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Drucken Layout 1 - Priesterseminar-Stuttgart

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36<br />

Lernen<br />

Vom täglichen Lernen eines werdenden Priesters<br />

| Martin Thiele 3. Trimester<br />

Draußen ist es noch dunkel, als ich im Pyjama über<br />

den dämmrigen Flur zur Toilette schleiche. Im Halbdunkel<br />

kommt mir eine Gestalt entgegen, die Haare<br />

wild wie Antennen in alle Richtungen abstehend, ein<br />

Mitstudent auf dem gleichen Weg wie ich. Aus dem<br />

Badezimmerspiegel schaut mir dasselbe medusenhafte<br />

Bild des Flurs entgegen. Nachts scheinen wir<br />

alle gleichermaßen unsere Antennen auszufahren.<br />

Nach dieser morgendlichen Selbsterkenntnis gehe ich<br />

frisch geordnet in die Kapelle hinunter. Der weite<br />

Raum wird lediglich von einigen Kerzen erhellt. Ich<br />

setze mich schweigend auf einen freien Platz. Nach<br />

und nach füllen sich die Stuhlreihen mit Gästen und<br />

Mitstudenten. Vorne auf der linken Seite neben dem<br />

Predigtpult sitzen vier Priester in kultischen Gewändern.<br />

Wir erleben gemeinsam die Menschenweihehandlung.<br />

Heute wird auf Finnisch zelebriert. Aus<br />

aller Welt kommen die Priester der Christengemeinschaft<br />

als Dozenten oder Gäste zu uns. Dadurch wird<br />

die Weihehandlung im Seminar praktisch in jeder<br />

Sprache zelebriert, in der sie auf der Welt gehalten<br />

wird. Nach der Handlung treffen wir uns alle zum<br />

gemeinsamen Frühstück im Essensraum. Jetzt wird es<br />

langsam lebendig. Das Stimmengewirr der Gespräche<br />

an den Tischen und frischer Kaffeeduft erfüllen die<br />

Luft. Einige Studenten führen einen kleinen Sketch<br />

auf. Natürlich fangen wir wieder viel zu spät mit dem<br />

Abwasch an, kommen aber gerade noch rechtzeitig<br />

zur künstlerischen Einstimmung: zehn Minuten<br />

Theatersport bevor sich unser Trimester im blauen<br />

Raum zum Hauptkurs trifft.<br />

Der Hauptkurs findet jeden Morgen statt und dauert<br />

zu einem bestimmten Thema eine Woche lang. Diese<br />

Woche hält Herr Harlan seinen Kurs über die Substanzen<br />

der Taufe Wasser, Salz und Asche. Neben seinen<br />

spannenden Ausführungen machen wir auch<br />

Experimente. Wir beobachten die Bewegungen des<br />

Wassers in einem Gefäß, lassen eine Salzlösung kristallisieren<br />

und zündeln ein bisschen. Wir sind so bei<br />

der Sache, dass wir beinahe die Obstpause um 10:30<br />

Uhr verpassen.<br />

Die nächste Stunde ist Nachbereitungszeit. Jeder verarbeitet<br />

auf seine Weise das Erlebte. Manche setzen<br />

sich in kleinen Gruppen zusammen und sprechen<br />

über den Kurs. Andere gehen spazieren, um den Kopf<br />

wieder frei zu bekommen. Vor dem Mittagessen haben<br />

wir Theosophie. Wir besprechen das Kapitel über<br />

Reinkarnation. Das Essen beginnt mit einem Gebet.<br />

Frühstück und Mittagessen nehmen wir immer<br />

gemeinsam ein.<br />

Danach ist Pause, wenn man nicht beim Abwasch<br />

helfen muss. Ich lege mich kurz aufs Ohr und lese im<br />

Anschluss noch eine halbe Stunde im Seminargarten,<br />

um ein kleines Referat vorzubereiten. Um kurz vor<br />

drei treffen wir uns im Garten. Normalerweise haben<br />

wir mittags künstlerische Fächer wie Sprachgestaltung<br />

oder Eurythmie und zwischendurch weitere<br />

Fachstunden z.B. zu den Evangelien oder zur Men–<br />

schenweihehandlung. Mittwochs aber treffen wir uns<br />

zur Gartenarbeit. Heute gilt es, einen kleineren Baum<br />

auszureißen. Früh übt sich, wer später mit seinem<br />

Glauben Berge versetzen will. Valentino und ich laborieren<br />

zwei Stunden an dem Baum herum, zunächst<br />

am Wurzelwerk, später mit vollem Körpereinsatz<br />

gegen den Stamm. Nach getaner Arbeit gibt es im<br />

Essensraum Kuchen für alle.<br />

Um halb sechs beginnt der Chor. Herr Ronner leitet<br />

uns gekonnt vom einfachen Lied bis zur Bruckner-<br />

Motette. Der Chor ist offen für alle Studenten aus<br />

den anderen anthroposophischen Seminaren auf der<br />

Uhlandshöhe, die zusammen den Campus A bilden.<br />

Manche Gäste bleiben auch noch zur anschließenden<br />

Andacht in der Kapelle.<br />

Beim Abendessen in der Küche treffe ich Willem und<br />

Lisa. Wir essen gemeinsam und plaudern noch eine<br />

Weile, bis mir mein Artikel für den Seminarbrief wieder<br />

einfällt, der morgen fertig sein soll. Vorher aber<br />

rufe ich noch meine Frau an. Eine ganze Anzahl derer,<br />

die hier studieren, haben eine Familie, die sie nur am<br />

Wochenende oder in den Ferien sehen. Manche wohnen<br />

aber auch zu Hause und kommen von außerhalb<br />

zu den Kursen.

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