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Die Berglandschaft wurde entmythisiert und profanisiert; sie wurde zu einem<br />
Bestandteil der gewöhnlichen, der irdischen Welt. Aber so ganz ließen sich<br />
die Berge nicht in das eindimensionale Weltbild der aufgeklärten<br />
Zeitgenossen einplanieren. Die Bergwelt behielt ihren Charme, ja sie bekam<br />
ihr Geheimnis gerade von denen zurück, die es ihr Zug um Zug geraubt<br />
hatten. Denn bei den schnellebigen Stadtmenschen lösten die uralten<br />
Gebirgsformationen heftige Emotionen aus. Die Gipfel und die Schluchten,<br />
der Fels und das Eis wurden zu Kulissen romantischer Idyllen stilisiert,<br />
tausendfach in Öl gemalt und in gefühlsschwere Gedichte gefaßt.<br />
Die Berge wurden mit himmlischem Glanz versehen und mit<br />
sagenumwobenen Figuren bevölkert. Anstelle der Dämonen zogen die Jäger<br />
und die Wilderer in die Berge ein, allen voran der Jennerwein vom Tegernsee;<br />
und auf der sündlosen Alm ging die von einer erotischen Anziehungskraft<br />
umgebene Sennerin ihrer naturverbundenen Arbeit nach. Bergromane und<br />
Bergfilme führen uns die Dramatik der Bergwelt vor Augen. Vor den hohen<br />
Kulissen der schwedischen Berge, im Björntal, singen ewig die Wälder. Und<br />
weit droben, auf der schweitzerischen Alm, beim Peter und beim Almöhi<br />
findet Heidi die Freiheit, die sie in der Frankfurter Stadtluft vergeblich suchte.<br />
In den Bergen wohnt die Freiheit - so lautet bis heute das vielstimmige Credo<br />
der Bergreligion. Für die einen ist es die frische Luft der Bergwälder, in denen<br />
sie den Hauch der Schöpfung atmen; für die anderen sind es die bedrohlichen<br />
Grenzsituationen, in denen sie sich selbst austesten und ihre Spielräume<br />
erweitern. Und allen liegt die Erhaltung der Natur am Herzen, die Bewahrung<br />
der Welt, in der sie Glück suchen und Gott finden. Sie alle versammeln sich<br />
zu Bergwallfahrten und Berggottesdiensten. Denn sie spüren, daß die<br />
Religion der Berge seit altersher im christlichen Glauben verwurzelt ist.<br />
4. Wer im Alten und im Neuen Testament blättert, der wird ständig durch<br />
eine symbolgetränkte Bergwelt geführt. Der Berg ist Sinnbild der Wohnung<br />
Gottes; er ist zugleich die heilige Stätte, wo sich Gott dem Menschen<br />
offenbart. Wer einmal den Sonnenaufgang auf dem Sinai erlebte, der braucht<br />
keinen Hollywood-Film mehr anzusehen, um zu begreifen, warum Mose die<br />
steinernen Tafeln auf einem Berggipfel entgegennahm. Und wenn er nicht<br />
von Touristenscharen aus aller Welt umgeben wäre, dann würde er die Arme<br />
ausbreiten, um nachzuerleben, wie das damals war, als Mose die Schlacht<br />
gegen die Amalekiter aus der Bergperspektive beobachtete, mit weit<br />
ausgebreiteten Armen, mit einer liturgischen Segensgeste und zugleich in der<br />
Körperhaltung, in der Jesus Jahrhunderte später auf einem kleinen Berg vor<br />
den Toren Jerusalems starb. Und dann: die letzte Aussicht des Mose auf das<br />
gelobte Land, in dem Milch und Honig fließt, bis er dann drunten im Talgrund<br />
zu Grabe getragen wird.<br />
Die Landschaft, die sich Mose von Gott erklären ließ, ist die Berglandschaft<br />
Palästinas mit ihren beiden großen Gebirgsketten diesseits und jenseits des<br />
Jordan. Es ist die Landschaft, wo Jesus auf einem Berg vom Teufel auf die<br />
Probe gestellt wurde: ‚schau dich um; alles, was du siehst, soll dir gehören,<br />
wenn du auf die Knie fällst, und mich anbetest‘. Und es ist die Region, in der<br />
Jesus, der Wanderprediger, seine Bergpredigt hielt. Auf einem Berggipfel<br />
wurde Jesus verklärt; sein Gesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider<br />
wurden weiß wie das Licht. Und von einem Berg stieg er in den Himmel auf;<br />
eine Wolke nahm ihn mit sich in die unendliche Weite; den Jüngern blieb nur<br />
der Abstieg ins Tal und die Hoffnung, daß Gott sie einst zu sich holen würde<br />
in das Reich der Himmel. Und zwischen den vielen biblischen<br />
Berggeschichten die Erzählung von dem Berg, der uns Christen ins Herz<br />
geschrieben ist, der Berg mit den drei Holzkreuzen, der Galgenberg vor den<br />
Toren Jerusalems.<br />
Einmal im Jahr machten sich die israelitischen Familien auf den Weg, hinauf<br />
nach Jerusalem. Wenn man ihre Wallfahrtslieder nachsummt, die Psalmen,<br />
die die Pilger sangen, dann hören wir von einem Berg, den es nur in der<br />
Vorstellung gibt, nicht wirklich. Heute findet man den Berg Zion in den<br />
Stadtplänen Jerusalems verzeichnet, südwestlich der Stadtmauer. Aber für<br />
das wandernde Gottesvolk war der Zion mehr als eine geographische<br />
Erhebung. Zion, das war der Name für eine Stadt, die sich die Menschen nur<br />
in ihren kühnsten Träumen ausmalen können, und zugleich der Berg, der die<br />
Gipfel Kanaans und die Berge aller Länder überragt, der einzige Berg, den<br />
Gott für sich selbst geschaffen hat, nur für sich.<br />
Aber das sollte nicht für immer so bleiben. Das Ende der Zeit dachten sich die<br />
Israeliten als eine große Wallfahrt, bei der die Völker der Erde von allen<br />
Seiten zum Bergsitz Gottes kommen und ihm huldigen werden. Und wenn<br />
sich die Herzen der Frommen vom irdischen Jammertal lösten und ihre<br />
Gedanken in die Ferne schweiften, weit über Berg und Tale, weit über Flur<br />
und Feld, dann spürten sie einen Hauch der Welt, in der Gott am Ende der<br />
Zeit auf uns wartet. Dann wird für uns alle gelten, was der Psalmsänger einst<br />
an der Spitze der Wallfahrt gesungen hat: ‚Ich hebe meine Augen auf zu den