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Die Griechisch-Katholische Kirche Heute - Max-Planck-Institut für ...

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Antrittsvorlesung an der Martin-Luther-Universität<br />

Halle-Wittenberg<br />

30. Juni 2004<br />

<strong>Die</strong> <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong> <strong>Kirche</strong> <strong>Heute</strong><br />

Chris Hann<br />

<strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> ethnologische Forschung<br />

www.eth.mpg.de<br />

Email: hann@eth.mpg.de<br />

Einführung<br />

Anekdoten aus Wisłok Wielki<br />

Gelebte Geschichte in Przemyśl<br />

Kulturelle Grenzen im Herzen Europas?<br />

<strong>Heute</strong> (2002-2004)<br />

Schluss<br />

1


Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! 1<br />

Es ist mir eine Ehre, 5 Jahre nachdem ich in die <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-Gesellschaft gewechselt bin,<br />

eine Antrittsvorlesung an dieser Universität zu halten. Ich verstehe sehr gut, warum ich nur<br />

eine halbe Stunde zur Verfügung habe: meine Professur ist ja nur eine Honorarprofessur!<br />

Gestatten Sie trotzdem, dass ich zu Beginn ein paar informelle Sätze spreche. <strong>Die</strong>se<br />

Ernennung bedeutet viel <strong>für</strong> mich. <strong>Die</strong> Martin-Luther-Universität ist zwar nicht so alt wie<br />

Oxford oder Cambridge, wo ich in England studiert habe, kann aber auf eine 500jährige<br />

Tradition zurückblicken. <strong>Die</strong> <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-Gesellschaft, eine außeruniversitäre Einrichtung,<br />

hat nicht viel mehr als 50 Jahre vorzuweisen. Ich bin natürlich stolz, Mitglied dieser<br />

Gesellschaft zu sein, und ich schätze vor allem die guten Arbeitsbedingungen, aber wer weiß,<br />

ob es uns in 20 Jahren noch geben wird? Allerdings kann man mit Sicherheit behaupten, dass<br />

diese Universität auch in 500 Jahren fest in der Stadtmitte von Halle verankert sein wird. Oder,<br />

um eine Lieblingsmetapher der Ethnologen zu benutzen, die Martin-Luther-Universität wurde,<br />

ist und bleibt in diese Stadt eingebettet.<br />

Mir ist natürlich bewusst, dass es in den letzten Jahren an der MLU erhebliche<br />

Veränderungen gegeben hat, und dass immer noch Erneuerungsprozesse bevorstehen. Es wäre<br />

nicht angemessen, wenn ein Honorarprofessor diese kommentiert. Außerdem ist es <strong>für</strong> mich<br />

als Ausländer so ähnlich wie bei der ethnologischen Feldforschung: man versucht die hiesigen<br />

Sitten und Gebräuche zu verstehen und sich anzupassen. Meine Hoffnung ist, dass unsere<br />

Einrichtung so gut wie möglich als Teil dieser sich neu entwickelnden akademischen<br />

Landschaft in Halle betrachtet werden kann, und dass ich und besonders alle meine<br />

1 Für sprachliche Hilfe möchte ich mich, wie im Fall meiner Antrittsvorlesung im November 2003 an der Leipziger<br />

Universität, bei Anke Brüning und Berit Westwood herzlich bedanken. <strong>Die</strong>se Vorlesung könnte als Ergänzung des Leipziger<br />

Textes gelesen werden: ich habe <strong>für</strong> das dortige Publikum mehr über die Geschichte des Faches und die eigenen bisherigen<br />

Forschungen erzählt, weniger aber über konkrete Beispiele, wie ich sie in diesem Text vorstelle.<br />

Für freundliche Hinweise bedanke ich mich bei Kollegen Hermann Goltz vom Seminar <strong>für</strong> Konfessionskunde der<br />

Orthodoxen <strong>Kirche</strong>n (Theologische Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg).<br />

Eine Bemerkung zur Terminologie: Auch wenn es jüngere offizielle Bezeichnungen anstelle des älteren Terminus<br />

"griechisch-katholisch" gibt, bleibe ich aus empirischen Gründen hier bei dieser üblichen Bezeichnung‚ die noch aus der Zeit<br />

des Habsburgerreichs stammt. 'Greckokatolicki' ("griechisch-katholisch") ist immer noch die am häufigsten benutzte<br />

Bezeichnung <strong>für</strong> diese <strong>Kirche</strong> in Polen, das in diesem Vortrag im Vordergrund steht. Offiziell heisst diese <strong>Kirche</strong> in Polen<br />

heute die "<strong>Katholische</strong> <strong>Kirche</strong> des byzantinisch-ukrainischen Ritus" und in der Ukraine "Ukrainische <strong>Katholische</strong> <strong>Kirche</strong>".<br />

<strong>Die</strong> verkürzenden Termini Unici, Uniaty, Unierte, werden auch gelegentlich benutzt, aber von vielen <strong>Griechisch</strong>-<br />

<strong>Katholische</strong>n sowohl in Polen wie auch in anderen Ländern strikt abgelehnt, da sie diese als pejorativ ansehen. Andererseits<br />

ist die "Brester Union" ein anerkannter kirchengeschichtlicher Begriff auf allen Seiten.<br />

2


Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, welche die Abteilung Postsozialistisches Eurasien bilden,<br />

vollkommen integriert bzw. eingebettet werden können. Um dies zu ermöglichen sind meine<br />

Frau und ich selbstredend nach Halle umgezogen. Wir wohnen seit fünf Jahren in der<br />

Südstadt und sind von Montag bis Freitag in unseren <strong>Institut</strong>en zu erreichen: ein anderes<br />

Arbeitsmodell können wir uns nicht vorstellen.<br />

Mit einigen von Ihnen würden wir uns auch sehr gern über die sozialistischen Zeiten in<br />

dieser Stadt und an dieser Universität unterhalten, aber da die Zeit so knapp ist, muss ich<br />

darauf verzichten, noch mehr Gedanken dieser Art zu äußern und stattdessen nun zum<br />

eigentlichen Thema übergehen. Der Titel dieser Vorlesung ist eine Anspielung auf Le<br />

Totémisme Aujourd’hui, ein bekanntes Werk von Claude Lévi-Strauss, auf welches ich am<br />

Ende zurückkommen werde.<br />

Einführung<br />

Wenn ich gefragt werde, mit welchen spezifischen Gruppen von Menschen ich mich als<br />

Sozialanthropologe beschäftige, schließe ich seit einigen Jahren "die griechisch-katholische<br />

<strong>Kirche</strong> Mitteleuropas" in meine Antwort mit ein. <strong>Die</strong> Reaktionen auf diese Information<br />

variieren beträchtlich. In Großbritannien hat praktisch niemand eine Vorstellung, wer diese<br />

<strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n sein könnten, und so wird schnell das Thema gewechselt. In<br />

Deutschland gibt es Gesprächspartner, die sich ähnlich verhalten, aber dann versuchen, besser<br />

zu verstehen und, vielleicht um höflich zu sein, anmerken: "Oh wirklich, wie interessant! Ich<br />

wusste gar nicht, dass es <strong>Griechisch</strong>-Orthodoxe in Mitteleuropa gibt." Wenn ich dann auch<br />

das Gefühl habe, höflich sein zu müssen, beginne ich zum unzähligsten Mal zu erklären, dass<br />

die <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n, denen ich mich in meinen Forschungen widme, weder<br />

Mitglieder einer autotephalen orthodoxen <strong>Kirche</strong> sind, noch mit den Griechen als ethnische<br />

Gruppe irgendetwas gemein haben.<br />

Es ist viel leichter, diese Dinge in Polen zu diskutieren. Wenn die Leute dort hören, dass<br />

ich mich <strong>für</strong> die <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n interessiere, dann erwidert man meist: "Ah, sie<br />

beschäftigen sich mit Ukrainern, ist das richtig?" <strong>Die</strong> Antwort lautet "Ja", wenn es auch nicht<br />

korrekt ist, anzunehmen, dass alle <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n in Polen, geschweige denn in der<br />

benachbarten Slowakei und den übrigen Ländern der Region, sich selbst als Ukrainer<br />

betrachten. Gerade in der Westukraine, wo die <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n die zahlenmäßig<br />

größte religiöse Gruppe darstellen (einige Schätzungen ergeben mehr als 5 Millionen),<br />

existiert eine Minderheit, die ein Gruppenbewusstsein als Rusynen oder (karpatische)<br />

Ruthenen besitzen, welches manche nicht als eine regionale Variante der ukrainischen<br />

Identität verstehen, sondern als eine Alternative dazu. <strong>Die</strong> komplizierte Wirklichkeit ist, dass<br />

3


die <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n, obwohl sie mit verschiedenen nationalen Bewegungen<br />

verbunden werden können, weder akkurat auf eine einzige säkulare Identität festgelegt, noch<br />

einer der beiden großen Traditionen, westlich (katholisch) oder östlich (orthodox),<br />

deckungsgleich zugeordnet werden können. <strong>Die</strong>se Komplexität ist exakt das, was diese<br />

Thematik auch <strong>für</strong> einen Ethnologen so interessant macht.<br />

Ich werde in einer Weise beginnen, die typisch <strong>für</strong> die Ethnologie ist und von Burkhard<br />

Schnepel neulich überzeugend gerechtfertigt wurde, nämlich mit einigen anekdotischen<br />

Reminiszenzen, um zu erklären, wie ich diese Gruppe während eines Feldprojekts, das völlig<br />

andere Ziele hatte, <strong>für</strong> mich "entdeckt" habe. Im weiteren Teil folgt dann eine Darstellung der<br />

jüngeren "gelebten Geschichte" der <strong>Griechisch</strong>- <strong>Katholische</strong>n in dem weit reichenden Gebiet,<br />

welches früher als Galizien bekannt war (es ist mir in dieser Vorlesung nicht möglich, den<br />

anderen Teilen Mitteleuropas oder gar den <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n in anderen Regionen und<br />

Kontinenten gerecht zu werden). Da ich kein Historiker bin, werde ich die Vergangenheit der<br />

<strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n nicht anhand wissenschaftlicher Quellen vorstellen, sondern auf<br />

dieselbe Art, wie mir während der postsozialistischen Jahre in einem bestimmten Ort davon<br />

erzählt wurde. Am Ende werde ich erläutern, wie die <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n eine<br />

einflussreiche Klassifizierung von Samuel Huntington (1996) möglicherweise in Frage stellen.<br />

<strong>Die</strong> Ethnologie kann uns hier hoffentlich helfen, die gegenwärtigen Debatten über westliche<br />

Kultur und die vage Bestimmung ihrer östlichen Grenzen hinter uns zu lassen. Da<strong>für</strong> reichen<br />

klassische strukturalistische Theorien nicht aus; es ist notwendig, hinter die kognitiven<br />

Dichotomien zu schauen, wenn wir die Komplexität der realen Welt verstehen und ihre<br />

Spannungen mildern wollen.<br />

Anekdoten aus Wisłok Wielki<br />

Wisłok Wielki (Groß-Wisłok) ist eine Ansiedlung von etwa sechzig Haushalten im Gebiet der<br />

Niederen Beskiden der Karpaten in Süd-Ostpolen. Ich wohnte dort ungefähr ein Jahr, nämlich<br />

zwischen Februar 1979 und September 1981, und habe den Ort seitdem während vieler<br />

Gelegenheiten wieder besucht. Das die Wahl gerade auf dieses bestimmte Dorf gefallen ist,<br />

war, wie oft in der Ethnologie, zufällig. Ein Freund von mir in Paris hatte Freunde in<br />

Warschau, und diese wiederum kannten einen jungen Mann, der der Wissenschaft und dem<br />

Großstadtleben den Rücken gekehrt hatte, um ein neues Leben als unabhängiger Landwirt in<br />

Wisłok zu beginnen. Bezeichnend ist, dass er selbst dieses Gebiet 'das polnische Texas'<br />

nannte! Es war ein ungewöhnlicher Weg, um auf dem Land Fuß zu fassen, aber <strong>für</strong> dieses<br />

Gebiet in Süd-Ostpolen, welches bis 1947 vorrangig von einer ostslawischen Minderheit<br />

bewohnt wurde, doch wiederum nicht so außergewöhnlich. <strong>Die</strong> Angehörigen dieser<br />

4


Minderheit wurden in zwei Phasen zwangsdeportiert; zuerst 1945 nach Osten, hinter Polens<br />

neue Grenze mit der Ukraine, und 1947 nach Norden und Westen, um die Gebiete, die Polen<br />

von Deutschland gewonnen hatte, wieder zu bevölkern. <strong>Die</strong> Mehrheit der Dorfbewohner, die<br />

ich 1979 vorfand, waren polnische Kolonisten, die die Behörden aus benachbarten Regionen,<br />

in denen Agrarland knapp war, hier angesiedelt hatten. <strong>Die</strong> Einwohnerzahl von vor 1945<br />

wurde nur bis zu maximal 10 % erreicht. Es war daher in den 70er Jahren auch <strong>für</strong> einen so<br />

ungewöhnlichen Charakter wie meine Kontaktperson aus Warschau leicht, von den<br />

sozialistischen Behörden vor Ort ein Bauernhaus, das einst einem einheimischen<br />

Dorfbewohner gehörte, sowie mehr als 30 ha Land – was <strong>für</strong> polnische Verhältnisse damals<br />

und heute im ländlichen Gebiet ein sehr großes Stück Land ist – zugewiesen zu bekommen.<br />

Das Hauptziel meines Forschungsprojekts war der Vergleich von Landwirtschaft, die<br />

von einzelnen Familien betrieben wird, mit dem, was ich bereits aus Ungarn kannte, wo die<br />

Dorfbewohner mehr oder weniger seit 1960 vollkommen kollektiviert worden waren.<br />

Polnische Bauern waren diesem Schicksal zwar entkommen, aber ich wollte herausfinden, ob<br />

die erfolgreiche Verteidigung ihrer Besitz- und Eigentumsrechte ihnen wirklich geholfen und<br />

einen besseren Stand in der Gesellschaft verschafft hatte. Aufgrund der Bewirtschaftung ihrer<br />

eigenen Ländereien waren die ungarischen Dorfbewohner gut in die sozialistischen<br />

<strong>Institut</strong>ionen integriert gewesen, ihr Lebensstandard hatte sich schnell verbessert und die<br />

Lebensmittelmärkte auf dem Land waren gut bestückt. Im Gegensatz dazu war die Knappheit<br />

an Lebensmitteln in den Städten ein klares Zeugnis <strong>für</strong> die strukturellen Schwierigkeiten und<br />

die Stagnation des landwirtschaftlichen Sektors in Polen. Wisłok Wielki war <strong>für</strong> meine<br />

Zwecke, nämlich eine vergleichende sozio-ökonomische Analyse anzustellen, ein geeignetes<br />

"Labor", obgleich es sich aufgrund der Deportationen hier sicher auch um einen<br />

Ausnahmefall handelte. Das neue Leben des Dorfes begann in den frühen Jahren der<br />

sozialistischen Zeit und reflektierte daher mit besonderer Klarheit die wichtigsten<br />

Entwicklungen der sozialistischen Jahrzehnte.<br />

So viel zu meinem ursprünglichen Projekt. 2 Trotz des katastrophalen Bruchs in den 40er<br />

Jahren des 20. Jahrhunderts blieben dem Dorf viele Merkmale seiner vorsozialistischen<br />

Geschichte erhalten. Neben den verlassenen Häusern gab es im unteren Dorf ein altes<br />

<strong>Kirche</strong>ngebäude, das den früheren Bewohnern zugehörte.<br />

2 Hann, C. 1985. A Village Without Solidarity; Polish peasants in years of crisis. New Haven: Yale University Press.<br />

5


<strong>Die</strong> cerkiew/ tserkva im unteren Dorf Wisłok<br />

Man erzählte mir, dass ein ähnliches Gebäude im oberen Dorf während der 50er Jahre von<br />

Bulldozern des staatlichen landwirtschaftlichen Betriebs zerstört wurde.<br />

<strong>Die</strong> ehemalig cerkiew/ tserkva im oberen Dorf (Foto von Adam Fastnacht)<br />

Allerdings war der Ort des Geschehens immer noch sichtbar, da keiner der neuen polnischen<br />

Kolonisten die Ruhe des angrenzenden Friedhofs stören wollte. <strong>Die</strong> <strong>Kirche</strong>, die im unteren<br />

Dorf erhalten geblieben war, verfügte über unterschiedliche architektonische Merkmale. Mir<br />

wurde berichtet, dass, obgleich sie gegenwärtig von römisch-katholischen Gläubigen als<br />

Gotteshaus (kościół) genutzt wurde, die <strong>Kirche</strong> in früheren Zeiten griechisch-katholisch<br />

gewesen war. Damals war ich noch vollkommen ahnungslos, was die <strong>Griechisch</strong>-<br />

<strong>Katholische</strong>n betraf, aber ich hatte bemerkt, dass sich die Bezeichnungen <strong>für</strong> die<br />

<strong>Kirche</strong>ngebäude unterschieden. Eine griechisch-katholische cerkiew (auf ukrainisch tserkva)<br />

war ohne signifikante äußerliche Veränderungen in eine römisch-katholische kościół<br />

umgewandelt worden. Im Inneren war ebenfalls nur wenig verändert worden.<br />

6


Ikone der Dreifaltigkeit<br />

<strong>Die</strong> wichtigsten Ikonen hatte man in das<br />

Historische Museum in Sanok überführt,<br />

aber das Interieur dominierten immer<br />

noch die dunklen Farben des<br />

ursprünglich im 19. Jahrhundert<br />

entstandenen Ikonostas, den man durch<br />

helle Gemälde des aus Polen<br />

stammenden Papstes und der Jungfrau<br />

Maria modifiziert hatte.<br />

Totengedächtnis zu Allerheiligen auf dem neuen Friedhof<br />

im unteren Wisłok<br />

Ikone des rumänisch-<br />

orthodoxen Hl. Märtyrers<br />

Johannes von Suceava<br />

<strong>Die</strong> Grabstätten, die sich bei der<br />

tserkva/kościół befinden, wurden<br />

bedauerlicherweise vernachlässigt, aber<br />

die neuen Siedler hatten ganz in der Nähe<br />

ihren eigenen gepflegten Friedhof<br />

angelegt.<br />

Ich lebte einige Monate bei meiner Kontaktperson aus Warschau im unteren Teil des Dorfes<br />

und besuchte gelegentlich die <strong>Kirche</strong> (er tat es nicht, was einer der Gründe <strong>für</strong> die Isolierung<br />

seiner Familie in dieser Gemeinschaft war). Dadurch erfuhr ich allmählich mehr über die<br />

<strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n. Einige von ihnen waren in den letzten Jahren in das Dorf<br />

zurückgekehrt, allerdings lebten sie alle auf einem Fleck am oberen Ende des Tals und<br />

nahmen nicht gemeinsam mit den anderen Dorfbewohnern an der Sonntagsmesse im unteren<br />

Dorf teil. Später lernte ich einige dieser "Rückkehrer" kennen und zog zu einem von ihnen <strong>für</strong><br />

einige Monate. <strong>Die</strong> Mehrheit war nicht gewillt, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Einer<br />

lehnte es ab, (s)eine ukrainische Herkunft einzugestehen, vermutlich weil er wusste, wie<br />

negativ dies nach Ansicht der neuen polnischen Mehrheit der Region war.<br />

7


Grab von Anastasja Opryszko auf dem alten Teil des<br />

Friedhofs im unteren Wisłok<br />

Mein Gastgeber im oberen Dorf begann zu<br />

weinen, als er mir (nach einer Flasche<br />

Wodka) erklärte, dass seine einzigen Kinder,<br />

zwei Töchter, zum Ende des Krieges<br />

umgekommen waren, als sein Haus von<br />

polnischen Soldaten niedergebrannt wurde.<br />

Seine Frau war einige Jahre zuvor gestorben<br />

und auf dem alten Friedhof an der tserkva<br />

des unteren Dorfs und nicht in dem neuen<br />

römisch-katholischen Teil beigesetzt<br />

worden.<br />

Leider sind meine Anekdoten weder humorvoll noch erheiternd.<br />

Mein Vermieter lebte nun mit einer ukrainischen Frau zusammen, die etwa im gleichen<br />

Alter wie er war und aus einem Dorf stammte, das ca. 16 Kilometer entfernt lag. Sie waren<br />

nicht standesamtlich verheiratet, aber trotzdem durch einen griechisch-katholischen Priester<br />

gesegnet worden, der es offensichtlich als seine seelsorgerische Pflicht ansah, älteren<br />

Menschen dieser Minderheit zu helfen, die andererseits allein leben müssten.<br />

Auch wenn seine Frau dort begraben worden war, besuchte dieser Mann die ehemalige<br />

tserkva in Wisłok nur selten. <strong>Die</strong> Rückkehrer zogen es vor, an der Sonntagsmesse in dem<br />

großen benachbarten Dorf Komańcza teilzunehmen, obwohl der Weg viel weiter war. <strong>Die</strong><br />

<strong>Kirche</strong>, die sie in Komańcza besuchten, war eine kościół und keine tserkva.<br />

<strong>Die</strong> alte cerkiew/ tserkva in Komańcza, jetzt von den<br />

Orthodoxen genutzt<br />

Komańcza verfügte über eine<br />

außergewöhnlich schöne tserkva aus<br />

Holz aus dem frühen 19. Jahrhundert,<br />

die den <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n<br />

genommen wurde und nun im Besitz<br />

der orthodoxen <strong>Kirche</strong> war.<br />

Alle Rückkehrer in Wisłok, ebenso wie die überwiegende Mehrheit der nicht-polnischen<br />

Bevölkerung in Komańcza, waren griechisch-katholische Gläubige. Keiner von ihnen hatte es<br />

in Betracht gezogen, zur orthodoxen <strong>Kirche</strong> zu konvertieren, auch wenn der Ritus fast der<br />

gleiche wie der der orthodoxen "Göttlichen Liturgie" war. Schließlich gab es in Komańcza<br />

8


einen jungen griechisch-katholischen Priester, der die Erlaubnis des römisch-katholischen<br />

Diözesenbischofs bekam, die Messe im östlichen Ritus in einer römisch-katholischen kościół<br />

zu lesen. Trotz der vielen offensichtlichen Merkmale des <strong>Kirche</strong>ngebäudes, die ihrer Tradition<br />

fremd waren, nahmen die Rückkehrer aus Wisłok die Reise und die Ausgaben auf sich, um an<br />

dem Gottesdienst teilzunehmen, bei welchem sie in ihrer eigenen Sprache sprechen und<br />

singen, und, wie eine Frau anmerkte, mit den swoi, d. h. mit den "Ihren" zusammen sein<br />

konnten.<br />

Gelebte Geschichte in Przemyśl<br />

So viel zu dem Thema, wie ich die <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n in dieser Gegend Polens während<br />

des Jahres 1979 an den spezifischen Schauplätzen von Wisłok Wielki und Komańcza kennen<br />

gelernt habe. Mein Wissen über die Geschichte der <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n wurde stets<br />

durch dieses ursprüngliche Feldprojekt geprägt, allerdings habe ich seitdem versucht, meine<br />

Kenntnisse auf verschiedene Weise zu erweitern. Zuerst führte mich mein Weg in die<br />

Bibliothek neben dem Museum in Sanok, der früheren Kreisstadt, und schließlich auch zu den<br />

staatlichen Archiven in Przemyśl, das seit vielen Jahrhunderten als Zentrum der Diözese,<br />

sowohl der Römisch- als auch der <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n, diente. Leider konnte ich keine<br />

Dokumente über die jüngste Geschichte der <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n einsehen und bekam<br />

auch keine Bücher darüber in die Hand. In einem Gebäude, das bis 1946, also bis zur<br />

Unterdrückung der <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n <strong>Kirche</strong>, Teil eines griechisch-katholischen<br />

Klosters war, erlangte ich Zugang zu <strong>Kirche</strong>nbüchern aus Wisłok aus dem 19. Jahrhundert.<br />

Während der Besuche in den Archiven traf ich auf lokale Historiker, mit denen ich seitdem<br />

befreundet bin. <strong>Die</strong>se Freundschaften erwiesen sich als äußerst hilfreich, als ich in diesen<br />

Landesteil Polens nach dem Ende des Sozialismus zurückkehrte. 3<br />

Ähnlich wie in Komańcza, nur in größerem Ausmaß, war es der <strong>Griechisch</strong>-<br />

<strong>Katholische</strong>n <strong>Kirche</strong> möglich, halb geheime Gottesdienste während der letzten Jahrzehnte des<br />

Sozialismus unter dem Schutz der dominanten römisch-katholischen "Schwesterkirche" in<br />

Przemyśl zu organisieren. In Przemyśl leben heute ca. 70.000 Menschen. <strong>Die</strong> Mehrheit der<br />

Einwohner sind Polen, aber einige hundert Familien – die sich aus Rückkehrern und einigen,<br />

3 Jerzy Motylewicz war der damalige Leiter einer kleinen Niederlassung (placówka) der Akademie der Wissenschaften<br />

Polens in Przemyśl. 1991 verließ er die Abteilung, um einen Lehrstuhl an der Pädagogischen Hochschule im nahe gelegenen<br />

Rzeszów (heute Universität von Rezszów) anzunehmen. Er wurde durch seinen Stellvertreter Dr. Stanisław Stępień ersetzt,<br />

der seitdem die Einrichtung erfolgreich als unabhängiges wissenschaftliches <strong>Institut</strong> führt, das heutige Południowo-Wschodni<br />

Instytut Naukowy. Ich bin beiden Wissenschaftlern und auch Romuald Biskupski in Sanok <strong>für</strong> ihre kollegiale Hilfe und<br />

informellen Hinweise, die sie schon seit etwa einem Vierteljahrhundert leisten, zu großem Dank verpflichtet.<br />

9


die irgendwie vor den Deportationen im Jahr 1940 verschont blieben, zusammensetzen –<br />

bilden die Gemeinde <strong>für</strong> die griechisch-katholischen Gottesdienste. <strong>Die</strong>selben Leute waren<br />

Mitglieder der ukrainisch sozio-kulturellen Vereinigung, die 1956 mit Zustimmung des<br />

Staates gegründet wurde, aber ständig unter sorgsamer politischer Kontrolle stand. <strong>Die</strong><br />

Angehörigen der griechisch-katholischen Minderheit waren optimistisch, dass die<br />

Veränderungen in den Jahren 1989/90 zu einer Aufarbeitung ihrer Geschichte und zur<br />

Einlegung von Rechtsmitteln gegen die Ungerechtigkeiten, welcher der Minderheit 1946<br />

angetan wurden, führen. Sie klagten die Rückgabe des gesamten konfiszierten Eigentums ein,<br />

insbesondere das der so genannten Karmeliterkirche, die sich deutlich sichtbar auf einem<br />

Hügel inmitten der Altstadt erhebt und bis zum Jahr 1946 als griechisch-katholische<br />

Kathedrale diente.<br />

Trotz der Unterstützung durch den Papst waren die <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n in<br />

Przemyśl letztlich mit ihren Bestrebungen nicht erfolgreich. 4 Sie hatten nicht mit der Stärke<br />

des polnisch-nationalistischen Gedankenguts unter der lokalen römisch-katholischen<br />

Bevölkerung gerechnet. Polnische Extremisten haben es geschafft, die neue postsozialistische<br />

Gesellschaft von Beginn an mit anti-ukrainischen Ideen zu vergiften. Sie bedienten sich dabei<br />

u. a. der selektiven Nutzung historischer Quellen. So machten sie z. B. darauf aufmerksam,<br />

dass der Bau der Karmeliterkirche im frühen 17. Jahrhundert von einem römisch-katholischen<br />

Polen in Auftrag gegeben und nach seinen Instruktionen durchgeführt worden war, und die<br />

<strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n die <strong>Kirche</strong> erst im späten 18. Jahrhundert zugesprochen bekamen,<br />

als ein Habsburger Kaiser die römisch-katholischen Klöster auf seinen Territorien<br />

unterdrückte. <strong>Die</strong> Ukrainer entgegneten den polnischen Argumenten, dass die verwendeten<br />

Baumaterialien von einem noch früheren ostchristlichen Sakralbau stammten und<br />

argumentierten weiter, dass sie während der Jahre zwischen den Weltkriegen, als Galizien<br />

wieder Teil eines unabhängigen polnischen Staates war, als Besitzer der Karmeliterkirche<br />

galten und dies damals auch nicht in Frage gestellt wurde. Ihrer Ansicht nach versuchte die<br />

römisch-katholische Mehrheit von der gewaltsamen kommunistischen Beschlagnahmung im<br />

Jahr 1946 zu profitieren.<br />

<strong>Die</strong> postsozialistischen Jahre in Przemyśl zeigten, wie verschiedene Epochen und<br />

verschiedene soziale (in diesem Fall religiöse bzw. ethnische) Gruppen ihre eigenen<br />

Versionen der Vergangenheit konstruieren. <strong>Die</strong> Angehörigen der griechisch-katholischen<br />

Minderheit waren kaum von römisch-katholischen Geistlichen unterstützt wurden.<br />

Tatsächlich wurde ein römisch-katholischer Priester von den eigenen Gläubigen öffentlich<br />

4 Hann, C. 1998. Postsocialist Nationalism: Rediscovering the Past in South East Poland. Slavic Review 57 (4): 840-63.<br />

10


kritisiert, weil er sich <strong>für</strong> ein großzügigeres ökumenisches Denken aussprach (er verstand im<br />

übrigen ökumenisch als Vergangenheitsbewältigung nicht nur gegenüber den <strong>Griechisch</strong>-<br />

<strong>Katholische</strong>n, sondern auch gegenüber der nicht mehr existenten jüdischen Minderheit). <strong>Die</strong><br />

<strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n mussten sich nach Beendigung des Streits mit einem Gebäude<br />

geringeren Prestiges zufrieden geben, nämlich mit der Garnisonskirche der Jesuiten, welche<br />

sie inoffiziell seit 1956 <strong>für</strong> ihre Gottesdienste nutzten. <strong>Die</strong> Kontroversen über die<br />

Umwandlung der inneren und äußeren Gestaltung und die Errichtung eines neuen<br />

Glockenturms dauerten noch fast ein Jahrzehnt an. <strong>Die</strong> Römisch-<strong>Katholische</strong>n restaurierten<br />

die Karmeliterkirche und statteten das Innere mit nationalen und militärischen Motiven aus.<br />

<strong>Die</strong> Kuppel aus dem 19. Jahrhundert wurde von ihnen 1996 komplett beseitigt, weil sie<br />

angeblich die "östliche" Entstellung einer westlichen katholischen <strong>Kirche</strong> symbolisierte.<br />

<strong>Die</strong> Vernichtung der alten Kuppel der<br />

Karmeliterkirche 1996<br />

<strong>Die</strong> Fassade der ehemaligen Jesuitenkirche und<br />

jetzigen griechisch-katholischen Kathedrale vor der<br />

Restaurierung 1998<br />

<strong>Die</strong> Karmeliterkirche mit ihrem neuen "westlichen" Turm 1997<br />

<strong>Die</strong>selbe Fassade nach der Restaurierung im Jahr<br />

2000<br />

11


Objektiv betrachtet war das völlig falsch, aber da nur die nationalistischen Wahrnehmungen<br />

in diesen frühen postsozialistischen Jahren zählten, hatten die polnischen Extremisten keine<br />

Schwierigkeiten, "Experten" zu finden, die ihre Argumente unterstützten.<br />

Kurze Zeit nachdem diese Angelegenheiten buchstäblich auf den Straßen von Przemyśl<br />

ausgefochten worden waren, begingen die <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n den 400. Jahrestag der<br />

Union von Brest, durch welche ihre <strong>Kirche</strong> entstanden war. Es gibt in letzter Zeit viele neue<br />

Studien, die alle Perioden der griechisch-katholischen Geschichte bis zum heutigen Tag<br />

behandeln. 5 <strong>Die</strong>se gehören nicht in meinen Kompetenzbereich. Was mich als Ethnologen<br />

daran interessiert, ist, wie Elemente der Geschichte als Mittel zur Unterstützung <strong>für</strong><br />

Eigentumsansprüche, aber auch <strong>für</strong> Identitätsbehauptungen in der Gegenwart hervorgehoben<br />

und angewandt werden. Obwohl die Bemühungen der <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n, ihre<br />

"ursprüngliche" Kathedrale wieder zu bekommen, fehlgeschlagen sind, waren die meisten<br />

ihrer anderen Anträge auf Rückgabe von Eigentum erfolgreich. Ihr moralischer Anspruch<br />

wurde von der Mehrheit der Polen anerkannt und langsam in juristische Realität umgesetzt.<br />

Folglich erhielten sie so ihren herrlichen Bischofspalast, der während der Zeit des Sozialismus<br />

in ein Museum umgewandelt worden war, sowie ihr früheres Priesterseminar zurück (welches<br />

heute größtenteils an andere <strong>Institut</strong>ionen vermietet wird, da der aktuelle Eigenbedarf gering<br />

ist). <strong>Die</strong> Klosterkirche, die bei meinem ersten Besuch noch als staatliches Archiv diente,<br />

wurde an den griechisch-katholischen Orden der Basilianer zurückgegeben und großartig<br />

restauriert.<br />

<strong>Die</strong>se materiellen Ansprüche waren <strong>für</strong> die <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n in den 90er Jahren<br />

sehr wichtig, allerdings interessierte mich vielmehr, neben den Entwicklungen von Besitz-<br />

und Eigentumsverhältnissen, in welcher Weise während des Sozialismus eine griechisch-<br />

katholische Identität innerhalb der ukrainischen Minderheit subjektiv bewahrt und an die<br />

junge Generation weitergegeben wurde. Mehr als vierzig Jahre Unterdrückung reichten nicht<br />

aus, um das Bewusstsein auszulöschen, Angehörige einer <strong>Kirche</strong> zu sein, die auf eine<br />

vierhundertjährige Geschichte zurückblicken kann. Natürlich waren einige, die in den 40er<br />

Jahren gewaltsam vertrieben und dem homogenisierenden Druck der Volksrepublik<br />

ausgesetzt worden waren, der vorherrschenden Richtung gefolgt, d.h. sie hatten sich der<br />

römisch-katholischen <strong>Kirche</strong> angeschlossen. Andere (vermutlich eine viel kleinere Gruppe)<br />

konvertierten zum orthodoxen Glauben. <strong>Die</strong>se Option schien <strong>für</strong> Ukrainer in Przemyśl in den<br />

5 Insbesondere die Serie Polska-Ukraina 1000 Lat Sąsiedztwa, veröffentlicht vom Południowo-Wschodni Instytut Naukowy<br />

in Przemyśl, unter der Redaktion von Stanisław Stępień.<br />

12


80er Jahren attraktiver zu sein, da eine leer stehende griechisch-katholische tserkva in der<br />

Vorstadt offiziell <strong>für</strong> eine neu gegründete orthodoxe Gemeinde geweiht wurde.<br />

Interviews in Przemyśl zeigten, dass die <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n, wenn sie zu der<br />

Entscheidung gezwungen werden, zwischen einer römisch-katholischen <strong>Kirche</strong> und einer<br />

orthodoxen tserkva zu wählen, üblicherweise letztere vorziehen würden, da die praktischen<br />

und emotionalen Erfahrungen eines orthodoxen Gottesdienstes durch die nahezu identische<br />

Liturgie und die Ausgestaltung des <strong>Kirche</strong>nraumes den ihrigen viel näher sind. 6 <strong>Die</strong><br />

auffallendste Tatsache, die sich aus den Interviews ergab, war die Stärke, mit der die<br />

Menschen ihre Identität als griechisch-katholisch bestimmen – bei vielen war das stärker<br />

ausgeprägt als ihre ukrainische nationale Identität. Für die meisten scheint es schwer zu sein,<br />

die religiöse von der säkularen Identität zu differenzieren. <strong>Die</strong>se <strong>Kirche</strong> besteht bereits seit<br />

400 Jahren und ihr Wiederaufleben nach 1990 ist ein eindeutiges Zeugnis da<strong>für</strong>, dass weder<br />

römisch-katholische noch orthodoxe Gläubige die <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong> <strong>Kirche</strong> als bloße<br />

Mischform oder Anomalie abtun können.<br />

Kulturelle Grenzen im Herzen Europas?<br />

In dem nun folgenden Teil möchte ich die griechisch-katholischen Christen auf einer anderen<br />

Ebene beleuchten – nicht das Dorf, nicht den Sitz des Bischofs, nicht einmal die gesamte<br />

griechisch-katholische Bevölkerung Polens (123.000 <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong> gemäß den<br />

offiziellen Zahlen im Jahr 2002), sondern alle griechisch-katholischen <strong>Kirche</strong>n in<br />

Mitteleuropa insgesamt. Meine Sorge gilt dem Licht, das sie auf die kraftvolle symbolische<br />

Dichotomie zwischen Ost und West werfen. Daran konnten das Ende des kalten Krieges und<br />

die Osterweiterung der Europäischen Union bisher wenig ändern. Eine Ost-West-<br />

Klassifizierung wird fast überall "on the ground", d.h. vor Ort, praktiziert. <strong>Die</strong> römisch-<br />

katholischen Polen in Przemyśl identifizieren sich selbst mit dem Westen. <strong>Die</strong> Extremisten<br />

stigmatisieren die griechisch-katholische Minderheit, indem sie behaupten, dass diese zum<br />

Osten und damit aus ihrer Sicht zu einer entschieden niedrigeren Form der Menschheit gehört.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n selbst würden einen geringeren Wert ihrer Tradition bestreiten,<br />

aber ich denke, dass die meisten Gläubigen dieser Minderheit im heutigen Süd-Ostpolen die<br />

grundsätzliche Klassifizierung der Mehrheit akzeptieren und sich selbst dem östlichen Teil<br />

auf der vertikalen Linie mit westlicher jurisdiktioneller Anbindung an den Papst zuordnen.<br />

6 Hann, C., und S. Stępień. 2000. Tradycja a tożsamość: wywiady wśród mniejszości ukraińkiej w Przemyślu. Przemyśl:<br />

PWIN.<br />

13


<strong>Die</strong> Klassifizierungen werden in anderen Ländern auf andere Weise vorgenommen. In<br />

Rumänien und in der Ukraine, wo die orthodoxen Gläubigen eine Mehrheit bilden, werden die<br />

griechisch-katholischen Minderheiten allgemein mit dem Westen identifiziert. Einige<br />

<strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong> in und um Lemberg betrachten sich selbst als Außenposten des<br />

Westens, da sie behaupten, mit ihren polnischen Nachbarn die Habsburgische und noch ältere<br />

Traditionen gemeinsam zu haben. Es ist darum keinesfalls klar, wem die <strong>Griechisch</strong>-<br />

<strong>Katholische</strong>n in diesem Sinne zuzuordnen sind. Der Typus ihrer religiösen Kultur verbindet<br />

sie eindeutig mit den Traditionen des orthodoxen Ostens. Andererseits haben sie sich seit<br />

Jahrhunderten auch kulturell, im Rahmen gewisser partieller Latinisierungsprozesse, am<br />

Westen orientiert.<br />

Samuel Huntington ist wahrscheinlich der einflussreichste Theoretiker der letzten Jahre,<br />

der sich mit dem Problem kultureller ('civilizational') Grenzen befasst hat. 7 In Anlehnung an<br />

die Tradition von <strong>Max</strong> Weber verwendet er Religion als Schlüsselkriterium <strong>für</strong> die<br />

Klassifizierung von Kulturen und meint einfach, ohne wirkliche Analyse, dass sich das<br />

östliche Christentum von den westlichen Strömungen grundsätzlich unterscheide. <strong>Die</strong>se Art<br />

der "Analyse" wird von vielen Ethnologen als "kulturalistisch" und "essentialistisch" kritisiert,<br />

und ich habe in der Tat eine ebensolche Kritik geübt. 8 Allerdings würde ein wahrer<br />

Essentialist, unabhängig davon, welche lokalen Wahrnehmungen vorherrschen,<br />

wahrscheinlich die <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n mit dem Osten verbinden. <strong>Die</strong> große Mehrheit<br />

der Gläubigen sprach und spricht, sowohl in der Ukraine als auch in Polen, eine ostslawische<br />

Sprache. Tatsache aber ist, dass Huntington die <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n der westlichen<br />

Einflusssphäre zuordnet. <strong>Die</strong> Ukraine ist <strong>für</strong> ihn ein geteiltes Land. Im früheren galizischen<br />

Teil, in dem die <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n seit 1990 eine Wiedergeburt erlebt haben, ist diese<br />

<strong>Kirche</strong> auch heute dominant. Laut Huntingtons Argumentation kann das Habsburger Reich im<br />

Wesentlichen als westlich und pluralistisch, das Zarenreich der Romanows dagegen als<br />

östlich und hoffnungslos autokratisch beschrieben werden, d.h. so können sich auch Ostslaven<br />

mit ihrem östlichen Ritus an den politisch-kulturellen Raum des Westens anschließen.<br />

<strong>Die</strong> kontrastierenden Schicksale der griechisch-katholischen Gemeinden unter diesen<br />

Imperien sind dramatisch, aber reichen sie aus, eine starke, reduktionistische Dichotomie<br />

zwischen Ost und West zu rechtfertigen? <strong>Die</strong> Geschichte der <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n ist<br />

7 Huntington, S. P. 1998. Kampf der Kulturen: <strong>Die</strong> Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München: Goldmann.<br />

8 Hann, C. 2000. Culture and Civilization in Central Europe; a critique of Huntington’s theses. In W. Konitzer und K.<br />

Bosselmann-Cyran (Hg.), Ein erweitertes Europa verstehen [Understanding an Enlarged Europe], S. 99-120. Frankfurt am<br />

Main: Peter Lang/ Europa-Universität Viadrina.<br />

14


kompliziert. Es gab Zeiten intensiver Latinisierung, als die <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n bestrebt<br />

waren, sich stärker dem Aussehen und Verhalten der Römisch-<strong>Katholische</strong>n anzugleichen<br />

oder angeglichen wurden. Ebenso kam es aber innerhalb bestimmter Zeitabschnitte auch zu<br />

Reaktionen gegen synkretistische Formen, wobei die <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n zuweilen<br />

weiter in ihren Bemühungen gingen, "echte" östliche Formen ihrer rituellen Praxis wieder zu<br />

beleben, als Angehörige des orthodoxen Glaubens dies taten. Ich behaupte, dass das<br />

hartnäckige Fortdauern dieser großen Konfession im Herzen Europas seit mehreren<br />

Jahrhunderten <strong>für</strong> all jene ein Problem darstellt, die darauf bestehen, eine scharfe vertikale<br />

Linie zwischen den einzelnen Kulturen zu ziehen. Folgt man Mary Douglas Ansatz der<br />

Klassifizierung, so gelten die <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n bei ihren Nachbarn als diejenigen, die<br />

"fehl am Platz" bzw. eine Anomalie sind. 9 Und dennoch sind sie immer noch präsent und<br />

haben sogar die Unterdrückung und den Zwangs-Atheismus des Marxismus-Leninismus<br />

überlebt.<br />

Ich behaupte nicht, dass binäre Klassifizierungen völlig abwegig sind. Sie können viel<br />

an Gültigkeit besitzen, auch wenn wir sie bei der Untersuchung von gesellschaftlichen<br />

Beziehungen verwenden. <strong>Die</strong>se "hybride" <strong>Kirche</strong> der <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n hat nicht die<br />

grundlegende Trennung von östlichen und westlichen Traditionen als Referenzpunkte in<br />

diesem Teil Mitteleuropas geändert. <strong>Die</strong> Linie wurde nur undeutlicher. Städte wie Przemyśl<br />

waren bereits vor dem Aufkommen der <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n <strong>Kirche</strong> Zentren religiöser<br />

Aktivitäten lateinisch-katholischer und slawisch-orthodoxer Glaubensgemeinschaften. In der<br />

Stadt und auf dem Land gab es eine ethno-religiöse Trennung, aber Toleranz und<br />

Verheiratungen untereinander sind ebenfalls seit langer Zeit historisch bewiesen. Anders<br />

gesagt, wenn wir auf den Begriff der Kultur zurückgreifen wollen, müssen wir in dieser<br />

Region von einander überlappenden Kulturen sprechen. Neben den zwei christlichen<br />

Hauptströmungen sollten wir natürlich nicht den jüdischen Glauben vergessen. Religion war<br />

immer schon Ausgangspunkt <strong>für</strong> Auseinandersetzung, aber alle Gruppen verfügten auch über<br />

die Fähigkeit der, wie man heute sagt, "interkulturellen Kommunikation".<br />

<strong>Die</strong>se multikonfessionelle Koexistenz der Vergangenheit könnte als Vorbild <strong>für</strong> die<br />

Gegenwart dienen, vor allem <strong>für</strong> all jene, die die langjährige östliche Grenze der<br />

Europäischen Union als scharfe Trennlinie zwischen Kulturen oder 'civilizations' beschreiben.<br />

<strong>Die</strong> Existenz der <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n unterstreicht meines Erachtens die Sinnlosigkeit<br />

dieser Perspektive. Andere Beispiele können in diesem Zusammenhang ebenfalls genannt<br />

werden. In vielen Teilen Europas haben die Grenzen zwischen Protestanten und Katholiken<br />

9 Douglas, M. 1966. Purity and Danger; an analysis of concepts of pollution and taboo. London: Routledge.<br />

15


ebensolche sozialen Trennungslinien wie die, die zwischen Katholiken und orthodoxen<br />

Gläubigen oder Römisch- und <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n bestehen, verursacht. Warum neigen<br />

wir dazu, nur bei den letztgenannten oder im Fall christlich-muslimischer Interaktion von<br />

kulturellen Unterschieden zu reden? Ist es wirklich sinnvoll, die drei verschiedenen<br />

Traditionen in Bosnien als drei miteinander kämpfende Kulturen anzusehen? Wie bei den<br />

<strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n Mitteleuropas ist es auch hier wichtig, interkonfessionelle<br />

Beziehungen vergangener Jahrhunderte nicht durch das anachronistische Aufzwingen<br />

heutiger Modelle von Multikulturalismus bewirken zu wollen. 10<br />

<strong>Die</strong> Erfahrungen eines friedvollen Zusammenlebens verschiedener Gruppen mit hohem<br />

Niveau kultureller Interaktionen zeigen, dass die Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen<br />

religiösen Traditionen, die diese so genannten Kulturen untermauern, oft so bedeutend sind<br />

wie deren Unterschiede. Wenn man nur ein wenig die Perspektive erweitert, kann man auch<br />

Ähnlichkeiten mit anderen Weltreligionen feststellen, und nicht nur mit denen, deren<br />

Herkunft von Abraham ausgeht. <strong>Die</strong> führenden vorindustriellen Imperien Eurasiens hatten<br />

vieles gemeinsam (nicht "genetisch", aber vergleichbare Strukturen, die auf denselben<br />

Technologien basierten). 11 Daraus folgt, dass wir Eurasien als zivilisatorische Einheit<br />

betrachten müssen und nicht immer wieder versuchen sollten, vertikale Grenzen zu ziehen,<br />

weder zwischen West und Ost innerhalb Europas noch zwischen Europa und Asien.<br />

<strong>Heute</strong> (2002-2004)<br />

Der lokale Kontext Wisłok Wielkis weckte mein Interesse an der Problematik der <strong>Griechisch</strong>-<br />

<strong>Katholische</strong>n <strong>Kirche</strong>. Meine Informanten, mit denen ich 1979 sprach, sind mittlerweile fast<br />

alle gestorben. Ich bezweifle, dass heute noch jemand aus Wisłok die Schwierigkeiten auf<br />

sich nimmt, um an dem griechisch-katholischen Gottesdienst in Komańcza teilzunehmen. <strong>Die</strong><br />

alte tserkva im unteren Dorf von Wisłok dient weiterhin als römisch-katholische kościół. Das<br />

Dorf ist nicht gewachsen, aber es hat nun seinen eigenen Pfarrer, der im nahe gelegenen<br />

rekonstruierten Pfarrhaus lebt. <strong>Die</strong> alte griechisch-katholische Pfarrei wird nicht länger als<br />

Schule genutzt, sondern ist heute das Ferienhaus eines polnischen Geschäftmanns, der nicht<br />

aus dieser Gegend stammt.<br />

10 Hayden, R. 2002. Intolerante Souveränitäten und "multi-multi"-Protektorate: Der Kampf um heilige Stätten und<br />

(In)toleranz auf dem Balkan. In C. Hann (Hg.), Postsozialismus: Transformationsprozesse in Europa und Asien aus<br />

ethnologischer Perspektive, S. 237-263. Frankfurt/ Main: Campus Verlag.<br />

11 Goody, J. 2004. Islam in Europe. Cambridge: Polity.<br />

16


<strong>Die</strong> Begräbnisstätten zeigen immer noch denselben Kontrast, der mir schon in den 70er<br />

Jahren aufgefallen ist: die Gräber im alten griechisch-katholischen Teil werden vernachlässigt,<br />

während der römisch-katholische Teil des Friedhofs sorgsam gepflegt wird. Ein Bewohner<br />

ukrainischer Abstammung im Oberdorf, der kein Geheimnis daraus machte, dass er sich aktiv<br />

an den Kämpfen <strong>für</strong> eine Unabhängigkeit der Ukrainer in den 40er Jahren beteiligt hat, fand<br />

sich nicht damit ab, mit den seinigen auf dem Friedhof am anderen Ende des Dorfs begraben<br />

zu werden. Stattdessen wurde er entsprechend seinen Wünschen 1997 in dem Wäldchen, das<br />

den alten Friedhof der oberen Gemeinde markiert, und bereits seit einem halben Jahrhundert<br />

weder genutzt noch gepflegt wird, beigesetzt.<br />

Das Grab von Jan Karlicki auf dem alten Teil des<br />

Friedhofs im oberen Wisłok<br />

<strong>Die</strong>s war in höchstem Maße unüblich und<br />

vielleicht sogar illegal, aber niemand<br />

nahm daran Anstoß, nicht einmal dann,<br />

als das einfache Holzkreuz durch einen<br />

kunstvolleren Grabstein ersetzt wurde. So<br />

bleibt die griechisch-katholische<br />

Geschichte des Dorfs physisch in die<br />

Landschaft seiner beiden Teile<br />

eingeschrieben.<br />

Im größeren Nachbardorf gelang es den <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n schon vor der Wende ihre<br />

eigene Gemeinde zu reorganisieren. Es war ihnen nicht möglich, ihre alte tserkva, die in den<br />

Händen der orthodoxen Gläubigen verblieb, wieder in Besitz zu nehmen, aber mit finanzieller<br />

Hilfe aus Nordamerika bauten sie ganz in der Nähe ein großes neues Gotteshaus (geweiht<br />

1988).<br />

<strong>Die</strong> neue griechisch-katholische cerkiew/ tserkva in<br />

Komańcza<br />

17


Auch die Zukunft der <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n <strong>Kirche</strong> in Przemyśl gestaltet sich in den<br />

letzten Jahren viel versprechender. Nach den Konflikten und Unstimmigkeiten der frühen<br />

90er Jahre hat sich die <strong>Kirche</strong> der Minderheit unter der Führung des Metropoliten Jan<br />

Martyniak beeindruckend konsolidiert. <strong>Die</strong> Bauarbeiten, die die frühere jesuitische kościół in<br />

eine griechisch-katholische tserkva katedralna verwandeln sollten, wurden größtenteils in den<br />

Jahren zwischen 1996 und 1999 abgeschlossen. Ikonenmaler aus der Ukraine wurden<br />

herangezogen, um die neue Innengestaltung auf hohem Niveau auszuführen.<br />

Der neu installierte Ikonostas aus dem 17.<br />

Jahrhundert in der griechisch-katholischen<br />

Kathedrale in Przemyśl<br />

Das reichte allerdings noch nicht: es war ebenso<br />

wichtig, die neue Kathedrale mit Artefakten<br />

auszustatten, damit die Historizität der Gemeinde<br />

untermauert wird. Einen entsprechenden Ikonostas aus<br />

dem 17. Jahrhundert fand man im ethnografischen<br />

Museum von Lubaczów. <strong>Die</strong>ser beinhaltet u. a. eine<br />

Ikone des heiligen Jozafat Kuncewycz, eines<br />

griechisch-katholischen Märtyrers des frühen 17.<br />

Jahrhunderts, dessen Ikone in der Mehrheit der<br />

griechisch-katholischen <strong>Kirche</strong>n in Galizien präsent ist.<br />

Przemyśls neue tserkva katedralna beherbergt auch einige Reliquien, die mit diesem Heiligen<br />

in Verbindung gebracht werden. Zusätzlich zu dem ehrwürdigen Ikonostas gibt es auch noch<br />

zwei neue Ikonen in westlichem Stil, auf denen zwei bedeutende Märtyrer aus der jüngeren<br />

Geschichte der <strong>Kirche</strong> abgebildet sind. Jozafat Kocylowski war der letzte Ordinarius der<br />

griechisch-katholischen Diözese in Przemyśl vor ihrer Unterdrückung im Jahr 1946.<br />

18


Ikone des griechisch-katholischen Märtyrer-Bischofs<br />

Jozafat Kocylowski (Foto von Andrzej Stepan)<br />

Er und sein Suffraganbischof Hryhorij Lakota litten und starben in den Händen der Sowjets.<br />

Während seines Besuchs in der Ukraine im Jahr 2001 sprach der Papst die beiden selig,<br />

wodurch sie nun zu den bedeutendsten verehrten Gestalten griechisch-katholischer Identität<br />

gehören. Ihre Ikonen stellen das Gleichgewicht zu zwei wunderbaren Ikonen traditionellen<br />

Typs (obgleich diese auch einen westlichen und einen gewissen "volkstümlichen" Einfluss<br />

zeigen) her, auf denen die Jungfrau Maria und der heilige Nikolaus dargestellt sind.<br />

Ikone des Hl. Nikolaus des Wundertäters (Foto von<br />

Andrzej Stepan)<br />

Auf diese Weise wurde ein altes, etwas muffiges Gebäude der Jesuiten angemessen in eine<br />

tadellose neue und stilvolle griechisch-katholische <strong>Kirche</strong> umgewandelt, in welcher an drei<br />

verschiedene Zeitperioden erinnert wird: die jüngste tragische Geschichte der Repression, die<br />

19


Repression in früheren Jahrhunderten, als die "Unierten" von all jenen verurteilt wurden, die<br />

sich gegenüber der Orthodoxie weiterhin loyal verhielten, sowie neben diesen Historien des<br />

Märtyrertums das gemeinsame christliche Erbe in seiner östlichen Variante, das die<br />

<strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n mit orthodoxen Gläubigen teilen. Das reiche rituelle Leben der<br />

<strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n beeinflusst jedes Jahr am 19. Januar (= 6. Januar des julianischen<br />

Kalenders) auch die öffentliche Sphäre der Stadt Przemyśl, wenn die gesamte Gemeinde von<br />

der Kathedrale durch die Altstadt hinunter zum Ufer des Flusses San prozessiert, um das<br />

Wasser zu segnen (das Jordanfest).<br />

<strong>Die</strong> Wassersegnung am Ufer des Flusses San am 19. Januar 1998 (Fest der Theophanie/ Bogojavlanie bzw. der<br />

Taufe Christi am 6. Januar a. St.)<br />

Spannungen zwischen den griechisch-katholischen Gläubigen und bestimmten Elementen der<br />

lokalen römisch-katholischen <strong>Kirche</strong> bestehen immer noch, aber die Aussichten auf eine<br />

friedvolle ökumenische Koexistenz scheinen im Jahr 2004 viel besser zu sein als ein<br />

Jahrzehnt zuvor.<br />

Schluss<br />

<strong>Die</strong> einfache, vielleicht platte Antwort auf die Frage "Was ist Ethnologie?" ist: "Es ist das,<br />

was die Ethnologen tun". Und wir tun viele verschiedene Dinge, wie Sie vielleicht schon bei<br />

unserer kleinen Gruppe an dieser Universität bemerkt haben. Nachdem ich mit Anekdoten<br />

eines Dorfes begonnen habe, gelangte ich über die "gelebte Geschichte" einer<br />

postsozialistischen Stadt zu spekulativen Anmerkungen über Geopolitik und kulturell-<br />

zivilisatorische Grenzen. Wie haarsträubend und unwissenschaftlich diese Abfolge den<br />

Fachleuten anderer Disziplinen auch erscheinen mag, so sind diese in der Ethnologie<br />

tatsächlich typisch. Ein wichtiges Merkmal des Fachs sind genaue Ortskenntnisse.<br />

Teilnehmende Beobachtung über längere Zeit ist die wichtigste Voraussetzung <strong>für</strong> unsere<br />

20


Forschungen, aber es besteht auch immer eine Verbindung zu größeren Fragen – Fragen der<br />

Wissenschaft natürlich, aber manchmal auch Fragen der aktuellen Politik. Ich habe in dieser<br />

Vorlesung suggeriert, dass die jüngste Geschichte der <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n Christen<br />

Ostmitteleuropas uns helfen kann, viele wichtige Fragen zu beleuchten: sei es über die<br />

Grenzen des Pseudokontinents Europa, über die langfristige Bedeutung von konfessioneller<br />

bzw. ritueller Identität, über die parallele Bindung von Ethnizität, oder über das<br />

Miteinanderleben verschiedener Volksgruppen auf unserem Kontinent.<br />

Bei all diesen Fragen ist meine Agenda eigentlich ganz anders als die von Lévi-Strauss.<br />

Seinem Titel zum Trotz beschäftigt er sich in seinem Buch über Totemismus nicht mit dem<br />

heutigen Stand der Gruppierungen, welche Glauben und Praktiken dieser Art haben. Warum<br />

dieser Glauben?, fragt er. Nicht weil die Totems gut zum Essen (bonnes à manger), sondern<br />

weil sie gut zum Denken (bonnes à penser) sind – so lautet seine Antwort. Es geht ihm um<br />

universelle Prinzipien des Funktionierens des menschlichen Denkens. Ich unterscheide mich<br />

hier von ihm in doppelter Hinsicht. Zum einen finde ich die <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n nicht<br />

nur bons à penser, sondern an sich sehr spannend, insbesondere ihre Wiedergeburt in der<br />

Komplexität der postsozialistischen Gegenwart. Aus diesem Grund habe ich in diesem Jahr<br />

zwei Doktoranden zur Feldforschung in die Ukraine und nach Polen geschickt, damit sie diese<br />

<strong>Kirche</strong> genauer untersuchen. Beide arbeiten an vergleichenden Studien in Rumänien<br />

beziehungsweise in der Slowakei. Eine Postdoktorandin soll im Laufe des Sommers eine<br />

ergänzende Studie über diese <strong>Kirche</strong> in Ungarn durchführen, und wir werden dann sicherlich<br />

einen Workshop zu diesem Thema im kommenden Jahr veranstalten – hoffentlich zum<br />

zweiten Mal mit der Unterstützung des Kollegen Hermann Goltz, dem hallischen Ostkirchen-<br />

Experten.<br />

Zum zweiten geht es bei mir, im Gegensatz zu Lévi-Strauss, nicht um die Suche nach<br />

universellen Konstanten (de la pensée humaine), sondern vielmehr um spezifische<br />

Wechselwirkungen, Transfers und Abgrenzungen im Laufe der Zeit, die auch aktuelle<br />

politische Dimensionen haben können. Das Fortbestehen der <strong>Griechisch</strong>-<strong>Katholische</strong>n <strong>Kirche</strong><br />

in Mitteleuropa veranschaulicht in radikaler Weise, dass reale Gesellschaften von Menschen<br />

komplexe Gebilde sind, die durch die binären Gegensätze des Strukturalismus nicht<br />

ausreichend klassifiziert und beschrieben werden können. Auf dieser Ebene allgemeiner<br />

gesellschaftlicher Themen mit Aktualitätsbezug gibt es glücklicherweise gute<br />

Verknüpfungspunkte zu vielen anderen Kollegen an unserem <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-<strong>Institut</strong>, wie Sie<br />

sicher gleich in der Antrittsvorlesung von Günther Schlee bemerken werden. Damit gebe ich<br />

das Wort weiter und danke Ihnen <strong>für</strong> Ihre Aufmerksamkeit.<br />

21

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