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Die Kunst des Verführens - aware – Magazin für Psychologie

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Bildquelle: Manuel Merkofer<br />

Reflexion. In ihrem Feld können wir übermütig,<br />

kindisch und spottend sein und uns so aus einer<br />

künstlerischen Ferne betrachten. Dadurch finden<br />

wir einen anderen Zugang zu Irrtum, Unwahrheit<br />

und Verlogenheit.<br />

Um einem Auftreten der geschilderten Symptomatik<br />

entgegenzutreten, schlägt er ferner vor,<br />

die Bildung mehr in den <strong>Die</strong>nst <strong>des</strong> Lebens, das<br />

heisst der Gegenwart und Zukunft zu stellen und<br />

direkt an dieses anzuknüpfen. Nietzsche ist folglich<br />

nicht gegen Bildung an sich, sondern gegen<br />

die moderne «Gebildetheit». Er betont die lähmende<br />

Wirkung einer rein wissenschaftlichen<br />

Betrachtungsweise der Historie.<br />

«Und zwar wird dieses Wissen um die Bildung<br />

als historisches Wissen dem Jüngling eingeflösst<br />

oder eingerührt; das heisst, sein Kopf wird mit<br />

einer ungeheuren Anzahl von Begriffen angefüllt,<br />

die aus der höchst mittelbaren Kenntnis<br />

vergangener Zeiten und Völker, nicht aus der<br />

unmittelbaren Anschauung <strong>des</strong> Lebens abgezogen<br />

sind. Seine Begierde, selbst etwas zu erfahren<br />

und ein zusammenhängend lebendig System<br />

von eigenen Erfahrungen in sich wachsen zu<br />

fühlen <strong>–</strong> eine solche Begierde wird betäubt […]<br />

als ob es in wenig Jahren möglich sei, die höchsten<br />

und merkwürdigsten Erfahrungen alter<br />

Zeiten […] in sich zu summieren» (Nietzsche,<br />

1984, S. 100).<br />

Man stellt fest, dass Nietzsche den Fokus auf die<br />

Nachteile der Historie setzt. <strong>Die</strong>s vermutlich mit<br />

der Absicht, seine Zeitgenossen zu einer kritischeren<br />

Haltung zu bewegen. Wohlwissend, damit<br />

den verbreiteten bürgerlichen Stolz auf die<br />

Bildung zu treffen, und der erwarteten zeitgenössischen<br />

Unpopularität zum Trotz ordnete er<br />

die Schrift in eine Reihe von vier kulturkritischen<br />

Betrachtungen ein. So ist sie auch als<br />

«Zweite unzeitgemässe Betrachtung» bekannt.<br />

Auch schildert er als historisches Beispiel die<br />

Assimilation der Römer der Kaiserzeit, welche<br />

als Herrscher über ein riesiges Gebiet zu Betrachtern<br />

fremder Kulturen sowie Nachahmer<br />

deren Sitten geworden sind und an eigener Identität<br />

einbüssten. Demgegenüber lobt er die antike<br />

griechische Kultur <strong>für</strong> ihren Umgang mit der<br />

Historie, das heisst da<strong>für</strong>, dass sie sich jederzeit<br />

einen unhistorischen Sinn bewahrt haben.<br />

<strong>Die</strong> «Zweite unzeitgemässe Betrachtung» hat<br />

prophetischen Charakter. Ihr fehlt manche Begründung<br />

<strong>für</strong> die obigen Zusammenhänge und<br />

Nietzsche versucht statt<strong>des</strong>sen eher mit sprachgewaltigen<br />

Beispielen zu überzeugen. Ein Teil<br />

der Rechtfertigung erschliesst sich <strong>für</strong> ihn aus<br />

der Beobachtung heraus, dass die geschilderten<br />

Symptome unter seinen Zeitgenossen weit verbreitet<br />

sind. <strong>Die</strong> Gegenüberstellung der duch<br />

Nietzsche beobachteten und erklärten Symptome<br />

zu modernen Erkenntnissen ist nicht unproplematisch,<br />

trotzdem seien einige Parallelen<br />

genannt. Dazu gehört die auffällige Symptomatik<br />

<strong>des</strong> erläuterten Krankheitsbilds: Antriebsstörungen,<br />

Grübeln und Resignation werden auch<br />

heute zur Beschreibung von verbreiteten psychischen<br />

Störungen, wie der Depression, genutzt.<br />

Weiter fällt auf, dass die seltenen Fälle von Gedächtniskünstlerinnen<br />

und Gedächtniskünstler<br />

oft gleichzeitig klinische Fälle sind und die Betroffenen<br />

Probleme damit aufweisen, ein selbstständiges<br />

Leben zu führen. Wahrscheinlich das<br />

HISTORISCHES<br />

FS12 <strong>aware</strong> 49<br />

bekannteste Beispiel ist der Savant Kim Peek,<br />

der im Film Rain Men porträtiert wird. Interessant<br />

ist auch das Schicksal <strong>des</strong> Journalisten Solomon<br />

Shereshevsky, welcher ein unglaubliches<br />

Gedächtnis hatte, aber Schwierigkeiten beim Folgen<br />

einer Geschichte und Verstehen abstrakter<br />

Konzepte bekundete (Kupferschmidt, 2011). <strong>Die</strong><br />

Gedächtniskünstler zeigen, dass eine stark erhöhte<br />

Merkfähigkeit und damit ein grosses Wissen<br />

nicht immer nur Vorteile mit sich bringen.<br />

<strong>Die</strong> von Nietzsche geschilderte unhistorische<br />

Denkweise erinnert mich an einige Merkmale<br />

<strong>des</strong> Flow-Gefühls, wie es von Csikszentmihalyi<br />

beschrieben wird. Flow bezeichnet den Zustand<br />

der «völligen Vertiefung» in einer bestimmten<br />

Tätigkeit. <strong>Die</strong>ser ist begünstigt durch ein optimales<br />

Anspruchsniveau, welches zwischen<br />

Über- und Unterforderung liegt. Dazu gehören<br />

die verzerrte zeitliche Wahrnehmung, die Produktivität<br />

und Kreativität, die gehobene Stimmung,<br />

erhöhte Motivation sowie das Verschmelzen<br />

von Handeln und Bewusstsein<br />

(Csikszentmihalyi, 1997).<br />

Es lassen sich also Zusammenhänge zu heute untersuchten<br />

Phänomenen feststellen. Nietzsches<br />

Ausführungen <strong>des</strong>wegen abschliessend zu verwerfen<br />

oder ihm Recht zu geben wäre aber voreilig.<br />

Auch in der heutigen Zeit noch handelt es<br />

sich um eine ungewohnt kritische Sicht auf die<br />

Historie. Umso wichtiger ist es, sie dennoch zu<br />

thematisieren. Mit dem wissenschaftlichen Fortschritt<br />

hat jedenfalls die Frage, wie wir mit dem<br />

riesigen Fundus an Informationen umgehen<br />

sollten, an Aktualität hinzugewonnen. Und<br />

schenken wir Nietzsche Glauben, so sind wir<br />

heute wohl viel mehr gefährdet als seine Zeitgenossen<br />

es waren.<br />

Zum Weiterlesen<br />

Csikszentmihalyi, M. (1997). Happiness and<br />

Creativity. Going with the Flow. Futurist, 59,<br />

8<strong>–</strong>12.<br />

Nietzsche, F. (1984). Vom Nutzen und Nachteil<br />

der Historie <strong>für</strong> das Leben. Zürich: Diogenes

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