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und manche ihr Leben lassen. Die Bergwelt ist eine andere Welt, eine<br />
Kontrastwelt zur alltäglichen. Sie ist zugleich eine Welt im Zwielicht, auf der<br />
Grenze zwischen dem Vertrauten und dem Fremden, zwischen Diesseits und<br />
Jenseits. Und sie ist eine heilige Welt, dem Himmel näher als der Erde.<br />
1. Für viele von uns sind die Berge zu einer zweiten Heimat geworden. Sie<br />
haben sich in der Bergwelt eingerichtet wie in ihren eigenen vier Wänden.<br />
Auf vertrauten Wegen gehen sie auf ihre Hausberge. Sie rasten an ihren<br />
liebgewonnenen Plätzen und genießen die Aussicht, die sich längst in die<br />
Erinnerung eingegraben hat. Sie haben ihre Lieblingshütten; da kennt der<br />
Wirt seine Stammgäste und serviert ihnen die Brotzeit, noch bevor einer den<br />
Rucksack in die Ecke gestellt hat. Man singt die vertrauten Berglieder,<br />
tauscht Erfahrungen aus und begießt die unverbrüchlichen Freundschaften<br />
unter Bergkameraden. Wenn einer zum erstenmal in ihre Runde kommt, dann<br />
freuen sich die erfahrenen Wanderer auf den Zuwachs in der Bergfamilie und<br />
stellen ihm die umliegenden Gipfel und den Hüttenwirt vor.<br />
Die Bergwelt ist eine Welt der Beständigkeit und der Zuverlässigkeit. Da wird<br />
nicht laufend umgebaut, ummöbliert und umgeräumt; da hat alles seinen<br />
festen Platz und seine gewohnte Ordnung. Als wollten sie sich davon<br />
überzeugen, daß hier alles beim Alten bleibt, daß die Berge immer noch an<br />
derselben Stelle stehen und die Wanderer noch immer so denken und<br />
sprechen wie früher, so zieht es die Bergbegeisterten morgens hinaus. Und<br />
wenn sie am Abend glücklich und zufrieden nach Hause kommen, dann sind<br />
ihnen ihre Berge noch enger ans Herz gewachsen. Die Bergwelt ist eine<br />
Heimat par excellence. Sie vermittelt uns das Gefühl der Geborgenheit und<br />
der Sicherheit. Gott hat die Berge für uns geschaffen. Und was Gott<br />
zusammengefügt hat, das kann kein Mensch voneinander trennen.<br />
2. Wer sich mit den Bergen auskennt, der weiß freilich auch, daß er hier nur<br />
eine eng umgrenzte Heimat findet. Ringsum stehen die schroffen Gipfel,<br />
dicht gedrängt, wie ein unüberwindlicher Zaun. Man kennt sie mit Namen<br />
und spricht von ihnen, als seien es alte Bekannte. Aber wir waren noch nie<br />
wirklich dort. Und wir wissen, daß wir dort auch nie hinkommen können. Die<br />
in den Himmel ragenden Felsen gehören nicht zu unserer irdischen<br />
Bergheimat. Sie stehen jenseits unserer Bergerfahrung. Wir wissen nicht, wie<br />
die Welt von dort oben aussieht, manchmal nicht einmal, was sich hinter den<br />
Bergen ‚verbirgt‘; wir können es nur erahnen. Und was wir wirklich von den<br />
zackigen Gipfeln wissen, das verheißt nichts Gutes.<br />
Manchmal greifen die Berge das heimatliche Revier an. Mit sorgenvollem<br />
Blick sehen wir zu, wie sich hoch oben an den Gipfel etwas zusammenbraut,<br />
in Windeseile. Der blau-weiße Himmel verdüstert sich, die Sonne<br />
verschwindet. Es wird dunkel in der Bergheimat und kalt; bald wird es<br />
schneien. Dann müssen wir aufbrechen, so schnell es geht, und aus den<br />
eigenen vier Wänden fliehen. Die Berge nehmen uns, was sie uns gegeben<br />
haben: Geborgenheit, Zuverlässigkeit, Sicherheit. Sie werden von Vertrauten<br />
zu Fremden, von Freunden zu Feinden.<br />
Manchmal überkommt einen auch die Abenteuerlust. Dann machen wir uns<br />
auf in unbekanntes Gelände und versuchen, die begrenzte Heimat Schritt für<br />
Schritt auszudehnen, die Grenzsteine zwischen Diesseits und Jenseits zu<br />
verrücken und die unbegangenen Berge in unser Tourenbuch aufzunehmen.<br />
Dann zeigt sich die Bergwelt von einer ganz anderen Seite: als eine Welt der<br />
Unberechenbarkeiten, der Überraschungen und Bedrohungen. Aus der<br />
verläßlichen Heimat wird eine fremde und unbegreifliche Welt, eine<br />
Wirklichkeit, in der andere Gesetze gelten.<br />
Die Geometrie ist in den Bergen anders als im flachen Land. Die Distanzen<br />
lassen sich nicht richtig einschätzen. Das eine Mal sind wir plötzlich am Ziel,<br />
obwohl das eigentlich gar nicht sein kann; dann werden Köpfe geschüttelt<br />
und Karten studiert. Das andere Mal dehnt sich der Weg immer weiter, so als<br />
würde einer vor uns hergehen und hinter jeden Hügel einen neuen bauen.<br />
Man fängt dann an mit den Kräften zu sparen. Schließlich müssen wir<br />
umkehren, bevor wir das Ziel erreicht haben. Wir wissen, daß wir nicht<br />
ankommen, heute sicher nicht und vielleicht niemals. Manchmal verschieben<br />
sich auch die Raummaße. Wenn wir den Anmarsch hinter uns haben und mit<br />
dem Aufstieg beginnen wollen, dann steht eine kleiner Berg plötzlich wie<br />
eine hohe Wand vor einem. Der Weg ist uns verstellt. Es gibt kein<br />
Weiterkommen, nur noch die Umkehr.<br />
Auch die Gravitationsgesetze funktionieren in den Bergen anders als im<br />
Flachland. Denn die Bergwelt ist die aufgestellte, die vertikale Welt. Auf der<br />
Ebene gibt einem die Schwerkraft Bodenhaftung. Den Rucksack geschultert<br />
schreiten wir mit sicheren Schritten vorwärts. Am Fels ist das anders; da<br />
zieht einen die Schwerkraft in die Tiefe; jeder Höhenmeter will erkämpft sein.<br />
Die Naturgesetze müssen mit Seil und Haken überlistet werden und mit einer