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Grundstrukturen der Gotteserfahrung im christlichen Glauben - Kath.de

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Michael Schnei<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong>Grundstrukturen</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gotteserfahrung</strong> <strong>im</strong> <strong>christlichen</strong> <strong>Glauben</strong><br />

(Radio Horeb am 4. Februar 2013)<br />

Die Frage nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Möglichkeit einer <strong>Gotteserfahrung</strong> stellt sich gegenwärtig in einer Zeit <strong>de</strong>s Um-<br />

bruchs. Wir leben heute in einer <strong><strong>de</strong>r</strong> großen Krisenzeiten unseres <strong>Glauben</strong>s. Eine Antwort auf die<br />

gestellte Frage läßt sich aber erst fin<strong>de</strong>n, wenn wir das Phänomen <strong><strong>de</strong>r</strong> Erfahrung <strong>de</strong>s <strong>Glauben</strong>s in<br />

ihren verschie<strong>de</strong>nen Kontexten be<strong>de</strong>nken. Am Anfang steht eine kurze Reflexion über die Be<strong>de</strong>u-<br />

tung unseres Themas. Es folgt eine inhaltliche Best<strong>im</strong>mung <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>christlichen</strong> Erfahrung. Sodann wird<br />

eine genauere theologische Differenzierung und Unterscheidung einzelner Erfahrungen <strong>im</strong> <strong>Glauben</strong><br />

notwendig wer<strong>de</strong>n. Abschließend ist das Phänomen <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gotteserfahrung</strong> in seiner Relevanz für das<br />

Leben <strong>im</strong> <strong>Glauben</strong> auszuwerten.<br />

I. Die Frage nach <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gotteserfahrung</strong><br />

Bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Frage nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Möglichkeit von <strong>Gotteserfahrung</strong>en han<strong>de</strong>lt es sich um kein Son<strong><strong>de</strong>r</strong>thema<br />

eines theologischen Einzeltraktats, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n um eine Grundfrage <strong>de</strong>s <strong>Glauben</strong>s und seines Selbstver-<br />

ständnisses. Im folgen<strong>de</strong>n soll gezeigt wer<strong>de</strong>n, daß es in unserem Thema um das Zueinan<strong><strong>de</strong>r</strong> von<br />

Theorie und Praxis <strong>im</strong> Leben <strong>de</strong>s <strong>Glauben</strong>s geht. Die Authentizität christlicher Spiritualität läßt sich<br />

nämlich daran messen, ob sie die Kraft besitzt, sich <strong>de</strong>n sachlichen Problemen zu stellen und sich<br />

an ihnen zu bewähren. Mit etwas mehr Spiritualität allein lassen sich heute die sachlichen Probleme<br />

nicht aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt schaffen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n lediglich vorläufig für das subjektive Empfin<strong>de</strong>n erträglicher<br />

erscheinen. <strong>Glauben</strong>sinhalt und <strong>Glauben</strong>spraxis bil<strong>de</strong>n eine innere Einheit. Offenbarung bleibt in das<br />

konkrete Leben von Menschen vermittelt, und <strong>im</strong> existentiellen Vollzug menschlichen Lebens wird<br />

das Gehörte und Verkündigte angenommen. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Terminologie <strong><strong>de</strong>r</strong> Scholastik meint dies die Zu-<br />

sammengehörigkeit von «fi<strong>de</strong>s qua creditur», <strong>de</strong>m subjektiven <strong>Glauben</strong>svollzug o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>m Formal-<br />

prinzip <strong>de</strong>s <strong>Glauben</strong>s, und «fi<strong>de</strong>s quae creditur», <strong>de</strong>m objektiven Gegenstand o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>m Mate-<br />

rialprinzip <strong>de</strong>s <strong>Glauben</strong>s.<br />

Das Neue je<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Glauben</strong>serfahrung läßt sich nur erzählend i<strong>de</strong>ntifizieren, wie sich auch die Erfah-<br />

rung <strong>de</strong>s Lei<strong>de</strong>ns in keine spekulative Argumentation begrifflich auflösen läßt. Deshalb ist die<br />

Erzählung in <strong><strong>de</strong>r</strong> Theologie keine vorkritische Ausdrucksform <strong>de</strong>s <strong>Glauben</strong>s, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n als Trägerin<br />

<strong>de</strong>s Erfahrungsgehaltes <strong>de</strong>s <strong>Glauben</strong>s unverzichtbar für <strong>de</strong>ssen Tradierung. Die Bibel ist ein an-<br />

schauliches Beispiel hierfür. Unterschiedliche Erfahrungen, Sprachformen und Motive, Deutungs-<br />

muster und Handlungsmuster <strong>de</strong>s <strong>Glauben</strong>s stehen <strong>im</strong> biblischen Zeugnis nebeneinan<strong><strong>de</strong>r</strong>, ohne daß<br />

sie in einem theologisches System auf einen einheitlichen Nenner gebracht wer<strong>de</strong>n.<br />

Gera<strong>de</strong> an <strong>de</strong>n Reibungsflächen <strong>de</strong>s gesellschaftlichen und zeitgeschichtlichen Wan<strong>de</strong>ls, wie wir<br />

ihn heute erleben, tun sich oft Problembereiche auf, für die es noch keine Deutungskategorien,<br />

1


keine Theorien und schon gar keine erprobten Handlungsmuster gibt. Grundsätzlichen Umbrüchen<br />

<strong>im</strong> <strong>Glauben</strong> und in <strong><strong>de</strong>r</strong> Kirche ist es eigen, daß sie sich in <strong>de</strong>n Lebensgeschichten <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen<br />

ankün<strong>de</strong>n und mehr spontan und intuitiv neue Lösungen und Antworten <strong>im</strong> Lebensvollzug aus-<br />

probieren lassen.<br />

Die Offenbarung besteht nicht in erster Linie in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mitteilung einer Summe von Sätzen, vielmehr<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> Selbstmitteilung Gottes durch Jesus Christus <strong>im</strong> Heiligen Geist, die <strong>de</strong>m Menschen ein neues<br />

Leben ermöglicht. Das Wort Gottes bewahren heißt vor allem, es in die Tat umsetzen. Es gibt in<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Bibel, sofern sie Gottes Offenbarung ist, überhaupt keine «theoretische Wahrheit», vielmehr ist<br />

so, wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Ausleger Jesus <strong>de</strong>n Vater <strong>im</strong>mer wirkend offenbart, die verstehen<strong>de</strong> Aufnahme seiner<br />

Kundgabe letztlich einzig <strong>im</strong>mer nur als Tat, das heißt als Nachfolge möglich. Ethik, Frömmigkeit,<br />

Liturgie, Sakramente und sogar die Apologetik müßten von <strong><strong>de</strong>r</strong> Theologie als Nachfolge neu<br />

begrün<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n; dabei sollte von <strong><strong>de</strong>r</strong> Gestalt <strong>de</strong>s Heiligen und nicht <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>s Sün<strong><strong>de</strong>r</strong>s ausge-<br />

gangen wer<strong>de</strong>n.<br />

1<br />

II. Zum Wesen gläubiger Erfahrung<br />

G.Ebeling führt aus: Solange das christliche Wort nicht erfahrungsgriffig gesagt und <strong><strong>de</strong>r</strong> christliche<br />

Glaube nicht erfahrungsverän<strong><strong>de</strong>r</strong>nd gelebt wird, bleibt die beunruhigen<strong>de</strong> Frage, ob die Theologie<br />

ihrer Mitverantwortung für <strong>de</strong>n Erfahrungsbezug von Wort und Glaube gerecht wird. Für unser<br />

Thema legt es sich nahe, daß wir gera<strong>de</strong> von <strong><strong>de</strong>r</strong> mystischen Erfahrung her uns <strong><strong>de</strong>r</strong> Frage nach<br />

<strong>de</strong>m Wesen <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gotteserfahrung</strong> nähern.<br />

1. Grundlegung<br />

Bevor die mystische Erfahrung <strong>im</strong> beson<strong><strong>de</strong>r</strong>en nachgezeichnet wer<strong>de</strong>n soll, gilt es aufzuzeigen,<br />

inwiefern auch die mystische Erfahrung <strong>im</strong> Rahmen <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>christlichen</strong> <strong>Glauben</strong>serfahrung bleibt und<br />

darin dieselben <strong>Grundstrukturen</strong> aufweist.<br />

a. Christozentrische Rückbindung<br />

1<br />

Als Grundinhalt christlicher Mystik gilt einzig die Erfahrung, die Christus macht : Christus ist Objekt<br />

wie auch Subjekt christlicher <strong>Glauben</strong>serfahrung. «Gehört es zu einem Propheten o<strong><strong>de</strong>r</strong> Religi-<br />

onsgrün<strong><strong>de</strong>r</strong>, daß er eine beson<strong><strong>de</strong>r</strong>e Erfahrung <strong>de</strong>s Göttlichen macht und sie anschließend in Worte<br />

faßt, so unterschei<strong>de</strong>t sich Christus gera<strong>de</strong> dadurch von ihnen, daß er gewissermaßen nichts zu<br />

sagen hat; er selbst ist, was er zu sagen hat: Wer mich sieht, sieht <strong>de</strong>n Vater» (Joh 14, 9). Chri-<br />

stus ist die Erfahrung Gottes. Diese genuin christliche Erfahrung relativiert alle weiteren Erfah-<br />

rungen, die nicht Christus zum Objekt und zum Subjekt haben. Der Weg <strong>de</strong>s <strong>Glauben</strong>s besteht<br />

darin, <strong>de</strong>n Weg Jesu nachzugehen und die Botschaft von <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschwerdung in das Erfahren<br />

Vgl. R. Brague, Was heißt christliche Erfahrung?, in: IkaZ 5 (1976) 481- 496, hier 493f.<br />

2


Gottes zu übersetzen.<br />

Aufgrund ihrer trinitarischen Grundlegung bleibt je<strong>de</strong> Erfahrung <strong>im</strong> <strong>Glauben</strong> ein Geschenk; als Gabe<br />

kann sie letztlich nicht «gemacht», son<strong><strong>de</strong>r</strong>n nur «passiv» empfangen wer<strong>de</strong>n. Da die Gabe, die <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Mensch <strong>im</strong> <strong>Glauben</strong> empfängt, ihm nicht äußerlich bleibt, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n ihn hineinn<strong>im</strong>mt in das göttliche<br />

Drama, spricht Juan <strong>de</strong> la Cruz in einem doppelten Sinn von einer Aktivität <strong>de</strong>s Menschen: Der<br />

Mensch muß gemäß <strong><strong>de</strong>r</strong> Wirklichkeit leben, die sein Leben ausmacht, nämlich Bild Gottes zu sein,<br />

und hierin das göttliche Drama mitvollziehen, in das er hineingestellt ist. Dieser Mitvollzug<br />

übersteigt, wie es Juan in seinen «Nächten» <strong>de</strong>s <strong>Glauben</strong>s beschreibt, je<strong>de</strong> menschliche Erfahrung,<br />

geht es doch darum, «die je<strong>de</strong> Erkenntnis überragen<strong>de</strong> Liebe Christi» (Eph 3,19) zu erkennen. Weil<br />

die Liebe Christi und das Gehe<strong>im</strong>nis Gottes größer bleiben als alles, was <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch von Gott<br />

erkennen und erfahren kann, führt die christologische Prägung <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Glauben</strong>serfahrung in die<br />

läutern<strong>de</strong> Nacht.<br />

Das Lateran-Konzil von 1215 führt hierzu aus: «Von Schöpfer und Geschöpf kann keine Ähnlichkeit<br />

2<br />

ausgesagt wer<strong>de</strong>n, ohne daß sie eine größere Unähnlichkeit zwischen bei<strong>de</strong>n einschlösse.» Das<br />

Phänomen, daß Krisenzeiten und Ansätze zu ihrer Bewältigung sich bereits sehr früh in <strong><strong>de</strong>r</strong> Le-<br />

bensgeschichte einzelner manifestieren, hat sich die Soziologie in <strong><strong>de</strong>r</strong> Biographieforschung bereits<br />

zunutze gemacht. «Niemals wird es <strong>de</strong>n Menschen gelingen, eine endgültige, unbeweglich blei-<br />

ben<strong>de</strong> Antwort zu geben: Das genau meint das Lateran-Konzil mit je-größerer Unähnlichkeit über<br />

alle Ähnlichkeit hinaus; aber dies nicht <strong>de</strong>shalb, weil Gott unerreichbar bleibt, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n weil wir ihn<br />

in seinem Sohn Jesus Christus erkennen und verstehen können ... In ihm (Christus) ist Gottes<br />

'Unähnlichkeit' uns so 'ähnlich' gewor<strong>de</strong>n, daß wir ihn, d. i. Gott, mit Hän<strong>de</strong>n greifen können.» 3<br />

Der Mensch erfährt Gottes Ähnlichkeit, wenn er eintritt in Gottes Unähnlichkeit, in die Menschwer-<br />

dung <strong>de</strong>s Gottessohnes und in die Praxis <strong><strong>de</strong>r</strong> Nachfolge.<br />

2. Sakramentale Vermittlung<br />

Die christologische Grundlegung <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>christlichen</strong> Mytik fin<strong>de</strong>t ihren sichtbaren Ausdruck in <strong><strong>de</strong>r</strong> Tau-<br />

fe, die <strong><strong>de</strong>r</strong> Beginn <strong>de</strong>s <strong>christlichen</strong> Weges ist. Die Frage, ob es einen Unterschied zwischen ge-<br />

wöhnlicher und mystischer <strong>Glauben</strong>serfahrung gibt, muß mit <strong>de</strong>m Hinweis beantwortet wer<strong>de</strong>n,<br />

daß auch die mystische Erfahrung eine solche <strong>de</strong>s <strong>Glauben</strong>s ist, «eine Erfahrung, die eine an<strong><strong>de</strong>r</strong>e<br />

Erfahrung verlängert, in<strong>de</strong>m sie diese vertieft und reinigt, klärt, übersteigert und krönt ... Nur wenn<br />

die christliche Erfahrung <strong><strong>de</strong>r</strong> mystischen nicht heterogen gegenübersteht, wird das lebendige Chri-<br />

4<br />

stenleben nicht abgewertet und die mystische Erfahrung nicht überbewertet» . Von je<strong>de</strong>m Glau-<br />

ben<strong>de</strong>n gilt: «Euch ist es gegeben, die Mysterien <strong>de</strong>s Reiches <strong><strong>de</strong>r</strong> H<strong>im</strong>mel zu erkennen» (Mt 13,11;<br />

vgl. Lk 8,10; Mk 4,11). Das Gna<strong>de</strong>ngeschenk, das je<strong>de</strong>m Getauften als objektives Mysterium ver-<br />

heißen ist, kann je<strong><strong>de</strong>r</strong> Getaufte subjektiv einholen. Deshalb muß die mystische Erfahrung «innerhalb<br />

2<br />

NR 174-176.<br />

3 J. Sudbrack, Von <strong><strong>de</strong>r</strong> Helle und von <strong><strong>de</strong>r</strong> Dunkelheit <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Gotteserfahrung</strong>. Ein Beitrag zum Gespräch zwischen <strong>de</strong>n Religionen,<br />

in: GuL 50 (1977) 342.<br />

4<br />

J. Mouroux, L'expérience chrétienne. Paris 1952, 55f.<br />

3


<strong>de</strong>s Rahmens <strong><strong>de</strong>r</strong> normalen Gna<strong>de</strong> und <strong>de</strong>s <strong>Glauben</strong>s» gedacht wer<strong>de</strong>n, sonst wäre sie «eigentlich<br />

Gnosis o<strong><strong>de</strong>r</strong> Theosophie». 5<br />

Die erste eigentliche Bezeugung <strong><strong>de</strong>r</strong> Lehre von <strong><strong>de</strong>r</strong> Geburt Gottes <strong>im</strong> Herzen <strong>de</strong>s Menschen kommt<br />

6<br />

aus <strong><strong>de</strong>r</strong> ur<strong>christlichen</strong> Tauftheologie. Die Rückbezogenheit <strong>de</strong>s <strong>christlichen</strong> Erfahrungsweges auf<br />

die Taufe gilt in gleicher Weise für <strong>de</strong>n mystischen Erfahrungsweg. Obwohl sich zahlreiche Gleich-<br />

heiten in <strong><strong>de</strong>r</strong> Struktur zur außer<strong>christlichen</strong> Mystik aufzählen lassen, unterschei<strong>de</strong>t sich christliche<br />

<strong>Glauben</strong>serfahrung von je<strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en dadurch, daß sie aus <strong>de</strong>m Wunsch kommt, die eigene I<strong>de</strong>n-<br />

tität tiefer in Christus zu legen. Wenn vieles von <strong>de</strong>m, was <strong><strong>de</strong>r</strong> christliche Mystiker erfährt, kaum<br />

grundverschie<strong>de</strong>n ist von <strong>de</strong>m, was sich auch in außerchristlicher Mystik fin<strong>de</strong>t, wird die Wesens-<br />

eigentümlichkeit christlicher <strong>Gotteserfahrung</strong> dort sichtbar, wo sich ihr «Gegenstand» selber er-<br />

schließt, daß nämlich Jesus Christus <strong>im</strong> Getauften lebt. Der hier <strong>de</strong>utlich wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Vorrang <strong>de</strong>s<br />

Gehaltes vor <strong><strong>de</strong>r</strong> Gestalt, <strong><strong>de</strong>r</strong> für das Christentum eigentümlich ist, läßt verständlich wer<strong>de</strong>n,<br />

warum «Mystik» kein genuin christlicher und zur Offenbarung gehöriger Begriff sein kann;<br />

«christlich» erweist sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Weg <strong><strong>de</strong>r</strong> Mystik erst dort, wo er sich auf das «mysterion», nämlich<br />

das Heilsereignis in Jesus Christus bezieht.<br />

Wie sehr <strong><strong>de</strong>r</strong> christliche <strong>Glauben</strong>sweg als ganzer sakramental umfaßt war, zeigt sich am<br />

frühkirchlichen Begriff «Spiritualität», <strong><strong>de</strong>r</strong> sich grundlegend von <strong>de</strong>m heutigen Sprachgebrauch un-<br />

terschei<strong>de</strong>t. J. Leclercq hat die bisher älteste bekannte Bezeugung <strong>de</strong>s entsprechen<strong>de</strong>n Substantivs<br />

«Spiritualitas» <strong>im</strong> frühen 5. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t gefun<strong>de</strong>n, die besagt, daß <strong><strong>de</strong>r</strong> Christ ein Leben nach <strong>de</strong>m<br />

Geist führen soll, in das er durch seine Taufe eingeglie<strong><strong>de</strong>r</strong>t wur<strong>de</strong>. Der Text selbst lautet: «Fürwahr,<br />

verehrungswürdiger und liebenswerter Vater, da dir durch die neue Begnadung je<strong><strong>de</strong>r</strong> Grund <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Tränen abgewischt ist, bemühe dich, hüte dich, laufe, eile. Bemühe dich, daß du in <strong><strong>de</strong>r</strong> Spiritualität<br />

(spiritualitas) voranschreitest. Hüte dich, damit du nicht als unvorsichtiger und nachlässiger Wäch-<br />

7<br />

ter das Gut, das du empfangen hast, verlierst...» Spiritualität meint hier nichts an<strong><strong>de</strong>r</strong>es als ein Le-<br />

ben <strong>im</strong> Geist und in <strong><strong>de</strong>r</strong> Treue zur Taufe. Der Verlust, <strong>de</strong>n die Spiritualität nach 1200 erlitt, ist <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

lebendige Bezug zum Dogma, zum Sakrament, zum Heilsereignis in Christus. Natürlich gab es<br />

niemals christliches Leben ohne diese Bezüge; aber es geht um <strong><strong>de</strong>r</strong>en Stellenwert <strong>im</strong> <strong>christlichen</strong><br />

Leben.<br />

3. Ekklesiale Ausweitung<br />

Mit Ausgang <strong>de</strong>s Mittelalters verlor sich die christliche Frömmigkeit zunehmend in <strong>de</strong>n Bereich pri-<br />

vater Innerlichkeit: Gott und die Seele, allein das schien zu genügen. Doch christlicher Glaube sucht<br />

pr<strong>im</strong>är das «Wir» und «nur» sekundär das Ich. Nicht an<strong><strong>de</strong>r</strong>s die christliche Mystik: sie vollzieht sich<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemeinschaft <strong><strong>de</strong>r</strong> Kirche und <strong>im</strong> Mitvollzug <strong><strong>de</strong>r</strong> Sakramente. Dieser Mitvollzug wird nur dann<br />

5<br />

K. Rahner, Art. «Mystik», in: LThK 7 (1962) 743-745, hier 744.<br />

6 H. Rahner, Die Gottesgeburt. Die Lehre <strong><strong>de</strong>r</strong> Kirchenväter von <strong><strong>de</strong>r</strong> Geburt Christi <strong>im</strong> Herzen <strong><strong>de</strong>r</strong> Gläubigen, in: ZKTh 59 (1935)<br />

339f.<br />

7 a<br />

J. Leclercq, «Spiritualitas», Studi medievali, 3 Serie III, 1, 1962, 279-296; 280: hier mit Bezug auf Is 38,4-6: «Age, ut in<br />

spiritualitate proficias» (PL 30, 114 D - 115 A).<br />

4


wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zu einem mystagogischen Weg, wenn die Sakramente nicht pr<strong>im</strong>är verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n als<br />

sinnbildliche Medien, die die göttliche Gna<strong>de</strong> vermitteln, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n vor allemals Handlungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Kir-<br />

che, welche die Gläubigen zur Teilnahme am göttlichen Leben führen; in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mitfeier <strong><strong>de</strong>r</strong> Sakra-<br />

mente ereignet sich die eucharistische Realisation <strong><strong>de</strong>r</strong> Kirche <strong>im</strong> Leben <strong><strong>de</strong>r</strong> einzelnen Gläubigen.<br />

Wir sagten schon: Je<strong><strong>de</strong>r</strong> Getaufte ist in seinem Leben zum Mystiker berufen. Dies zeigt sich nicht<br />

nur darin, daß <strong><strong>de</strong>r</strong> Weg <strong>de</strong>s <strong>Glauben</strong>s auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Wirklichkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Taufe beruht, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n muß gleicher-<br />

weise <strong>im</strong> Zusammenhang damit gesehen wer<strong>de</strong>n, daß die christliche <strong>Glauben</strong>serfahrung durch Heili-<br />

ge Schrift, Sakramente und Tradition vermittelt ist. Diese Vermittlung ist nicht ersetzbar und aus-<br />

tauschbar, <strong>de</strong>nn Schrift und Sakramente führen <strong>de</strong>n <strong>Glauben</strong><strong>de</strong>n in die Begegnung mit <strong>de</strong>m auf-<br />

erstan<strong>de</strong>nen Herrn. Dies gilt allgemein für je<strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>s <strong>Glauben</strong>s, <strong>im</strong> beson<strong><strong>de</strong>r</strong>en aber für <strong>de</strong>n<br />

Weg <strong>de</strong>s Mystikers. Mystik meint keine subjektive Erfahrung <strong>de</strong>s einzelnen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n seinen Bezug<br />

zum Mysterium und auf «die gegenwärtige und zugleich verhüllte Wirklichkeit Christi» <strong>im</strong> Sakra-<br />

ment; die subjektive Erfahrung bleibt auf <strong>de</strong>m Weg <strong><strong>de</strong>r</strong> Nachfolge rückgebun<strong>de</strong>n an das alltägliche<br />

Leben aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Christuswirklichkeit <strong>im</strong> Wort (<strong><strong>de</strong>r</strong> Heiligen Schrift) und <strong>im</strong> Sakrament.<br />

Die Rückbezogenheit auf das Wort <strong><strong>de</strong>r</strong> Heiligen Schrift und auf die Sakramente weist weiter auf die<br />

Rückbindung christlicher Erfahrung an die Kirche. Nicht die Einzelseele ist Braut <strong>de</strong>s Herrn, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

die Kirche, und <strong><strong>de</strong>r</strong> einzelne kann nur insoweit «Braut Christi» sein, als er eine «an<strong>im</strong>a ecclesia-<br />

stica» ist, die nichts an<strong><strong>de</strong>r</strong>es sein und darstellen will als die Kirche, die Gemeinschaft aller. Die<br />

ekklesiale Grundstruktur <strong>de</strong>s <strong>Glauben</strong>s wird beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s <strong>de</strong>utlich <strong>im</strong> Leben <strong><strong>de</strong>r</strong> Kleinen Thérèse, die<br />

das Zueinan<strong><strong>de</strong>r</strong> von «Braut Christi» und Kirche als Sendung beschreibt.<br />

Mit seiner <strong>Gotteserfahrung</strong> steht <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Glauben</strong><strong>de</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemeinschaft <strong><strong>de</strong>r</strong> Kirche, die als Braut Chri-<br />

sti das eigentliche Subjekt <strong><strong>de</strong>r</strong> Nachfolge ist. «Christ wer<strong>de</strong>n heißt communio wer<strong>de</strong>n und damit in<br />

8<br />

die Wesensweise <strong>de</strong>s Heiligen Geistes eintreten.» Die communiale Struktur christlicher Krisis grün-<br />

<strong>de</strong>t in <strong><strong>de</strong>r</strong> trinitarischen: Die Trinitätstheologie wird darin zum Maß <strong><strong>de</strong>r</strong> Ekklesiologie, als das Leben<br />

<strong>im</strong> <strong>Glauben</strong> gestaltet und gelebt wird aus <strong>de</strong>m Heiligen Geist.<br />

4. Apostolische D<strong>im</strong>ension<br />

Es gehört zum Charakteristikum christlicher, auch mystischer <strong>Glauben</strong>serfahrung, daß sie nicht in<br />

das Verstummen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n in das Wort führt. Die Suche nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Versprachlichung <strong><strong>de</strong>r</strong> eigenen<br />

Erfahrung muß als wesentlicher Aspekt einer Sendung <strong>im</strong> Dienst an <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemeinschaft <strong><strong>de</strong>r</strong> Glau-<br />

ben<strong>de</strong>n angesehen wer<strong>de</strong>n. Darüber hinaus ist die Versprachlichung <strong><strong>de</strong>r</strong> eigenen <strong>Glauben</strong>serfahrung<br />

ein wichtiges, weil unterschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s Merkmal für die Echtheit <strong>de</strong>s Erfahrenen: Gott ruft nicht in<br />

das Verstummen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n in die Verkündigung, nicht in die Sprachlosigkeit, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n in das Zeug-<br />

nis.<br />

Die Kleine Thérèse beantwortet die Erfahrung <strong><strong>de</strong>r</strong> Gottesferne mit einer zunehmen<strong>de</strong>n Bereitschaft<br />

zum Dienst an <strong><strong>de</strong>r</strong> Kirche. Das heißt: Gott prägt sich <strong>im</strong> Menschen so aus, daß er ihn zu <strong>de</strong>n<br />

8 J. Ratzinger, Der Heilige Geist als communio. Zum Verhältnis von Pneumatologie und Spiritualität bei Augustinus, in: Cl.<br />

Heitmann / H. Mühlen (Hg.), Erfahrung und Theologie <strong>de</strong>s Heiligen Geistes. Hamburg-München 1974, 223-238, hier 226.<br />

5


Mitmenschen sen<strong>de</strong>t. Gott erfahren be<strong>de</strong>utet mehr als ihn sehen, es heißt, ihn versichtbaren und<br />

sehbar machen: «Der Mitmensch, zu <strong>de</strong>m ich entsen<strong>de</strong>t bin, ist also nicht eine Ergänzung meiner<br />

<strong>Gotteserfahrung</strong>, er ist ebensowenig ein Ersatz dafür. Die Sendung zu ihm hin ist die Erfahrung<br />

Gottes, wenn es sich wirklich um eine Sendung han<strong>de</strong>lt und nicht um bloße Sympathie o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

menschliche Begier<strong>de</strong>, um eine Sendung, die in uns die Sendung <strong>de</strong>s Sohnes vom Vater weg<br />

9<br />

wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holt.» Die Sendung fin<strong>de</strong>t ihre konkrete Gestalt <strong>im</strong> Wort <strong>de</strong>s Zeugen und <strong>im</strong> Dienst am<br />

Mitmenschen. Bei<strong>de</strong>s verdichtet sich in <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemeinschaft <strong>de</strong>s <strong>Glauben</strong>s.<br />

9<br />

10<br />

R. Brague, Was heißt christliche Erfahrung, 495f.<br />

Vgl. K. Beyschlag, Evangelium als Schicksal. München 1979, 116.<br />

11 2<br />

Die Mystik und das Wort. 1924.<br />

12<br />

III. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Schule <strong><strong>de</strong>r</strong> Mystiker<br />

Die Begriffe «Mystik» und «mystisch» fin<strong>de</strong>n sich nicht in <strong><strong>de</strong>r</strong> Bibel. An diesem Punkt setzt oft die<br />

protestantische Kritik an <strong><strong>de</strong>r</strong> Mystik an: das mystische «Entwer<strong>de</strong>n» wird als ein «menschlicher»<br />

Kunstgriff, Gott auf geschichtslose Weise besitzen zu wollen, entlarvt und so relativiert. Harnack<br />

spricht von unerlaubten mystischen «Genußmitteln», vom «Taumelkelch <strong><strong>de</strong>r</strong> Mystik», <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n<br />

10 11<br />

klaren Sinn benebelt, und von geistlicher «Genußsucht». Für Emil Brunner ist Mystik (<strong><strong>de</strong>r</strong> Artikel<br />

muß eigentlich entfallen) we<strong><strong>de</strong>r</strong> eine katholische Möglichkeit noch eine protestantische Unmög-<br />

lichkeit, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n ein antichristliches Phänomen urmenschlicher Selbstvergötzung, <strong>de</strong>mgegenüber<br />

nur die eine Alternative steht: die Mystik o<strong><strong>de</strong>r</strong> das Wort. Wie läßt sich also das Wesen <strong><strong>de</strong>r</strong> Mystik<br />

genauer erfassen und vor falschen Deutungen bewahren?<br />

1. Annäherungen<br />

12<br />

Eine erste Definition von Mystik fin<strong>de</strong>t sich in <strong><strong>de</strong>r</strong> frühkirchlichen Theologie. Das Wort «mystikós»<br />

kommt vom Verbum «mýoh», was so viel heißt wie: die Augen schließen. Die früheste vor-<br />

christliche Verwendung fin<strong>de</strong>t sich in <strong>de</strong>n Mysterienreligionen, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Zentralriten vor <strong>de</strong>n Nichtein-<br />

geweihten verborgen gehalten wur<strong>de</strong>n. Das rituelle Gehe<strong>im</strong>nis, also keine Lehre o<strong><strong>de</strong>r</strong> innere Er-<br />

kenntnis, wur<strong>de</strong> verborgen gehalten. Heißt es in Phil 4,12: «Ich bin darin eingeweiht (memýämai),<br />

mich satt zu essen wie auch Hunger zu lei<strong>de</strong>n», wird darin <strong><strong>de</strong>r</strong> Grad <strong>de</strong>s Banalen <strong>de</strong>utlich, <strong>de</strong>n die<br />

übertragene Verwendung <strong><strong>de</strong>r</strong> Mysterienausdrücke damals - auch schon <strong>im</strong> Christentum - erreicht<br />

hatte.<br />

Gegenüber <strong>de</strong>m negativen und eher ausschließen<strong>de</strong>n Begriffsinhalt von Mystik in <strong><strong>de</strong>r</strong> außerchrist-<br />

lichen Umwelt ist das Wort «mystisch» in <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>christlichen</strong> Literatur eher positiv bezeugt (worin<br />

<strong>de</strong>utlich wird, daß hier kein unmittelbar hellenisieren<strong><strong>de</strong>r</strong> Einfluß vorliegt). Die <strong>christlichen</strong> Texte, in<br />

<strong>de</strong>nen das Wort«mystikós» vorkommt, lassen sich in drei Gruppen aufteilen, nämlich in eine bib-<br />

L. Bouyer, Die mystische Kontemplation bei <strong>de</strong>n Vätern, in: Weisheit Gottes - Weisheit <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt. FS J. Ratzinger, St. Ottilien<br />

1987, 637-649.<br />

6


lische, eine liturgische und eine spirituelle, wobei die Grenzen zwischen diesen drei Gruppen<br />

fließend sind; die ältesten gehören <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Gruppe an, während die jüngsten Texte <strong><strong>de</strong>r</strong> dritten<br />

13<br />

zugeordnet wer<strong>de</strong>n müssen.<br />

aa. «Mystisch» als Christuswirklichkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Heiligen Schrift und als göttliche Wirklichkeit Christi<br />

Das Christentum entlehnte <strong>de</strong>m Hei<strong>de</strong>ntum das Wort «mystisch» zu einer Zeit, als es gera<strong>de</strong> nicht<br />

zur Bezeichnung einer rituellen o<strong><strong>de</strong>r</strong> geistlichen Wirklichkeit diente. Im Christentum wird das Wort<br />

«Mystik» für das am wenigsten Griechische am Christentum verwen<strong>de</strong>t, nämlich für die Heilige<br />

Schrift. War es beispielsweise bei Philo nur ein Mo<strong>de</strong>wort, bar je<strong>de</strong>s tieferen Inhaltes, so wird es<br />

bei Klemens und Origenes zur normalen Bezeichnung all <strong>de</strong>ssen, was mit <strong>de</strong>m ihrer Ansicht nach<br />

schwierigsten Problem <strong>de</strong>s Christentums zusammenhängt, nämlich mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Schriftexegese und ihrer<br />

Auf<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>s geistlich-allegorischen Sinnes <strong><strong>de</strong>r</strong> Bibel. Die Väter legen dar, daß die gesamte<br />

Schrift und die ganze Geschichte <strong>de</strong>s Gottesvolkes ihren letzten Sinn und ihren einzigen Schlüssel<br />

allein in Christus fin<strong>de</strong>n.<br />

14<br />

Schon Klemens nennt die allegorische Schriftauslegung eine «mystische Auslegung» : «Der Alte<br />

Bund hat wie ein Pädagoge das Volk mittels <strong><strong>de</strong>r</strong> Furcht geführt, und sein Wort ist nur das eines<br />

15<br />

Engels ... Für das neue Volk aber ist Jesus gezeugt als <strong><strong>de</strong>r</strong> mystische Engel.» Origenes best<strong>im</strong>mt<br />

die mystische Schriftauslegung als eine «Auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>faltung <strong>de</strong>s in <strong>de</strong>n (Gottes-)Worten wie ein<br />

16<br />

gehe<strong>im</strong>er Schatz verborgenen mystischen Sinnes» .<br />

Das Wort «mystikós» bezeichnet somit in einem ersten Sinn die auf Christus und sein Mysterion<br />

ausgerichtete Exegese, und zwar die mystische und geistliche Einsicht in die heiligen Schriften. Die<br />

mystische Schriftauslegung sucht die tiefsten Dinge <strong>de</strong>s <strong>Glauben</strong>s zu erfassen. So bezeichnet<br />

Eusebius von Caesarea in seiner «Demonstratio Evangelica» die Lehre von <strong><strong>de</strong>r</strong> Gottheit Christi,<br />

17<br />

verglichen mit <strong>de</strong>m, was wir über seine Menschheit wissen, als «in tieferem Sinn mystisch» . Auf<br />

18<br />

ähnliche Weise <strong>de</strong>utet Gregor von Antiochien in «De Baptismo» die Zeugung durch die Taufe<br />

gegenüber <strong><strong>de</strong>r</strong> natürlichen Zeugnung. Zuweilen kommt das Wort «mystisch» <strong><strong>de</strong>r</strong> Be<strong>de</strong>utung von<br />

«heilig» nahe, aber auch von «geistlich» <strong>im</strong> Unterschied zu «fleischlich» <strong>im</strong> paulinischen Sinn. Die<br />

Lehre Christi und <strong><strong>de</strong>r</strong> Frie<strong>de</strong>nskuß sind «mystisch», weil sie nicht <strong>im</strong> Menschen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n in Gott<br />

ihren Ursprung haben.<br />

Zusammenfassend läßt sich sagen: Bei <strong>de</strong>n griechischen Väter umschreibt das Wort «mystisch»<br />

vor allem jene göttliche Wirklichkeit, die Christus allen Menschen eröffnet hat und die ihnen das<br />

Evangelium entschleiert, so daß ihnen <strong><strong>de</strong>r</strong> tiefe Sinngehalt <strong><strong>de</strong>r</strong> ganzen heiligen Schrift mitgeteilt<br />

13 Vgl. zum folgen<strong>de</strong>n: L. Bouyer, «Mystisch». Zur Geschichte eines Wortes, in: J. Sudbrack (Hg.), Das Mysterium und die Mystik.<br />

Beiträge zu einer Theologie <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>christlichen</strong> <strong>Gotteserfahrung</strong>, Würzburg 1974, 57-75.<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

Strom 5.6 (PG 9,64 A).<br />

Paedag. 1,7 (PG 8,321 A); vgl. Apg 7,53; Gal 3,19; Hebr 2,2.<br />

In Joan. 1,15 (PG 14,49 B).<br />

3,7 (PG 22,248 B).<br />

2.2 (PG 88,1873 A).<br />

7


wer<strong>de</strong>n kann. Das Wort «mystisch» meint aber auch die spirituelle Wirklichkeit <strong>de</strong>s Gottesdienstes<br />

«in Geist und Wahrheit».<br />

bb. «Mystisch» als Anwesenheit <strong>de</strong>s Herrn <strong>im</strong> sakramentalen und liturgischen Leben, in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

eucharistischen Feier und in <strong><strong>de</strong>r</strong> Kirche.<br />

Kyrill weiß um <strong>de</strong>n biblischen Ursprung <strong>de</strong>s Wortes «mystisch», stellt es aber in einen sakra-<br />

mentalen, d.h. eucharistischen Zusammenhang: «Wir sagen, daß die Kraft <strong>de</strong>s Brotes und <strong>de</strong>s Was-<br />

sers aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Synagoge <strong><strong>de</strong>r</strong> Ju<strong>de</strong>n hinweggenommen sei. Das ist mystisch zu verstehen. Wir näm-<br />

lich, die wir durch <strong>de</strong>n <strong>Glauben</strong> zur Heiligung berufen sind, wir haben nun Brot, das Brot vom<br />

19<br />

H<strong>im</strong>mel, das Christus ist, und zwar sein Leib.» «Mystisch» bezeichnet sowohl die eucharistische<br />

Wirklichkeit wie auch die Tatsache, daß diese Wirklichkeit als sakramentale verschleiert ist. Der<br />

<strong>Glauben</strong><strong>de</strong> muß vom «historischen Sinn» übergehen zu <strong>de</strong>m tieferen Gehalt, <strong><strong>de</strong>r</strong> in <strong>de</strong>n Sa-<br />

kramenten zu Christus führt. So darf man sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Eucharistie nicht nähern «wie einem bloßen<br />

20<br />

Brot, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n wie einem mystischen Brot» . Die Kommunion ist eine «mystische Speise», <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

21<br />

Altar ein mystischer Tisch» und die eucharistische Feier ein «mystischer Kult».<br />

Was über die Eucharistie gesagt wird, gilt in gleicher Weise vom Sakrament <strong><strong>de</strong>r</strong> Taufe und die in ihr<br />

empfangene «mystische Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>geburt <strong>im</strong> Namen <strong>de</strong>s Vaters, <strong>de</strong>s Sohnes und <strong>de</strong>s Heiligen Gei-<br />

22<br />

stes» . Aus <strong>de</strong>m «mystischen Wasser» <strong><strong>de</strong>r</strong> Taufe empfangen die <strong>Glauben</strong><strong>de</strong>n das Leben. Die<br />

sakramentale und biblische Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Wortes «mystisch» gehen ineinan<strong><strong>de</strong>r</strong> über, <strong>de</strong>nn das<br />

Mysterium Christi ist in <strong><strong>de</strong>r</strong> Liturgie <strong><strong>de</strong>r</strong> Kirche gegenwärtig.<br />

Die sakramental-liturgische Sinnbe<strong>de</strong>utung von «mystisch» läßt sich vielfach belegen. Der Hymnus<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Cherub<strong>im</strong>, <strong><strong>de</strong>r</strong> in <strong>de</strong>n byzantinischen Liturgien <strong>de</strong>n «großen», zur Mitte <strong><strong>de</strong>r</strong> eucharistischen<br />

Liturgie führen<strong>de</strong>n «Eingang» begleitet, heißt in <strong><strong>de</strong>r</strong> Liturgie <strong>de</strong>s Basilius o<strong><strong>de</strong>r</strong> Johannes Chrysosto-<br />

mus «mystischer Hymnus». Ebenso nennt Gregor von Nazianz die von <strong>de</strong>n Gläubigen <strong>im</strong> Verlauf<br />

23<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Feier gegebenen Antworten «mystische Worte» . Hymnus und Worte sind mystisch, weil sie<br />

die große Handlung <strong><strong>de</strong>r</strong> Liturgie begleiten, in <strong><strong>de</strong>r</strong> sich die heilige Handlung <strong>de</strong>s Erlösers fortsetzt.<br />

24<br />

Das Vaterunser wird «mystisches Gebet» genannt : Neben <strong>de</strong>m Platz dieses Gebetes innerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Liturgie (nämlich unmittelbar vor <strong><strong>de</strong>r</strong> Kommunion) war die mit ihm anklingen<strong>de</strong> Zusammenfassung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Offenbarung Gottes <strong>im</strong> Neuen Testament für die Wahl <strong>de</strong>s Wortes entschei<strong>de</strong>nd, so daß <strong>im</strong><br />

Gebet <strong>de</strong>s Vaterunsers bei<strong>de</strong> Grundinhalte <strong>de</strong>s Wortes «mystisch» ineinan<strong><strong>de</strong>r</strong> übergehen.<br />

Zusammenfassend läßt sich sagen: So vielfältig die Grundbe<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Begriffsinhaltes von «my-<br />

stisch» ist, er meint stets das Christusgehe<strong>im</strong>nis, das in <strong><strong>de</strong>r</strong> Heiligen Schrift verkün<strong>de</strong>t und <strong>im</strong><br />

Sakrament gefeiert wird.<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

24<br />

Jesajakommentar 1,2 (PG 70.96 C).<br />

3,39 (PG 79, 405 B).<br />

Gregor von Nazianz, Or. 40,31 (PG 36,404 A).<br />

Contra Marcellum 1.1 (PG 24,728 C).<br />

Or. 18.9 (PG 35, 996 B).<br />

Johannes Chrysostomus, Kommentar zum Römerbrief (ed. bened. 7, 578 E).<br />

8


cc. «Mystisch» als Erfahrung <strong><strong>de</strong>r</strong> Christuswirklichkeit in Wort und Sakrament.<br />

Origenes scheint als erster das Wort «mystisch» für die unmittelbare, erfahrungsmäßige Gottes-<br />

erkenntnis angewandt zu haben, die aber als solche für Origenes <strong>im</strong>mer an die Schriftmeditation<br />

25<br />

gebun<strong>de</strong>n ist. Christus ist <strong><strong>de</strong>r</strong> «Führer in die mystische und unaussprechliche Beschauung» , die<br />

26<br />

«entzückt und in Enthusiasmus versetzt» . Hier klingen schon erste Akzente an, die ein Ver-<br />

ständnis von Mystik nahelegen, das bis in die Mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne aktuell geblieben ist.<br />

Pseudo-Dionysios erklärt von Hierotheus und seiner Schriftauslegung, daß «er - gerissen aus sich<br />

27<br />

heraus in Gott hinein - die innerste Gemeinschaft mit <strong>de</strong>m erfuhr, das er feierte» . Man tritt, wie<br />

28<br />

Dionysios ausführt, «in das in Wahrheit mystische Wolkendunkel <strong>de</strong>s Nichtwissens» , wenn man<br />

sich <strong>de</strong>m alleinigen Gegenüber <strong>de</strong>s Evangeliums anschließt, wie er gegenwärtig ist durch die Man-<br />

nigfaltigkeit seiner Worte hindurch, jenseits <strong><strong>de</strong>r</strong> Einzelheiten sowohl <strong><strong>de</strong>r</strong> liturgischen Weihehand-<br />

lungen als auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Einzelzeugnisse biblischer Offenbarung. Das Universum <strong><strong>de</strong>r</strong> Liturgie ist für<br />

Pseudo-Dionysios ebenso umfassend ist wie das All <strong><strong>de</strong>r</strong> Natur, es übersteigt sogar dieses. Pseudo-<br />

Dionysios bezeichnet die Liturgie als eine «mystische» Feier, weil sie in die unaussprechliche<br />

Erfahrung <strong>de</strong>s Einswer<strong>de</strong>ns mit Gott führt.<br />

dd. Neue Akzentuierung<br />

Die frühchristliche Zeit versteht unter <strong>de</strong>m mystischen Leben und <strong><strong>de</strong>r</strong> mystischen Erfahrung jenes<br />

Leben in Christus, das die Schrift bezeugt und das <strong>de</strong>n Inhalt <strong><strong>de</strong>r</strong> gesamten Liturgie ausmacht<br />

(nämlich als Erfahrung <strong><strong>de</strong>r</strong> höchsten, <strong>im</strong> <strong>Glauben</strong> geschehen<strong>de</strong>n Einswerdung). Die Väter setzen<br />

<strong>de</strong>n Begriffsinhalt von «Mystik» niemals mit einer ausschließlich o<strong><strong>de</strong>r</strong> vornehmlich vom subjektiven<br />

Standpunkt aus betrachteten psychologischen Erfahrung gleich. Vielmehr wird die Mystik als die<br />

Erfahrung <strong><strong>de</strong>r</strong> unsichtbaren objektiven Welt verstan<strong>de</strong>n, die nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Schrift in Jesus zu uns ge-<br />

kommen ist und in die uns die Liturgie, in <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Herr seinshaft gegenwärtig ist, eintreten läßt. Die<br />

«mystiká», in welche die innere mystische Erfahrung eintreten läßt, führen <strong>de</strong>n Menschen zum<br />

«mystischen Leib» Christi, worunter aber we<strong><strong>de</strong>r</strong> die Kirche noch das eucharistische Brot verstan<strong>de</strong>n<br />

wird, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> auferstan<strong>de</strong>ne und zum H<strong>im</strong>mel aufgefahrene Christus.<br />

In all <strong>de</strong>m wird <strong>de</strong>utlich, daß sich <strong><strong>de</strong>r</strong> genuin christliche Begriff «Mystik» in <strong><strong>de</strong>r</strong> früh<strong>christlichen</strong> Zeit<br />

gegenüber <strong>de</strong>n damaligen zeitgenössischen (vor allem <strong>de</strong>n neuplatonischen) Vorstellungen <strong>de</strong>utlich<br />

absetzt. Mystik bezeichnet das Eingefügtsein in die spezifisch christliche und geistliche Tradition<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Schriftauslegung und in die Erfahrung <strong><strong>de</strong>r</strong> (eucharistischen) Liturgie. So entwirft Pseudo-<br />

Dionysios eine «Mystische Theologie», die lehrt, Christus in allen Schriften und am Brotbrechen zu<br />

erkennen.<br />

25<br />

26<br />

27<br />

28<br />

Johannes-Kommentar 13,24 (PG 14, 440 C).<br />

Ebd. 1,33 (PG 14, 80 B).<br />

Traktat über die göttlichen Namen 3,2,3 (PG 3, 681 D - 684 A).<br />

De mystica theologia 1,3 (PG 3, 1001 A).<br />

9


Die Rückbezogenheit <strong>de</strong>s Wortes «Mystik» auf die Heilige Schrift und die Sakramente wan<strong>de</strong>lt sich<br />

<strong>im</strong> Laufe <strong><strong>de</strong>r</strong> Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>te. Obwohl die Entwicklung <strong><strong>de</strong>r</strong> Frömmigkeit <strong>de</strong>s Mittelalters <strong>im</strong>mer mehr<br />

zum Individuell-Subjektiven tendiert, bleibt die objektive Rückgebun<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>s <strong>christlichen</strong> Erfah-<br />

rungsweges bis an <strong>de</strong>n Anfang <strong><strong>de</strong>r</strong> Neuzeit erhalten. Während aber <strong>im</strong> ersten <strong>christlichen</strong> Jahr-<br />

tausend das geistliche Schrifttum vor allem auf die Auslegung <strong><strong>de</strong>r</strong> Heiligen Schrift konzentriert<br />

bleibt, geht diese Objektivität am Beginn <strong>de</strong>s zweiten Jahrtausends verloren. Die Objektivität <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

(vor allem liturgischen) Frömmigkeit wird abgelöst von <strong><strong>de</strong>r</strong> «beschaulichen gefühlsmäßigen Privat-<br />

29<br />

frömmigkeit» mit ihrer <strong>im</strong>mer subjektiveren, «auf das Konkrete und Einzelne gerichteten Betrach-<br />

tungsweise».<br />

b. Konstitutiva<br />

Im folgen<strong>de</strong>n wen<strong>de</strong>n wir uns vor allem <strong>de</strong>m dritten Sinn <strong>de</strong>s Begriffsinhaltes von «Mystik» zu.<br />

30<br />

Denn die klassiche Definition <strong><strong>de</strong>r</strong> Mystik lautet : cognitio Dei exper<strong>im</strong>entalis, also existentielles<br />

Erfahren <strong>de</strong>s Göttlichen. Um diese Definition genauer zu erfassen und zu differenzieren, sollen<br />

einige grundlegen<strong>de</strong> inhaltliche Merkmale <strong><strong>de</strong>r</strong> mystischen Erfahrung, wie sie bisher herausgearbeitet<br />

wur<strong>de</strong>n, nochmals aufgegriffen und weitergeführt wer<strong>de</strong>n, um <strong>de</strong>n Zusammenhang <strong><strong>de</strong>r</strong> mystischen<br />

Erfahrung mit <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Glauben</strong>serfahrung je<strong>de</strong>s <strong>christlichen</strong> Lebens <strong>de</strong>utlich wer<strong>de</strong>n zu lassen.<br />

aa. Gebun<strong>de</strong>n an die Hl. Schrift<br />

Das göttliche Mysterium ist Inhalt <strong><strong>de</strong>r</strong> Heiligen Schrift, und die Mystik das Begreifen dieses Inhalts.<br />

Christliche Mystik ist ein tieferes, vollen<strong>de</strong>tes Verstehen <strong><strong>de</strong>r</strong> Heiligen Schrift.<br />

Um das unterschei<strong>de</strong>nd Christliche in <strong><strong>de</strong>r</strong> mystischen Erfahrung gegenüber allen an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Phänomen<br />

31<br />

mystischer Art zu erfassen, spricht R.C. Zaehner von Einheit und Unterscheidung zugleich. Zu-<br />

nächst darf von einer Einheit <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>christlichen</strong> Mystik mit <strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Äußerungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Mystik <strong>im</strong><br />

nicht<strong>christlichen</strong> Bereich gesprochen wer<strong>de</strong>n. Es gibt keine christliche Mystik und Religiosität in<br />

völliger Reinkultur. Deshalb wird es in <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>christlichen</strong> Mystik viele Parallelen zur nicht<strong>christlichen</strong><br />

Mystik geben, wie auch nichtchristliche Mystik die christliche Spritualität befruchten kann.<br />

Aber es gibt auch das Proprium christlicher Mystik, das sie von allen nicht<strong>christlichen</strong> Formen einer<br />

Mystik unterschei<strong>de</strong>t. Alois M. Haas sagt dazu: «In <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Fassungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Transzen-<br />

<strong>de</strong>nzerfahrung nach Eckhart, Tauler und Seuse ist ein Gemeinsames festzuhalten: zuvor<strong><strong>de</strong>r</strong>st die<br />

christologische Grundlegung <strong><strong>de</strong>r</strong> mystischen Erfahrung ... damit gegeben ist eine grundsätzliche<br />

32<br />

Ungeschul<strong>de</strong>theit <strong><strong>de</strong>r</strong> Transzen<strong>de</strong>nzerfahrung von seiten Gottes.»<br />

Die Transzen<strong>de</strong>nzerfahrung steht in engem Zusammenhang mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Selbsterfahrung <strong>de</strong>s Menschen.<br />

Der Unterschied zwischen einer normalen Begegnung mit Gott in Gebet und Betrachtung und einer<br />

29<br />

30<br />

31<br />

32<br />

I. Herwegen, Kirche und Seele. Die Seelenhaltung <strong>de</strong>s Mysterienkultes und ihr Wan<strong>de</strong>l <strong>im</strong> Mittelalter. Münster 1926, 20.<br />

H.U. von Balthasar, Zur Ortsbest<strong>im</strong>mung christlicher Mystik, in: Pneuma und Institution, Skizzen zur Theologie, Bd. IV. Einsie<strong>de</strong>ln<br />

1974, 298-324, hier 302.<br />

Concordant Discord. Oxford 1970.<br />

Transzen<strong>de</strong>nzerfahrung in <strong><strong>de</strong>r</strong> Auffassung <strong><strong>de</strong>r</strong> Deutschen Mystik (MS, <strong>Kath</strong>ol. Aka<strong>de</strong>mie Freiburg 1977).<br />

10


mystischen best<strong>im</strong>mt sich dadurch, wie streng man <strong>im</strong> Rahmen einer theologischen Anthropologie<br />

<strong>de</strong>n Bereich <strong>de</strong>s Natürlichen von <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Übernatürlichen unterschei<strong>de</strong>t. Weil das geistige Sein<br />

Gottes nicht an sich bleibt, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong>im</strong> natürlichen Sein <strong>de</strong>s Menschen in Erscheinung tritt, voll-<br />

en<strong>de</strong>t sich in <strong><strong>de</strong>r</strong> Selbstmitteilung Gottes die Tranzen<strong>de</strong>ntalität <strong>de</strong>s Menschen. Auf <strong>de</strong>n Wesens-<br />

zusammenhang von Gott und Geschöpf weist Meister Eckhart hin: «Wo alle Kreaturen Gott aus-<br />

sprechen: da wird ´Gott´.» 33<br />

Selbstwerdung und Gottesbegegnung sind aber nicht i<strong>de</strong>ntisch. Es ist Martin Buber recht zu geben,<br />

wenn er sie klar voneinan<strong><strong>de</strong>r</strong> trennt. Es gibt <strong>im</strong> Leben vieler Menschen Erlebnisse mystischer Art,<br />

die Selbstwerdung be<strong>de</strong>uten: Weitung <strong><strong>de</strong>r</strong> eigenen Persönlichkeit, Eingeborgensein in <strong>de</strong>n Kosmos,<br />

Erleben kollektiver Archetypen. Doch diese Erfahrungen erreichen nicht <strong>de</strong>n Absoluten bzw. das<br />

Absolute, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n eröffnen <strong>de</strong>m Menschen seinen eigenen Innenraum bzw. weiten ihn. Hierbei<br />

kann noch nicht von einer mystischen Erfahrung als Begegnung gesprochen wer<strong>de</strong>n.<br />

Die Frage nach <strong>de</strong>m Zueinan<strong><strong>de</strong>r</strong> wie auch Trennen<strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>christlichen</strong> Mystik <strong>im</strong> Verhältnis zu allen<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>en nicht<strong>christlichen</strong> Formen <strong><strong>de</strong>r</strong> Mystik läßt sich einzig christologisch beantworten. Christus,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Menschensohn, ist die göttliche Epiphanie. Sein Menschsein ist konstitutives Realsymbol <strong>de</strong>s<br />

Logos. Deshalb gehört es zum Spezifikum christlicher <strong>Glauben</strong>serfahrung, daß sie in das Sakrament<br />

menschlicher Erfahrung eingehüllt bleibt. Signifikant und unterschei<strong>de</strong>nd für die christliche Mystik<br />

bleibt <strong>im</strong>mer: Auch wenn sich <strong>im</strong> Vergleich mit außerchristlicher Mystik zahlreiche Gleichheiten und<br />

Parallelen in <strong><strong>de</strong>r</strong> Struktur aufzählen lassen, unterschei<strong>de</strong>t sich die christliche Mystik von ihnen<br />

dadurch, daß sie <strong>im</strong>mer eine Christuserfahrung ist.<br />

bb. Im Rahmen <strong>de</strong>s <strong>Glauben</strong>s<br />

Das Mysterium steht über <strong>de</strong>m Mystiker. Glaube ist Verheißung von Einsicht, aber die Erfahrung<br />

übersteigt niemals <strong>de</strong>n <strong>Glauben</strong> (Augustinus).<br />

Kein Mystiker von Format hat sich je mit Parapsychologie abgegeben. Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>fuhr ihnen <strong><strong>de</strong>r</strong>artiges,<br />

versetzte es sie in arge Verlegenheit und ließ sie Gott bitten, davon befreit zu wer<strong>de</strong>n. Gereifte<br />

Mystik hat nichts mit einem Erfahren um <strong>de</strong>s Erfahrens willen gemein, vielmehr übersteigt sie je<strong>de</strong>s<br />

Verweilen <strong>im</strong> eigenen Erlebnis. Die Mystiker wissen darum, wie zwei<strong>de</strong>utig und mangelhaft je<strong>de</strong> Er-<br />

fahrung ist; dies heißt für sie aber nicht, daß die gemachte Erfahrung <strong>im</strong> Unverbindlichen bleibt.<br />

Die Mystiker bezeugen, daß die mystische Erfahrung ohne ihr eigenes Zutun plötzlich und unver-<br />

mittelt über sie kam. Gegenüber <strong><strong>de</strong>r</strong> gemachten Erfahrung stehen die Mystiker eher «hilflos» dar,<br />

wie sie auch nicht «<strong>de</strong>monstrieren» können, daß das Erfahrene wahr ist bzw. ob <strong><strong>de</strong>r</strong> von ihnen er-<br />

fahrene Gott tatsächlich existiert. Sie können nur das Erfahrene beschreiben und erzählen, nie aber<br />

beweisen.<br />

Je<strong>de</strong> mystische Erfahrung verbleibt <strong>im</strong> Bereich <strong>de</strong>s <strong>Glauben</strong>s und übersteigt ihn keineswegs. Das<br />

bezeugen alle Mystiker uni sono. Bernhard von Clairvaux sagt, daß ihn das Wort besuchte, ohne<br />

33<br />

Meister Eckhart, Predigt 26, zit. nach D. Mieth, Christus, das Soziale <strong>im</strong> Menschen. Texterschließungen zu Meister Eckhart,<br />

Düsseldorf 1972, 73f.<br />

11


daß er das Hereinkommen selbst gespürt habe. Mme. Guyon bekennt, daß die peinlichste Lektion<br />

ihrer mystischen Erfahrung darin bestand, in Gottes Armen zu sterben, ohne diese Arme zu «se-<br />

hen». Meist vergleichen die Mystiker ihre Beziehung zu Gott mit <strong>de</strong>m Zusammensein zweier<br />

Freun<strong>de</strong> in einem dunklen Z<strong>im</strong>mer.<br />

cc. Im Geschenk <strong><strong>de</strong>r</strong> Taufgna<strong>de</strong><br />

Bei <strong><strong>de</strong>r</strong> mystischen Erfahrung han<strong>de</strong>lt es sich um einen <strong>Glauben</strong>svollzug, <strong><strong>de</strong>r</strong> als Verinnerlichung<br />

<strong>de</strong>s Mysteriums zu verstehen ist. Daß das Mysterium durch Mystik verinnerlicht wird, ist eine For-<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong>de</strong>s Mysteriums selbst.<br />

Die Mystik ist - nach Karl Rahner - innerhalb <strong>de</strong>s Rahmens <strong><strong>de</strong>r</strong> normalen Gna<strong>de</strong> und <strong>de</strong>s <strong>Glauben</strong>s<br />

zu konzipieren, sonst wäre sie Gnosis o<strong><strong>de</strong>r</strong> Theosophie; somit ist je<strong><strong>de</strong>r</strong> Getaufte auch zum Mystiker<br />

berufen. Zu oft hat man die christliche Erfahrung mit <strong><strong>de</strong>r</strong> mystischen einfach zusammengeworfen,<br />

um dann <strong>im</strong> normalen <strong>christlichen</strong> Leben eine Erfahrung vom Typ <strong><strong>de</strong>r</strong> Mystik wie<strong><strong>de</strong>r</strong>zuent<strong>de</strong>cken<br />

34<br />

(so die Häretiker) o<strong><strong>de</strong>r</strong> zu leugnen (so die <strong>Kath</strong>oliken). Geschieht letzteres, so zeigt gera<strong>de</strong> die<br />

Barockspiritualität, daß dies zu einer unguten Kasuistik geistlichen Lebens führt o<strong><strong>de</strong>r</strong> zu einer Be-<br />

schreibung <strong>de</strong>s <strong>christlichen</strong> Lebens nach mystischem Vorbild, aber als min<strong><strong>de</strong>r</strong>er Abklatsch. Die<br />

mystische Erfahrung behält ihren Eigenwert, auch wenn die gewöhnliche <strong>Glauben</strong>serfahrung <strong>de</strong>s<br />

35<br />

Christen als ihr tragen<strong><strong>de</strong>r</strong> Grund festgestellt und anerkannt wird.<br />

Hans Urs von Balthasar beschreibt das notwendige Zueinan<strong><strong>de</strong>r</strong> von mystischer und gewöhnlicher<br />

<strong>Glauben</strong>serfahrung wie folgt: «Man kann und muß die Grenze zwischen <strong>de</strong>n berufenen Mystikern<br />

(als qualifizierten Zeugen) und <strong>de</strong>n sonstigen Gläubigen ziehen - darin hat die jesuitische Richtung,<br />

wie sie Poulain und Richtstätter vertreten haben, recht -, aber darf <strong>de</strong>swegen die Analogie und so-<br />

gar eine gewisse Kontinuität zwischen bei<strong>de</strong>n Erfahrungsweisen nicht übersehen. Gera<strong>de</strong> weil die<br />

mystische Erfahrung eine solche <strong>im</strong> <strong>Glauben</strong> bleibt, <strong><strong>de</strong>r</strong> Glaube an Christus aber bereits eine echte,<br />

objektive Begegnung <strong>de</strong>s ganzen Menschen mit <strong>de</strong>m menschgewor<strong>de</strong>nen Gott ist, besteht eine<br />

'wurzelhafte Homogenität' zwischen bei<strong>de</strong>n; die mystische Erfahrung ist eine Erfahrung, die eine<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Erfahrung verlängert, in<strong>de</strong>m sie diese vertieft und reinigt, klärt, übersteigert und krönt ...<br />

Nur wenn man zeigen kann, daß die integrale christliche Erfahrung die mystische wenn nicht be-<br />

ginnt, so doch vorbereitet, ist bewiesen, daß sie keine Entartungserscheinung ist. Nur wenn die<br />

christliche Erfahrung <strong><strong>de</strong>r</strong> mystischen nicht heterogen gegenübersteht, wird das lebendige Chri-<br />

stenleben nicht abgewertet und die mystische Erfahrung nicht überbewertet.» 36<br />

Die Mystik bil<strong>de</strong>t kein beson<strong><strong>de</strong>r</strong>es Stockwerk <strong>im</strong> Kosmos <strong>de</strong>s <strong>Glauben</strong>s. Der Mystiker empfängt<br />

dieselbe Gna<strong>de</strong> wie je<strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Christ, aber er erfährt sie auf an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Weise. Ruusbroeck schreibt<br />

dazu in seinem Werk «Die geistliche Hochzeit»: «Alle guten Menschen haben dies. Aber wie das<br />

geschieht, das bleibt ihnen verborgen, ihr ganzes Leben lang, wenn sie nicht innerlich sind und aller<br />

34<br />

35<br />

36<br />

J. Mouroux, L'expérience chrétienne, Paris 1952, 55f.<br />

Ebd. 214.<br />

H.U. von Balthasar, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, Bd. I: Schau <strong><strong>de</strong>r</strong> Gestalt. Einsie<strong>de</strong>ln 1961, 288f.<br />

12


37<br />

Geschöpfe entledigt.» Der gute Mensch, <strong><strong>de</strong>r</strong> äußerlich bleibt und seine Aufmerksamkeit auf die<br />

äußere Lebensweise richtet, besitzt Gott, ohne <strong>de</strong>ssen inne zu sein. 38<br />

dd. Allein aus Gna<strong>de</strong><br />

Das mystische Leben ist nicht auf Erfahrung ausgerichtet und hat diese nicht als Ziel vor Augen.<br />

Vielmehr ist die Mystik, als letzte Entfaltung <strong>christlichen</strong> Lebens, eingebettet in ein dreifaches Ver-<br />

hältnis zum Mysterium: Glaube, Hoffnung und Liebe.<br />

Der christliche Mystiker sucht nicht die «Erfahrung» um ihrer selbst willen, sie wird vielmehr als<br />

39<br />

Gabe darüber hinaus geschenkt. Den Mystikern gilt je<strong>de</strong> Form <strong>de</strong>s Habens als ein Götzenbild. «Die<br />

Gna<strong>de</strong> kommt einem zuvor, <strong><strong>de</strong>r</strong> gleichsam nicht darauf bedacht ist, einem, <strong><strong>de</strong>r</strong> nicht fragt, nicht<br />

sucht, nicht anklopft. Wie ein Sklave zum Tisch <strong>de</strong>s Herrn gela<strong>de</strong>n wird, so wird dann <strong><strong>de</strong>r</strong> noch<br />

unerzogene Geist zu jener Art von Gebetserfahrung heraufgezogen, die gewöhnlich nur als Beloh-<br />

40<br />

nung für die Dienste vollkommener Seelen geschenkt wird.» Kurz: Die mystische Erfahrung ist die<br />

«Krönung», nicht die Frucht gläubigen Sehnens.<br />

Allen Mißverständnissen - gera<strong>de</strong> <strong>im</strong> protestantischen Raum - läßt sich entgegenhalten: «Wenn pro-<br />

metheische Züge in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mystik auch zweifellos faßbar sind, so besteht die mystische Erfahrung<br />

41<br />

aber gera<strong>de</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong>en Demontage.» Alle Versuche <strong>de</strong>s Lernens und <strong><strong>de</strong>r</strong> planmäßigen Vorbereitung<br />

muß <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch in sich abbrechen. Die mystische Erfahrung, die Ruusbroeck «einen verborgenen<br />

42<br />

Weg zu Gott, <strong>de</strong>n wenige Menschen fin<strong>de</strong>n,» nennt, kann man nicht aus eigener Kraft gewinnen<br />

und auch nicht durch best<strong>im</strong>mte Techniken hervorrufen, ja man kann sich nicht einmal darauf<br />

vorbereiten, <strong>de</strong>nn sie ist keine Gewohnheit, die man lernen kann. Die mystische Erfahrung kennt<br />

nur die Erinnerung an das (schon) Erfahrene, eine Spur, die zurückgeblieben ist.<br />

«Wenn man sich unbedingt <strong>im</strong> Spiegel betrachten will, braucht man sich wirklich nicht auf einen<br />

43<br />

Betschemel zu knien.» Bevor <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch Gott erfährt, muß er nicht sein Ich, wohl aber seine<br />

Ichheit preisgeben, nicht seine Existenz, doch seine eigenmächtige Existenz, nicht seine Person,<br />

son<strong><strong>de</strong>r</strong>n seine Persönlichkeit. Wenn die großen Mystiker von «Vernichtung» re<strong>de</strong>n, meinen sie<br />

damit nicht, daß <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch überhaupt auszuschalten sei (also daß er in Gott völlig verschwin<strong>de</strong>t<br />

und je<strong>de</strong>s Bewußtsein verliert, wie gelegentlich behauptet wird), son<strong><strong>de</strong>r</strong>n daß er seine Selbstheit<br />

preisgibt und sein Inneres von Gott einnehmen läßt: «Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir!»<br />

Die völlige Selbstaufgabe, in <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch sich losläßt, damit Christus in ihm wohnt, ist keine<br />

aus eigenen Kräften unternommene Vorbereitung, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n bleibt überraschen<strong>de</strong>s Geschenk, wie<br />

37<br />

38<br />

39<br />

40<br />

41<br />

42<br />

43<br />

Werke I. Hrsg. von J.B. Peukens und L. Reypens, Tielt 1944, 206.<br />

Ebd.,174.<br />

E. Fromm, Haben o<strong><strong>de</strong>r</strong> Sein, Stuttgart 1976, 49.<br />

Wilhelm von St.Thierry, Lettera Aurea (PL 184, 338 A-B).<br />

A. M. Haas, Was ist Mystik?, in: K. Ruh (Hg.), Abendländische Mystik <strong>im</strong> Mittelalter. Stuttgart 1986, 319-341, hier 333, Anm.<br />

95.<br />

Van VII Trappen. Tielt 1976, 76.<br />

P. Petit, zit. bei J. Leclercq, Wissenschaft und Gottverlangen, 290.<br />

13


Ruusbroeck ausführt: «Manchmal kehrt <strong><strong>de</strong>r</strong> innige Mensch einfach, nach seiner genießen<strong>de</strong>n Nei-<br />

gung bei sich ein, über aller Tätigkeit und über allen Tugen<strong>de</strong>n, mit einem einfachen In-sich-schau-<br />

en <strong>im</strong> Genießen <strong><strong>de</strong>r</strong> Liebe. Und hier begegnet er Gott unmittelbar. Und aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Einheit Gottes<br />

scheint ihm ein einfaches Licht, und dieses Licht zeigt ihm Dunkelheit, Nacktheit und Nichts. In<br />

dieser Dunkelheit wird er umfangen, und er verfällt in Unvernunft wie in ein Verirren. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Nackt-<br />

heit verliert er Wahrnehmung und Unterscheidung aller Dinge, und er wird überformt und durch-<br />

drungen von einer einfachen Klarheit. In diesem Nichts versagt ihm je<strong>de</strong> Tätigkeit, <strong>de</strong>nn von <strong>de</strong>m<br />

Einwirken <strong><strong>de</strong>r</strong> grundlosen Liebe Gottes wird er besiegt, und in <strong><strong>de</strong>r</strong> genießen<strong>de</strong>n Neigung seines<br />

Geistes besiegt er Gott und wird ein Geist mit ihm.» 44<br />

Keiner kann sich aus eigener Initiative selbst verleugnen, um zur mystischen Erfahrung aufzustei-<br />

gen; dies bliebe ein ständiger Selbstbetrug. Alle Formen <strong><strong>de</strong>r</strong> Selbstverleugnung, die sich <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

einzelne aus<strong>de</strong>nken könnte, wür<strong>de</strong> er weiter <strong>im</strong> Griff behalten. Allein die Begegnung hebt <strong>de</strong>n<br />

Menschen über sich selbst hinaus.<br />

Die Gratuität bil<strong>de</strong>t ein wichtiges Unterscheidungskriterium für je<strong>de</strong> mystische Erfahrung. Um ent-<br />

schei<strong>de</strong>n zu können, ob es sich wirklich um eine <strong>Glauben</strong>serfahrung han<strong>de</strong>lt, kennen die Mystiker<br />

nur ein einziges, unbestreitbares Kriterium, nämlich das <strong><strong>de</strong>r</strong> «Früchte», die das Leben <strong>de</strong>s Mystikers<br />

auszeichnen. Der echte Mystiker ist ein «gemeiner» Mensch, <strong>im</strong> Sinn von «gewöhnlich», aber er<br />

han<strong>de</strong>lt nicht mehr aus Tugend o<strong><strong>de</strong>r</strong> aus Überzeugung, <strong>de</strong>nn das macht <strong>im</strong>mer mü<strong>de</strong>, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n aus<br />

<strong>de</strong>m «reichen, mil<strong>de</strong>n Grund, <strong><strong>de</strong>r</strong> in <strong>de</strong>m Reichtum Gottes gefestigt ist» (Ruusbroeck).<br />

ee. Ekklesiale Basis<br />

Das Mysterium ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Anfang und das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s mystischen Weges, es nährt die Mystik und bleibt<br />

stets größer als seine Verinnerlichung durch Erfahrung. Weniger ist es <strong><strong>de</strong>r</strong> Mystiker, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich <strong>de</strong>m<br />

Mysterium angleicht, als das Mysterium selbst, das sich <strong>de</strong>n Mystiker angleicht. Deshalb legen die<br />

Mystiker keinen großen Wert auf die Originalität ihrer Erfahrung, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n verbergen sie oft in<br />

traditionelle Formen <strong>de</strong>s kirchlichen <strong>Glauben</strong>sgutes.<br />

Bis in die heutige Mystik hinein fin<strong>de</strong>n sich bei <strong>de</strong>n Mystikern kaum Angaben für originelle Gedan-<br />

ken und Erfahrungen. Noch die «Wegzeichen» Dag Hammaskjölds wer<strong>de</strong>n mit Vertiefung seiner<br />

Erfahrung traditionsgebun<strong>de</strong>ner und lehnen sich an Texte <strong><strong>de</strong>r</strong> Überlieferung an - ein Zeichen für die<br />

Echtheit <strong><strong>de</strong>r</strong> Erfahrung.<br />

Auch wenn die mystische Erfahrung eine außeror<strong>de</strong>ntliche ist, re<strong>de</strong>t <strong><strong>de</strong>r</strong> Mystiker keine Fremdspra-<br />

che. Daher kommt es, daß be<strong>im</strong> Lesen mystischer Texte, in <strong>de</strong>nen die Mystiker ihre Erfahrung<br />

berichten, etwas in uns selbst reagiert.<br />

ff. Eschatologische Ausrichtung<br />

Als Streben nach Gleichförmigkeit ist die christliche Mystik nach vorne ausgerichtet, auf Gott hin,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> ruft und an sich zieht.<br />

44<br />

Die Gheestelike Brulocht. Tielt 1977, 319.<br />

14


Erfüllung <strong>im</strong> Schauen ist nicht <strong><strong>de</strong>r</strong> Status <strong>de</strong>s Christen, auch nicht durch Meditation und Versen-<br />

kung. Gewißheit <strong>de</strong>s Heils ist nicht Heilssicherheit. Deshalb prägt die Mystik ein endzeitlicher Zug.<br />

3. Anfragen<br />

Pars pro toto soll an zwei Beispielen angezeigt wer<strong>de</strong>n, daß sich aus <strong><strong>de</strong>r</strong> mystischen Erfahrung<br />

keine theoretische Lehre bzw. «Theologie» <strong><strong>de</strong>r</strong> Mystik aufstellen läßt.<br />

a. Aufstieg?<br />

Die Erfahrungen, die <strong>de</strong>m Mystiker zuteil wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>utet er nicht rein statisch, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n eher als<br />

Meilensteine auf seinem Weg <strong>de</strong>s Aufstiegs zu Gott. Nicht selten wur<strong>de</strong> dieser Weg nachträglich<br />

systematisiert und schematisiert. Diese traditionellen Aufstiegsschemata for<strong><strong>de</strong>r</strong>n zu grundsätzlichen<br />

Fragen heraus. Han<strong>de</strong>lt es sich bei berichteten Wegstrecken nur um Durchgangsstadien, welche die<br />

nächst höhere Stufe auf <strong>de</strong>m Weg zu Gott erreichen lassen? Sind die Stufen <strong>de</strong>s Weges und seine<br />

Krisen bloß Läuterungsprozesse, die einzig und allein <strong><strong>de</strong>r</strong> zunehmen<strong>de</strong>n Reinigung <strong><strong>de</strong>r</strong> Seele <strong>de</strong>s<br />

einzelnen dienen? 45<br />

Der Weg <strong>de</strong>s «Aufstiegs» fin<strong>de</strong>t seinen klassischen Topos in <strong><strong>de</strong>r</strong> «dunklen Nacht» bzw. «dunklen<br />

Nächten». Dieser Topos, <strong><strong>de</strong>r</strong> wesentliche Unterschie<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n einzelnen Spiritualitäten erkennen<br />

läßt, vor allem in Verbindung mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Akedia-Erfahrung <strong><strong>de</strong>r</strong> Trostlosigkeit, wird von Juan <strong>de</strong> la Cruz<br />

46<br />

in seinen einzelnen Etappen beschrieben. Für ihn ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Weg <strong><strong>de</strong>r</strong> Nicht-Erfahrung in <strong><strong>de</strong>r</strong> «dunklen<br />

Nacht» kein äußerer Prozeß <strong><strong>de</strong>r</strong> Reinigung, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n trägt das Antlitz Christi und seiner Gottes-<br />

verlassenheit. Gottes Nähe zu erkennen und seine Ferne zu erfahren, sind nach Juan <strong>de</strong> la Cruz die<br />

bei<strong>de</strong>n Grundaspekte <strong>de</strong>s <strong>christlichen</strong> Erfahrungsweges, <strong>de</strong>nn sie führen zur personalen Anglei-<br />

chung an <strong>de</strong>n Weg Jesu. Da bei<strong>de</strong> Aspekte zusammengehören, geben sie <strong><strong>de</strong>r</strong> Nacht ein Doppelge-<br />

sicht: Sie ist das Lei<strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Schöpfung wie auch das Offensein für Gottes Fülle, und bei<strong>de</strong>s erweist<br />

47<br />

sich als «ein und dasselbe ganz unreduzierbare Erfahren Gottes» .<br />

Der Erfahrungsweg <strong><strong>de</strong>r</strong> Kleinen Thérèse bringt <strong>im</strong> Verständnis <strong>de</strong>s klassischen Aufstiegsweges we-<br />

sentliche Korrekturen an: Während das Aufstiegsschema (mit seinen Wegen <strong><strong>de</strong>r</strong> Reinigung, Er-<br />

leuchtung und Einigung) die Erfahrung <strong><strong>de</strong>r</strong> Nacht eher <strong>de</strong>m ersten Stadium zuordnet, zeigt sich <strong>im</strong><br />

Leben <strong><strong>de</strong>r</strong> Heiligen (wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Kleinen Thérèse), daß die Nacht kein vorübergehen<strong>de</strong>s Stadium ist,<br />

son<strong><strong>de</strong>r</strong>n anhalten kann.<br />

Überdies bleibt die Dunkle Nacht keine Erfahrung um ihrer selbst willen o<strong><strong>de</strong>r</strong> (notwendige) Etappe<br />

auf <strong>de</strong>m Weg <strong><strong>de</strong>r</strong> Reinigung, <strong>de</strong>nn dann stün<strong>de</strong> die Reinigung <strong><strong>de</strong>r</strong> Seele allein <strong>im</strong> Vor<strong><strong>de</strong>r</strong>grund. Die<br />

eigentliche Be<strong>de</strong>utung <strong><strong>de</strong>r</strong> Nachterfahrung <strong>im</strong> <strong>Glauben</strong> liegt <strong>im</strong> Mitwirken am Erlösungsgeschehen<br />

45<br />

Um die Brisanz <strong><strong>de</strong>r</strong> Fragestellung zu erkennen, muß sie <strong>im</strong> Kontext <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Glauben</strong>stradition gesehen wer<strong>de</strong>n. Hierzu J. Sudbrack,<br />

Christliches Leben: Ständiger Aufstieg o<strong><strong>de</strong>r</strong> stets neue Begegnung?, in: GuL 42 (1969) 263-279; M. Schnei<strong><strong>de</strong>r</strong>, Art. «Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung/Fortschritt»,<br />

in: C. Schütz (Hg.), Praktisches Lexikon <strong><strong>de</strong>r</strong> Spiritualität. Freiburg-Basel-Wien 1988, 1336-1338.<br />

46 Dabei ist auffällig, daß <strong><strong>de</strong>r</strong> Topos wie auch die Erfahrung <strong><strong>de</strong>r</strong> «dunklen Nacht» als solche in <strong><strong>de</strong>r</strong> Spiritualität nicht anzutreffen<br />

ist, sie ist ihr fremd, wie Lossky dargestellt hat: V. Lossky, A l'<strong>im</strong>age et à la ressemblance <strong>de</strong> Dieu. Paris 1967, 54, Anm. 36.<br />

47<br />

E. Przywara, Mystik und Distanz, in: StdZ 110 (1926) 346-362, hier 358.<br />

15


Christi: Die dunkle Nacht gilt pr<strong>im</strong>är <strong><strong>de</strong>r</strong> Mitwirkung und nur sekundär <strong><strong>de</strong>r</strong> Läuterung <strong><strong>de</strong>r</strong> Seele.<br />

Die Korrekturen am Aufstiegsschema geben zu erkennen, daß <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Glauben</strong>sweg <strong>de</strong>s Christen jen-<br />

seits eines materiell (voraus-) berechenbaren Systems von Stufen o<strong><strong>de</strong>r</strong> Etappen <strong><strong>de</strong>r</strong> Reinigung ver-<br />

läuft, geht es doch um die Gleichgestaltung mit <strong>de</strong>m Schicksal Christi: mitgekreuzigt, mitbegraben,<br />

mitauferstan<strong>de</strong>n, mitaufgefahren. Ohne die Theologie <strong>de</strong>s Kreuzes ist die Krisenerfahrung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

dunklen Nacht nur asketisch zu <strong>de</strong>uten, wodurch ihr christologischer Gehalt verdunkelt wird. Die<br />

Grundgestalt dieser Angleichung an Christus berechtigt zu <strong><strong>de</strong>r</strong> Frage, ob gegenüber einer Auf-<br />

stiegsmystik nicht die Abstiegsmystik <strong>de</strong>m Wesen <strong>de</strong>s Christentums gemäßer ist. Die bejahen<strong>de</strong><br />

Antwort hierauf fin<strong>de</strong>t sich in <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Glauben</strong>sgeschichte <strong><strong>de</strong>r</strong> Neuzeit, wo <strong>Glauben</strong><strong>de</strong> gera<strong>de</strong> am En<strong>de</strong><br />

ihres «Aufstiegs»-Weges zu Gott die bleiben<strong>de</strong> und sich nicht mehr aufheben<strong>de</strong> Ferne Gottes<br />

48<br />

durchlitten. Ihnen galt die Krisenerfahrung <strong>im</strong> <strong>Glauben</strong> nicht bloß als Läuterung <strong><strong>de</strong>r</strong> Seele, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

als Teilnahme am Erlösungsgeschehen Christi, das in die Solidarität mit <strong>de</strong>n Nicht-<strong>Glauben</strong><strong>de</strong>n ruft.<br />

Daß <strong><strong>de</strong>r</strong> Sinn menschlichen Lei<strong>de</strong>ns pr<strong>im</strong>är in <strong><strong>de</strong>r</strong> Solidarität zu sehen ist, zeigt sich <strong>im</strong> Leben Jesu:<br />

Er kämpft mit <strong>de</strong>n «Mächten und Gewalten» um <strong><strong>de</strong>r</strong> Erlösung <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt willen «für die vielen».<br />

Ebenso ist die Anfechtung auf <strong>de</strong>m Weg zu Gott zu verstehen. Der Weg zu Gott verbin<strong>de</strong>t sich<br />

nicht nachträglich o<strong><strong>de</strong>r</strong> von außen mit <strong>de</strong>m Dienst «für die vielen», vielmehr betont <strong><strong>de</strong>r</strong> Apostel<br />

Paulus, daß die apostolische Hinwendung zur Welt wesentlich in die Gottesbegegnung mit hinein-<br />

gehört. Die Lei<strong>de</strong>n, welche Paulus als Unterpfand <strong><strong>de</strong>r</strong> kommen<strong>de</strong>n Herrlichkeit erdul<strong>de</strong>t, sind ein<br />

Gut, das <strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>en zum Heil gereicht: «Jetzt freue ich mich in <strong>de</strong>n Lei<strong>de</strong>n, die ich für euch ertra-<br />

ge. Für <strong>de</strong>n Leib Christi, die Kirche, ergänze ich in meinem irdischen Leben das, was an <strong>de</strong>n Lei<strong>de</strong>n<br />

Christi noch fehlt» (Kol 1,24). Die Bedrängnisse erweisen sich als kein Übel einer «Zwischenzeit»,<br />

das ausgehalten und erdul<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n muß, vielmehr wer<strong>de</strong>n sie von <strong>de</strong>n Mystikern angenommen<br />

als Dienst an <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemein<strong>de</strong>.<br />

Die «Solidarität <strong>im</strong> Heil», in die sich je<strong><strong>de</strong>r</strong> Mystiker gestellt sieht, erklärt sich aus <strong>de</strong>m Grund-<br />

verständnis von Kirche. Gegenüber allen gnostischen Verständnisweisen steht die Kirche unter <strong>de</strong>m<br />

Zeichen <strong>de</strong>s Kreuzes, nur durch das «Skandalon» kommt sie ins Pascha, ins Ewige: «Darum, meine<br />

Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>, laßt uns singen das Loblied auf <strong>de</strong>n Tod <strong><strong>de</strong>r</strong> Kirche, auf ihren Tod, <strong><strong>de</strong>r</strong> uns he<strong>im</strong>führt zu<br />

<strong>de</strong>n Quellgrün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Lebens, das da heilig ist und in Jesus Christus. Wenn du das Wort 'Kirche'<br />

hörst, dann wisse, daß man dir spricht von <strong><strong>de</strong>r</strong> heiligen Gemeinschaft <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Glauben</strong><strong>de</strong>n. Diese Kirche<br />

ist am Sterben; aber ihr Sterben führt uns ins an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Leben, aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Schwächlichkeit in die Kraft,<br />

aus <strong>de</strong>m Verachtetsein in die Glorie, aus <strong>de</strong>m Zerfall in die Unvergänglichkeit, aus <strong>de</strong>n Grenzen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

49<br />

Zeit in das göttlich-unverän<strong><strong>de</strong>r</strong>liche Leben.»<br />

b. Mors mystica<br />

Im Laufe <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschichte wur<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Gedanke <strong><strong>de</strong>r</strong> mors mystica zunehmend mit <strong><strong>de</strong>r</strong> «mortificatio»<br />

48 Ausführlich dargestellt in: M. Schnei<strong><strong>de</strong>r</strong>, Gottesbegegnung und Lei<strong><strong>de</strong>r</strong>fahrung, in: G. Fuchs (Hg.), Die dunkle Nacht <strong><strong>de</strong>r</strong> Sinne.<br />

Düsseldorf 1989, 126-178.<br />

49 Cyrill von Alexandrien, Glaphyrorum in Genes<strong>im</strong> 6,4 (PG 69, 329 C. 224 D); vgl. H. Rahner, Die Kirche. Gottes Kraft in<br />

menschlicher Schwäche, Freiburg/Br. 1957.<br />

16


in Zusammenhang gebracht und kehrt schließlich bei Juan in <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Wegen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

«Reinigungen» (purificaciones) wie<strong><strong>de</strong>r</strong>. Die Akzentverschiebung von <strong><strong>de</strong>r</strong> mors mystica zur mortifica-<br />

tio bringt eine inhaltliche Verengung mit sich. Doch in gleicher Weise ist zu betonen, daß diese in-<br />

haltliche Verschiebung insoweit genuin christlich ist, als es keine Mystik ohne Aszese gibt, wie<br />

50<br />

auch Mystik und Askese kaum ohne Thanatologie anzutreffen sind. Das be<strong>de</strong>utet für die my-<br />

stisch-sakramentale Gleichgestaltung mit Christus in Lei<strong>de</strong>n, Sterben und Auferstehung, daß «mors<br />

mystica» und «mortificatio» aus keinem asketischen Selbstzweck heraus zu sehen und zu <strong>de</strong>uten<br />

sind, wohl aber <strong>im</strong> Wissen, daß es keine Gottesbegegnung und keine Gleichgestaltung mit Christus<br />

ohne Reinigung <strong><strong>de</strong>r</strong> Liebe gibt.<br />

c. Solidarität<br />

Vor allem bei Therese von Lisieux, die auf ihrem eigenen <strong>Glauben</strong>sweg die größten Versuchungen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Atheisten ihrer Zeit erfährt; ihnen schenkte sie ihre Nacht, damit für sie «die Fackel <strong>de</strong>s<br />

<strong>Glauben</strong>s» aufleuchten kann. Weiterhin S<strong>im</strong>one Weil: Aus Solidarität mit ihrer Zeit, in <strong><strong>de</strong>r</strong> ein<br />

großer Teil <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschheit <strong>im</strong> Materialismus versunken ist, bleibt sie außerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong> Kirche, <strong>de</strong>nn es<br />

ist ihr unmöglich, «mich von <strong><strong>de</strong>r</strong> ungeheuren und unglücklichen Masse <strong><strong>de</strong>r</strong> Ungläubigen zu<br />

51<br />

trennen». Nicht an<strong><strong>de</strong>r</strong>s Reinhold Schnei<strong><strong>de</strong>r</strong>, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich ausdrücklich auf S<strong>im</strong>one Weil beruft: Wer die<br />

Ungläubigen nicht so liebt, wie sie sind, <strong>de</strong>m sind nicht sie es, die er liebt, und seine Liebe ist nicht<br />

wahrhaftig; doch die Anfechtung <strong>de</strong>s <strong>Glauben</strong><strong>de</strong>n geschieht für Reinhold Schnei<strong><strong>de</strong>r</strong> nicht außerhalb<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Kirchenmauern, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n in <strong><strong>de</strong>r</strong> Kirche selber, da sich Gottes Gegenwart und die Gestalt seiner<br />

Liebe verdunkelt haben und untergegangen sind <strong>im</strong> Sturz <strong><strong>de</strong>r</strong> Kirche. Der Glaube <strong>de</strong>s Christen<br />

scheitert an <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt, er überwin<strong>de</strong>t sie nicht mehr, vielmehr wird <strong><strong>de</strong>r</strong> Christ, nach <strong>de</strong>m Vorbild<br />

Christi, als ein «Sterben<strong><strong>de</strong>r</strong>» in <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt untergehen. Das Dunkel <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt bleibt: Gott hat sich<br />

endgültig verborgen, als «<strong>de</strong>us semper minor».<br />

Was die neuzeitlichen <strong>Glauben</strong>szeugnisse erkennen lassen, ist die Solidarität <strong>de</strong>s <strong>Glauben</strong><strong>de</strong>n mit<br />

<strong>de</strong>m Unglauben seiner Zeit. Darin wird ein unterschei<strong>de</strong>nd christlicher Grundzug mystischer<br />

<strong>Glauben</strong>serfahrung <strong>de</strong>utlich: Wer <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>s <strong>Glauben</strong>s betritt, geht ihn nicht allein, in<br />

persönlicher Versenkung auf <strong>de</strong>m Meditationshocker, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n fin<strong>de</strong>t sein Heil einzig auf<br />

Gemeinschaft hin. Dies ist ein Grundgesetz <strong><strong>de</strong>r</strong> ganzen Heilsgeschichte, in <strong><strong>de</strong>r</strong> sich Gottes<br />

Heilshan<strong>de</strong>ln <strong>im</strong>mer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> verbin<strong>de</strong>t mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Erwählung best<strong>im</strong>mer Menschen. Adam und Eva,<br />

Abraham, Noah, Mose, David, Propheten, Maria - sie alle bezeugen, daß Gott in seinem Tun ein-<br />

zelne beruft, um durch sie und in ihnen <strong>de</strong>n Menschen sein Heil zu erschließen. Dies gilt <strong>im</strong><br />

gleichen Maß für die Kirche, die auf das Fundament <strong><strong>de</strong>r</strong> Apostel gegrün<strong>de</strong>t ist, wie auch<br />

beispielsweise für die Or<strong>de</strong>n, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Gründung aufs engste eins ist mit <strong>de</strong>m Leben und Wirken ihrer<br />

Grün<strong><strong>de</strong>r</strong>. Keiner fin<strong>de</strong>t allein sein Heil. Dieses Grundgesetz «relativiert» je<strong>de</strong> mystische Erfahrung.<br />

In <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemeinschaft <strong>de</strong>s <strong>Glauben</strong>s gilt sogar das Gesetz, daß einer aus <strong>de</strong>n Gütern und Vollkom-<br />

50<br />

51<br />

A.M. Haas, Mors Mystica, in: <strong><strong>de</strong>r</strong>s., Sermo Mysticus. Fribourg 1979, 392-480.<br />

S. Weil, Zeugnis für das Gute. Olten-Freiburg 1976, 89.<br />

17


menheiten <strong>de</strong>s an<strong><strong>de</strong>r</strong>en nehmen und für sich in Anspruch nehmen darf. Martin Luther schreibt dazu<br />

<strong>im</strong> Jahr 1520: «Meine Last tragen somit an<strong><strong>de</strong>r</strong>e, ihre Kraft ist die meine. Der Glaube <strong><strong>de</strong>r</strong> Kirche<br />

kommt meinem Bangen zu Hilfe, die Keuschheit an<strong><strong>de</strong>r</strong>er erträgt das Versuchtwer<strong>de</strong>n meiner Lü-<br />

sternheit, an<strong><strong>de</strong>r</strong>er Fasten wird mir zum Gewinn, eines an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Gebet bemüht sich um mich. Und<br />

so kann ich mich wahrhaft in <strong>de</strong>n Gütern an<strong><strong>de</strong>r</strong>er rühmen wie in meinen eigenen; und meine<br />

eigenen sind sie in Wahrheit, wenn ich mich an ihnen ergötze und mitfreue.» 52<br />

«Niemand wird allein gerettet: Wer gerettet wird, wird gerettet in <strong><strong>de</strong>r</strong> Kirche, als ihr Glied in Einheit<br />

mit <strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Glie<strong><strong>de</strong>r</strong>n. Glaubt jemand? - Er ist in <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemeinschaft <strong>de</strong>s <strong>Glauben</strong>s. Liebt jemand?<br />

- Er ist in <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemeinschaft <strong><strong>de</strong>r</strong> Liebe. Betet jemand? - Er ist in <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemeinschaft <strong>de</strong>s Gebets.» 53<br />

Der Mystiker von morgen wird seinen (ungläubigen) Schwestern und Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>n helfen, das Vollmaß<br />

Christi und seiner Liebe zu gewinnen; hier bleibt je<strong>de</strong>s Leben in Christo für alle gültig vor Gott. Die<br />

<strong>Glauben</strong>shaltung <strong><strong>de</strong>r</strong> Solidarität gilt bis zur Hoffnung auf das Heil am En<strong>de</strong> aller Zeiten: Der Christ<br />

hofft auf das Heil aller Menschen, «und nur in <strong>de</strong>m Maße, als ich zu diesen gehöre, bezieht sie sich<br />

54<br />

auch auf mich». Das Wissen um die Solidarität <strong>im</strong> <strong>Glauben</strong> wird die christliche Mystik künftig vor<br />

aller privatistischen Heilssuche bewahren: Je mehr ein <strong>Glauben</strong><strong><strong>de</strong>r</strong> in Gottes Heilsplan hineingenom-<br />

men wird, <strong>de</strong>sto größer wird sein Dienst am Heil aller sein.<br />

52<br />

53<br />

54<br />

Martin Luther, Tessara<strong>de</strong>cas consolatio pro laborantibus et oneratis (1520) (WA VI,131).<br />

A.St. Chomjakov, Gesammelte Werke, in: Östliches Christentum. Hrsg. von H. Ehrenberg, Bd. II. 1925, 18ff.<br />

J. Daniélou, Essai sur le mystère <strong>de</strong> l´histoire. Paris 1953, 340.<br />

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