<br />

welche Teile des <strong>Gehirn</strong>s am Denken, Lernen<br />

<strong>und</strong> Erleben von Emotionen beteiligt sind.<br />

Elektronische Hilfsmittel als Ersatz für nicht<br />

funktionstüchtige Hirnbahnen. Mit der Zeit<br />

wird es wohl möglich sein, verletzte Hirnbahnen<br />

zu umgehen. Wir hoffen, dass die Verwendung<br />

von Multielektroden-Implantaten<br />

<strong>und</strong> Mikro-Computer-Vorrichtungen – welche<br />

die Aktivität im <strong>Gehirn</strong> aufzeichnen <strong>und</strong><br />

in Signale übersetzen, die ans Rückenmark,<br />

an die motorischen Nerven oder direkt an die<br />

Muskeln weitergeleitet werden – uns so weit<br />

bringen wird, dass Verletzte auf die Wiederherstellung<br />

ihrer Funktionstüchtigkeit hoffen<br />

dürfen.<br />

Neuartige Methoden um Heilmittel zu entdecken.<br />

Fortschritte der strukturellen Biologie,<br />

der Genomforschung <strong>und</strong> der rechnergestüt-<br />

zen Chemie erlauben es Forschenden, neue<br />

Pharmaka in einem nie zuvor gekannten Ausmass<br />

hervorzubringen, von welchen viele in<br />

der klinischen Anwendung von beträchtlichem<br />

Nutzen sein könnten. Die Entwicklung<br />

neuer, rascher Screening-Verfahren, die auf<br />

„Gen-Chips“ <strong>und</strong> anderen hochentwickelten<br />

Techniken beruhen, werden in gewissen Fällen<br />

das Zeitintervall zwischen der Entdeckung<br />

einer neuen Substanz <strong>und</strong> ihrer klinischen<br />

Erprobung von mehreren Jahren auf einige<br />

Monate reduzieren.<br />

Unsere Verpflichtung:<br />

Vom Labor zum Krankenbett<br />

Die heutige neurowissenschaftliche Forschung<br />

profitiert von einem nie dagewesenen Ausmass<br />

an Möglichkeiten. Unser Verständnis<br />

der Funktionsweise des <strong>Gehirn</strong>s, vom Beginn<br />

<strong>und</strong> der Progredienz von Krankheiten hat<br />

zugenommen. Ein ausgeklügeltes Arsenal<br />

von Hilfsmitteln erlaubt es uns, unser Wissen<br />

anzuwenden <strong>und</strong> die Fortschritte der Hirnforschung<br />

zu beschleunigen.<br />

Als Wissenschaftler <strong>und</strong> Wissenschaftlerinnen<br />

sind wir verpflichtet, am Laborplatz<br />

auch weiterhin Fortschritte zu erzielen. Zur<br />

Bekämpfung der schweren Hirnkrankheiten<br />

wie Alzheimer-Krankheit, Hirnschlag oder<br />

Parkinson-Krankheit ist es notwendig, die<br />

Gr<strong>und</strong>lagenforschung kontinuierlich weiterzuführen,<br />

so dass Kliniker auf ihr aufbauen<br />

<strong>und</strong> neue Behandlungsmethoden <strong>und</strong> Therapien<br />

entwickeln können. Es ist unsere Verantwortung,<br />

die Forschungsarbeiten fortzusetzen<br />

<strong>und</strong> zu versuchen, die Unterstützung der<br />

Öffentlichkeit zu erlangen.<br />

Stelle Dir eine Welt vor ...<br />

Ausserdem ist es unsere Pflicht, jene Bereiche<br />

der wissenschaftlichen Forschung verständlich<br />

zu machen, die schon bald konkrete<br />

Anwendungsmöglichkeiten für den Menschen<br />

bieten könnten. Um über das Laboratorium 109


110<br />

hinaus Fortschritte zu erzielen, müssen wir<br />

die nächsten klinischen Schritte partnerschaftlich<br />

mit der Öffentlichkeit zusammen<br />

unternehmen – es gilt also, die wissenschaftlichen<br />

Erkenntnisse fruchtbar zu machen, um<br />

aus ihnen wirkliche <strong>und</strong> echte Fortschritte<br />

„am Krankenbett“ zu erzielen.<br />

Da unsere Methoden <strong>und</strong> Techniken immer<br />

raffinierter werden, können sie, wenn man<br />

den möglichen Missbrauch ins Auge fasst,<br />

auch als bedrohlich empf<strong>und</strong>en werden. Es ist<br />

wichtig, dass wir die verständlichen Ängste<br />

wahrnehmen, die Hirnforschung könnte zu<br />

Möglichkeiten führen, die zentralsten Aspekte<br />

unseres <strong>Gehirn</strong>s <strong>und</strong> Verhaltens, also genau<br />

das, was unsere menschliche Einzigartigkeit<br />

ausmacht, zu verändern. Das Vertrauen der<br />

breiten Öffentlichkeit in die Integrität der wissenschaftlich<br />

Tätigen, in die Sicherheit der klinischen<br />

Versuche – den Eckstein angewandter<br />

Forschung – <strong>und</strong> in die Sicherstellung der<br />

Vertraulichkeit von Patientendaten muss ständig<br />

aufrecht erhalten werden.<br />

Die Wissenschaft in den Zusammenhang des<br />

wirklichen Lebens zu stellen, ist immer eine<br />

Herausforderung. Die Leute wollen nicht nur<br />

wissen, wie <strong>und</strong> warum Forschung betrieben<br />

wird, sie wollen auch wissen, inwieweit sie für<br />

sie von Belang ist. Es ist daher sehr wichtig,<br />

den Bedenken der Öffentlichkeit, die Erkenntnisse<br />

der Hirnforschung könnten auf schädigende<br />

oder ethisch fragwürdige Weise angewendet<br />

werden, entgegenzutreten. So gilt es,<br />

beiden Herausforderungen gerecht zu werden,<br />

damit die von einer neurologischen oder<br />

psychiatrischen Krankheit Betroffenen von<br />

den Errungenschaften der Hirnforschung voll<br />

profitieren können.<br />

Der Auftrag der Neurowissenschaftler <strong>und</strong><br />

Neurowissenschaftlerinnen reicht über die<br />

Hirnforschung hinaus. Wir stellen uns auch<br />

der Verantwortung, in einer verständlichen<br />

Sprache zu erklären, wohin uns unsere Wissenschaft<br />

mit ihren neuen Verfahren <strong>und</strong><br />

Techniken vermutlich führen wird. Wir, die<br />

Mitglieder der amerikanischen <strong>Dana</strong> Alliance<br />

<strong>und</strong> der Europäischen <strong>Dana</strong> Alliance, sind<br />

gerne bereit, beim Aufbruch in ein neues<br />

Jahrzehnt der Hoffnung, der harten Arbeit<br />

<strong>und</strong> der Partnerschaft mit der Öffentlichkeit<br />

diese Aufgabe zu übernehmen.


Members of EDAB<br />

Yves Agid*, Hôpital de la Salpêtrière, Paris, France<br />

Adriano Aguzzi, University of Zurich, Switzerland<br />

Per Andersen*, University of Oslo, Norway<br />

João Lobo Antunes, University of Lisbon, Portugal<br />

Carlos Avendaño, University of Madrid, Spain<br />

Alan Baddeley, University of Bristol, UK<br />

Yves-Alain Barde*, Friedrich Miescher Institute,<br />

Basel, Switzerland<br />

Carlos Belmonte, Instituto de Neurosciencias,<br />

Alicante, Spain<br />

Yehezkel Ben-Ari, INSERM-INMED, France<br />

Michael Berger, University of Vienna, Austria<br />

Giovanni Berlucchi*, Università degli Studi di<br />

Verona, Italy<br />

Giorgio Bernardi, University Tor Vergata-Roma,<br />

Italy<br />

Alain Berthoz*, Collège de France, Paris, France<br />

Konrad Beyreuther*, University of Heidelberg,<br />

Germany<br />

Anders Björkl<strong>und</strong>*, University of L<strong>und</strong>, Sweden<br />

Colin Blakemore*, University of Oxford, UK<br />

Joel Bockaert, CNRS, Montpellier, France<br />

Alexander Borbély, University of Zurich,<br />

Switzerland<br />

Thomas Brandt, University of Munich, Germany<br />

Herbert Budka, University of Vienna, Austria<br />

Jan Bureˇs*, Academy of Sciences, Prague, Czech<br />

Republic<br />

Irina Bystron, University of St Petersburg, Russia<br />

Arvid Carlsson, University of Gothenburg, Sweden<br />

Jean-Pierre Changeux, Institut Pasteur, Paris, France<br />

Marina Chernisheva, University of St Petersburg,<br />

Russia<br />

François Clarac, CNRS, Marseille, France<br />

Francesco Clementi*, Unversity of Milan, Italy<br />

Graham Collingridge*, University of Bristol, UK<br />

Michel Cuénod*, University of Lausanne,<br />

Switzerland<br />

Milka Culic, University of Belgrade, Yugoslavia<br />

Kay Davies*, University of Oxford, UK<br />

Jose Maria Delgado-Garcia, Universidad Pablo<br />

de Olavide, Seville, Spain<br />

Johannes Dichgans, University of Tübingen,<br />

Germany<br />

Ray Dolan, University College London, UK<br />

Yadin Dudai*, Weizmann Institute of Science,<br />

Rehovot, Israel<br />

Károly Elekes, Hungarian Academy of Sciences,<br />

Tihany, Hungary; President of the Hungarian<br />

Neuroscience Society<br />

Ulf Eysel, Ruhr-Universität Bochum, Germany<br />

Alberto Ferrus*, Instituto Cajal, Madrid, Spain<br />

Cesare Fieschi, University of Rome, Italy<br />

Russell Foster, Imperial College of Science and<br />

Technology, London, UK<br />

Richard Frackowiak*, University College,<br />

London, UK<br />

Hans-Joachim Fre<strong>und</strong>*, University of Düsseldorf,<br />

Germany<br />

Tamás Fre<strong>und</strong>, University of Budapest, Hungary<br />

Willem Gispen*, University of Utrecht, The<br />

Netherlands<br />

Albert Gjedde*, Aarhus University, Denmark<br />

Jacques Glowinski, Collège de France, Paris,<br />

France<br />

Susan Greenfield, The Royal Institution of Great<br />

Britain, London, UK<br />

Sten Grillner*, Karolinska Institute, Stockholm,<br />

Sweden<br />

Riitta Hari*, Helsinki University of Technology,<br />

Finland<br />

Anton Hermann, University of Salzburg, Austria<br />

Norbert Herschkowitz*, University of Bern,<br />

Switzerland<br />

Florian Holsboer*, Max-Planck-Institute of<br />

Psychiatry, Munich, Germany<br />

Sir Andrew Huxley*, University of Cambridge, UK<br />

Giorgio Innocenti, Karolinska Institute, Stockholm,<br />

Sweden


Leslie Iversen, University of Oxford, UK<br />

Susan Iversen*, University of Oxford, UK<br />

Julian Jack*, University of Oxford, UK<br />

Marc Jeannerod*, Institut des Sciences Cognitives,<br />

Bron, France<br />

Barbro Johansson, L<strong>und</strong> University, Sweden<br />

Markku Kaste, University of Helsinki, Finland<br />

Ann Kato, Centre Médical Universitaire, Geneva,<br />

Switzerland<br />

Christopher Kennard, Imperial College School of<br />

Medicine, London, UK<br />

Hubert Kerschbaum, University of Salzburg,<br />

Austria<br />

Helmut Kettenmann, Max-Delbrück-Centre for<br />

Molecular Medicine, Berlin, Germany<br />

Malgorzata Kossut*, Nencki Institute of<br />

Experimental Biology, Warsaw, Poland<br />

Elias Kouvelas, University of Patras, Greece<br />

Oleg Krishtal*, Bogomoletz Institute of Physiology,<br />

Kiev, Ukraine<br />

Theodor Landis*, University Hospital Geneva,<br />

Switzerland<br />

Martin Lauritzen, University of Copenhagen,<br />

Denmark<br />

Willem Levelt*, Max-Planck-Institute for<br />

Psycholinguistics, Nijmegen, The Netherlands<br />

Rita Levi-Montalcini*, Institute of Neurobiology,<br />

CNR, Rome, Italy<br />

José Lopez-Barneo*, University of Seville, Spain<br />

Pierre J. Magistretti*, University of Lausanne,<br />

Switzerland; President of the Federation of European<br />

Neuroscience Societies<br />

Rafael Malach, Weizmann Institute of Science,<br />

Rehovot, Israel<br />

William McDonald*, Royal College of Physicians,<br />

London, UK<br />

Jacques Mehler*, CNRS/EHESS, Paris, France<br />

Eldad Melamed, Tel Aviv University, Israel<br />

Hannah Monyer*, University Hospital of<br />

Neurology, Heidelberg, Germany<br />

Richard Morris*, University of Edinburgh, Scotland<br />

Erwin Neher, Max-Planck-Institute for Biophysical<br />

Chemistry, Göttingen, Germany<br />

Manuel Nieto-Sampedro*, Instituto Cajal,<br />

Madrid, Spain<br />

Alexander Nozdrachev, State University of<br />

St Petersburg, Russia<br />

Wolfgang Oertel*, Philipps-University, Marburg,<br />

Germany<br />

Guy Orban*, Catholic University of Leuven,<br />

Belgium<br />

Gonul Peker, University of Ege Medical School,<br />

Izmir, Turkey; President of Turkish Neuroscience<br />

Society<br />

Roland Pochet, Université Libre de Bruxelles,<br />

Belgium<br />

Werner Poewe, Universitätsklinik für Neurologie,<br />

Innsbruck, Austria<br />

Dominique Poulain, Institut Francois Magendie,<br />

France<br />

Elzbieta Pyza, Jagiellonian University, Krakow,<br />

Poland<br />

Martin Raff*, University College London, UK<br />

Geoffrey Raisman, National Institute for Medical<br />

Research, London, UK<br />

Joaquim Alexandre Ribeiro, University of Lisbon,<br />

Portugal<br />

Giacomo Rizzolatti*, University of Parma, Italy<br />

Steven Rose, The Open University, Milton Keynes, UK<br />

Sir Martin Roth*, University of Cambridge, UK<br />

Sir Michael Rutter, University of London, UK<br />

Bert Sakmann, Max-Planck-Institute for Medical<br />

Research, Heidelberg, Germany<br />

Martin Schwab*, University of Zurich, Switzerland<br />

Menahem Segal, Weizmann Institute of Science,<br />

Rehovot, Israel<br />

Idan Segev, Hebrew University, Jerusalem, Israel<br />

Tim Shallice*, University College London, UK<br />

Wolf Singer*, Max-Planck-Institute for Brain<br />

Research, Frankfurt, Germany<br />

David Smith, University of Oxford, UK<br />

Henk Spekreijse*, University of Amsterdam,<br />

The Netherlands<br />

Günther Sperk, University of Innsbruck, Austria<br />

Michael Stewart, The Open University, Milton<br />

Keynes, UK


Petra Stoerig*, Heinrich-Heine University,<br />

Düsseldorf, Germany<br />

Piergiorgio Strata*, University of Turin, Italy<br />

Eva Sykova, Institute of Experimental Medicine<br />

ASCR, Prague, Czech Republic<br />

Hans Thoenen*, Max-Planck-Institute for<br />

Psychiatry, Martinsried, Germany<br />

József Toldi, University of Szeged, Hungary<br />

Eduardo Tolosa, University of Barcelona, Spain<br />

Jerzy Vetulani, Institute of Pharmacology, Poland<br />

Sylvester Vizi*, Hungarian Academy of Sciences,<br />

Budapest, Hungary<br />

Lord Walton of Detchant*, University of<br />

Oxford, UK<br />

Hans Winkler*, University of Innsbruck, Austria<br />

Semir Zeki*, University College London, UK<br />

Karl Zilles*, Heinrich-Heine-University, Düsseldorf,<br />

Germany<br />

*original signatory to the EDAB Declaration<br />

Federation of European Neuroscience Societies<br />

Presidents / Term Members<br />

Francesc Artigas, Spanish Society of<br />

Neuroscience, University of Barcelona, Spain<br />

Fabio Benfenati, Italian Neuroscience Society,<br />

University of Genova, Italy<br />

Eero Castrén, Brain Research Society of Finland,<br />

University of Helsinki, Finland<br />

Giuseppe Chiarenza, Federation of European<br />

Psychophysiology, RHO Hospital, Milan, Italy<br />

Alexander Cools, Stichting Neurofederatie,<br />

University of Nijmegen, The Netherlands<br />

Erik de Schutter, Belgian Society for<br />

Neuroscience, University of Antwerp, Belgium<br />

Mara Dierssen, International Behavioural & Genetic<br />

Society, Barcelona, Spain<br />

Barry Everitt, European Behavioural Pharmacology<br />

Society, University of Cambridge, UK<br />

Aase Frandsen, Danish Society for Neuroscience,<br />

Copenhagen University Hospital, Denmark<br />

Jean-Marc Fritschy, Swiss Society for<br />

Neuroscience, University of Zurich, Switzerland<br />

Dieter Heiss, European Federation of Neurological<br />

Societies, University of Köln, Germany<br />

Ferdinand Hucho, European Society for<br />

Neurochemistry, Freie Universität Berlin, Germany<br />

Simon Khechinashvili, Georgian Neuroscience<br />

Association, Beritsashvili Institute of Physiology,<br />

Tbilisi, Republic of Georgia<br />

Ivicia Kostovic, Croatian Society for Neuroscience,<br />

Zagreb, Croatia<br />

Ada Mitsacos, Hellenic Society for Neuroscience,<br />

University of Patras, Greece<br />

Katarzyna Nalecz, Polish Neuroscience Society,<br />

Nencki Institute of Experimental Biology, Warsaw,<br />

Poland<br />

Jes Olesen, European Brain Council, Glostrup<br />

Hospital, Copenhagen, Denmark<br />

Geneviève Rougon, Société des Neurosciences,<br />

UMR-CNRS, Marseille, France<br />

Terje Sagvolden, Norwegian Neuroscience<br />

Society, University of Oslo, Norway<br />

Susan Sara, European Brain and Behaviour Society,<br />

Université Pierre et Marie Curie, Paris, France<br />

Ana Sebastião, Portuguese Society for<br />

Neuroscience, University of Lisbon, Portugal<br />

Werner Sieghart, Austrian Neuroscience<br />

Association, Medical University Vienna, Austria<br />

Josef Syka, Czech Neuroscience Society, Academy<br />

of Sciences, Prague, Czech Republic<br />

Jan M. van Ree, European College of Neuropsychopharmacology,<br />

Utrecht, The Netherlands<br />

Marta Weinstock-Rosin, Israel Society for<br />

Neuroscience, Hebrew University, Jerusalem, Israel<br />

Leon Zagrean, National Neuroscience Society<br />

of Romania, Carol Davila University of Medicine,<br />

Bucharest, Romania<br />

Herbert Zimmermann, German Neuroscience<br />

Society, Biozentrum der J. W. Goethe-Universität,<br />

Frankfurt, Germany<br />

March 2004


A <strong>Dana</strong> Alliance for the Brain Inc Publication prepared by EDAB,<br />

the European subsidiary of DABI<br />

Gedruckt in der Schweiz 7.2004

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!