Drucken Layout 1 - Priesterseminar-Stuttgart
Drucken Layout 1 - Priesterseminar-Stuttgart
Drucken Layout 1 - Priesterseminar-Stuttgart
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
26<br />
© siehe Impressum<br />
Synthese<br />
... das Phänomen von Polarität und Steigerung<br />
Werfen wir einen Blick auf die Geistesart<br />
der beiden Freunde:<br />
Goethe ist Empiriker. Er sucht den Gott in den Erscheinungen<br />
der Natur durch kontemplatives<br />
Schauen, Beobachten, Entdecken und bildet sich<br />
lebendige Begriffe. Seine Gedanken sind nie abstrakt,<br />
sondern stetes geht er vom Konkreten aus und sucht<br />
das Urphänomen 1 dahinter. Diese Vorgehensweise<br />
kennen wir als Goetheanismus. Goethes Dichtungen<br />
sind aus imaginativer traumwandlerischer Intuition<br />
heraus gestaltet, doch alle seine Naturwissenschaftlichen<br />
Studien sind Früchte eigener Erkenntnisleistung.<br />
In Schiller findet er den Freund, der ihn mit der philosophischen<br />
Methode vertraut macht und ihm damit<br />
die denkerische Rechtfertigung seiner Sinnesart gibt.<br />
Erst durch Schiller kommt er z.B. dazu, entscheidende<br />
Kapitel seines Faust-Dramas zu schreiben, das<br />
über Jahre geschlummert hatte.<br />
Schiller befindet sich am<br />
entgegengesetzten Pol, dem<br />
Denkpol.<br />
Sein geistiger Weg geht durch die Eiswüste der reinen<br />
Abstraktion, den Todesbereich des logischen<br />
Verstandesdenkens, das, von der Natur losgerissen,<br />
nur Totes erfassen kann. Im reinen Gedanken sucht er<br />
den Weg zur geistigen Welt. Alle Natur zerfällt wieder<br />
zu Staub, die Gedanken sind ewig.<br />
In der Natur sieht Schiller einen Widerpart, einen<br />
Gegenspieler der Freiheit, die sein großes Thema ist.<br />
Wie findet der Mensch zur Freiheit zwischen Vernunftnotwendigkeit,<br />
moralischer Forderung und<br />
Naturnotwendigkeit, dem Zwang der Instinkte und<br />
Triebe? Was muss der Mensch an sich selber tun, um<br />
wahrhaft frei zu werden? Dies ist seine große Frage,<br />
um die auch seine philosophischen Briefe „Über die<br />
ästhetische Erziehung des Menschen“ kreisen, die<br />
schon stark von Goethes Geist beeinflusst sind. Im<br />
Künstlerischen findet Schiller die Brücke. Der künstlerisch<br />
schaffende Mensch nimmt das Schöne wahr<br />
und bringt Schönes hervor. Er bildet frei am vorliegenden<br />
Stoff, an allem, was formbar ist, auch an seinem<br />
eigenen Charakter. An die Freiheitsfrage knüpft<br />
sich unmittelbar die Frage nach der Möglichkeit des<br />
Menschen zum Bösen. Alle Dramen Schillers loten<br />
dieses Spannungsfeld auf verschiedenste Weise aus.<br />
Zehn Jahre lang haben die beiden Freunde Goethe<br />
und Schiller ein umfassendes Gespräch geführt und<br />
sich darin gegenseitig „erquickt“, befruchtet und<br />
inspiriert, um sich schließlich in einer Weise gegenseitig<br />
zu erhöhen, dass jeder durch den anderen über<br />
sich selbst hinauswachsen konnte. Aus der<br />
Polarität entwickelte sich eine gegenseitige<br />
Steigerung. Die zahlreichen Briefe geben<br />
davon Zeugnis. Was die beiden in ihren<br />
Gesprächen von Mund zu Ohr, die sie oft<br />
bis tief in die Nacht hinein führten, alles<br />
bewegt haben mögen, lässt sich nur<br />
ahnen.