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anderen Gangart, senkrecht auf allen Vieren. Da wird der Körper immer<br />
länger.<br />
Auch auf unsere fünf Sinne können wir uns in den Bergen nicht verlassen.<br />
Die Bergwelt hat ihre eigene Akustik. Laute und leise Töne vermischen sich<br />
miteinander, dunkle und helle Klänge überlagern sich. Das Summen der<br />
Insekten, das Plätschern des Baches, das Rauschen eines Wasserfalls, die<br />
knirschenden Schuhe im Sand, das helle Klappern von Steinplatten, wenn wir<br />
darübergehen, und das langezogene Rieseln, wenn das Geröll ins Rutschen<br />
kommt - alles fließt ineinander. Weiter oben dann die bleierne Stille des<br />
Himmels, als hätte einer den Ton der Außenwelt abgedreht, damit wir die<br />
Laute im Innern des Körpers besser hören können: das Klopfen des Herzens<br />
und das Summen im Ohr. Dazwischen das verwischte Zischen in der<br />
himmlischen Weite, wenn die Vögel im Wind segeln; eine berauschende und<br />
betörende Klangkulisse.<br />
Und natürlich die Verschiebung der optischen Perspektiven. Morgens geht der<br />
Blick im Schatten der Berge nach oben bis an die beleuchtete Grenze<br />
zwischen Himmel und Erde. Mittags dann der ersehnte Gipfelblick: die<br />
unendliche Weite, wo das Auge keinen Halt findet; ringsum das Panorama<br />
der Gletscher und unten im Tal die irdische Welt als Miniatur. Die Häuser, die<br />
Felder, die Wegnetze und die Bachläufe, alles im Kleinformat und alles so<br />
wohl geordnet, wie am 7. Schöpfungstag: ein kleines Paradies. Man möchte<br />
nicht glauben, daß das unsere Welt ist, bis dann beim Abstieg alles wieder<br />
die gewohnten Proportionen annimmt. Und mit jedem Schritt verliert sich der<br />
Zauber der anderen Optik.<br />
Aber wer aus den Bergen zurückkommt, der weiß etwas von der anderen, der<br />
zweiten Wirklichkeit. Die Welt geht nicht in dem auf, was wir tagtäglich von<br />
ihr wahrnehmen. Es gibt eine Welt jenseits des tristen Alltagslebens. Wir<br />
haben die himmlische Welt gesehen. Und wir wünschen uns, etwas von der<br />
oberen Wirklichkeit in die untere mitzunehmen: die Freiheit über den Wolken,<br />
die Gelassenheit, wenn die Alltagswelt in Vergessenheit gerät, eben: das<br />
Glück der Berge. Und wenn uns dann der Berg wieder ruft, dann bekommen<br />
wir Herzklopfen. Wir folgen seinem Appell und lassen uns in die andere Welt<br />
entführen.<br />
3. Die Berge sind eine andere Welt, eine Welt, in der es nicht mit rechten<br />
Dingen zugeht. Das haben schon unsere Vorfahren geahnt, längst bevor sich<br />
einer getraute, als erster einen Fuß über die Grenze zu setzen und in die<br />
fremde Welt einzudringen. Die Höhenlinien grenzten die aufeinander<br />
aufgeschichteten Wirklichkeitsregionen voneinander ab. Unten in den Tälern<br />
legten die Bauern ihre Felder an, die Obstgärten und die Weinberge, irdische<br />
Abbilder des Paradieses. In der unteren Wirklichkeit brachten die Frauen ihre<br />
Kinder zur Welt; und wenn ein Leben zu Ende gegangen war, dann gaben sie<br />
es der Erde zurück. Sie schütteten einen kleinen Erdhügel auf und setzten ein<br />
Kreuz darauf; der Bergfriedhof ist noch heute ein Abbild der Berge, auf denen<br />
die Gipfelkreuze stehen. Weiter oben, in den steilen Bergschluchten hausten<br />
fremdartige Wesen, Drachen und Dämonen, von denen man nur aus<br />
grausamen Märchen wußte; und es war besser, nicht mehr von ihnen zu<br />
erfahren. Ganz droben, auf den Alpengipfeln, wohnten die Götter, die die<br />
Seelen der Toten zu sich holten, in eine Welt, die einem zu Lebzeiten<br />
verschlossen blieb, fern und unzugänglich.<br />
Über die Jahrhunderte hinweg blieben die Berge geheimnisumwittert. Der<br />
Kyffhäuser, wo Kaiser Friedrich von Hohenstaufen nach seinem Tod in das<br />
Innere des Berges entrückt wurde; die Venusberge, in denen der Teufel im<br />
Kreise der verdammten Seelen hauste; der Fuji, wo auf der Baumgrenze die<br />
Trennungslinie zwischen Erde und Himmel verläuft; der Ararat, der als<br />
‚Mutter der Welt‘ gilt und wo Noah mit der Rettungsarche gelandet sein soll;<br />
der Olymp und der Athos und natürlich die feuerspeienden Berge: der Ätna,<br />
die Schmiedewerkstatt der Zyklopen, oder der Stromboli, wo einst der Gott<br />
der Winde zuhause war. Wer schon einmal beim Anflug auf Teneriffa den<br />
Gipfel des Teide gesehen hat, den Vulkankrater, der auf der<br />
undurchdringlichen Monsunwolke aufsitzt, der weiß für immer, wo die Götter<br />
wohnten, bevor die Bergtouristen zu ihnen hinaufkletterten und sie vollends<br />
in den Himmel vertrieben.<br />
Inzwischen haben sich die letzten Geister und Dämonen und nach ihnen auch<br />
die Göttinnen und Götter aus den Bergen zurückgezogen und ihre Welt den<br />
Menschen überlassen. Die Erdenbürger bestiegen die Berge und besiedelten<br />
die Almen. Der Alpenverein legte ein feingliedriges Wegenetz mit genauen<br />
Beschilderungen an. Für die Bequemeren unter den Bergwanderern wurden<br />
Lifte gebaut, für die richtigen Bergsteiger Haken in den Fels geschlagen. Jetzt<br />
tummeln sich auf den Bergen Massen von Sportbegeisterten: Wanderer und<br />
Kletterer, Snowboarder und Paraglider.