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Booklet - Österreichisches Filmmuseum

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53 VertovSestaja_booklet:ef 14.12.2009 11:42 Uhr Seite 6<br />

Šestaja čast’ mira Odinnadcatyj<br />

Sovkino entlassen. Die Debatten eskalierten und zogen sich bis tief in das Jahr 1927. Für die<br />

einen war Vertov der einzige Sowjetfilmer von internationalem Format, filmhistorisch längst<br />

neben Griffith, Chaplin und Gance einzuordnen, während in den Polemiken der anderen<br />

die bis heute aktuellen Grundsatzdebatten des Dokumentarischen geführt wurden. Mit<br />

Odinnadcatyj, dem Jubiläumsfilm im elften Jahr nach der Oktoberrevolution, realisiert von<br />

der VUFKU in Kiev, trieb Vertov das Spiel weiter – nicht mehr und nicht weniger als die<br />

„Zusammenfassung der neuen Visualität“ sollte entstehen. Obwohl der Establishing Shot<br />

in beiden Filmen jeweils ein über die Landschaft kreisendes Flugzeug zeigt – Index für die<br />

schwindelnde Höhe, von der aus die Beobachtung des Lebens, das „Ich-Sehe“ der Kamera<br />

einsetzt – entwickelt sich Odinnadcatyj formal in eine gänzlich andere Richtung. Hier steht<br />

nicht mehr die rhythmische Zwischentitel-Bild-Montage von mehrheitlich statischen Bild -<br />

kompositionen im Vordergrund, sondern ein fast lyrisches, dynamisches Fließen bewegter<br />

Einstellungen, die zwar teilweise ikonischen Status erlangen (wie die auf den Wasser -<br />

massenguss projizierte Lenin-Büste), oft aber auf nichts anderes als pure Visualität von<br />

Bewegung verweisen (die Anzahl der Zwischentitel ist drastisch reduziert). Spektakuläre<br />

Fotografie- und Überblendungsexperimente erzeugen einen „geschichteten Raum“.<br />

Auf diese Weise wird, ähnlich wie in Šestaja čast’ mira, der stilistische Grundtenor des<br />

Films zu seinem Thema: Waren es dort die Topoi der Verschaltung und Vernetzung auf allen<br />

Ebenen, so steht die Hymne auf die Industrialisierung der Ukrainischen SSR am Beispiel<br />

der Wasserkraftwerke an Dnepr und Volchov für die Überlagerung, Überschichtung und<br />

Übertragung als den Grundelementen des Kreislaufs der Energie. Je nach Fokus entfaltet<br />

sich – ausgehend von der einen Idee der „Erhebung der Elektrokraft“ – eine fundamentale<br />

ökonomische Archäologie der Menschheitsgeschichte oder aber eine radikalformalistische<br />

Studie von „ihren Zweck in sich selbst tragenden semantischen Größen“. Form und Inhalt<br />

sind untrennbar. Odinnadcatyj stand naturgemäß unter Formalismus-Verdacht, gerade<br />

deshalb aber inspiriert der Film bis heute zu filmanalytischer Kreativität.<br />

Noch vor dem absoluten Meta-Kino des Čelovek s kinoapparatom (Der Mann mit der<br />

Kamera) sorgten die selbstreflexiven Film-im-Film-Szenen in Šestaja čast’ mira für Aufruhr:<br />

Die Zuschauer konnten sich hier ‚selbst‘ auf der Leinwand erblicken und wurden damit<br />

aktiver Bestandteil des Films, was alle bisherigen Vorstellungen von einem partizipatorischen<br />

Kino übertraf. Ob die zeitgenössische Rezeption flächendeckend war, so wie Vertov<br />

das einforderte, sei dahingestellt. Odinnadcatyj sahen in den ersten drei Tagen wohl 10.000<br />

Menschen. Heute muss dagegen eine in der Filmgeschichte einzigartige Diskrepanz zwischen<br />

dem Aha-Effekt eines Regie-Namens und der tatsächlichen Unzugänglichkeit des Œuvres<br />

konstatiert werden. Wer Vertov schrieb, meinte meist nur Čelovek s kinoapparatom, vielleicht<br />

noch Kinoglaz oder Tri pesni o Lenine. Die vorliegende Doppel-DVD ist also schon<br />

allein deshalb eine Sensation, weil sie jene zwei unmittelbar nacheinander (und vor dem<br />

chef d’œuvre) entstandenen Werke zusammen bringt, die von der Hochphase der avant gardistischen<br />

20er Jahre und damit der rigorosesten Experimentierphase Vertovs geprägt sind.<br />

Dazu kommen aber noch zwei editorische Specials: einerseits die Tatsache, dass<br />

Starkomponist Michael Nyman bei einer Tasse Tee am Londoner Kamin einverstanden war,<br />

sich an beide filmischen Rhythmus-Extreme aus musikalischer Perspektive heranzuwagen;<br />

andererseits die wissenschaftlich-archivarische Edition durch das Österreichische <strong>Filmmuseum</strong><br />

im Rahmen des Digital Formalism-Projekts. Odinnadcatyj, der bis dato wohl unbekannteste<br />

aller Vertov-Filme und ein Paradefall für die Schwierigkeiten der Überlieferung, erhält hier<br />

eine Maximalaufbereitung. Mit dem „Fund“ des Endstücks von Odinnadcatyj, einem Glücks -<br />

fall der filmanalytischen Forschung, wird Geschichte geschrieben. Vertov hätte gesagt:<br />

„Alle Bürger von 10 bis 100 Jahren müssen diesen Film sehen.“

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