Die Kunst des Verführens - aware – Magazin für Psychologie
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Evas sündige Verführung<br />
Zur biblischen Urgeschichte zwischen Individuation und Erotismus<br />
In mythischen Bildern erzählt die Bibel, wie<br />
die Frau dem Mann die verbotene Frucht<br />
brachte und dabei die Menschheit zum<br />
ephemeren, leidenden Dasein verdammte.<br />
<strong>Die</strong> Tiefenpsychologie sieht in der Ursünde<br />
die Geburt <strong>des</strong> Bewusstseins, die <strong>Kunst</strong><br />
entdeckt in ihr die erotische Figuration vom<br />
Verborgenen.<br />
Von Homayun Sobhani<br />
<strong>Die</strong> Sündenfallgeschichte gehört nicht nur zu<br />
den berühmtesten Stücken biblischer Überlieferung,<br />
sie dient seit jeher der <strong>Kunst</strong>, Literatur und<br />
Geisteswissenschaft als mächtige Inspirationsquelle<br />
und wurde über Jahrtausende hinweg zu<br />
einer komplexen menschlichen Thematik von<br />
universellem Interesse. <strong>Die</strong>ses manifestiert sich<br />
besonders in der Figur der Eva, welche in der<br />
kirchlich-theologischen, maskulin-kanonischen<br />
Wirkungsgeschichte als der Ursprung <strong>des</strong> Bösen<br />
in der Welt verteufelt wurde. So wurde ihr Imago<br />
zur Ursache <strong>für</strong> das Elend der Frau und zum<br />
Petrefakt ihrer aufgezwungenen Fremdeinschätzung<br />
im judäo-christlichen Patriarchat. Doch die<br />
Gestalt Evas war <strong>für</strong> die anthropologische Neugier<br />
Anlass zu verschiedensten Exegesen, allen<br />
voran die Tiefenpsychologie beugte sich<br />
ihrer ungebrochenen Verführungskraft. Maria<br />
Kassel, Dozentin <strong>für</strong> tiefenpsychologisch-feministische<br />
Theologie, versucht, die Figur der<br />
Eva in ein positives Licht zu rücken. Dabei<br />
greift sie auf das Animus-Anima-Konzept von<br />
C. G. Jung (1990) zurück, welches besagt,<br />
dass jedem Subjekt stereotypische psychische<br />
Anteile <strong>des</strong> anderen Geschlechts innewohnen.<br />
Bei ihrer Deutung geht Kassel von der Sündenfallgeschichte<br />
als archetypische Menschheitsgeschichte<br />
aus, welche die Psychogenese<br />
der Gattung «Mensch» repräsentiert. Nach<br />
Sigmund Freud rekapituliere die Ontogenese<br />
die Phylogenese. So parallelisiert Kassel das<br />
Werden <strong>des</strong> Menschen mit der biblischen Erzählung,<br />
welche sie als Darstellung <strong>des</strong> Individuationsprozesses,<br />
<strong>des</strong> Übergangs vom infantilen,<br />
unbewussten Zustand in den <strong>des</strong> gereiften<br />
Bewusstseins, interpretiert (Kassel, 1993).<br />
«Verführung zum Bewusstsein»<br />
Genesis 2 <strong>–</strong> 3<br />
2, 7 Da formte Gott der Herr den Menschen aus<br />
der Erde vom Ackerboden und blies in seine<br />
Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu<br />
einem lebendigen Wesen. […]<br />
Nach Kassel steht zuerst der bewusstlose Urzustand<br />
<strong>des</strong> Menschen, welcher als archaisch-paradiesische<br />
Harmonie beschrieben wird, in der das<br />
Leben ewig ist, «ohne Werden und Vergehen,<br />
blosses Da-Sein ohne Geschichte» (ebd., S. 67).<br />
Entsprechend der Ontogenese <strong>des</strong> Säuglings aus<br />
der Einheit mit der Mutter, so Kassel, nehme die<br />
Menschheit ihren Anfang aus der «Alleinheit mit<br />
dem Seienden», aus der Einheit mit der «Mutter<br />
Erde», dem Archetypus der «Grossen Mutter».<br />
Sein Werden entreisst ihn der Natur, der unbewussten<br />
Einheit mit der Umwelt, wobei hier Gott<br />
als das Individuationsprinzip wirkt.<br />
2, 21 Da liess Gott der Herr eine Ohnmacht auf<br />
den Menschen fallen, so dass er einschlief, nahm<br />
eine seiner Rippen und verschloss ihre Stelle mit<br />
Fleisch. 2, 22 Gott der Herr baute aus der Rippe,<br />
die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau<br />
und führte sie dem Menschen zu. […] 2, 24 Darum<br />
verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet<br />
sich an seine Frau, und sie werden ein<br />
Fleisch.<br />
Ein weiterer Schritt zur Bewusstseinswerdung<br />
<strong>des</strong> Menschen ist die geschlechtliche Prägung.<br />
Zuerst der mythischen Vorstellung entsprechend<br />
als androgyn aufgefasst, wird Adam seiner Anima,<br />
dem «weiblichen Anteil» seiner Psyche, ansichtig<br />
und durch diese Differenzierung zum<br />
Mann; erst jetzt wird dadurch überhaupt seine<br />
männliche Identität möglich. Aus jenem Tiefschlaf,<br />
einer Versunkenheit in den tiefsten<br />
Schichten <strong>des</strong> Unbewussten gleichkommend,<br />
wird im Prozess der Selbst-Werdung die feminine<br />
Seite <strong>des</strong> Mannes heraufbeschwört, was einer<br />
Ausdifferenzierung seiner eigenen Psyche<br />
entspricht. <strong>Die</strong> Drastik <strong>des</strong> Rippenbil<strong>des</strong> impliziert<br />
die Schmerzhaftigkeit <strong>des</strong> Bewusstwerdens:<br />
Zum Menschen tritt nun etwas Eigenes in<br />
Spannung, die als eine schöpferisch-kreative<br />
Spannung verstanden wird, da er erst durch die<br />
Polarität der Psyche zu neuen Geburten (was<br />
PSYCHOLOGIE & KULTUR<br />
FS12 <strong>aware</strong> 17<br />
später im Text als Geburt der Söhne Adam und<br />
Evas beschrieben wird) fähig ist. Durch das Bewusstwerden<br />
der inneren Anima kann der Mann<br />
zu sich selbst kommen. <strong>Die</strong> Einsicht in die eigenen<br />
weiblichen Anteile verhilft dem Menschen,<br />
aus seiner Unbewusstheit herauszutreten. <strong>Die</strong>s<br />
schafft er nur, wenn er die Ursprungseinheit mit<br />
der «Grossen Mutter» auflöst: Durch das Verlassen<br />
von «Vater und Mutter», den primären Bezugspersonen<br />
und Liebesobjekten, kann der<br />
Mensch seiner Subjektwerdung als geschlechtlich-bewusste<br />
Einheit gerecht werden (vgl. ebd.,<br />
S. 66<strong>–</strong>70).<br />
2, 17 … doch vom Baum der Erkenntnis von Gut<br />
und Böse darfst du nicht essen; denn wenn du<br />
davon isst, wirst du sterben. […] 3, 6 Da sah die<br />
Frau, dass es köstlich wäre, von dem Baum zu<br />
essen, dass der Baum eine Augenweide war und<br />
dazu verlockte, klug zu werden. Sie nahm von<br />
seinen Früchten und ass; sie gab auch ihrem<br />
Mann, der bei ihr war, und auch er ass.<br />
Im Begehen der Ursünde sieht Kassel das eigentliche<br />
Triebwerk <strong>des</strong> Geschehens: das Werden <strong>des</strong><br />
Menschen. Der Sündenfall sei kein Zeugnis <strong>für</strong><br />
eine moralische Sachlage, sondern <strong>für</strong> eine ontische.<br />
Es ist gerade der Abfall von Gott, welcher<br />
den Menschen zu einer ethischen Handlung befähigt.<br />
Dabei versteht Kassel den Sündenfall als<br />
eine weitere Ausdifferenzierung <strong>des</strong> Unbewussten<br />
und seiner bewussten Erschliessung. Für diesen<br />
Prozess ist natürlich die Entwicklung spezifisch<br />
menschlicher Eigenschaften, konkret das<br />
Vermögen zur bewussten Wahl und Unterscheidung,<br />
von unumgänglicher Bedeutsamkeit. <strong>Die</strong>sem<br />
Vermögen geht a priori die Freiheit voraus,<br />
und diese findet der Mensch in seiner Loslösung<br />
aus der symbiotischen Umklammerung der Natur,<br />
der «Grossen Mutter»: Aus der Verführung<br />
wird Aufklärung zur Mündigkeit, aus der Hybris<br />
der Wunsch nach vollkommener Autonomie <strong>des</strong><br />
bewussten Subjekts.<br />
So wie der Erschliessung der Anima die Bewusstwerdung<br />
<strong>des</strong> Mangels eines Gegenübers<br />
vorangestellt wird, «so wird das Verlassen <strong>des</strong><br />
Paradieses, eines unbewussten Lebens angestossen<br />
durch den von einem Baum gespiegelten<br />
Mangel an Erkenntnis» (ebd., S. 70), also an Be-