BGH, Urteil vom 31. Mai 1960, BGHSt 14, 314 – Amanda ...
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Universitäts-Repetitorium der Humboldt-Universität zu Berlin<br />
<strong>BGH</strong>, <strong>Urteil</strong> <strong>vom</strong> <strong>31.</strong> <strong>Mai</strong> <strong>1960</strong>, <strong>BGH</strong>St <strong>14</strong>, 3<strong>14</strong> <strong>–</strong> <strong>Amanda</strong><br />
Sachverhalt: Manfred hat Streit mit seiner Freundin <strong>Amanda</strong>, die behauptet<br />
hatte, von ihm schwanger zu sein. Manfred wollte eine Abtreibung, <strong>Amanda</strong><br />
nicht. Am frühen Sonntagmorgen verlässt Manfred nach einer lebhaften<br />
Auseinandersetzung das Schlafzimmer und schließt dieses von außen<br />
ab. Er geht zu Petra, von der er weiß, dass sie illegale Abtreibungen durchführt,<br />
um sie zu <strong>Amanda</strong> zu bringen und er fürchtet, dass <strong>Amanda</strong> inzwischen<br />
aufwachen und fliehen könnte. Allerdings trifft er Petra nicht an. Als<br />
er eine halbe Stunde später zurück kommt, liegt <strong>Amanda</strong> immer noch im<br />
Bett. Sie war zwar inzwischen wach, hatte aber das Abschließen des Zimmers<br />
nicht bemerkt und auch nicht den Versuch unternommen, das Zimmer<br />
zu verlassen.<br />
Problemstellung: § 239 StGB - mangelnder Fortbewegungswille<br />
Materialien: Vorlesung Strafrecht BT Arbeitsblatt Nr. 11;<br />
Examinatorium Strafrecht BT Arbeitsblatt Nr. 38<br />
Universitäts-Repetitorium der Humboldt-Universität zu Berlin / Strafrecht / Prof. Heinrich
Universitäts-Repetitorium der Humboldt-Universität zu Berlin<br />
Lösungsübersicht:<br />
Strafbarkeit Manfreds gem. § 239 Abs. 1 StGB<br />
I. Tatbestand<br />
1. Objektiver Tatbestand<br />
a) Tatobjekt (+)<br />
b) Tathandlung Einsperren (+)<br />
c) Taterfolg str.<br />
→ Problem:<br />
aa) Aktualitätstheorie (tatsächlich vorliegender Fortbewegungswille<br />
des Opfers erforderlich),<br />
danach Taterfolg (<strong>–</strong>)<br />
bb) Potentialitätstheorie (h.M.! weder aktueller<br />
Fortbewegungswille, noch entsprechendes Bewusstsein<br />
des Opfers erforderlich),<br />
danach Taterfolg (+)<br />
cc) Aktualisierbarkeitstheorie (vermittelnde Ansicht!<br />
Objektive Möglichkeit des Opfers zur Bildung eines<br />
aktuellen Fortbewegungswillens erforderlich),<br />
hier Taterfolg (+)<br />
2. Subjektiver Tatbestand (+)<br />
II./III. Rechtswidrigkeit/Schuld (+)<br />
IV. Ergebnis: Strafbarkeit (+)<br />
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Lösungsvorschlag:<br />
Strafbarkeit Manfreds wegen Freiheitsberaubung gemäß § 239 I<br />
Alt. 1 StGB<br />
Indem Manfred seine Freundin <strong>Amanda</strong> für eine halbe Stunde im Schlafzimmer<br />
einschloss, könnte er sich wegen Freiheitsberaubung nach § 239 I<br />
Alt. 1 StGB strafbar gemacht haben.<br />
I. Tatbestand<br />
Zu prüfen ist zunächst die Tatbestandsmäßigkeit von Manfreds Verhalten.<br />
1. Objektiver Tatbestand<br />
a) Tatobjekt<br />
Die Freiheitsberaubung setzt in objektiver Hinsicht als Tatobjekt einen anderen<br />
Menschen voraus, der die natürliche Fähigkeit zu willkürlicher Fortbewegung<br />
hat. Fraglich ist zwar, ob auch ein schlafender Mensch taugliches<br />
Tatobjekt sein kann. Dies kann hier jedoch dahingestellt bleiben, weil Petra<br />
jedenfalls innerhalb der halben Stunde, die sie eingeschlossen war, aufgewacht<br />
ist. Sie ist folglich ein taugliches Tatopfer.<br />
b) Tathandlung<br />
Unter der Tathandlung „Einsperren“ im Sinne von § 239 I Alt. 1 StGB ist<br />
jedes Festhalten in einem umschlossenen Raum durch äußere Vorrichtungen<br />
zu verstehen, so dass der Betroffene objektiv gehindert ist, sich von der<br />
Stelle zu bewegen. Indem Manfred die Tür zum Schlafzimmer zuschloss,<br />
machte er es <strong>Amanda</strong> bis zu seiner Rückkehr unmöglich, das Zimmer zu<br />
verlassen, denn eine andere gefahrlose Möglichkeit, sich aus dem Zimmer<br />
zu entfernen, bestand nicht. Dass die Tür nur eine kurze Zeit lang <strong>–</strong> hier eine<br />
halbe Stunde <strong>–</strong> zugesperrt war, ist unerheblich. Demnach liegt die Tathandlung<br />
des Einsperrens vor.<br />
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c) Taterfolg<br />
Umstritten ist jedoch, ob § 239 I StGB auch einen Taterfolg in dem Sinne<br />
voraussetzt, dass das Opfer von der Einsperrung gewusst hat und der aktuelle<br />
Wille zur Fortbewegung beeinträchtigt wurde oder ob die Beeinträchtigung<br />
der potentiellen Fortbewegungsmöglichkeit ausreicht. Hierzu werden<br />
im Wesentlichen drei Theorien vertreten:<br />
aa) Aktualitätstheorie<br />
Nach der Aktualitätstheorie liegt eine vollendete Freiheitsberaubung erst in<br />
dem Moment vor, in dem sich das Opfer tatsächlich fortbewegen will. §<br />
239 StGB schütze nämlich den natürlichen Willen des Opfers, den Aufenthaltsort<br />
zu ändern. Wer den Willen, sich wegzubewegen, nicht hat, kann<br />
auch nicht seiner Fortbewegungsfreiheit beraubt werden. Nach dieser Theorie<br />
müsste eine Bestrafung Manfreds aus dem vollendeten Delikt mithin<br />
ausscheiden, da Petra das Zimmer nicht verlassen wollte.<br />
bb) Potentialitätstheorie<br />
Demgegenüber geht die Potentialitätstheorie von einem umfassenden Schutz<br />
des § 239 StGB aus, so dass weder ein aktueller Fortbewegungswille noch<br />
ein entsprechendes Bewusstsein des Opfers erforderlich ist. § 239 StGB<br />
schütze bereits die potentielle Fortbewegungsfreiheit, gleichgültig, ob sich<br />
das Opfer gar nicht fortbewegen will bzw. seine Lage gar nicht bemerkt.<br />
Folgte man dieser Auffassung, wäre der objektive Tatbestand der Freiheitsberaubung<br />
erfüllt.<br />
cc) Aktualisierbarkeitstheorie<br />
Die vermittelnde Aktualisierbarkeitstheorie verlangt eine Situation, in der<br />
das Opfer seinen potentiell vorhandenen Fortbewegungswillen jederzeit<br />
aktualisieren könnte, selbst wenn es die Lage tatsächlich nicht bemerkt hat.<br />
Begründet wird diese Theorie damit, dass § 239 StGB denjenigen schützen<br />
soll, der seine persönliche Freiheit auch nutzen kann. Ist dies generell (z. B.<br />
bei Säuglingen) oder vorübergehend (z. B. bei Bewusstlosen) nicht der Fall,<br />
könne auch keine „potentielle“ Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigt werden.<br />
Da Petra sich jederzeit hätte fortbewegen können, wäre auch nach<br />
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dieser Theorie der objektive Tatbestand des § 239 I Alt. 1 StGB erfüllt.<br />
dd) Stellungnahme<br />
Eine Streitentscheidung ist nur zwischen der Aktualitätstheorie einerseits<br />
und der Potentialitäts- und Aktualisierbarkeitstheorie, die zu dem gleichen<br />
Ergebnis gelangen, andererseits erforderlich. Gegen die Potentialitätstheorie<br />
spricht, dass sie von dem Bemühen getragen ist, auch solche Fälle zu erfassen,<br />
in denen der Täter seinerseits alles getan hat, um das Opfer der Freiheit<br />
zu berauben, das Opfer tatsächlich aber nicht bemerkte, dass es eingesperrt<br />
war bzw. trotz des Erkennens den Aufenthaltsort nicht verlassen<br />
wollte. Dies (volles Handlungsunrecht) ist jedoch eine Konstellation, die<br />
man üblicherweise als Versuch qualifizieren würde. Da der Versuch des §<br />
239 StGB nunmehr in Abs. 2 unter Strafe gestellt ist, würde mit der Potentialitätstheorie<br />
ein Verhalten, welches lediglich einen untauglichen Versuch<br />
darstellt (und zwar wegen Untauglichkeit des <strong>–</strong> nicht fortbewegungswilligen<br />
<strong>–</strong> Tatobjekts) als Vollendungsdelikt bestraft. Andererseits führt die Aktualitätstheorie<br />
zu empfindlichen Schutzlücken, denn nach ihr könnten Bewusstlose,<br />
Kranke und Ruhebedürftige nicht der Freiheit beraubt werden. Diese<br />
Einschränkung ist jedoch mit dem Schutzzweck des § 239 StGB kaum<br />
vereinbar, so dass es genügen muss, wenn nur die potentielle Fortbewegungsfreiheit<br />
beeinträchtigt wird. Dafür spricht auch ein systematischer Vergleich<br />
mit dem Diebstahlstatbestand: Nach h.M. können selbst Bewusstlose<br />
„Gewahrsam“ an Gegenständen haben, so dass zu erklären wäre, warum<br />
der Schutz der persönlichen Freiheit hinter dem Schutz des Eigentums zurückbleiben<br />
soll. Gegen die Aktualitätstheorie (und bezogen auf Bewusstlose<br />
auch gegen die Aktualisierbarkeitstheorie) spricht zudem, dass man konsequenterweise<br />
im Rahmen der Erfolgsqualifikation des § 239 III Nr. 1<br />
StGB (Freiheitsberaubung über eine Woche) die Stunden des Schlafens<br />
abziehen müsste, weil sich das Opfer zu dieser Zeit schließlich nicht fortbewegen<br />
kann. Eine solche Rechnung wäre jedoch widersinnig. Insofern<br />
sprechen insgesamt die besseren Argumente für die Potentialitätstheorie, so<br />
dass Manfred den objektiven Tatbestand der Freiheitsberaubung erfüllt hat.<br />
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2. Subjektiver Tatbestand<br />
In subjektiver Hinsicht hat Manfred seine Freundin willentlich und wissentlich,<br />
mithin vorsätzlich eingesperrt.<br />
II. Rechtswidrigkeit und Schuld<br />
Rechtswidrigkeit und Schuld liegen vor.<br />
III. Ergebnis<br />
Folglich hat sich Manfred wegen einer Freiheitsberaubung nach § 239 I Alt.<br />
1 StGB strafbar gemacht.<br />
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