Jakub Kloc-Konkolowicz (Warszawa) Die Gelehrten zwischen dem ...
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<strong>Jakub</strong> <strong>Kloc</strong>-<strong>Konkolowicz</strong> (<strong>Warszawa</strong>)<br />
<strong>Die</strong> <strong>Gelehrten</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>dem</strong> Dialog und der Politik der Vernunft.<br />
<strong>Die</strong> Figur des <strong>Gelehrten</strong>, wie sie Fichte konzipiert hat, stellt den paradigmatischen Fall des<br />
vernünftigen Individuums dar, wie es <strong>zwischen</strong> der empirischen Gegebenheit seiner sinnlichen<br />
Natur und <strong>dem</strong> Streben nach Vernünftigkeit gespannt ist. Zwar lässt sich nicht ohne weiteres<br />
behaupten, der Gelehrte sei die paradigmatische Vorstellung des Menschen in <strong>dem</strong> Sinne, dass jeder<br />
Mensch zu einem <strong>Gelehrten</strong> werden sollte. Fichte ist sich der Absurdität völlig bewusst, welche die<br />
Vorstellung der Umwandlung der ganzen Menschheit in eine <strong>Gelehrten</strong>republik an sich hätte. So<br />
versäumt er nicht, etwa die Theologen zu verspotten, welche nach seiner Beschreibung versuchen,<br />
„[...] alle Menschen zu ebenso guten Theologen zu machen, als sie selbst sind“. 1 Dennoch ist,<br />
zunächst negativ betrachtet, die Zerrissenheit des <strong>Gelehrten</strong> <strong>zwischen</strong> Vernünftigkeit und<br />
Sinnlichkeit die zugespitzte humane Kondition, welche für jedes Individuum typisch ist. Und in<br />
positiver Hinsicht lässt sich auch eine wichtige Analogie <strong>zwischen</strong> der Bestimmung des Menschen<br />
im allgemeinen und der Bestimmung des <strong>Gelehrten</strong> feststellen: der Gelehrte perfektioniert in seiner<br />
Praxis des wissenschaftlichen Austausches die für alle Personen wesentliche Beziehung des<br />
Empfangens und Gebens von Gründen. <strong>Die</strong>s alles impliziert jedoch nicht, dass Fichtes Gelehrte,<br />
etwa wie Platons Philosoph, zu einem regierenden Politiker werden soll. Seine ganze Kraft, wie<br />
auch seine Aufgaben, verdankt er nur der Gesellschaft. Seine Funktion ist es, der Gesellschaft zu<br />
dienen, in<strong>dem</strong> er sie perfektioniert; das letzte erreicht er nur dadurch, dass er die Gesellschaft in<br />
Richtung immer mehr vernünftiger Relationen führt, d.h. zu einem Zustand der völligen<br />
Wechselseitigkeit und Einigkeit. Das Paradoxe an der Figur des <strong>Gelehrten</strong> ist eben dasselbe<br />
Paradoxe, das <strong>dem</strong> Individuum im allgemeinen anhaftet. Es ist die Spannung, die <strong>zwischen</strong> zwei<br />
Zuständen entsteht: <strong>dem</strong> jetzigen, tatsächlichen Zustand der Einseitigkeit seiner Persönlichkeit und<br />
<strong>dem</strong> zukünftigen, aufgegebenen aber grundsätzlich unerreichbaren, Zustand der vernünftigen<br />
Allgemeinheit, wo keine persönliche Unterschiede mehr zählen.<br />
Wir versuchen im folgenden – anhand von Fichtes Vorlesungen zur Bestimmung des <strong>Gelehrten</strong> aus<br />
<strong>dem</strong> Jahre 1794 und anhand von seiner Sittenlehre aus <strong>dem</strong> Jahre 1798 – diese paradoxe Lage kurz<br />
ins Auge zu fassen. Wir fangen bei der Begründung der Absonderung der Stände im allgemeinen,<br />
und des <strong>Gelehrten</strong>standes im einzelnen, an. Dann fassen wir die Aufgaben des <strong>Gelehrten</strong> zusammen<br />
1 J.G. Fichte, Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre (1798), Hamburg 1995<br />
[weiter zitiert als „Sittenlehre“], S. 271.
und vergleichen sie mit den Aufgaben der Menschheit als solchen. Im letzten Schritt konzentrieren<br />
wir uns auf <strong>dem</strong> Mitteilungspflicht des <strong>Gelehrten</strong>, die wir als Verpflichtung zum Dialog<br />
aufzufassen versuchen. <strong>Die</strong> Überlegungen zum Inhalt des Dialogbegriffes Fichtes beenden unsere<br />
kurzen Ausführungen.<br />
<strong>Die</strong> Absonderung der Stände in der Gesellschaft ist laut Fichte auf die verschiedenartige und immer<br />
einseitige Ausbildung der gewissen Anlagen zurückzuführen, welche die Natur bei einzelnen<br />
Individuen verursacht. Letztendlich ist also die Mannigfaltigkeit der Natur der Grund der<br />
Unterschiede <strong>zwischen</strong> den einzelnen Menschen. Präziser gesagt, sind es nicht die Differenzen<br />
<strong>zwischen</strong> den Individuen, sondern die Individualität des vernünftigen Wesens als solche, die durch<br />
die Mannigfaltigkeit der Natur (also des Nicht-Ich) verursacht wird. Nun soll diese Mannigfaltigkeit<br />
durch die Wirkung der Gesellschaft vermindert, ja in der letzten Zielsetzung – sogar augehoben<br />
werden. <strong>Die</strong>s geschieht jedoch auf gleichsam dialektische Weise, dadurch nämlich, dass der<br />
natürlichen Verschiedenheit der Individuen die gesetzte und künstliche (weil soziale)<br />
Verschiedenheit der Stände entgegen wirkt.<br />
Fassen wir diesen Prozess zusammen. Als Ausgangspunkt seiner Explikation, der sich aber nicht<br />
empirisch aufweisen kann, weil er als Grundlage des Empirischen fungiert, nimmt Fichte das reine<br />
Ich, das schon per definitionem immer mit sich selber übereinstimmt. Der empirische Mensch, der<br />
durchaus mit sich selbst, wie auch mit den anderen, in Widerspruch geraten kann, soll versuchen,<br />
die ursprüngliche Kohärenz des reinen Ich auf <strong>dem</strong> Niveau des Empirischen wiederherzustellen. Er<br />
soll nicht nur mit sich selbst übereinstimmen, sonder auch „suchen, [die Dinge selbst] zu<br />
modifizieren, um sie selbst zur Übereinstimmung mit der reinen Form seines Ich zu bringen“. 2<br />
Dazu braucht er aber die „Kultivierung seiner Sinnlichkeit“, also „die Erwerbung der<br />
Schicklichkeit“, d.h.: Kultur. 3 <strong>Die</strong> Vollendung und Perfektionierung der individuellen Person<br />
benötigt jedoch die „Wechselwirkung nach Begriffen“ mit anderen Individuen. „Selten ist Jemand<br />
so vollkommen, dass er nicht fast durch jeden andern, wenigstens von irgend einer [...] Seite sollte<br />
ausgebildet werden können“. 4 Das Zusammenrücken der Menschen in eine Gesellschaft ergibt sich<br />
also in erster Linie nicht aus pragmatischer Überlegungen, sondern aus der Bestimmung des<br />
Menschen, als eines perfektionierbaren Wesens, das erst zu <strong>dem</strong> wird, was es <strong>dem</strong> Begriff nach<br />
schon ist. 5 Deswegen sagt Fichte: „Der Mensch ist bestimmt, in der Gesellschaft zu leben; er soll in<br />
2 J.G. Fichte, Über die Bestimmung des <strong>Gelehrten</strong>, GA I, 3 [im folgenden zitiert als „Bestimmung“], S. 31.<br />
3 Vgl. Ebd.<br />
4 Ebd., S. 41.<br />
5 Vgl.: Ebd., S. 29.
der Gesellschaft leben; er ist kein ganz vollendeter Mensch und widerspricht sich selbst, wenn er<br />
isoliert lebt“. 6 <strong>Die</strong> Gesellschaft wird hier ausdrücklich als der „Vervollkommnung der Gattung“ 7<br />
dienend aufgefasst, und zwar eine „gemeinschaftliche Vervollkommnung“, 8 die sich durch den<br />
gegenseitigen positiven Einfluss der Individuen vollzieht. <strong>Die</strong>se gemeinschaftliche<br />
Vervollkommnung wird in die „Geschicklichkeit zu Geben“ und die „Geschicklichkeit zu Nehmen“<br />
aufgeteilt, welche Fähigkeiten als „das schönste Band des gegenseitigen freien Gebens und<br />
Nehmens“ 9 zusammengefasst werden. Es kann also nicht wundern, wenn Fichte den letzten, obwohl<br />
unerreichbaren, trotz<strong>dem</strong> aber richtungweisenden Zweck der Gesellschaft auf folgende Weise<br />
beschreibt:<br />
„könnten alle Menschen vollkommen werden, [...] so wären sie alle einander völlig gleich; sie<br />
wären nur Eins; ein einziges Subjekt. [...] Mithin ist das letzte höchste Ziel der Gesellschaft<br />
völlige Einigkeit und Einmütigkeit mit allen möglichen Gliedern derselben“. 10<br />
Wie kommt es aber überhaupt dazu, dass die ursprüngliche Vernunfteinheit in die Vielheit der<br />
Individuen umgewandelt wird? <strong>Die</strong>ses geschieht durch die verschiedenartige Einwirkung des Nicht-<br />
Ich auf diese Einheit. <strong>Die</strong> Gesellschaft soll dann die Einseitigkeit der natürlichen Entfaltung der<br />
Individuen wieder ausgleichen. Der Mensch bekommt indirekt – weil „aus den Händen der<br />
Gesellschaft“ – die ganze ihm durch den einseitigen Einfluss der Natur vorenthaltene Ausbildung. 11<br />
„<strong>Die</strong> einseitige Ausbildung, die die Natur <strong>dem</strong> Individuum gab, wird Eigentum des ganzen<br />
Geschlechts“. 12 <strong>Die</strong> Schlüsselrolle spielt dabei das Mechanismus, das von Fichte auf folgende<br />
Weise beschrieben wird:<br />
„<strong>Die</strong> Gesellschaft wird die Vorteile aller Einzelnen, als ein Gemeingut, zum freien Gebrauche<br />
aller aufhäufen, und sie dadurch um die Zahl der Individuen vervielfältigen; sie wird den Mangel<br />
der Einzelnen gemeinschaftlich tragen, und ihn dadurch auf eine unendlich kleine Summe<br />
zurückbringen“. 13<br />
Dass die Gesellschaft die einseitige Konstitution des Individuums auf „eine unendlich kleine<br />
6 Ebd., S. 37.<br />
7 Vgl.: Ebd., S. 38.<br />
8 Vgl.: Ebd., S. 40.<br />
9 Ebd., S. 41.<br />
10 Ebd., S. 40.<br />
11 Vgl.: Ebd., S. 45.<br />
12 Ebd., S. 44.<br />
13 Ebd., S. 45.
Summe“ reduziert, soll bedeuten, dass die Individualität „vergesellschaftet wird“, d.h. von nun an<br />
eine auf die Gesellschaft bezogene, durch die Gesellschaft zu erhaltende, aber auch durch die<br />
Gesellschaft zu nutzende Größe ist. Durch diese Vergesellschaftung der Individualität wird die<br />
Einseitigkeit, die sich im Zustand der Natur zu großem Nachteil des Individuums erweisen könnte,<br />
zu einem erheblichen Vorteil. Das natürliche Talent eines jeden Individuums wird jetzt zu <strong>dem</strong><br />
gemeinsamen Besitz der ganzen Gesellschaft. Das Individuum soll sein Talent, d.h. seine natürliche<br />
Einseitigkeit der Entfaltung, von nun an bewusst und frei entwickeln, und zwar nicht nur im<br />
Eigeninteresse, sondern auch und vor allem zum Nutzen der Gesellschaft. So beschreibt Fichte auf<br />
eine teilweise noch metaphorische Weise die Prozesse der Spezialisierung von Arbeit, welche die<br />
moderne Gesellschaften prägen. <strong>Die</strong> Gesellschaft gibt <strong>dem</strong> Individuum die ganze ihm bisher<br />
vorenthaltene Ausbildung und dafür empfängt sie von <strong>dem</strong> Individuum die Ergebnisse seiner<br />
spezialisierten Arbeit und/oder Forschung. Was Fichte hier unter <strong>dem</strong> Motto „das schönste Band<br />
des Gebens und Nehmens“ präsentiert, kann ebenso gut mit den heutigen Kategorien aufgefasst<br />
werden: die Individuen lernen und arbeiten im Rahmen der Gesellschaft auf eine höchst<br />
spezialisierte Weise, sie bekommen aber auch Zugang zu den von anderen gelieferten Waren und<br />
Informationen. <strong>Die</strong>se Beziehung fundiert die Grundstruktur der bürgerlichen Gesellschaft, die von<br />
Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts vorzüglich analysiert wurde.<br />
Das Band des „Gebens und Nehmens“ soll nicht nur die Beziehung <strong>zwischen</strong> <strong>dem</strong> Individuum und<br />
der Gesellschaft als einem Ganzen, sondern auch die Beziehungen <strong>zwischen</strong> den dieses<br />
gesellschaftliche Ganze bildenden Individuen untereinander beherrschen. Das von Fichte selbst<br />
angegebene Ziel ist hier nicht die „Subordination“, sondern „Koordination“. 14 Fichte beruft sich<br />
dabei auf die Kantische Metapher der „Wechselwirkung nach Begriffen“. 15 Meines Erachtens soll<br />
die durch den Einfluss des Nicht-ich (also der Natur) gestörte Einheit der Vernunft dadurch wieder<br />
eingerichtet werden, dass die steigende Wechselwirkung <strong>zwischen</strong> mehreren Individuen ihre<br />
Isoliertheit und Einseitigkeit allmählich aufhebt. Es ist eine dynamische Wiederherstellung der<br />
ursprünglichen Einheit; die Vernunfteinheit kann in <strong>dem</strong> Prozess der Vergesellschaftung nur als das<br />
bewegliche Ganze der völligen und absoluten Wechselwirkung der Individuen und ihren Kräften<br />
wiederhergestellt werden.<br />
<strong>Die</strong> Herausbildung der Stände steht mit <strong>dem</strong> oben skizzierten Bild gar nicht im Widerspruch. Fichte<br />
fasst den Stand als die Sphäre auf, in welcher die Individuen ihre Talente erfolgreicher entwickeln<br />
14 Ebd., S. 39.<br />
15 Vgl.: Ebd., S. 37.
können, als wenn sie es auf eigene Faust versuchen würden. Mit heutigen Kategorien aufgefasst, ist<br />
der Wissenstransfer im Rahmen eines gewissen Berufsstandes sicherer und erfolgreicher, als wenn<br />
er nicht konzentriert wäre. Was solche „Berufsstände“ auszeichnet und von den vormodernen<br />
gesellschaftlichen Strukturen klar unterscheidet ist ihre prinzipielle Offenheit. <strong>Die</strong>s hebt auch Fichte<br />
in seiner Beschreibung des modernen Standes hervor: „<strong>Die</strong> Wahl eines Standes ist eine Wahl durch<br />
Freiheit“. 16 In<strong>dem</strong> er mehrere Individuen vereint, die gleichen Talent perfektionieren, bildet der<br />
Stand gewissermaßen einen bewusst entwickelten und sich auf <strong>dem</strong> Prinzip der freien Wahl<br />
stützenden Organ der Gesellschaft. <strong>Die</strong> organisierte Einseitigkeit der sozialen Stände hebt die<br />
natürliche Einseitigkeit der Individuen auf. War die einseitige Entwicklung des Individuums durch<br />
Natur zufällig, so ist die Wahl des Berufsstandes bewusst und frei.<br />
In dieser Struktur nimmt der Stand der <strong>Gelehrten</strong> eine besondere Stellung ein. Seine Aufgabe ist es,<br />
die Mannigfaltigkeit der menschlichen Bedürfnisse zu erforschen , aber auch die Mittel, welche<br />
diese Bedürfnisse befriedigen. Nicht nur die aktuellen, sondern auch die zukünftigen Bedürfnisse<br />
und Mittel sollen dabei den Gegenstand der Forschung des <strong>Gelehrten</strong> werden. „<strong>Die</strong> Ausmessung<br />
des menschlichen Wesens“ 17 sei die Aufgabe des <strong>Gelehrten</strong>, genauer gesagt: die Erforschung aller<br />
menschlichen Möglichkeiten und Sorge dafür, dass alle gleichmäßig in der Menschheit entwickelt<br />
werden („<strong>Die</strong> Sorge für [...] gleichförmige Entwickelung aller Anlagen des Menschen“). 18<br />
Einerseits ist also der <strong>Gelehrten</strong>stand ein für die Entwicklung der Gesellschaft wesentlicher<br />
Berufsstand; andererseits lässt sich ein mehr von der gesellschaftlichen Organisation abhängender<br />
Stand kaum vorstellen. Deswegen schreibt Fichte: „Der Gelehrte ist [...] mehr als irgend ein Stand,<br />
ganz eigentlich nur durch die Gesellschaft und für die Gesellschaft da [...]“. 19<br />
Es sind aber nicht lediglich die Aufgaben des <strong>Gelehrten</strong>standes, die ihn zu einem für die<br />
Gesellschaft wesentlichen Stand machen. Es ist vor allem die Art und Weise, auf welche dieser<br />
Stand seine Aufgaben realisiert. Er bewegt sich nämlich von Haus aus im Bereich der Argumente<br />
und Gründe, praktiziert ständig die „Wechselwirkung nach Begriffen“. Deswegen hat der<br />
<strong>Gelehrten</strong>stand „ganz besonders die Pflicht, die gesellschaftlichen Talente, Empfänglichkeit und<br />
Mitteilungsfertigkeit, vorzüglich und in <strong>dem</strong> höchstmöglichen Grade in sich auszubilden“. 20 Der<br />
begriffliche Austausch ist aber nicht nur für den <strong>Gelehrten</strong>stand, sondern für alle Menschen als<br />
Vernunftwesen wesentlich. „Nur freie Wechselwirkung durch Begriffe, und nach Begriffen, nur<br />
16 Ebd., S. 48.<br />
17 Vgl.: Ebd., S. 52.<br />
18 Ebd.<br />
19 Ebd., S. 55.<br />
20 Ebd.
Geben und Empfangen von Erkenntnissen, ist der eigentümliche Charakter der Menschheit“. 21 <strong>Die</strong><br />
Idee der Wechselwirkung <strong>zwischen</strong> den vernünftigen Wesen kann nur als Wechselwirkung durch<br />
das „Geben und Empfangen“ der Vorstellungen, Begriffen und Argumente verwirklicht werden. So<br />
gelangt Fichte an eigene Formulierung dessen, was heute gerne als „kommunikative Vernunft“<br />
beschrieben wird. Dahinten verbirgt sich die Einsicht Fichtes, dass die Personen nur mittelbar,<br />
durch Begriffe, auf sich gegenseitig Einfluss nehmen können, im Unterschied zu physischen<br />
Gegenständen, die sich unmittelbar abstoßen oder anziehen. <strong>Die</strong> Vernunfteinheit, die durch<br />
unterschiedliche und einseitige Entfaltung der Individuen gestört wurde, kann nur in Form einer<br />
solchen Kommunikationsstruktur wiederhergestellt werden. Der wichtigste Unterschied <strong>zwischen</strong><br />
den heutigen Komunnikationstheorien und <strong>dem</strong> Fichteschen Ansatz scheint dabei in <strong>dem</strong> von Fichte<br />
vorausgesetzten materiellen Wahrheitsbegriff zu bestehen, der von den meisten zeitgenössischen<br />
Theoretikern der „kommunikativen Vernunft“ nicht mehr akzeptiert wird.<br />
<strong>Die</strong> Bereitschaft zum „Geben und Empfangen“ muss eben bei <strong>dem</strong> <strong>Gelehrten</strong>stand am meistens<br />
entwickelt werden. Nun sollten wir aber genauer zusehen, wie dieses <strong>Gelehrten</strong>dialog konzipiert ist.<br />
Im System der Sittenlehre aus <strong>dem</strong> Jahre 1798 versucht Fichte zu erklären, wie zwei anscheinend<br />
entgegengesetzte Sätze zu vereinbaren sind: 22 einerseits soll ich meine eigene Meinung über Staat<br />
und Religion entwickeln, was ich – wie es sich im folgenden zeigt – nur durch Mitteilung und<br />
Austausch mit den Anderen erreichen kann, 23 andererseits jedoch darf ich diese Meinung nicht allen<br />
mitteilen, weil es gefährlich für die Staatsverfassung sein könnte (den Staat umzustürzen ist laut<br />
Fichte eine Tat gegen das Gewissen). 24 <strong>Die</strong> Lösung dieses Problems lautet: ich darf meine Meinung<br />
nur <strong>dem</strong> gelehrten Publikum vorstellen. <strong>Die</strong>ses beschreibt Fichte als eine „absolute Demokratie“, 25<br />
wo keine Meinung aufgezwungen werden kann und wo jeder Teilnehmer sich des gleichen Status<br />
erfreut. Gelehrte zu sein ist dabei, ebenso wie in Kantischer Schrift Was ist Aufklärung, keine<br />
exklusive Eigenschaft: man kann etwa einerseits seine Pflichten als Staatsfunktionär oder<br />
Kirchenbeamte ausüben, andererseits seine kritischen Bemerkungen zu den Institutionen des Staates<br />
oder der Kirche an das <strong>Gelehrten</strong>publikum richten. Es handelt sich hier um die<br />
Funktionsunterscheidung, welche Kant unter den Begriffen des privaten und öffentlichen<br />
Vernunftgebrauch aufgefasst hat, wobei der private Vernunftgebrauch den die Pflichten ausübenden<br />
Beamten auszeichnet, der öffentliche dagegen – den <strong>Gelehrten</strong>, mag es auch dieselbe Person (zu<br />
verschiedenen Zeiten) sein.<br />
21 J.G. Fichte, Grundlage des Naturrechts, Hamburg 1979, S. 39-40.<br />
22 Vgl.: Fichte, Sittenlehre, S. 244.<br />
23 Vgl.: Ebd., S. 242.<br />
24 Vgl.: Ebd., S. 235.<br />
25 Ebd., S. 248.
„Es ist eine Bedrückung des Gewissens, <strong>dem</strong> Prediger zu verbieten, seine abweichenden<br />
Überzeugungen in gelehrten Schriften vorzutragen; aber es ist ganz in Ordnung, ihm zu<br />
verbieten, sie auf die Kanzel zu bringen“. 26<br />
Im Rahmen des <strong>Gelehrten</strong>publikums nicht nur darf ich, sondern soll ich meine individuelle<br />
Meinung mitteilen. <strong>Die</strong> Einseitigkeit meiner Meinung muss mit Auffassungen der Anderen<br />
konfrontiert werden, damit durch die Wechselwirkung der Aussagen der ihnen gemeinsame<br />
Wahrheitsgehalt sich herauskristallisieren kann. Demnach existiert im Rahmen des<br />
<strong>Gelehrten</strong>standes eine Mitteilungspflicht, Ausübung welcher von <strong>dem</strong> Verharren auf den<br />
individuellen, und dadurch unvermeidlich einseitigen, Urteilen hüten soll. Wie Fichte bemerkt, „Ich<br />
argumentiere zwar nach allgemeinen Vernunftgesetzen, aber durch die Kräfte des Individuums“. 27<br />
Erst durch die Beurteilung anderer vernünftiger Teilnehmer des Dialogs lässt sich entscheiden, wie<br />
viel vom objektiven, wahren Inhalt und wie viel von individueller Form an meiner Meinung<br />
enthalten war. Schon hier zeigt sich eine Spannung <strong>zwischen</strong> Perspektivität und Objektivität:<br />
Einerseits antizipiert Fichte gewissermaßen die pragmatische Wende in der Wahrheitstheorie,<br />
in<strong>dem</strong> er die intersubjektive Kontrolle der Aussagen verlangt. Andererseits, und das unterscheidet<br />
ihm von jeder Gestalt des Pragmatismus, hält er die Perspektivität der Meinung für etwas<br />
grundsätzlich Vorübergehendes. Nach Fichtes Ansicht soll also das Dialog <strong>dem</strong> Absterben der<br />
individuellen Hülle dienen, in welcher die Wahrheit umschlossen ist. Der Pragmatismus, in seinen<br />
verschiedenen Formen, hält dagegen die erkenntnistheoretischen Perspektiven für letztendlich<br />
unreduzierbar.<br />
Es lässt sich hier eine gewisse Analogie mit Fichtes Auffassung des Staates feststellen. So wie der<br />
Staat immer nur ein Notstaat ist, der sich auf <strong>dem</strong> Weg zum Vernunftstaat befindet, so ist auch der<br />
Dialog eine Notform der Warheitsäußerung. Ein gut funktionierender Staat wirkt in Richtung<br />
eigener Aufhebung – das sagt Fichte unmissverständlich schon in den Vorlesungen über die<br />
Bestimmung des <strong>Gelehrten</strong>: „Der Staat geht [...] auf seine eigene Vernichtung aus: es ist der Zweck<br />
aller Regierung, die Regierung überflüssig zu machen“. 28 Es gibt keine Anzeichen, dass Fichte<br />
seine Meinung darüber in der anderen von uns hier erwähnten Schrift, im System der Sittenlehre,<br />
grundsätzlich verändert hat. Der Vernunftstaat wäre ein solcher, zu Einrichtung wessen alle ihre<br />
26 Ebd., S. 249.<br />
27 Ebd., S. 242.<br />
28 Fichte, Bestimmung, S. 37.
Einwilligung gegeben hätten; 29 in solchem Fall wäre jedoch kein Zwang mehr nötig, um die<br />
Menschen den vernünftigen Einrichtungen des Staates unterzuordnen. Da ein solcher Zustand nicht<br />
zu erwarten ist, müssen wir den bereits gegründeten Staat als Notstaat betrachten. <strong>Die</strong>s bedeutet<br />
jedoch, dass man den letzten in keinem Fall glorifizieren, sondern allmählich und konsequent<br />
reformieren und verändern soll, immer mit Blick auf den Vernunftstaat. 30 Der ideal funktionierende<br />
Staat würde die völlige Vernünftigkeit der interpersonalen Relationen zustande bringen; dann wäre<br />
aber seine weitere Existenz nicht mehr notwendig. Hier zeigt sich, dass es nicht der Staat, sondern<br />
eine völlig vernünftige Gesellschaft ist, welche für Fichte das letzte Ziel der menschlichen<br />
Bestrebungen bildet. In <strong>dem</strong> Sinne ist die praktische Philosophie Fichtes vielleicht die erste<br />
Sozialphilosophie par excelence.<br />
„Das Leben im Staate gehört nicht unter die absoluten Zwecke des Menschen [...]; sondern es ist<br />
ein nur unter gewissen Bedingungen statt findendes Mittel zur Gründung einer vollkommenen<br />
Gesellschaft“. 31<br />
So wie der Staat als Mittel zur Errichtung der vernünftigen Gesellschaft dient und auf eigene<br />
Vernichtung ausgeht, so orientiert sich der <strong>Gelehrten</strong>stand darauf, die Unterscheidung <strong>zwischen</strong> den<br />
<strong>Gelehrten</strong> und Ungelehrten doch letztendlich aufzuheben. Der <strong>Gelehrten</strong>dialog dient <strong>dem</strong><br />
Herauskristallisieren der Wahrheit, die nicht nur den <strong>Gelehrten</strong>, sondern allen vernünftigen Wesen<br />
gilt. Insofern ist der <strong>Gelehrten</strong>stand, ähnlich wie der Staat, lediglich ein vorübergehendes Mittel<br />
dessen, was wir als Politik der Vernunft beschreiben können, welche als ihr letztes Ziel die<br />
Einrichtung völlig vernünftiger Relationen <strong>zwischen</strong> den Individuen setzt. Deswegen ist es kein<br />
Zufall, dass sich an <strong>dem</strong> Schicksal des <strong>Gelehrten</strong> die Struktur der menschlichen Kondition als<br />
solcher ablesen lässt. So, wie der Gelehrte aus vernünftigen Gründen, aber Kraft der Individualität<br />
argumentiert, so denkt und handelt jedes Vernunftwesen aufgrund seiner Vernünftigkeit, aber Kraft<br />
seiner Individualität. <strong>Die</strong> Spannung <strong>zwischen</strong> der individuellen Hülle der Wahrheit, die in den<br />
Meinungen einbegriffen ist, und der Wahrheit selbst, entspricht der Spannung <strong>zwischen</strong> der<br />
Sinnlichkeit und der Vernünftigkeit eines endlichen Vernunftwesens. Und so, wie durch das Wirken<br />
des „Gebens und Nehmens“ von Gründen, durch die Mitteilung <strong>zwischen</strong> den <strong>Gelehrten</strong>, die<br />
Wahrheit alle Individualität ihrer Auffassung zurückdrängen soll, so soll auch im menschlichen<br />
Wollen und Handeln das gemeinsame Vernünftige das Isoliert-Einzelne immer mehr überwiegen.<br />
29 Vgl.: Fichte, Sittenlehre, S. 234.<br />
30 Vgl.: Ebd., S. 235.<br />
31 Fichte, Bestimmung, S. 37.
Wenn diese Deutung richtig ist, dann kann die folgende Vorstellung Fichtes von <strong>dem</strong> Endziel der<br />
menschlichen Bestrebungen im Staat nicht mehr überraschen:<br />
„das letzte Ziel alles Wirkens in der Gesellschaft ist: die Menschen sollen alle einstimmen: aber<br />
nur über das rein Vernünftige stimmen alle zusammen [...]. Es fällt unter Voraussetzung einer<br />
solchen Übereinstimmung weg die Unterscheidung <strong>zwischen</strong> einem gelehrten und ungelehrten<br />
Publikum. Es fällt weg, Kirche und Staat. Alle haben die gleichen Überzeugungen, und die<br />
Überzeugung eines jeden ist die Überzeugung aller. Es fällt weg der Staat, als gesetzgebende und<br />
zwingende Macht. Der Wille eines jeden ist wirklich allgemeines Gesetz; weil alle anderen<br />
dasselbe wollen: und es bedarf keines Zwangs [...]“. 32<br />
Nun ist in solcher Vorstellung auch das Schicksal des Dialogs mitbestimmt. Wenn alle gleiche<br />
Überzeugungen haben, dann ist kein Dialog mehr nötig. <strong>Die</strong> Politik der Vernunft geht in <strong>dem</strong><br />
Zustand des Notstaates und der Notgesellschaft, die in Stände aufgeteilt ist, mit der Praxis des<br />
Dialogs zwar einher, im angestrebten Endzustand ist das Dialog jedoch nicht mehr vonnöten. Wenn<br />
wir es mit aktuellen Kategorien zusammenzufassen versuchen würden, könnte man folgende<br />
Beurteilung der hier skizzierten Lage riskieren. <strong>Die</strong> Überzeugung Fichtes, dass wir im Rahmen des<br />
Dialogs eine Orientierung auf den Wert „Wahrheit“ brauchen, ist zwar philosophisch nicht<br />
unkontrovers, wird jedoch auch nach der pragmatischen Wende zugegeben. Auch Fichtesche<br />
Deutung dieser Orientierung auf Wahrheit gehört zu den zukunftsweisenden Elementen seiner<br />
Theorie. Seine Überzeugung, individuelle Behauptungen brauchen analog zu individuellen<br />
Sinneseindrücken eine intersubjektive Kontrolle, die ihren objektiven Wahrheitsgehalt<br />
identifizieren lässt, verweist auf das kommunikationstheoretische Konzept der Objektivität und<br />
nimmt einige Einsichten eines Charles Sanders Peirce vorweg. Fraglich ist nur die Überzeugung<br />
Fichtes, dieses Verfahren der intersubjektiven Kontrolle durch Kommunikation – das „schönste<br />
Band des Nehmens und Gebens“ – ist letztendlich doch nur vorübergehend. Dass die Orientierung<br />
auf Wahrheit auch das Streben nach „Einheit“ und „Einstimmigkeit“ bedeuten soll, gehört zu den<br />
besonders kontroversen Schichten dieser Theorie, ist aber tief in den Grundlagen der Fichteschen<br />
Philosophie verankert. <strong>Die</strong>ser Punkt hängt mit <strong>dem</strong> schwierigen Problem zusammen, das die ganze<br />
Philosophie Fichtes durchdringt: mit <strong>dem</strong> ominösen Status des Individuums. <strong>Die</strong> Besprechung<br />
dieses Themas würde jedoch die begrenzten Rahmen dieses Beitrags weit überschreiten.<br />
32 Fichte, Sittenlehre, S. 250.