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Jahrbuch des Geschichtsvereins für das Herzogtum Braunschweig ...

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Digitale Bibliothek <strong>Braunschweig</strong><br />

Redaktionsa ussch USS.<br />

Stadtarchivar Prof. Dr Heinrich Mack,<br />

Museumsdirektor Geh. Hofrat Prof. Dr P. J. Me i er<br />

in <strong>Braunschweig</strong>,<br />

Oberschulrat Prof. Dr Wilh. Bran<strong>des</strong>,<br />

Geh. Archivrat Dr Paul Zimmermann<br />

in Wolfenbüttel.<br />

Alle Sendungen sind an den Letztgenannten zu richten.<br />

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UNTERSUCHUNGEN ÜBER DIE ANFÄNGE<br />

DER STADT BRAUNSCHWEIG.<br />

Von P. J. Meier.<br />

Seit den Aufsätzen, die im Jahrgang 1908 <strong>des</strong> Braunschw. Magazins erschienen<br />

sind, ist über die Frage nach den Anfängen der Stadt <strong>Braunschweig</strong>,<br />

die freilich keineswegs geruht hat, doch nichts veröffentlicht worden. Die<br />

Hoffnung, <strong>das</strong>s meine Ausführungen a. a. O. S. 13 I ff. meine Gegner H.<br />

Meier und H. Mack uberzeugen wUrden, war damals nicht in Erfüllung gegangen,<br />

und ich gebe gern zu, <strong>das</strong>s auch die Art meiner Beweisfuhrung daran<br />

die Schuld trägt. Ich hätte vielleicht eine Anzahl von Behauptungen noch<br />

eingehender begründen sollen, als ich getan habe, es wäre vor allem aber<br />

besser gewesen, erst mal Hänselmanns Theorie über die Frage Punkt filr<br />

Punkt zu widerlegen und erst dann die eigene aufzubauen. Denn man konnte<br />

es der Gegenpartei schliesslich nicht verargen, wenn sie an der Meinung <strong>des</strong><br />

altbewährten Meisters der Geschichtswissenschaft mit Zähigkeit so lange festhielt,<br />

bis sie wirklich als unhaltbar nachgewiesen war. Dazu bin ich aber<br />

jetzt, wie ich glaube, im Stande. Gleichviel, wie man sich zu meiner Theorie<br />

stellt, die H ä n se Im a n n sehe muss aufgegeben werden.<br />

I. Hänselmanns Theorie von der Entstehung <strong>Braunschweig</strong>s. -<br />

Die Okerübergänge.<br />

Vergegenwärtigen wir uns, was Hänselmann über die Entstehung der Stadt<br />

<strong>Braunschweig</strong> gesagt hat.<br />

Er sieht in den - wie er erst meinte - vier Allodien oder Vorwerken<br />

auf dem Gebiet der Altstadt den Beweis dafilr, <strong>das</strong>s hier von jeher freie<br />

Männer auf ihrem Eigengut gesessen und sich von der Ackerwirtschaft genährt<br />

hätten. Er glaubt dann, <strong>das</strong>s die günstigen örtlichen Verhältnisse (Schiff.<br />

barkeit der Oker bis <strong>Braunschweig</strong>, leichter Übergang mittels der Damminsel,<br />

erhöhte Ufer) schon früh zur Kreuzung wichtiger Heerstrassen an dieser<br />

Stelle und zur Ansiedlung von Kaufleuten gefilhrt hätten, und nimmt schliesslich<br />

an, <strong>das</strong>s diese letzten die Jakobskirche, womöglich schon 861, erbaut<br />

und den Grund zur späteren Stadt gelegt hätten. Jede dieser Behauptungen<br />

lässt sich nun mit den Mitteln, über die wir heute verfugen, als unrichtig<br />

nachweisen.<br />

Ilcaunschw. <strong>Jahrbuch</strong> XI.<br />

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P. J. MEIER<br />

Ich beginne mit dem frUhen Okerübergang bei <strong>Braunschweig</strong>, den HänseI<br />

mann bereits 1868 in der Einleitung zu seinen Chroniken der Stadt <strong>Braunschweig</strong><br />

(Bd. I S. XlII ff.) behauptet, und <strong>für</strong> den er sich, nach einigem<br />

Schwanken im Jahre 1873, schliesslich doch wieder mit grosser Energie erklärt<br />

hat. Es scheint mir fast, als sei dieses Schwanken hervorgerufen durch den<br />

Nachweis v.Strombecks 1 ), <strong>das</strong>s bereits in den Jahren 747 und 780 von den frän·<br />

kischen Heeren ein älterer Okerübergang bei Ohrum, 5 km südlich von Wolfen·<br />

büttel, benutzt worden sei, der die Reisenden vom Rhein her südlich der Asse<br />

über Schöningen nach Magdeburg geführt hätte. Denn von diesem Übergang<br />

weiss Hänselmann in seiner ersten Veröffentlichung von 1868 noch nichts,<br />

seltsamer Weise aber verwechselt er in der zweiten von 18732) den Übergang<br />

bei Ohrum mit dem bei Wolfenbüttel, der unzweifelhaft erst erheblich späterich<br />

vermute gegen Ende <strong>des</strong> XIII. Jahrh. 3 ) - ins Leben gerufen ist. In dem<br />

kurzen Abriss der Geschichte seiner Vaterstadt schliesslich, die Hänselmann der<br />

Festschrift <strong>für</strong> die LXIX. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in<br />

<strong>Braunschweig</strong> 1897 vorausschickte, ist von dem südlichen Übergange wieder<br />

nicht die Rede. Ich kann mir dies nur durch die Annahme erklären, <strong>das</strong>s Hänselmann<br />

an den Ohrumer Übergang überhaupt nicht mehr glaubte, und ich habe<br />

bereits in meinem Aufsatz von 1908 mitgeteilt, wie er, nach seinen mündlichen<br />

Äusserungen mir gegenüber, sich die Sache zurechtlegte. Er hoffte, <strong>das</strong> «Orheim»<br />

usw. der Handschriften als eine Verderbnis oder Verschleifung aus Okerheim<br />

nachweisen und hiermit den alten Namen seines Urdorfes mit den vier<br />

Freihöfen gewinnen zu können. Zu einem endgültigen Ergebnis war er zwar<br />

noch nicht gekommen, er hatte aber die Hoffnung nicht aufgegeben, mit<br />

seiner Vermutung schliesslich doch <strong>das</strong> Richtige zu treffen. Aber warum<br />

wollte er den Übergang bei Ohrum beseitigen, weshalb liess er ihn nicht<br />

neben dem bei <strong>Braunschweig</strong> gleichzeitig bestehen, warum bezeichnete<br />

er 1873 und 1897 den irrtümlich bei Wolfenbüttel angesetzten Übergang<br />

<strong>für</strong> älter als den bei <strong>Braunschweig</strong>? Offenbar, weil er in der frühen Zeit. <strong>des</strong><br />

VIII. und IX. Jahrh. zwei, nicht weit von einander entfernte Übergänge und<br />

zwei, auf der ganzen Strecke von Hil<strong>des</strong>heim bis Magdeburg in ebenso geringem<br />

Abstande parallel laufende Linien der Heerstrasse <strong>für</strong> unwahrscheinlich<br />

hielt, und darin ist ihm durchaus beizustimmen. Bevor <strong>Braunschweig</strong><br />

als eine kaufmännische Ansiedlung bestand - und Hänselmann setzt sie ausdrücklich<br />

jünger an, als den dortigen Okerübergang 4 ) -, berührte keine der<br />

') Zeitschrift <strong>des</strong> Harzgeschi


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ANFÄNGE DER STADT BRAUNSCHWEIG<br />

beiden Linien zwischen Hil<strong>des</strong>heim und Magdeburg vor dem XI. Jahrh. irgend<br />

einen Ort von grösserer Bedeutung. Nun ist aber die Möglichkeit, Ohrum als<br />

uralten Übergangsort zu beseitigen, vollkommen misslungen. Eine sprachliche<br />

Gleichstellung von Orheim und Okerheim ist genau so unwahrscheinlich, wie<br />

die Änderung <strong>des</strong> Textes. Dass zudem die örtlichen Verhältnisse bei Ohrum<br />

den Übergang dort ebenso empfahlen, wie die bei <strong>Braunschweig</strong>, habe ich<br />

schon in meinem Aufsatz von 1908 ausgeführt. Aber, <strong>das</strong>s er hier inder<br />

Tat ursprünglich bestanden hat, lehrt der Umstand, <strong>das</strong>s ich auf den Flurkarten<br />

<strong>des</strong> XVIII. Jahrh. diesen Dietweg in der Richtung nach Schöningen zu auf<br />

den Flurkarten der Dörfer Gr. Biewende, Kl. Vahlberg, Berklingen, Watzum<br />

und Schliestedt habe sicher feststellen können 1). Der Übergang bei Ohrum<br />

schliesst aber - <strong>das</strong> ist durchaus auch im Sinne Hänselmanns - fUr die fränkisch-karolingische<br />

Zeit den bei <strong>Braunschweig</strong> schlechterdings aus. Dieser ist<br />

also erst später eingerichtet worden; <strong>das</strong>s es im Zusammenhange mit der von<br />

mir angenommenen Gründung eines Marktes um 1030 geschehen sei, war<br />

eine sehr nahe liegende Vermutung 2 ).<br />

Und wenn es auch nicht ein Beweis ist, so passt es doch ausgezeichnet<br />

zu dieser meiner Vermutung, <strong>das</strong>s wir sehr bald nach der von mir angesetzten<br />

Gründung <strong>des</strong> Marktes <strong>Braunschweig</strong> und der Verlegung der Magdeburger<br />

Heerstrasse vom Südrand der Asse an den Nordrand <strong>des</strong> Elms an<br />

eben diesem neuen Zuge die Gründung weiterer Marktniederlassungen nachweisen<br />

können. Das Herzogliche Museum besitzt seit kurzem als eines der<br />

wichtigsten Münzdenkmäler unsers Gebiets einen Denar der Abtei Helmstedt<br />

.1) Vgl. Bau- u. Kunstdenkmäler <strong>des</strong> <strong>Herzogtum</strong>s <strong>Braunschweig</strong> III Ein\. S. X u.1II 2 S.20,<br />

271, 1,8,277, 244. Dieser Dietweg vermeidet, wie es scheint, absichtlich die Ortschaften.<br />

Dies ist vielleicht <strong>für</strong> H. Meiers Ausführungen im Magazin 1908 S. 16, von Wert. ') Der<br />

Deitweg auf Kneitlinger Flur, zwischen Ampleben und Sambleben, den ich a. a. O. III 2 S. 216<br />

angeführt habe, ist der Rest einer von <strong>Braunschweig</strong> nach Schöningen führenden Strasse.<br />

Der .Deyweg, auf der Feldmark von Siersse, der in der Flurbeschreibung <strong>des</strong> Dorfes aus<br />

dem XVIII. Jahrh. genannt wird, und auf den H. Lühmann aufmerksam gemacht hat, stellt den<br />

ältern Zug der Peiner Strasse dar, die jetzt etwas weiter nördlich geht. Der neue Zug ist nun<br />

sicher erst angelegt worden, als die Flureinteilung bereits bestand; denn die Grenzen der<br />

Äcker der zweiten Wanne <strong>des</strong> Sommerfel<strong>des</strong>, die im allgemeinen nördlich der jetzigen Heerstrasse<br />

liegt, setzen sich noch ein Stück südlich von derselben fort und bis an die .Trift., den<br />

ältern Zug der Strasse. Dahingegen werden die dritte und vierte Wanne, die sich westlich<br />

an die zweite anschliessen, durch die jetzige Peiner Strasse von einander getrennt, sind also<br />

offenbar jünger als diese; <strong>das</strong> ergibt sich aber auch aus dem Namen der dritten Wanne .Rode<br />

Land •. Die über Peine nach Hannover führende Heerstrasse kann sich an Alter und Bedeutung<br />

mit der Hil<strong>des</strong>heimer nicht messen; ist doch Hannover erst um 1200 Stadt geworden.<br />

Mit dem Namen. Dietweg' scheint man später allgemein eine verlassene Heerstrasse bezeichnet<br />

zu haben; es fehlt aber jeder Beweis da<strong>für</strong> <strong>das</strong>s ein Dietweg ohne weiteres in vor- oder frühgeschichtliche<br />

Zeit hinaufreiche.<br />

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P. J. MEIER<br />

aus dem XI. Jahrh. 1 ), der sich als eine vollkommene Nachahmung gleichzeitiger<br />

Magdeburger Denare erweist und sich nur durch die beiderseitige Umschrift<br />

S. Liudierus von diesen unterscheidet, der sich aber weiter durch seine<br />

Verwandtschaft auch mit Denaren Bischof Burkhards I. von Halberstadt<br />

(1°36-1059) zeitlich ziemlich genau ansetzen lässt. Diese Münze (s. Taf. I I)<br />

ist ein vollkommen sicherer Beweis da<strong>für</strong>, <strong>das</strong>s damals bereits ein Markt in<br />

Helmstedt bestand, der uns sonst erst <strong>für</strong> die Zeit um 1 160 bezeugt ist 2 ). Sodann<br />

aber erteilte Kaiser Heinrich 111. im J. 105 I dem Bischof Dankward von<br />

Brandenburg im Dorfe Uhrsieben südöstlich von Erxleben mercatum, monetam,<br />

theloneum, districtum ceteraque omnia ad haec iuste legaliterque pertinentia<br />

S ), und wenn wir auch bisher Gepräge dieser Münzstätte nicht kennen,<br />

so ist doch die wirkliche Gründung einer dortigen Marktniederlassung gar<br />

nicht zu beanstanden.<br />

Aus alledem scheint mir der Schluss unabweisbar, <strong>das</strong>s der Übergang bei<br />

'/ <strong>Braunschweig</strong> in karolingischer Zeit noch nicht bestand, sondern <strong>das</strong>s er erst<br />

später, sei es nun, wie ich glaube, durch den Willen eines mächtigen Fürsten<br />

geschaffen, sei es infolge veränderter Verhältnisse entstanden ist, <strong>das</strong>s also<br />

die günstigen Umstände, die nach Hänselmanns Meinung die frühe Bildung<br />

einer kaufmännischen Niederlassung auf dem Boden der späteren Altstadt<br />

veranlassten, insonderheit eine Kreuzung wichtiger Heerstrassen, vordem hier<br />

nicht vorhanden waren.<br />

11. Allodien und Vorwerke.<br />

Aber auch die scheinbar festeste Stütze der Hänselmannschen Theorie, die<br />

der «Freihöfe», erweist sich als gänzlich morsch. Hänselmann sah in den Vorwerken<br />

oder Allodien etwas besonders Seltenes und Eigenartiges, Ackerhöfe,<br />

die in ihrem Bestand auf unvordenkliche Zeiten zurückgingen und durch alle<br />

die Jahrhunderte hindurch den Charakter <strong>des</strong> freien Eigengutes sich bewahrt<br />

hatten.<br />

Es ist zunächst auffallend, <strong>das</strong>s ihm nicht gleich zu Anfang ein Bedenken<br />

aufstieg, insofern <strong>das</strong> lateinische allodium mit «Vorwerk» übersetzt wurde.<br />

Denn wenn wirklich die Bedeutung eines Gutes als Eigengut so scharf<br />

hervorgehoben werden sollte, so versteht man nicht, warum der deutsche<br />

') Ein zweites Exemplar der seltenen Münze, <strong>das</strong> sich in der Sammlung der Leipziger Universität<br />

befindet, ist in Grotes Münzstudien III Taf. 12b, I und darnach bei Dannenberg,<br />

Münzen der sächsischen und fränkischen Kaiserzeit Taf. XXXI 705 veröffentlicht worden.<br />

') V gl. Neue Mitteilungen <strong>des</strong> sächsisch-thüringischen <strong>Geschichtsvereins</strong> I (1834) Heft 4<br />

und Bau- u. Kunstdenkmäler <strong>des</strong> <strong>Herzogtum</strong>s <strong>Braunschweig</strong> I S. 2 ff. B) Leitzmann, Wegweiser<br />

der deutschen M iinzkunde S. 89.<br />

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6 P. J. MEIER<br />

Dompropstei ist also in eine Reihe von kleineren Mittelpunkten eingeteilt;<br />

jede wirtschaftliche Einheit dieser Art heisst villicatio (Meierei) und besteht<br />

aus einem Allod oder Amt, zu dem eine Anzahl von Hufen unmittelbar gehören,<br />

und aus einer Anzahl von Lathufen, die je<strong>des</strong>mal dem Allod mittelbar<br />

angegliedert sind.<br />

Wir besitzen sodann eine grosse Anzahl von kirchlichen Güterverzeichnissen,<br />

in denen diese Villikationen aufgezählt werden mit den Allodien, den<br />

unmittelbar von diesen aus und den von Laten bewirtschafteten Hufen, auch<br />

den Abgaben und Diensten, die meist die Laten dem Allod zu leisten hatten.<br />

Für <strong>das</strong> Land <strong>Braunschweig</strong> ist besonders wichtig <strong>das</strong> Güterverzeichnis<br />

von S. Ludgeri in Helmstedt aus der Zeit um I 160 1 ). Wenn wir von den<br />

Hufen absehn, die ein Edelherr Ekbert und zahlreiche Ministerialen als Lehen<br />

der Abtei besassen, weiter von den villulae <strong>des</strong> Klosters in dem von S[aven<br />

besiedelten Gebiet im Nordosten von Helmstedt und von dem Besitz im Ba[samergau,<br />

so zerfiel der ganze bedeutende Ackerbesitz bis nach Westfalen<br />

hinein in 1 5 Vi 11 i kat ion e n, die genau so eingerichtet waren, wie die der<br />

Hil<strong>des</strong>heimer Dompropstei, deren Haupthof aber nicht allodium, sondern<br />

territorium hiess; doch wird hier bisweilen auch die ganze Villikation als<br />

territorium bezeichnet. - Im Güterverzeichnis <strong>des</strong> Domstiftes in Goslar um<br />

1180 2 ), <strong>das</strong> die Haupthöfe der Villikationen dominicalia nennt, wird uns<br />

nun auch der ganze Betrieb dieser Wirtschaftseinheiten klar gelegt. Der<br />

Haupthof in (Wester·)Egeln z. B. wird von einem Meier (auch Landmeier<br />

genannt) bewirtschaftet und umfasst 5 Hufen; der Meier hat <strong>für</strong> sich selbst<br />

eine halbe Hufe - ebenfalls eine solche der preco -, die 3 Tagelöhner <strong>des</strong><br />

Haupthofes, die sonst ausschliesslich fUr diesen tätig sind, die cotidiani servitiales<br />

dominicalis, haben je ein Grundstück von 9 Joch, weitere 6 Höfe sind<br />

mit je 6 Pfennig Abgabe und dem servitium dominicalis belastet. Sodann aber<br />

gehören zum Haupthofe Egeln im Dorfe selbst 9 und 10 Zinshöfe mit ebensoviel<br />

Hufen, die je 5 {l zahlen und je 5 Malter Weizen ins Kornhaus der.<br />

Domherrn in Gosla.r zu liefern haben, und in Hohendorf I 2 Slavenhufen, die<br />

je 2 (l und gleichfalls Naturalien zu geben, dann aber auch den bestimmten<br />

Hofdienst auf dem dominicale zu leisten haben, und je I Hufe <strong>des</strong> rithemannus<br />

und <strong>des</strong> senior, qui pro suo iure serviunt curie. Die Villikation, die noch<br />

1290, wie es scheint, eine Einheit bildete, umfasst ausnahmsweise noch ein<br />

zweites dominicale im Nachbarorte Etgersleben, <strong>das</strong> 6 Hufen <strong>für</strong> die eigene<br />

Wirtschaft enthält und im Orte selbst 301/2 Latenhufen, sonst aber in allem mit<br />

I) Behrends, tiber bonorum monasterii S. Liudgeri Helmellstadensis in den Neuen M ittei-<br />

Jungen <strong>des</strong> Thüringisch-Sächsischen <strong>Geschichtsvereins</strong> I (1834), Heft 4, S. 2 I ff. 1) Bode,<br />

U B. der Stadt GosJar I N r. 301.<br />

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ANFÄNGE DER STADT BRAUNSCHWEIG 7<br />

dem Haupthof in Egeln übereinstimmt; nur gehören in Etgersleben 2 Hufen<br />

ad ius villicale, 6 Joch dem Landmeier, I Hufe von 8 fl Zinsertrag ad officium<br />

pistorale; 6 Hufen im benachbarten Starendorf zahlen je 3 fl und leisten den<br />

bestimmten Frohndienst; 4 Hufen in Ochtmersleben und ein modicum terre<br />

in Twieflingen zahlen eine Geldsumme; ausserdem leistet die Villikation <strong>für</strong><br />

8 Wochen Brod und Bier, sowie 15 Talente Zins und 9 Dienste in Schweineund<br />

Schaffleisch zu bestimmten kirchlichen Festen.<br />

Ähnlich sind die Verhältnisse bei den anderen Villikationen <strong>des</strong> Domstiftes.<br />

Der Frohnhof bildete darnach den Mittelpunkt <strong>für</strong> den ganzen Betrieb hier;<br />

was die unmittelbar zu ihm gehörigen Hufen einbrachten, musste unverkürzt<br />

der Herrschaft abgeliefert werden 1). Der Meier lebte von den Erträgen einer<br />

halben Hufe, von der keinerlei Abgabe zu leisten war. Der Acker wurde von<br />

den Tagelöhnern, die gleichfalls mit Land ausgestattet waren, dann aber<br />

auch von den Laten der andern Hufen, in bestimmtem Wechsel bestellt.<br />

Dieser Wirtschaftsbetrieb ist nun bei uns besonders von den grossen Stiftern<br />

und Klöstern ganz allgemein gehandhabt worden. Auch wenn die Bezeichnung<br />

<strong>für</strong> den Frohnhof wechselt, er bald allodium, bald dominicale und<br />

territorium oder deutsch Meierhof2) und besonders oft Vorwerk genannt wird,<br />

so handelt es sich doch stets um <strong>das</strong>selbe. Wichtig ist aber vor allem die<br />

Bezeichnung Vorwerk, weil sie die Überordnung <strong>des</strong> Frohnhofes über die<br />

Latenhufen klar zum Ausdruck bringt S ).<br />

Nun zeigen namentlich die Magdeburger Lehnsregister4), <strong>das</strong>s, wie der<br />

Name allodium, so auch der Name Vorwerk einem durch den Meier bewirtschafteten<br />

Hofe auch dann verbleibt, wenn er auf die unmittelbar mit ihm<br />

verbundenen Hufen beschränkt bleibt, dagegen die grössereAnzahl von Latenhufen<br />

fortfällt, also die Bezeichnung Vorwerk eigentlich nicht mehr berechtigt<br />

ist. Aber noch viel seltsamer mutet es uns an, wenn ebenfalls in den<br />

Magdeburger Lehnsregistern, dann aber in zahlreichen Urkunden sonst ein<br />

derartiges Gut auch in dem Falle allodium genannt wird, wenn es den Begriff<br />

<strong>des</strong> Eigengutes, der ihm doch ursprünglich anhaftete, vollkommen<br />

eingebüsst hat und als Lehen oder als Leibzucht ausgegeben<br />

wird. Auch <strong>das</strong> ist durchaus nichts neues, ist vielmehr besonders von<br />

Schulze in seinem Buche über Kolonisierung und Germanisierung im Gebiete<br />

1) Von den Allodien, die 1103 ans Hochstift Hil<strong>des</strong>heim gekommen waren, wurden aus·<br />

nahmsweise nur Abgaben gezahlt; s. UB. Hochstift Hil<strong>des</strong>heim I Nr. I S8, 271. t) UB.<br />

Goslar III Nr. 619 (1322) allodium in Ober· Runstedt, quod vulgariter de meyrhof dieitur.<br />

UB. Hochstift Hil<strong>des</strong>heim IV Nr. 1491 (1339) allodium, quod dieitur Bodek meyershof.<br />

') Heute bezeichnet Vorwerk bekanntlich ein Aussenwerk, einen vor und abseits von dem<br />

Haupthof gelegenen Nebenhof mit besonderer Wirtschaft. ') Geschichtsquellen der Provo<br />

Sachsen Bd. XVI.<br />

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8 P. J. M EI ER<br />

zwischen EIbe und Saale (1896) S. 345, dann auch von anderen dargelegt,<br />

aber auf die Allodien der Altstadt <strong>Braunschweig</strong> niemals ausdrücklich angewendet<br />

worden, so <strong>das</strong>s mir auch hier ein näheres Eingehen erlaubt sein mag.<br />

In den Magdeburger Lehnsregistern werden I I Allode, 4 Vorwerke und<br />

zahlreiche Sattelhöfe, die damit wieder offenbar identisch sind, als LehnsgUter<br />

aufgeführt.<br />

Nach dem Lehnsregister der Edlen v. Meinersen aus der I. Hälfte <strong>des</strong> XIIr.<br />

Jahrh. l ) ferner ist je ein Allodium in Thitene an Johann v. Brunsrode,<br />

ebendort an den Knappen v. Volkmarode, in Santforde an Lambert von Hannover,<br />

in Osterim an Heinrich von Gesen ausgetan.<br />

In der Liste seiner Passivlehen nennt Dietrich v. Wallmoden 1286 2 ) als<br />

vom Bischof von Paderborn herrührend ein allodium cum 4 mansis, ibidem<br />

7 man sos litonum cum litonibus, vom Grafen Heinrich v. Woldenberg herrührend<br />

ein dominicale in Heisede cum collatione ecclesie et omnibus ad idem<br />

officium attinentibus.<br />

Dieselben Vorwerke (dominicalia) in (Wester-JEgeln und Etkersleben, die<br />

wir um I 180 im Besitz <strong>des</strong> Goslarer Domstifts finden, kehren 12903) im<br />

Lehnsbesitz der Edlen v. Hadmersleben wieder, und <strong>das</strong> muss eben als die<br />

Regel gelten, <strong>das</strong>s die Allodien der Kirche allmählich in die Hände der Laien<br />

kamen, die davon zinsten oder Lehnsdienste leisteten.<br />

Bischof Adelhog von Hil<strong>des</strong>heim schenkt I 1764) dem Kloster Heiningen<br />

forwercum unum in Uppen (mit 5 Hufen zu je 30 Joch 6 ), quem Heinricus de<br />

Sladem beneficiario iure a nobis obtinebat et quo Sijridus de Aldenthorp ab ipso<br />

infeodatus erat. - Bischof Konrad von Hil<strong>des</strong>heim schenkt 1240 Aschwin v.<br />

Wall moden den Zehnten und <strong>das</strong> Allodium in Bodenstein, <strong>das</strong> ihm <strong>das</strong><br />

Kloster Neuwerk in Goslar aufgelassen, in feodo 6 ). - Bischof Heinrich von<br />

Hil<strong>des</strong>heim verkauft 13 16 (UB. IV Nr. 317) an seinen Knappen Heinrich v.<br />

Braak <strong>für</strong> 90 Mark sein Allodium in Bakum titulo feodali und an <strong>des</strong>sen Frau<br />

tamquam dotalicium (Iijghedinghe). - 13 16 stellen Widukind v. Garssenbüttel<br />

und Heinrich v. Oberg einen Revers aus über die Belehnung mit einem Erbburglehn<br />

zu Lutter a./B. seitens der Herzöge; sie sollen auch ein BIek an der<br />

Burg zu einem Vorwerk machen und auf ihre Kosten bauen 7 ). - Zwei Brüder<br />

Seldenbut, Bürger in Hannover, bekunden 13138), <strong>das</strong>s nach ihrem Tode je<br />

ein Allodium in Sillium, Rode und logeln, die sie vom Hil<strong>des</strong>heimer Bischof<br />

- offenbar als Leibgedinge - <strong>für</strong> 25 Bremer Mark gekauft hatten, nach<br />

') Sudendorf, UB. der Herzöge von <strong>Braunschweig</strong> und Lüneburg I Nr. 10. ') UB.<br />

Goslar II Nr. 345. ') UB. Goslar II Nr. 410. 4) UB. Hochstift Hil<strong>des</strong>heim 1373; vgl.<br />

auch Nr. 375, 382, ,84/5. ') Auch hier fehlen schon die Latenhufen. ") UB. Goslar I<br />

574. ") UB. Hochstift Hil<strong>des</strong>heim IV Nr. ,09. ") Ebd. Nr. 171,<br />

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ANFÄNGE DER STADT BRAUNSCHWEIG 9<br />

ihrem und ihrer Frauen Tod an den Bischof zuruckfallen sollten. - Der Edelherr<br />

Konrad v. Meinersen kauft 13171) auf seine, seiner Frau und seines<br />

Sohnes Lebenszeit vom Hil<strong>des</strong>heimer Bischof Güter, die zur bischöflichen<br />

Tafel gehören, nämlich ein Allodium von 6 Hufen in Stiddien, zwei Allodien<br />

von 5 Hufen in Hönze usw. <strong>für</strong> 110 Mark, und ähnliche Verträge in Bezug<br />

auf bischöfliche AIIode kommen auch sonst wiederholt vor. - Interessant sind<br />

auch die Goslarer Urkunden UB. III 116/8 von 13°5, durch deren eine <strong>das</strong><br />

Domstift die Hälfte seines Allods in Bielen, <strong>das</strong> Bertold v. Windehausen und<br />

seine Söhne Bertold und Heinrich von der Kirche gehabt haben, den Söhnen<br />

Heinrichs fUr jährlich 30 Nordhäuser Schillinge und mit der Bedingung überträgt,<br />

<strong>das</strong>s der Älteste der Brüder die Güter besitzt, an den Gebäuden bessert,<br />

den Obödientiar oder <strong>des</strong>sen Schultheiss beim Eintreiben <strong>des</strong> Zinses aufnimmt,<br />

<strong>das</strong>s aber eine Teilung der Güter unterbleibt und diese bei Nichtzahlung<br />

<strong>des</strong> Zinsgroschens ohne weiteres an <strong>das</strong> Stift zurückfallen. Desgleichen<br />

wird die zweite Hälfte <strong>des</strong> Allods, die gleichfalls die v. Windehausen<br />

besessen, an die v. Egene gegeben, hier aber bestimmt, <strong>das</strong>s, wenn die v.<br />

Windehausen, die die Güter von Siegfried v. Lutterode gekauft, sie <strong>für</strong> 82 Mark<br />

wieder zurückkaufen können, sie wieder in deren Besitz kommen. Und<br />

schliesslich wird, wie es scheint, wegen eines zweiten Allods in Bielen ein<br />

ganz gleicher Vertrag, wie in Nr. 1 16, mit den v. Bielen getroffen, die <strong>das</strong><br />

Allod schon seit langen Zeiten in Erbfolge besessen haben, und angesichts der<br />

zahlreichen Erben besondere Vorkehrungen gegen die Gefahr einer Teilung<br />

getroffen.<br />

Die Beispiele <strong>für</strong> die rein wirtschaftliche Bedeutung der Allodien in dem<br />

Gebiet und zu der Zeit, die uns hier interessieren, lassen sich beliebig vermehren.<br />

Aber ich denke, auch die angeführten, die durchaus typisch sind,<br />

werden vollauf genügen. Und wie steht es nun mit den Allodien oder Vorwerken<br />

in der Altstadt <strong>Braunschweig</strong>? Sie verlieren offenbar jede Eigenart,<br />

unterscheiden sich in nichts, aber auch in gar nichts von den übrigen in ganz<br />

Niedersachsen und darüber hinaus, gehen spurlos in der gewaltigen Flut<br />

dieser weit verbreiteten Frohnhöfe unter.<br />

Schon der Ausdruck «Vorwerk», um <strong>des</strong>sen Bedeutung sich keiner der<br />

braunschweigischen Forscher bisher bekümmert hat, ist beweiskräftig genug.<br />

Die frühsten Beispiele aus dem XI. Jahrh. <strong>für</strong> diesen Vorwerksbetrieb, die<br />

Wittich 2 ) nachweist, finden sich im Osnabrucker Urkundenbuch Bd. I verzeichnet;<br />

es sind eine ganze Reihe von Höfen (curtes) mit einer bestimmten<br />

Anzahl Hufen und Lathufen, die durch vornehme Laien an die Kirche ge-<br />

') UB. Hochstift Hil<strong>des</strong>heim IV Nr. 384.<br />

land S. 273 ff.<br />

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") Grundherrschaft in Nordwest-Deutsch-


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10 P. J. MEIER<br />

geben werden 1 ). Die Ausdrücke meira (= Meier) und ammant (= Amt,<br />

officium) finden sich zuerst um 1050 (Bd. I Nr. 146), der Ausdruck Vorwerk<br />

in den 8o er Jahren (Nr. 189, 201, 204). Das frühste Beispiel aus unsrer<br />

Gegend, <strong>das</strong> mir zufällig bekannt ist, stammt aus dem J. 1 1 ° 3. Denn von<br />

den predia, die die Äbtissin Eilica von Ringelheim damals der Hil<strong>des</strong>heimer<br />

Kirche schenkte, wird die Iota curia in Hevensen in der 2. Hälfte <strong>des</strong> XII.<br />

Jahrh. näher bezeichnet als curia cum forwerco et 6 litonibus S ).<br />

Aber wenn der Güterbesitz der grossen Stifter und Klöster fast ganz in<br />

eine Reihe solcher Villikationen mit Vorwerk und Lathufen aufgeteilt ist, so<br />

ergibt sich ohne weiteres, <strong>das</strong>s hier eine verhältnismässig späte Einrichtung<br />

vorliegt, die erst möglich war, als der geistliche Grundbesitz im Laufe der<br />

Zeit so gewaltig angeschwollen war, <strong>das</strong>s eine Organisation im grossen Mass·<br />

stabe nötig wurde. Und <strong>das</strong> Vorwerk ohne Lathufen, <strong>das</strong> allem Anschein<br />

nach in <strong>Braunschweig</strong> vorliegt, ist, wie schon diese Bezeichnung besagt,<br />

erst auf einer weiteren Stufe der Entwicklung möglich gewesen. Damit<br />

schwindet <strong>für</strong> die <strong>Braunschweig</strong>er Vorwerke jede Möglichkeit einer frühen Ansetzung.<br />

- Es lässt sich daneben auch der sichere Beweis führen, <strong>das</strong>s auf dem<br />

Boden eines Stadtgebietes derartige Vorwerke in der Tat erst später entstanden<br />

sein können. Für <strong>Braunschweig</strong> selbst wäre dies erwiesen, wenn<br />

sich Ohlendorfs AnnahmeS) bewahrheitete, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Vorwerk der v. Semmenstedt<br />

von 1403 auf dem Steinwege gelegen hätte. Denn der Hagen ist vor<br />

der Stadtgründung Heinrichs d. L. nicht besiedelt gewesen. Aber die Angabe<br />

der Lage am Steinwege in der Urkunde von '403 bezieht sich wohl<br />

sicher nur auf die 5 kleinen Häuser, die Hintze v. Semmenstedt nebst 6 Hufen<br />

zu Runingen «vor der Stadt», 1 Hufe auf der Stadtflur und dem Vorwerk,<br />

zu dem jene Hufen vermutlich gehörten, seinem Sohne vermacht. Aber an<br />

Stelle dieses angeblichen Vorwerks im Hagen, <strong>des</strong>sen wirkliche Lage nicht<br />

bekannt ist, treten mit voller Beweiskraft die drei Vorwerke der Kopmann<br />

auf der Gröperstrasse, der Honesti und der Zabel auf der Schilderstrasse in<br />

Goslar, die Ohlendorf a. a. O. S. 11 , <strong>für</strong> <strong>das</strong> XIV. Jahrh. nachweist'). Denn,<br />

wie beim Hagen, so hat auch hier ein Ackerdorf ursprünglich nicht bestanden.<br />

Ohlendorf hat meiner Meinung nach überzeugend nachgewiesen, <strong>das</strong>s eine<br />

Anzahl von Patriziern, die sich von einem Orte der Umgegend von <strong>Braunschweig</strong><br />

nannten, gerade an diesem Orte oder im Nachbardorf Landbesitz<br />

1) Besonders I 1l2, 142, 1,8. ') UB. Hochstift Hil<strong>des</strong>heim I Nr. 1,8 und 271. Dieser<br />

ganze Wirtschafts betrieb geht natürlich zurück auf den Karls d. Gr., wie er im Capitalare de<br />

vil/is von 812 beschrieben wird; s. Schröder, Deutsche Rechtsgeschichte 6 S. 206. ') Das<br />

niedersächsische Patriziat S. 24. 92. ') Eine Strasse in Goslar unweit <strong>des</strong> Breitentores<br />

heisst Vorwerkstrasse.<br />

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ANFÄNGE DER STADT IlRAUNSCHWEIG 11<br />

besassen, den sie bei ihrer Einwanderung in die Stadt keineswegs aufgaben.<br />

Aber diesem altüberkommenen Besitz steht doch ein ganz umfassender Neuerwerb<br />

von Ackerland zur Seite. Die Geschlechter waren so gut wie alle<br />

Besitzer von ländlichen Gütern; auf der einen Seite sahen sie offenbar in dem<br />

Erwerb von solchen die beste Art und Weise <strong>für</strong> eine Kapitalsanlage, auf<br />

der anderen Seite aber produzierten sie selbst einen beträchtlichen Teil der<br />

Ackerfrüchte, in deren Ausfuhr zu einem grossen Teil der Handel der patrizischen<br />

Kaufleute bestand. HOren wir doch aus Hermann Botens Schichtbuch,<br />

<strong>das</strong>s die Gilden bei ihrem Aufstand gegen die Geschlechter 1293 durch<br />

<strong>das</strong> Verbot, Korn aus der Stadt auszuführen, dem Handel, selbstverständlich<br />

dem der Patrizier, grossen Schaden zufügten I). Und <strong>das</strong>s der landwirtschaftliche<br />

Betrieb hier schon sehr früh eine hohe Bedeutung <strong>für</strong> die Vollbürger<br />

hatte, ersehen wir aus der Bestimmung <strong>des</strong> Stadtrechts von 1227, <strong>das</strong>s die<br />

Meier der Aussengüter der Bürger ebenso Zollfreiheit geniessen, wie die<br />

Bürger selbst 2 ).<br />

Inwieweit auch die einfach curiae genannten patrizischen Höfe in <strong>Braunschweig</strong><br />

Vorwerke in jener wirtschaftlich-technischen Bedeutung waren,<br />

steht dahin. Ohlendorf führt als solche auf: den Embernshof der Engelhardi<br />

(1329, 1338, jetzt Meinhardshof), die curia der v. Peine Schützenstr. 16<br />

(1386-1417), den Hof zur Stenporten der v. Ohlendorf (1307), die Höfe<br />

der Stephani in der Stadt (1297) und vor dem Wendentore (I 296), die curia<br />

Riechenberg ebenfalls vor dem Wendentore, ein Steterburger Lehen der<br />

Martening (1329, 1338). Aber Ohlendorf (a. a. O. S. 92 ff.) macht auch auf<br />

weitere Allodien und Vorwerke aufmerksam: ein Vorwerk der Holtnicker<br />

(I 339), <strong>das</strong> mit deren Hof bei den Brüdern (13 2 I) offenbar zusammenfällt,<br />

dann <strong>das</strong> bereits genannte der v. Semmenstedt (1403) und ein solches der<br />

Stapel (vor 1343), beide von unbekannter Lage. Und mit Recht werden<br />

diesen die vor der Stadt liegenden Vorwerke Raff der v. Lucklum (1228,<br />

1306), Eichtal der von S. Ulrich (1241 usw.) und ein solches von unbekannter<br />

Lage der v. Gandersheim angereiht. Schliesslich sind aber auch die Allode<br />

oder Vorwerke zu nennen, die die Holtnicker in Alvesse um 1250 (mit 4<br />

Hufen), die vom Hus in Ahlum 1318 (gleichfalls mit 4 Hufen S ), die Kahles<br />

in Vallstedt 1268 (mit 7 Hufen), die v. Pattensen in Rautheim bis 1239, die<br />

Kirchhofs in Evessen 1351 (mit 9 Hufen und einer Steinkemnate) besassen.<br />

Aber diese Vorwerke waren vielleicht sämtlich nur Lehnsbesitz. Jedenfalls<br />

wurde <strong>das</strong> Allod Raff vom Kloster Dorstadt I 228 <strong>für</strong> 53 Talente iure feodali<br />

') Chroniken der Stadt <strong>Braunschweig</strong> II 304. 7) Vgl. auch Magazin 1908 S. 1 p.<br />

') Diese sicher, die andern wahrscheinlich 0 h n e Lathufen, also nur aus dem einen Hof bestehend.<br />

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12 P. J. MEIER<br />

verlehnt, die Vorwerke der Holtnicker, der vom Hus und der v. Pattensen<br />

gingen bei den Edlen v. Meinersen. bezw. beim Herzog und beim Sohne <strong>des</strong><br />

Caesarius von Halberstadt, <strong>das</strong> der Kirchhofs beim Herzoge, bezw. den v.<br />

HarIingsberg zu Lehen.<br />

Die Frohnhöfe der Patrizier in der Stadt selbst sind vielleicht nicht<br />

Lehnshöfe gewesen. Aber trotzdem muss auch die Annahme Hänselmanns<br />

als vollkommen erschüttert gelten, <strong>das</strong>s die Lage der «Freihöfe» in der Altstadt<br />

irgendwie auf die Zeiten vor der Gründung der Altstadt zurückginge.<br />

Damit fallen natürlich auch die Wege, an denen die Ackerhöfe lagen, als<br />

solche, die von alters her, wie H. Meier annimmt, bestanden und nachher<br />

in die Stadt mit übergingen.<br />

Dass die Mehrzahl der Vorwerke in der Altstadt und zwar in solchen<br />

Strassen, die zu äusserst der Stadtmauer parallel liefen, oder gar in der Nähe<br />

der Stadttore lagen, ist ganz natürlich. Denn von hier aus konnten die<br />

Wagen selbst zur Zeit der Ernte leicht bis zum Tore kommen, ohne allzusehr<br />

mit den Wagen der Handelsleute zusammenzustossen. Ich erinnere mich<br />

aus meiner Kindheit, <strong>das</strong>s selbst in Magdeburg noch in den 70er Jahren <strong>des</strong><br />

XIX. Jahrh. ein Ackerhof auf der Prälatenstrasse lag, die als äusserste westliche<br />

Strasse der Stadtmauer parallel läuft, und <strong>das</strong> Adressbuch dieser Stadt<br />

von 1823 zählt sogar 12 Ackerleute und Ökonomen auf, von denen 3 auf<br />

der genannten Strasse, 7 auf anderen Strassen nach der Stadtmauer zu und<br />

nur 2 auf dem Breitenwege ihre Grundstücke hatten, und ähnliche Beobachtungen<br />

lassen sich auch sonst in den Städten machen. Es wird geradezu<br />

als Regel angenommen werden können; <strong>das</strong>s sich solche Höfe gern der Peripherie<br />

der Stadt anschmiegen.<br />

Auch <strong>das</strong>s wenigstens die Höfe, die ausdrücklich als Allode oder Vorwerke<br />

bezeichnet werden, sich auf die Altstadt beschränken, erscheint mir<br />

ganz natürlich. Denn im Osten und Nordosten der Stadt dehnte sich der<br />

mächtige Grundbesitz <strong>des</strong> Klosters Riddagshausen aus, im Südosten müssen<br />

wir uns vorzugsweise die Äcker denken, die vom herzoglichen Ackerhofe in<br />

der Altenwiek und von den Lehnshöfen im Hagen aus bewirtschaftet wurden.<br />

In der Neustadt sassen aber vorzugsweise Handwerker. So ist denn auch die<br />

Zahl der Steinkemnaten, die wir wohl in der Hauptsache den Patriziern zuzuschreiben<br />

haben, in der Altstadt allein grösser, als in den übrigen Stadtteilen<br />

zusammengenommen 1).<br />

Man sieht also, der ganze Bau, den Hänselmann so kunstvoll und <strong>für</strong> seine<br />

Zeit auch scheinbar so einwandfrei errichtet hat, bricht vollkommen in sich<br />

zusammen. Es bleibt kein Stein auf dem andern, und es erscheint in diesem<br />

1) V gl. Steinacker in den Bau- und Kunstdenkmälern der Stadt <strong>Braunschweig</strong> S. 81.<br />

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ANFÄNGE DER STADT BRAUNSCHWEIG<br />

Zusammenhang kaum noch nötig, die dritte Behauptung Hänselmanns von<br />

dem hohen Alter der Jakobskirche (angeblich 861 gegründet) und ihrer Bedeutung<br />

als Gotteshaus der wandernden Kaufleute eingehend zu widerIegen_<br />

Die bis in den Beginn <strong>des</strong> XIII. Jahrh. zurOckgehende Überlieferung von den<br />

Anfängen der Stadt <strong>Braunschweig</strong> 1 ) ist so eng mit der falschen Gleichstellung<br />

<strong>des</strong> ludolfingischen und <strong>des</strong> brunonischen Hauses verknUpft, ist ausserdem<br />

aber in der naheliegenden Deutung der Ortsnamen Brunswik und Dankwarderode,<br />

die durch die Nachricht vom Tode zweier comites in Brunswich<br />

Tanquard und Bruno an einem 2 I. Januar (im Memorienregister von S. Blasius)<br />

gestützt wird, so durchsichtig, <strong>das</strong>s hier ganz unsicherer Boden vorliegt.<br />

Und was vollends die Nennung <strong>des</strong> Jahres 861 als Gründungsjahr der Stadt K<br />

und dann auch in zweiter Linie der Jakobskirche 2 ) betrifft, so scheint mir<br />

der vorsichtige DUrre mit seiner Verwerfung <strong>des</strong>selben <strong>das</strong> Richtige getroffen<br />

zu haben. Diese Jahreszahl, von der in den Quellen <strong>des</strong> XIII. Jahrh. noch<br />

nicht <strong>das</strong> Geringste bekannt ist, kann nur eine Erfindung der Chronisten <strong>des</strong><br />

XV. Jahrh. sein, bei denen sie sich zuerst findet. Nur, <strong>das</strong>s S. Jakob an sich<br />

eine sehr alte Gründung ist, darf man wohl der damals gültigen Überlieferung<br />

in <strong>Braunschweig</strong> entnehmen.<br />

111. Die neue Theorie von der Entstehung <strong>Braunschweig</strong>s. -<br />

Die Hil<strong>des</strong>heimer Heerstrasse.<br />

Wenn nun aber Hänselmanns Theorie von den Anfängen der Stadt <strong>Braunschweig</strong><br />

nicht mehr zu halten ist, so haben wir <strong>das</strong> Recht, uns nicht mit einem<br />

Verzicht auf jede neue Vermutung zu begnügen, sondern uns nach einer andern<br />

Theorie umzusehen, die dem, was wir heute über die Anfänge der deutschen<br />

Stadt im allgemeinen wissen, besser gerecht wird, als es Hänselmanns Ansicht<br />

vom Jahre 1868 vermag. Eine solche Theorie liegt aber vor in Rietschels<br />

bahnbrechenden und heute, trotz allen Ausstellungen im einzelnen, der Hauptsache<br />

nach von allen namhaften Forschern angenommenen Untersuchungen<br />

über die Marktansiedlungen <strong>des</strong> X. und XI. Jahrh. 5). Wir brauchen auf diesem<br />

1) Chron. Halberstad. ed. Schatz S. 9 Reimchronik MG. D. Chr. II S. 466 (nach der Fürstenchronik).<br />

") Wie der Turmknopf dieser Kirche erst bei einer Erneuerung <strong>des</strong> Sparrenwerkes<br />

im J. 1 I) 19 die deutsche und lateinische Angabe in sich aufgenommen hat, <strong>das</strong>s er (d. h.<br />

der Turml) 861 von Herzog Dankward (so die lateinische) oder von Herzog Bruno (so die<br />

deutsche Angabe) gegründet sei, so ist, wie schon die Verwendung der arabischen Zeichen<br />

beweist, an ihr der Stein mit der Jahreszahl 861 auch erst damals angebracht worden. Übrigens<br />

sieht der Turm selbst auf der Beckschen Darstellung so aus, als sei er frühstens im XI I. oder<br />

XIII. Jahrh. erbaut worden. Von einer Ausgrabung seiner Grundmauern kann ich mir <strong>für</strong> die<br />

ganze Frage nach seinem Alter nicht viel versprechen. B) Markt und Stadt in ihrem<br />

rechtlichen Verhältnis. Lei pzig 1897.<br />

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14 P. J. MEt ER<br />

Grunde nur weiter zu bauen, um zu einem einigermassen sicheren Ziele zu<br />

gelangen. Und damit greife ich auf meine Ausführungen von 1908 zu rUck,<br />

<strong>für</strong> die ich auch heute noch eintrete.<br />

Ich glaube also nach wie vor, <strong>das</strong>s Graf Ludolf um <strong>das</strong> Jahr 1030 auf der<br />

Stelle <strong>des</strong> Kohlmarktes und in seiner nächsten Umgebung eine Marktansiedlung<br />

mit einer besonderen Pfarrkirche zu S. Ulrich gegründet hat, und halte es<br />

weiter <strong>für</strong> wahrscheinlich, <strong>das</strong>s er den Übergang über die Oker und damit<br />

die Heerstrasse von Hil<strong>des</strong>heim nach Magdeburg in die unmittelbare Nähe<br />

seiner Burg Dankwarderode verlegt, einen Landungs- und Stapelplatz <strong>für</strong> die<br />

Okerschifffahrt weiter unterhalb angelegt und die südnördliche Heerstrasse<br />

von Frankfurt her dorthin geführt hat, so <strong>das</strong>s sie sich auf dem Kohlmarkt<br />

mit der westöstlichen Heerstrasse kreuzte. Ich muss es mir freilich versagen,<br />

<strong>das</strong> alles im einzelnen hier noch einmal vorzutragen. Aber ich kann doch an<br />

den Einwendungen, die gegen jene Aufstellungen erhoben worden sind, nicht<br />

vorbeigehen, ohne sie zu widerlegen.<br />

Eine besondere Rolle spielt in der ganzen Frage die Sonnenstrasse, die<br />

auf der Seite meiner Gegner nur als eine örtlich beschränkte gilt, während<br />

ich in ihr einen Teil der wichtigen Heerstrasse vom Rhein zur Eibe sehe, die<br />

zunächst von Hil<strong>des</strong>heim herkam. Zwar ist die Sonnenstrasse sehr eng; ihr<br />

aber allein <strong>des</strong>halb die Bedeutung einer Heerstrasse innerhalb der Stadtmauern<br />

abzusprechen, geht nicht an, weil die Südstrasse, der ehemalige Eingang fUr die<br />

Frankfurter Heerstrasse, sogar noch enger ist. Nun ist mir naturlich nicht unbekannt<br />

gewesen, <strong>das</strong>s die am meisten befahrene Strasse nach Hil<strong>des</strong>heim im spätem<br />

Mittelalter denselben Weg genommen hat, wie noch heute: Petritor, Cellerstrasse,<br />

Weisses Ross, Vechelde. Ich habe selbst auf die Urkunde von 1281,<br />

in der Bischof Siegfried einen 40tägigen Ablass zur Besserung <strong>des</strong> Dammes<br />

bei Vechelde, <strong>des</strong> pons longus, ausschreibt, und auf die I 3 I 3, I 340 und I 391<br />

in Vechelde abgehaltenen placita der Herzöge von <strong>Braunschweig</strong> und der Hil·<br />

<strong>des</strong>heimer Bischöfe hingewiesen 1 ). Aber <strong>das</strong>s die Strasse aus dem Hohentore<br />

ursprunglich eine grössere Bedeutung gehabt haben mus s, als ihr H. Meier<br />

und H. Mack zuschreiben, geht doch eigentlich schon daraus hervor, <strong>das</strong>s sie<br />

unmittelbar vor dem Tore gepflastert war und hier Steinweg hiess; gerade<br />

Hänselmann ist es gewesen, der darauf aufmerksam gemacht hatI). Dazu<br />

kommt, <strong>das</strong>s eben hier die Kapelle <strong>des</strong> hl. Geistes lag, in der noch 1405<br />

jeden Morgen, sobald <strong>das</strong> Stadttor geöffnet war, fUr die Wanderer (!) und<br />

Feldarbeiter Messe gelesen wurde S ).<br />

1) Bau- u. Kunstdenkmäler <strong>des</strong> <strong>Herzogtum</strong>s <strong>Braunschweig</strong> 11 303. - UB. Hochstift<br />

Hil<strong>des</strong>heim 11 302. ') Chroniken 11 S. XIV. 8) Dürre, Geschichte der Stadt<br />

<strong>Braunschweig</strong> S. ')48.<br />

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P. J. MEIER<br />

bestehende Strasse so lange zu benutzen als dies möglich war? Dann musste<br />

man etwa bei Lichtenberg nach links abbiegen und in nordöstlicher Richtung<br />

über Hallendorf, B1ekenstedt, Beddingen, Timmerlah <strong>Braunschweig</strong> zu erreichen<br />

suchen. Es ist bei der Feindschaft zwischen Stadt und Fürst auch<br />

ganz natürlich gewesen, <strong>das</strong>s sich der Kaufmann später dem Zwange zu entziehen<br />

suchte, der ihm auf der südlicheren Strasse durch die herzogliche Burg<br />

Lichtenberg drohte, und <strong>das</strong>s er sich eine nördlichere suchte. Schliesslich<br />

ist auch <strong>das</strong> Einmünden dieser letzten Strasse beim Weissen Rosse in die<br />

Celler Heerstrasse und die gemeinsame Einführung beider in <strong>das</strong> Haupttor<br />

der Stadt, <strong>das</strong> Petritor, von dem aus strahlenförmig eine grosse Anzahl von<br />

Strassen in die Altstadt wie in die Neustadt führen, ein deutlicher Hinweis<br />

darauf, <strong>das</strong>s diese nördlichere Heerstrasse von Hil<strong>des</strong>heim erst nach der An·<br />

lage <strong>des</strong> Tors und der Strassen in der Stadt so geführt wurde, wie es noch<br />

heute der Fall ist. Für die Zeit der Markt- oder meinetwegen der dörflichen<br />

Ansiedlung hätte diese Führung über Lehndorf und die Stelle <strong>des</strong> Weissen<br />

Rosses gar keinen Zweck gehabt, es hätte auch nicht <strong>das</strong> geringste im Wege<br />

gestanden, die Strasse etwa vom Raff turm aus über <strong>das</strong> Altfeld in gerader<br />

Linie auf <strong>das</strong> Hohetor hinzuführen. Ein <strong>für</strong> diese Dinge geschulter Blick<br />

sieht dies ohne weiteres, er sieht aber ebenso auch, <strong>das</strong>s die Führung der<br />

Sonnenstrasse von Anfang an <strong>für</strong> einen bedeutenden Verkehr angelegt gewesen<br />

sein muss. Übrigens hätte, wenn wirklich die Hil<strong>des</strong>heimer Strasse<br />

stets die Richtung Weisses Ross-Petritor-Breitestrasse gehabt hätte, eine<br />

Kreuzung derselben mit der Frankfurter Strasse auf alle Fälle auf dem Kohlmarkt<br />

stattfinden müssen.<br />

Meine Meinung geht also dahin, <strong>das</strong>s wir zwischen der ältesten Hil<strong>des</strong>heim<br />

er Heerstrasse über Ohrum und der späteren über Vechelde noch die<br />

mittlere über B1ekenstedt einzuschieben haben, die ja gar nicht vorausgesetzt zu<br />

werden braucht, sondern die wirklich bestanden hat. Wie ich dies in meinem<br />

kleinen Buch über <strong>Braunschweig</strong> 1 ) und oben kurz umrissen habe, nehme ich<br />

an, <strong>das</strong>s die Gründung der Marktansiedlung, die Anlage eines Stapelplatzes<br />

<strong>für</strong> den Endpunkt der Okerschifffahrt, die Verlegung <strong>des</strong> Überganges nach<br />

<strong>Braunschweig</strong> gleichzeitig stattgefunden haben und nur als verschiedene<br />

Äusserungen einer und derselben Handlung anzusehen sind.<br />

IV. Der alte Markt bei der Ulrichskirche.<br />

Sodann möchte ich mit einem Wort auch noch einmal auf die Bezeichnung<br />

<strong>des</strong> Kohlmarktes als Alter Markt zurückkommen, wenn ich hier auch nichts<br />

neues beibringen kann; aber Macks Vorwurf, <strong>das</strong>s ich mich hier eines circulus<br />

') In der Sammlung .Stätten der Kultup, Leipzig '9' o.<br />

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ANFANGE DER STADT BRAUNSCHWE1G 17<br />

vitiosus schuldig mache, darf nicht unwidersprochen bleiben. Ich habe auf<br />

der einen Seite zu zeigen gesucht, die Ulrichskirche könne ihrem ganzen<br />

baulichen Charakter nach nur eine Pfarrkirche von besonderer Art gewesen<br />

sein, wie sie einer Stadt oder einer Marktansiedlung zukomme, und<br />

schloss daraus, <strong>das</strong>s <strong>Braunschweig</strong> damals, d. h. um 1030 entweder <strong>das</strong> eine<br />

oder <strong>das</strong> andere gewesen sei. Ich machte mir zugleich Siegfried Rietschels Beweisführung<br />

zu eigen, <strong>das</strong>s - bis auf ganz wenig Ausnahmen, die aber<br />

immer erst besonders durch Beweis festzustellen seien 1 ) - Städte in unserer X'<br />

Gegend vor dem XII. Jahrh. nicht bestanden hätten, sondern <strong>das</strong>s man sich<br />

damals mit Marktansiedlungen begnügt hätte, und entschied mich also bei<br />

<strong>Braunschweig</strong> fUr eine Marktansiedlung. Auf der andern Seite zog ich<br />

aus der Bezeichnung <strong>des</strong> Kohlmarktes als older market den Schluss, <strong>das</strong>s<br />

dieser, d. h. der Platz, auf dem die U1richskirche gelegen ist, der älteste<br />

Markt, also der Markt der brunonischen Ansiedlung gewesen sei. Es sind<br />

demnach zwei ganz selbständige Beweise, die freilich beide zu demselben<br />

Ergebnis führen und sich <strong>des</strong>halb gegenseitig stützen. Ist denn <strong>das</strong> aber ein<br />

circulus vitiosus? Dagegen könnte ein Leser durch die Behauptung Macks,<br />

die sich gegenseitig ausschliessenden Bezeichnungen <strong>des</strong> AItstadt- und <strong>des</strong><br />

Kohlmarktes als Alter Markt ständen in derselben Quelle, leicht irregeführt<br />

werden. Gewiss, beide sind im Degedingsbuche der Altstadt verzeichnet;<br />

aber die eine Angabe ist zum Jahre 1306 (lateinisch), die andere 1339, also<br />

ein volles Menschenalter später (deutsch) gebucht! Und Mack hat weiter<br />

Unrecht mit der Behauptung, die Ulrichskirche hätte mitten auf dem Kohlmarkte<br />

gelegen! Er brauchte nur die Zeichnung Knolls von den Fundamenten<br />

<strong>des</strong> Baues im Stadtarchiv anzusehen, um sich zu sagen, <strong>das</strong>s sie stark genug<br />

nach Süden zu gerückt war, um im Norden <strong>für</strong> die einfachen Marktverhältnisse<br />

jener alten Zeit genügend Raum zu lassen 2 ). Und dieser Platz im<br />

Norden der Kirche ist doch, auch bevor die Beseitigung der Kirche ihn vergrösserte,<br />

tatsäch li ch als Markt, wenn auch nur <strong>für</strong> Kohlen, benutzt worden.<br />

v. Der Stadtplan von <strong>Braunschweig</strong> und verwandte Stadtpläne.<br />

Einen besondern Wert lege ich natürlich auf den Stadtplan von <strong>Braunschweig</strong>,<br />

<strong>des</strong>sen Strassenzüge mir zuerst die Vermutung nahe legten, es sei<br />

hier eine planmässige Anlage zu erkennen.<br />

Inbezug auf die Grundrissbildung der Altstadt und der Neustadt hatte ich<br />

bereits auf einige andere Pläne hingewiesen, die mir nach demselben Grund-<br />

') Inzwischen bin ich zu dem Ergebnis gelangt, <strong>das</strong>s selbst diese wenigen Ausnahmen in<br />

Wirklichkeit nicht zu Recht bestehen; s. S. 23 und Abschnitt XII. ") V gl. auch den<br />

Stadtplan um 1400 im UB. Ill.<br />

llraunschw. <strong>Jahrbuch</strong> Xl. .2<br />

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2. N ü r nb erg, Lorenzer Seite.<br />

Tafel I.<br />

I a. Helmstedter Ludgerus-Pfennig. I b. Magdeburger Moritzpfennig.<br />

3. Bern.<br />

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ANFÄNGE DER STADT BRAUNSCHWEIG 19<br />

Auch in Goslar l ) (Taf. I 3), wo wir die Anfänge einer wirklichen Stadt be·<br />

reits im J. I 108 festlegen können 2 ), liegt eine ähnliche Grundrissbildung vor.<br />

Man erkennt hier freilich zunächst den mannigfach gewundenen Lauf der<br />

alten Heerstrassen vom Viti- und vom Klaustor her, d. h. der von Hil<strong>des</strong>heim<br />

nach Halberstadt und der vom Harz her, die sich dann bei der Marktkirche<br />

treffen und die man ruhig beibehalten hat, bemerkt aber in der Bäcker·,<br />

Breiten- und Kornstrasse wieder drei Längsstrassen, die am Breiten Tor im<br />

Osten zusammenlaufen und durch zahlreiche schmale Quergässchen durchschnitten<br />

werden; diese sind aber weder immer regelmässig gestaltet noch<br />

laufen sie - ausser der doppelten Querstrasse vom Rosentor (also von <strong>Braunschweig</strong><br />

her) nach dem Dome und der Kaiserpfalz - ebenförmig quer durch<br />

die drei Häuserblocks durch, sondern sind in der Regel nur fUr je einen<br />

Block bestimmt. Ganz <strong>für</strong> sich steht in Goslar die Anlage der Stadt westlich<br />

und östlich von der Jakobikirche. Hier laufen die zwei Züge Friesen-Schiller-<br />

nung und einern Schnitter <strong>für</strong> einen<br />

Tag in der Ernte nicht ein Wortzins zu sein; denn wenn Rietschel selbst mit Recht, wie mir<br />

scheint, den Burggrafen von Nürnberg zu den Burggrafen der obersächsischen Marken stellt,<br />

so erinnert die Vereinigung von Wachgetreide und drittem Pfennig, die den dortigen Burggrafen<br />

zu entrichten sind, so stark an die Abgabe in Nürnberg, <strong>das</strong>s man gut tut, diese ebenso<br />

zu deuten, wie es in bezug auf die obersächsische Abgabe Rietschel selbst «Burggrafenamt.<br />

S. 238 vorschlägt, d. h. als Zahlung an den Burggrafen in seiner Eigenschaft als Burgkommandant<br />

und Richter.<br />

1) Dort m und, <strong>das</strong> im übrigen geringere Regelmässigkeit zeigt, besitzt doch wenigstens<br />

<strong>das</strong> Nebeneinander verschiedener Längsstrassen, die sich in der Nähe <strong>des</strong> Westentors vereinigen.<br />

2) UB. Goslar I Nr. 152. Bischof Udo von Hil<strong>des</strong>heim bekundet, quia - eeelesiae<br />

S. Petri Frankenbere omnes fines ville Goslariensis oceidentales a plateis, quae dicuntur Ber·<br />

ningi, Werenheri, Gezmanni usque ad regis eapellam et S. Marie et ad termin um predietae b.<br />

Pe tri eeelesiae cum universis, que in his partibus lIostri episeopalis juris et potestatis su1I1 vel<br />

esse poterulIt, videlieet jura baptizandi, illfirmos visitandi, oleo ungendi, sepeliendi eeteraque eeclesiastieae<br />

curae attinentia - donavimus. Ich kann mir den Vorgang nur unter der Annahme<br />

erklären, <strong>das</strong>s die Ansiedlung der freien Bprgleute auf dem nach ihnen genannten Frankenberg<br />

und die Marktansiedlung bei SS. Cosmas und Oamian bereits in einander geflossen waren, .<br />

d. h. <strong>das</strong>s die Bildung der Stadt bereits in Angriff genommen war. Die Bahringstrasse ist<br />

noch heute vorhanden, sie bildet noch immer die Grenze der Pfarrsprengel der bei den genannten<br />

Kirchen.<br />

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20 P. J. MEIER<br />

Petersilienstrasse und Block -Jakobistrasse der bereits genannten Bäckerstrasse<br />

(nebst ihrer westlichen Fortsetzung, der Frankenberger Strasse)<br />

genau parallel und schliessen sehr schmale Häuserblocks ein, die - abgesehen<br />

von der Heerstrasse vom Vi ti- und Rosentor her - wieder nur durch<br />

schmale Quergässchen, dann aber in der Regel nur jeder fUr sich, unterbrochen<br />

werden. Dass hier eine ganz regelmässige, planvolle Anlage vorliegt,<br />

ist gar nicht zu bezweifeln. Rechnen wir die Quergässchen nicht mit, so beträgt<br />

die Länge der Häuserinsein bis 370 m, die der gar ni c h tunterbrochenen<br />

zwischen Bleek- und Frankenberger-Strasse doch wenigstens 270 m.<br />

Bei der Lorenzer Seite von N ürnberg und bei Goslar lässt sich die planmässige<br />

Bildung nur wahrscheinlich machen, bei zwei andern Städten aber<br />

ist die beabsichtigte Gründung durch, den Grundherrn urkundlich bezeugt.<br />

Harn m i. W. (Taf. 11 I), durch Graf Adolf von Altena im J. 1213 gegrUndet,<br />

wird von einer Längsstrasse durchzogen, die vom Oster- zum Westertor<br />

ziemlich geradlinig durch läuft, aber auch von einer Querstrasse geschnitten,<br />

die im Nordertor eintritt, zweimal rechtwinklig bricht, um den Markt<br />

bei der Hauptpfarrkirche zu S. Lorenz zu erreichen, und beim Südertor<br />

wieder austritt. Die weitere Auf teilung der Stadt geschieht durch Ritter­<br />

BrUderstrasse, KI. West-Widumstrasse, z. T. auch durch die Nassauer Strasse,<br />

die der Gr. West-Oststrasse parallel laufen und schmale rechteckige Häuserblocks<br />

einschliessen, welche aber, unmittelbar bevor sie an <strong>das</strong> Westertor<br />

kommen, sich einander spitzwinklig zuneigen. Da wir auch sonst sehen,<br />

<strong>das</strong>s im Laufe der Zeit die Regelmässigkeit der Stadtpläne zunimmt, so kann<br />

es uns nicht wundern, <strong>das</strong>s bei einer Stadt <strong>des</strong> XIII. Jahrh. die Querteilung<br />

der Häuserblocks durch Gassen erfolgt, die zwar auch hier nur ganz eng sind<br />

und ausschliesslich dem Verkehr von einer Längsstrasse zur andern dienen,<br />

die aber geradlinig und meist auch quer durch laufen.<br />

Noch näher aber an den Plan von <strong>Braunschweig</strong> rückt der von Bern<br />

(Taf. 11 2), den ich nach der Aufnahme Sinners und dem Stich Eichlers von<br />

1790 wiedergebe, und der in allem wesentlichen mit der neusten Aufnahme<br />

von 18961) stimmt.<br />

Bern liegt auf einer schmalen, von der Aar auf drei Seiten umflossenen<br />

Halbinsel, die nach dem Flusse zu schroff abfällt. Wir können noch heute<br />

ganz genau den Umfang der ältesten Stadt, wie deren doppelte Erweiterung<br />

nach Westen hin feststellen. In der ältesten Stadt nun laufen drei sehr<br />

lang ausgestreckte Strassen neben einander her, die unmittelbar, bevor sie<br />

<strong>das</strong> Osttor an der Spitze der Halbinsel erreichen, sich einander zuneigen, wie<br />

J) Seide sind abgebildet in dem Prachtwerke von Türler: Sero, Bilder aus Vergangenheit<br />

und Gegenwart.<br />

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ANFÄNGE DER STADT BRAUNSCHWEIG 2 I<br />

wir dies schon wiederholt bei den anderen Stadtplänen gesehen haben. Die<br />

Strassen, wie die von ihnen eingeschlossenen Häuserinsein, schmiegen sich der<br />

leichten Biegung <strong>des</strong> BergrUckens an, sind aber sonst von grosser Regelmässigkeit.<br />

Von höchstem Interesse ist es nun, <strong>das</strong>s wir hier, von den drei<br />

Längsstrassen eingefasst, ungewöhnlich lange und schmale Häuserblocks<br />

haben, die nur in der Mitte ihrer Länge von einer wirklichen Strasse abgeteilt<br />

werden, der nach dem Marktkreuz genannten Kreuzgasse, im Ubrigen<br />

aber den Verkehr von einer der Längsstrassen zur andern nur durch ganz<br />

schmale Gässchen gestatten, die vollkommen unsren Tweten entsprechen.<br />

Nehmen wir nun die Kreuzgasse als wirkliche Strasse und rechnen die<br />

Zwischengässchen nicht mit, so haben in Bern die vier Häuserblocks, die so<br />

entstehen, die Länge von 300 m, bleiben also hinter dem längsten Häuserblock<br />

in <strong>Braunschweig</strong>, dem zwischen Scharmstrasse und Guldenstrasse, der<br />

,35m misst, nicht weit zurUck. Was man von den Tweten in <strong>Braunschweig</strong><br />

behaupten könnte, <strong>das</strong>s sie eigentlich mehr Verbindungsgässchen privater Art<br />

seien, gilt ebenso auch fUr Bern. Man wird hier kaum mit der Ansicht fehl<br />

greifen, <strong>das</strong>s der Grundherr oft nur die hauptsächlichen Strassen, die dem<br />

grossen öffentlichen Verkehr dienten, anlegte, jene Verbindungsgässchen aber<br />

der Entscheidung der Anwohner tiberliess. Denn, was fUr <strong>Braunschweig</strong>­<br />

Altstadt und ·Neustadt erst bewiesen werden muss, <strong>das</strong> steht far Bern fest.<br />

Die Stadt ist im J. I 191 durch Herzog Berthold von Zähringen gegrUndet<br />

und planmässig angelegt worden.<br />

Aber inbezug auf die langen Häuserblocks in unsrer Altstadt und Neustadt<br />

1 ), die nur durch Tweten unterbrochen werden, gibt es kein schlagenderes<br />

Beispiel, als - den <strong>Braunschweig</strong>er Hagen. Die Häuserblocks zwischen<br />

der Wilhelm- und der Schöppenstedterstrasse, sowie zwischen dieser letzten<br />

und der Mauernstrasse, die nur von der schmalen Abelnkarre (der Abelen<br />

kerve) bezw. der GUldenklinke geschnitten werden, messen bis 340 m Länge,<br />

der zwischen Wenden· und Wilhelmstrasse (mit der Bockstwete) wenigstens<br />

300 m. Zudem lässt sich auch hier <strong>das</strong> parallele Nebeneinanderlaufen und<br />

<strong>das</strong> Sichzuneigen am Tore bei der Wenden- und der Wilhelmstrasse, <strong>das</strong> uns<br />

fUr die Strassenbildung in Altstadt und Neustadt so bezeichnend erschien,<br />

feststellen. Der Hagen aber ist nicht zufällig entstanden, sondern durch<br />

Heinrich d. L. planmässig gegrundet worden. Damit aber fallen die Bedenken,<br />

die gegen die Planmässigkeit der langen, kaum einmal durch eine<br />

Twete unterbrochenen Häuserblocks in Altstadt und Neustadt geäussert sind.<br />

I) Übrigens behauptet Hänselmann selbst (Harzztschr. IX 269 = Werkstücke I 284), <strong>das</strong>s<br />

die Neustadt planmässig angelegt sei.<br />

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22 P. J. MEIER<br />

VI. Die Ulrichskirche.<br />

Mit wenig Worten wiederum möchte ich auf Macks Aufsatz im Braunschw.<br />

Magazin 19°9 S. 127 ff. zurückkommen. In sehr dankenswerter Weise veröffentlicht<br />

der Verfasser hier seinen erfreulichen Fund, die Vorlage <strong>für</strong> Sacks<br />

Abbildung <strong>des</strong> Hägener Rathauses im Braunschw. Kalender <strong>für</strong> 1862, und<br />

legt die Veränderungen dar, denen sich A. A. Becks Originalzeichnung bei<br />

ihrer Wiedergabe durch Sack unterziehen musste. In<strong>des</strong>sen hat sich doch<br />

niemand, der sich je mit Sacks Arbeiten befasste, verhehlt, <strong>das</strong>s hier stets<br />

grosse Vorsicht geboten sei, und Verwunderung konnte es eigentlich nicht<br />

erregen, <strong>das</strong>s im Falle <strong>des</strong> Hägener Rathauses sein ganzes unkritisches Verfahren<br />

einmal klar gelegt wurde. So würde ich mich auch bei der Abbildung<br />

der Ulrichskirche über Wi 11 kür li c h k e i t e n Sacks nicht wundern. Aber hier<br />

liegt die Sache doch so, <strong>das</strong>s der Holzschnitt, bei allen seinen Fehlern im einzelnen,<br />

die Kirche im allgemeinen so wiedergibt, wie wir sie uns mit den<br />

heutigen Mitteln der Wissenschaft denken müssen, wie sie aber Sack sich<br />

unmöglich denken konnte. Musste in dem einen Falle der Man ge I an Treue<br />

auffallen, so in dem an dem - ich möchte fast sagen - ein Ü berfi uss an<br />

Treue. Und auch <strong>das</strong> Hägener Rathaus beweist, wie Sack keineswegs ein<br />

reines Phantasiebild geben wollte oder auch überhaupt geben konnte und<br />

wie er sich an ältere Vorlagen hielt, ohne sie doch vor willkürlichen Änderungen<br />

zu bewahren. Man muss schliesslich auch bedenken, <strong>das</strong>s Sack <strong>das</strong><br />

Interesse, <strong>das</strong> wir jetzt an der Ulrichskirche nehmen, gar nicht haben konnte;<br />

eine alte Abbildung von ihr zu wiederholen, lag ihm nahe, eine neue zu erfinden,<br />

hatte er gar keine Veranlassung.<br />

VII. <strong>Braunschweig</strong> als Stadt nicht vor dem XII. Jahrhundert.<br />

Es ist schwer festzustellen, worin meine Gegner, die meist gemeinsam auf<br />

dem Kampfplatz erscheinen, unter sich U be r ein s tim m e n, und worin sie<br />

ihre eignen Wege gehen, und ebensowenig bin ich mir wenigstens bei H.<br />

Mack klar, welches denn eigentlich posi ti v seine Ansicht über die Anfänge<br />

unsrer Stadt ist, oder ob er wirklich glaubt, <strong>das</strong>s die Überlieferung zu dürftig<br />

sei, als <strong>das</strong>s man auch nur vermutungsweise eine Kombination versuchen<br />

dUrfte. Immerhin glaubt Mack, wie auch H. Meier, <strong>Braunschweig</strong> könne sehr<br />

wohl schon im XI. Jahrh. eine Stad t gewesen sein, wenn auch eine aus<br />

wilder Wurzel entstandene, und da Rietschel selbst ausführt, <strong>das</strong>s auch ausser<br />

den in römischer Zeit entstandenen Städten im Rhein- und Donaugebiet einige<br />

wenige in Deutschland bereits vor dem XII. Jahrh. anzuerkennen, ja <strong>das</strong>s<br />

gerade diese ohne Gründung, ganz von selbst entstanden seien, so liegt es<br />

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ANFÄNGE DER STADT BRAUNSCHWEIG 23<br />

allerdings nahe, zu fragen, warum denn <strong>das</strong> nicht auch bei <strong>Braunschweig</strong><br />

der Fall sein könnte.<br />

In<strong>des</strong>sen, da es sich hier nur um Ausnahmen handelt, so müsste doch irgend<br />

ein Beweisgrund da<strong>für</strong> angeführt werden, der auch <strong>für</strong> <strong>Braunschweig</strong><br />

eine solche zuliesse, und darnach sieht man sich vergebens um. K<br />

Selbst Hänselmann hat, soviel ich sehe, niemals davon gesprochen, <strong>das</strong>s die<br />

Stadt <strong>Braunschweig</strong> so hoch hinaufzusetzen sei. Nun haben aber inzwischen<br />

Keussen und J. Hansen in Köln l ) den Nachweis geliefert, <strong>das</strong>s die bei den<br />

bedeutendsten deutschen Städte, die römischen Ursprungs sind, Regensburg<br />

und Köln, eine Entwicklung genommen haben, die auf die ganze Frage ein<br />

vollkommen neues Licht wirft und auch <strong>für</strong> <strong>Braunschweig</strong> sehr lehrreich ist.<br />

Auch Rietschel hatte bisher angenommen, <strong>das</strong>s die ehemaligen Römerstädte<br />

in Deutschland nie aufgehört hätten, städtischen Charakter zu besitzen, und<br />

<strong>das</strong>s hier die eigentlich mittelalterliche Stadt sich ganz von selbst und ohne<br />

<strong>das</strong> sonst auftretende Mittelglied einer Marktansiedlung herausgebildet hätte.<br />

Das ist nun aber nicht der Fall gewesen, vielmehr lässt sich <strong>für</strong> die genannten<br />

Städte der Nachweis führen, <strong>für</strong> Mainz die Vermutung aufstellen und daraus<br />

<strong>für</strong> alle die übrigen ehemaligen Römerstädte die Folgerung ziehen, <strong>das</strong>s die<br />

Entwicklung zur Stadt auch hier sich der Marktansiedlung bedient hat 2 ).<br />

In Regensburg ist um 900 ausserhalb der römischen Stadtmauer im Westen<br />

und auf angeschattetem Platz am Ufer der Donau im Norden eine rein kaufmännische<br />

Marktansiedlung gegründet und um 920 befestigt worden, und die<br />

Ortsbeschreibung aus der Mitte <strong>des</strong> XI. Jahrh. 3 ) zeigt uns, <strong>das</strong>s die Verhältnisse<br />

<strong>des</strong> X. Jahrh. auch im XI. noch fortbestanden. In der alten Römerstadt,<br />

der urbs vetus, lagen im nördlichen Teil, dem pagus regius, die Paläste far<br />

König und Herzog, der Bischofshof und der Dom, im südlichen Kirchen und<br />

Klöster, dann aber auch die Häuser einiger Kaufleute (pagus cleri, aliquibus<br />

mercatoribus intermixtis), die nova urbs aber war der pagus me rcatorum.<br />

Ähnlich ist in Köln kurz nach 900 der schmale Landstreifen zwischen der<br />

römischen Mauer und dem Rhein, der auch erst durch Aufschüttungen künstlich<br />

geschaffen werden musste 4 ), <strong>für</strong> eine rein kaufmännische Marktansiedlung<br />

vorgesehen und um 940 mit einer Befestigung ausgestattet worden 6 ). Ähn-<br />

1) Topographie der Stadt Köln I ,6- ff. Mitteilungen <strong>des</strong> Rheinischen Vereins f. Denkmalpflege<br />

u. Heimatschutz V 7 ff. 2) Weiteres s. Abschnitt XII. ") MG. SS. XI 3'53 f.; vgl. auch<br />

Rietschel im Neuen Archiv d. Gesellschaft f. ältere deutsche Geschichtskunde XXIX 643 ff.<br />

4) Genau <strong>das</strong>selbe geschah in Mainz durch Erzbischof Hatto (891-913), nach dem casus s.<br />

Ga/li, MG. SS. Il 83. b) Diese bestand aus Wall und Graben, der alten germanischen Befestigungsweise,<br />

und aus je einem festen Turm an der NO- und SO-I


24<br />

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P. J. MEIER<br />

lich, wie in Regensburg, lagen auch in Köln die Paläste <strong>für</strong> König und Bischof,<br />

der Dom und die Sitze der höheren Beamten in dem dem Flusse zugekehrten<br />

Teil der Römerstadt, der «Burg», während der andere Teil mit Kirchen,<br />

Lehnshöfen, Bauerhöfen und einzelnen Niederlassungen von Gewerbe- und<br />

Handeltreibenden, vor allem aber mit den Wohnungen der Hörigen besetzt<br />

war.<br />

Erst als im Jahre 1106 auf Veranlassung Heinrichs IV. die Vororte Oversburg<br />

im Süden, Niederich im Norden und <strong>das</strong> Gebiet um <strong>das</strong> Apostelstift im<br />

Westen durch eine neue, wieder aus Wall, Graben und Torburgen bestehende<br />

Befestigung mit in die Stadt gezogen wurden, erfolgte die Mischung aller der<br />

vordem getrennten Bevölkerungselemente; erwuchs aus der Römerstadt,<br />

der Marktansiedlung und den Vororten eine einheitliche Stadtgemeinde. Die<br />

mit dem Bau einer mächtigen Mauer verbundene nochmalige Stadterweiterung<br />

von I 180 hat an diesem Wesen der Stadt von 1106 nichts geändert, und<br />

<strong>das</strong> Köln von I 106 darf als die erste mittelalterliche Stadt in Deutschland<br />

gelten, der sich dann 1108 Goslar, wenige Jahre später Mainz, Speier, Worms<br />

und Strassburg anschlossen 1). Und <strong>das</strong> darf angesichts dieser Verhältnisse gesagt<br />

werden: wenn schon diese Städte <strong>des</strong> ehemaligen Römergebietes, die stets<br />

die alte römische Mauer behalten und kaufmännisches Wesen nie ganz verloren<br />

hatten, erst im Anfang <strong>des</strong> XII. Jahrh. zu dem erwuchsen, was wir<br />

unter einer Stadt verstehen, so scheint mir die Annahme, <strong>das</strong>s es im ausserrömischen<br />

Deutschland schon früher mittelalterliche Städte gegeben habe,<br />

ganz ausgeschlossen zu sein. Inbezug auf Würzburg und Bardowiek liegt<br />

nur eine Vermutung vor, die sich jetzt kaum noch aufrecht erhalten lässt, der<br />

Bau einer Mauer in Magdeburg durch Otto m., die fUr städtisches Wesen<br />

hier als Beweis angesehen wurde, hat sicher nur fUr die Domburg gegolten,<br />

und genau <strong>das</strong>selbe ist der Fall, wie ich jetzt annehmen muss, bei der AItstadt-Hamburg.<br />

Dürfen wir aber, wie ich schon seit Jahren Rietschel gegenüber<br />

brieflich behauptet habe, wie jetzt auch zu meiner Freude Hansen andeutet,<br />

<strong>das</strong> eigentliche Merkmal einer deutschen Stadt <strong>des</strong> Mittelalters in der<br />

«bürgerlichen, sozialen und rechtlichen Gemeinschaft» der früher getrennten<br />

Stände erkennen, so hat eben Köln im Jahre I 106 als frühestes Beispiel<br />

einer solchen zu gelten, und es fehlt uns schlechterdings je<strong>des</strong> Recht, mit<br />

<strong>Braunschweig</strong> eine Ausnahme zu machen. Dagegen möchte ich zur Erwägung<br />

haben; <strong>für</strong> solche würde man kaum ein so bedeuten<strong>des</strong> Werk, wie die Erhöhung <strong>des</strong> Rheinufers,<br />

unternommen haben. Als I 106 die Scheidewände zwischen den Stadtteilen fielen, sind<br />

die Kaufleute aus der Rheinvorstadt allmählich in die Altstadt übergesiedelt, und es folgte ihnen<br />

dann in die Vorstadt <strong>das</strong> unruhige Volk der wandernden Kaufleute.<br />

1) Siehe Abschnitt XII.<br />

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ANFÄNGE DER STADT BRAUNSCHWEIG<br />

stellen, ob <strong>das</strong> Vorkommen Ludolfs von Dalem als advocatus de Brunswic<br />

unter den Zeugen einer Urkunde von I I 30 I 3/X1 (UB. Drübeck S. 9 = UB.<br />

Stadt <strong>Braunschweig</strong> II Nr. 4) nicht <strong>das</strong> damalige Bestehen der Stadt, natürlich<br />

mit Beschränkung auf die Altstadt, anzeigt. Der Vogt ist wenigstens<br />

später der herzogliche Oberrichter über die Gesamtstadt; es ist aber sehr die<br />

Frage, ob schon die Marktansiedlung aus dem Landgericht eximiert war. Ist<br />

dies richtig, dann haben wir in Kaiser Lothar den Gründer der S ta d t Braun- A<br />

schweig zu erkennen.<br />

VIII. Die Stadtmauer von <strong>Braunschweig</strong>.<br />

Nun hat inzwischen H. Meier in seinem Aufsatze über <strong>Braunschweig</strong>s äl·<br />

teste Befestigung 1 ) zu der Streitfrage nochmals Stellung genommen. Gegen<br />

die Führung der Stadtmauer, wie er sie S. 18 darstellt, namentlich <strong>des</strong> Knicks<br />

beim Petritor 2 ) und <strong>des</strong> beim Südmühlentor, ist nichts einzuwenden. Aber<br />

ich muss gestehen, <strong>das</strong>s ich noch nie einen Stadtgrundriss <strong>des</strong> Mittelalters gesehen<br />

habe, der an der äussersten Peripherie einen so breiten freien Raum f..<br />

liess, wie er hier angenommen wird. Ich könnte ja insofern damit einverstanden<br />

sein, als nun auch der Häuserblock zwischen Radeklint und Bäckerklint<br />

fällt, <strong>des</strong>sen späte Ansetzung durch mich Widerspruch gefunden hatte.<br />

Aber während bei einer lanzettförmigen Bildung <strong>des</strong> Stadtumrisses und der<br />

dadurch immer mehr sich steigernden Schmalheit der Inseln in der Nähe <strong>des</strong><br />

Tores ohne weiteres ein freier Platz sich bildet und dieser erst später, wenn<br />

sich der Raum in der Stadt als zu eng erweist, meist mit Grundstücken ohne<br />

Höfe besetzt wird, hat man sich nicht gescheut, entweder unmittelbar an<br />

der Mauer entlang eine schmale Strasse zu führen, die nur auf der innern<br />

Seite mit Häusern besetzt ist (wie es z. B. in Nürnberg, in Reval, die ich<br />

willkürlich herausgreife, und oft genug sonst der Fall ist), oder die letzte<br />

Strasse auch an der äussern Seite mit Grundstücken zu besetzen, die nun<br />

mit ihren Höfen und Gärten bis zur Stadtmauer reichen. Die Urkunden belehren<br />

uns nun <strong>des</strong> öfteren, wie sich die Stadt den freien Zugang zur Mauer<br />

trotzdem sicherte. Als z. B. in Hameln 1418 den v. Eddingerode der am<br />

Neuen Markt dort zwischen dem Amelungsborner und dem Marienfelder<br />

Hofe gelegene Hof vom Rat schossfrei zur Gründung eines Hospitals überlassen<br />

wird, wird nur gefordert, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Gebäude sechs Fuss von der<br />

Mauer entfernt bleiben sollS). In Hannover bekundet der Rat im Jahre 1308,<br />

') Braunschw. Magazin '9" S. ''i ff. ') Ich habe die frühere Ansicht, <strong>das</strong>s die strahlenförmige<br />

Führung der von dort ausgehenden Strassen der Alt- wie der Neustadt ein h e i tl ich<br />

entstanden seien, längst aufgegeben, die der Neustadt sind erst später angelegt worden.<br />

") UB. Stadt Hameln II Nr. 72.<br />

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P. J. MEIER<br />

quod, eum propter varia ac fortuita vite rerumque perieula municiones civitatis<br />

nostre firmare et emendare eonaremur, decrevimus per areas plurimorum<br />

conburgensium nostrorum murum civitatis contingentes viam iuxta murorum<br />

ambitum propter vigilias aperiri, und <strong>das</strong> Kloster Marienrode gibt dazu erst<br />

seine Einwilligung, nachdem ihm Befreiung von allerlei Lasten und Abgaben<br />

zuerkannt ist l ). Im Jahre 1320 ferner gestattet der Rat der Stadt Hannover<br />

dem Kloster Loccum, quod in muro civitatis nostre, quem (nebst Abtritt) edificabunt,<br />

domum unam .... construant, ... ita tamen, quod prope murum<br />

cives nostri viam suam habeant, sicut prius, et quod in summitate ipsius muri<br />

super fenestras superiores et extra tectum spacium meabile et foris accessibile<br />

relinquant et illud munitione una lapidea, que borstwere dicitur, ad longitudinem<br />

domus pro defensione civitatis faciant, et quod ipsa domus pro eadem<br />

defensione aperiatur, cum hoc visum fuerit oportere 2 ).<br />

Dass dies Hannoversche Beispiel aber einfach typisch ist, lehrt ein völlig<br />

übereinstimmender Vorgang in Stralsund. Die nördlichste Spitze der Stadt<br />

nimmt <strong>das</strong> Franziskaner-Kloster S. Johannis ein. Da die ursprüngliche Wallund<br />

Plankenbefestigung der 1240 an ihrer jetzigen Stelle gegründeten Stadt,<br />

wie wir noch sehen werden, an der in ne rn Seite der heutigen Schillerstrasse<br />

entlang lief, muss <strong>das</strong> Kloster zuerst ausserhalb <strong>des</strong> Walles gelegen<br />

haben. Als man nun (seit 1273) die erste feste Stadtmauer aus Ziegeln aufzuführen<br />

begann, verpflichtete sich <strong>das</strong> Kloster I 274 3 ), einen bestimmten<br />

Teil der neuen Mauer, offenbar den auf seinem Grund und Boden laufenden,<br />

auf seine Kosten zu erbauen; würde sich <strong>das</strong> Kloster später dieser Verpflichtung<br />

entziehen, so sollte spatium illud, quod est inter plancas (<strong>das</strong> ist<br />

<strong>das</strong> alte Plankenwerk) et murum inceptum, in den Niessbrauch <strong>des</strong> Rates<br />

übergehen (eederet ad usum eonsulum), andernfalls natürlich im Besitz <strong>des</strong><br />

Klosters verbleiben_ Offenbar ist dieser letzte Fall eingetreten, denn eine<br />

zweite Urkunde (a. a. O. Nr. CCXCIX) von 1302 besagt, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Kloster<br />

mit dem Rate über den Bau cuiusdam necessaril extra muros überein gekommen<br />

wäre. Nos - sagt <strong>das</strong> Kloster - construere debemus necessarium<br />

cum duabus habitationibus, quarum inferiorem ad nostrum usum debemus<br />

libere observare, eonsules autem superiorem habitationem, quam cum gradu<br />

et hostio bene servato faciemus ad usus civitatis, tibere ad usus, quoscunque<br />

voluerint, observabunt.<br />

In Worms gestattet der Rat 1296 (UB. I 472), ut murum domus site in<br />

antiquo foro pecudum civitatis nostre ... possit ponere et fundare super murum<br />

civitatis, nur wird der tiber transitus superius per domum ausbedungen')_<br />

1) UB. Stadt Hannover Nr. 93- ') UB. Stadt Hannover Nr. 136. ") UB. z.<br />

Geschichte d_ Fürstentums Rügen II Nr_ eXIl. ') Weitere Beispiele <strong>für</strong> Köln im<br />

X 11 I. J ahrh. bringt Rietschel, Burggrafenamt S. 149, 1 bei.<br />

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ANFÄNGE DER STADT BRAUNSCHWEIG 27<br />

Man sieht also, einen wie bescheidenen Raum man noch im XIII. und<br />

XIV. Jahrh. beanspruchte, um die Mauer zur Verteidigung frei zu machen.<br />

Zudem lagen doch, um auf <strong>Braunschweig</strong> wieder zuruckzukommen, die Vorwerke,<br />

die H. Meier nach Hänselmanns Vorgang <strong>für</strong> uralt hält, gerade an<br />

der Aussenseite der Echtem- und Südstrasse, unterbrachen also den geforderten<br />

freien Raum j es hätte ja schliesslich auch, wenn dies nötig war, die Stadtmauer<br />

um so viel weiter ausholen können, als die Lage der Vorwerke und<br />

der freie Raum an der Mauer entlang forderte. Demnach setzt sich H.<br />

Meiers ältester Plan der Altstadt mit seiner eigenen Meinung ebenso in Widerspruch,<br />

wie mit der meinigen, ganz davon zu schweigen, <strong>das</strong>s eine mittelalterliche<br />

Stadtmauer mit Wehrgang die Anwendung von Artillerie von ihr<br />

aus unmöglich machte und auf die TUrme beschränkte.<br />

IX •. Ohlendorfs Ansicht über die Anfänge <strong>Braunschweig</strong>s.<br />

Ich muss auch noch auf Ohlendorfs AusfUhrungen in seiner Schrift über<br />

den Ursprung <strong>des</strong> niedersächsischen Patriziates zuruckkommen. Zwar scheint<br />

mir <strong>das</strong> Hauptergebnis seiner Arbeit wohl <strong>das</strong> Richtige zu treffen. Das<br />

Patriziat der Zeit vor etwa 1290 besteht wenigstens zum grossen Teil<br />

aus den vom Lande in die Stadt ziehenden Herren, die im wesentlichen<br />

gleichen Stan<strong>des</strong> mit den Ministerialen waren, die die Beziehungen zu<br />

diesen weiter pflegten und auch in der Stadt, wie wir sahen, nicht aufhörten,<br />

Ackerwirtschaft zu treiben. Mit Recht hat der Verfasser auch betont, <strong>das</strong>s<br />

bei diesen Untersuchungen die verschiedenen zeitlichen Perioden streng zu<br />

scheiden wären, <strong>das</strong>s eine Aufstellung, die fUr die Zeit um 15°0 berechtigt<br />

sei, noch keineswegs <strong>für</strong> <strong>das</strong> XIII. Jahrh. gelte. Aber ich verstehe nicht, wie<br />

er dann dazu kommt, <strong>das</strong>, was er fUr <strong>das</strong> XIII. Jahrh. feststellte, ohne weiteres<br />

selbst auf <strong>das</strong> X. Jahrh. zu übertragen. Denn, wenn er die Patrizier<br />

jener späteren Zeit wesentlich aus den Listen der Ratsmitglieder und aus<br />

Zeugenreihen gewinnt, so gibt es dergleichen doch nicht aus dem X. Jahrh.<br />

Auch scheut er sich nicht von S t ä d t e n dieser fruhen Zeit zu sprechen. Kurzum,<br />

er nennt freilich Siegfried Rietschels grundlegen<strong>des</strong> Buch über Markt<br />

und Stadt, polemisiert auch gegen die hier vorgetragene Meinung, <strong>das</strong>s die<br />

Altstädte <strong>Braunschweig</strong> und Hil<strong>des</strong>heim planvoll angelegte Strassenzüge besässen,<br />

unterlässt es aber, irgendwie gegen Rietschels Marktniederlassungstheorie<br />

Stellung zu nehmen, obwohl diese doch jetzt fast allgemein <strong>für</strong> richtig<br />

gehalten wird. Vom Patriziat <strong>des</strong> X. und XI. Jahrh. wissen wir nicht<br />

<strong>das</strong> Geringste. Aber wir wissen, <strong>das</strong>s gerade in Niedersachsen in dieser Zeit<br />

zahlreiche Marktniederlassungen gegründet sind, und <strong>das</strong>s hier eine ausschliesslich<br />

kaufmännische, jeder landwirtschaftlichen Tätigkeit entfremdete,<br />

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P. J. MEIER<br />

sich vielfach auch aus Juden zusammensetzende Einwohnerschaft bestanden<br />

hat; und diese ist natürlich ohne weiteres in die neugegründeten, aber zum<br />

grossen Teil aus den Marktniederlassungen heraus gebildeten und deren Eigenart<br />

weiter entwickelnden S tä d te übergetreten. Eelbstverständlich sind diese<br />

Kaufleute, soweit sie nicht aus Juden bestanden, auch irgendwie vom Lande<br />

in die Marktniederlassung gekommen; aber schon der Umstand, <strong>das</strong>s bei<br />

diesen eine eigentliche Ackerwirtschaft ausgeschlossen war, ist uns ein Beweis<br />

da<strong>für</strong>, <strong>das</strong>s die Kaufleute in der jahrhundertlangen Entwicklung der Marktniederlassung<br />

sich zu einem besonderen, von ländlichen Verhältnissen ganz<br />

unabhängigen Stand entwickelt haben müssen. Dieser Stand ist aber von<br />

Anfang an von den Grundherren, dem König, den weltlichen und geistlichen<br />

Fürsten, durch Vorrechte aller Art so sehr gefördert worden, <strong>das</strong>s er beim<br />

Übergange von der Marktniederlassung zur Stadt, die doch auch mit dem<br />

Handel stand und fiel, sicher die erste Klasse der Bevölkerung gebildet haben<br />

musst). Man hatte daher guten Grund zu der Annahme, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> städtische<br />

Patriziat sich aus der Kaufmannschaft der MarktniederIassung gebildet<br />

habe. Diese Ansicht wird jetzt durch Ohlendorfs Untersuchungen erschüttert,<br />

aber doch nur insofern, als man eine völlige Gle ic hste 11 ung<br />

bei der Elemente annahm. Aber ebenso verkehrt ist es, wenn nun Ohlendorf<br />

bei der Frage nach der Entstehung <strong>des</strong> Patriziates <strong>das</strong> Element der Kaufmannschaft<br />

aus der älteren Marktniederlassung auch nicht mit einem Wort<br />

berücksichtigt. Von einem Beweise, <strong>das</strong>s diese genau dieselbe Entstehung<br />

gehabt hätte, wie vielleicht die Mehrzahl der Patrizier <strong>des</strong> XIII. Jahrh.,<br />

kann ja beim Fehlen je<strong>des</strong> Zeugnisses keine Rede sein. Aber auf die Frage,<br />

was aus dieser Kaufmannschaft geworden ist, bleibt Ohlendorf die Antwort<br />

schuldig.<br />

Die engen Beziehungen <strong>des</strong> Patriziates zur Ackerwirtschaft, die Herkunft<br />

vieler Geschlechter vom Lande und deren Festhalten an den rein ländlichen<br />

Verhältnissen ihrer Frühzeit sind jetzt durch Ohlendorf erwiesen. Aber auch<br />

dieses Patriziat steht und fällt doch mit dem kaufmännischen Handel. Nicht<br />

die grössere Sicherheit oder andere Vorteile haben die ländlichen Grundherren<br />

wenigstens in erster Linie in die junge Stadt getrieben, sondern der feste<br />

Entschluss, Handel zu treiben, wie dies die Kaufmannschaft der Marktniederlassungen<br />

schon seit Jahrhunderten getan hatte 2 ). Es ist also selbstverständlich,<br />

<strong>das</strong>s sich die neuen Kaufleute an die alten bewährten angeschlos-<br />

I) Auszunehmen sind hier ausser den Juden die gewerbetreibenden Handwerker und Krämer.<br />

') Krieger und Ministerialen, die Kaufleute sind, kennt schon <strong>das</strong> Edikt <strong>des</strong> Longobardenkönigs<br />

Aistulf von 750; vgl. auch die Verordnung <strong>des</strong> Erzbischofs von Bremen von 1233<br />

(UB. I (72); S. Delbrück, Gesch. d. Kriegskunst III 47 f., 254.<br />

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A N F}. N G E DE R S T A D T B RAU N S C H W E I G<br />

sen haben, und <strong>das</strong>s beide Elemente zusammen den neuen Patriziat<br />

gebildet haben. Andrerseits haben gerade in dem von Heinrich d. L. gegründeten<br />

Hagen auch herzogliche Ministerialen gewohnt und Lehnshöfe besessen,<br />

ohne sich jemals zu den Patriziern zu rechnen; einfach <strong>des</strong>halb, weil<br />

sie niemals aufhörten, Ritterdienste zu tun und niemals im Handel ihren Erwerb<br />

suchten.<br />

Wie nun die vom Lande in die Stadt ziehenden neuen Kaufleute die Beziehungen<br />

zur Ackerwirtschaft keineswegs auf gab e n, so haben offenbar die<br />

alten Kaufleute auch ihrerseits solche Beziehungen angeknüpft. Mit Recht<br />

lässt ja auch Ohlendorf die schon immer gehegte Ansicht bestehen, <strong>das</strong>s die<br />

Grosskaufleute ihr Kapital vielfach in Ackerland angelegt, und <strong>das</strong>s sie den<br />

umfangreichen Handel in Getreide zu einem guten Teil mit den eigenen Erträgnissen<br />

der Landwirtschaft betrieben hätten.<br />

Eine solche Zusammenschweissung zweier verschiedener Elemente zu<br />

einem neuen Stande ist nichts vereinzeltes. Ist die Lehnsritterschaft doch<br />

auch aus unfreien Ministerialen und freien Lehnsleuten gebildet worden, die<br />

innerlich zunächst sich noch viel ferner standen.<br />

Für unsere eigentliche Untersuchung über die Anfänge der Stadt <strong>Braunschweig</strong><br />

sind die zuletzt vorgebrachten Punkte nur nebensächlicher Art. Sie<br />

zeigen, <strong>das</strong>s Ohlendorf immerhin recht einseitig vorgegangen ist. Aber in<br />

dem, was er ober die Entstehung von <strong>Braunschweig</strong> sagt, stecken vollends<br />

so erstaunliche Irrtilmer, <strong>das</strong>s ersichtlich ist, wie wenig er sich mit den Anfängen<br />

der deutschen Stadt überhaupt abgegeben hat. Im Gegensatz zu<br />

Rietschel leugnet Ohlendorf die planmässige Anlage der Altstadt, jedoch<br />

mit der Beschränkung, <strong>das</strong>s er den nördlichen Teil mit den langgestreckten<br />

Strassenzügen, die doch auch ihm eine gewisse Regelmässigkeit zu haben<br />

scheinen, <strong>für</strong> eine spätere Zutat hält und nur die südliche, seiner Meinung<br />

nach ältere Hälfte als von selbst entstanden betrachtet. In<strong>des</strong>sen sind doch<br />

wenigstens Echternstrasse und Güldenstrasse in ihrem ganzen Verlauf<br />

einheitliche Gebilde. Und Ohlendorf hätte sich wenigstens die Mühe<br />

geben müssen, Rietscheis, übrigens auch Fritzes Behauptung, <strong>das</strong>s die Strassen<br />

der Altstadt und Neustadt Regelmässigkeit zeigen, auch nur mit einem<br />

Grunde zu widerlegen. Freilich wäre dies nicht gegangen, ohne <strong>das</strong>s Ohlendorf<br />

auch andere Stadtpläne heranzog. Hier kann eben nur eine Vergleichungsmethode<br />

zum Ziel führen.<br />

Ohlendorf weiss ferner nicht, <strong>das</strong>s die in der Altstadt gefundenen Aschenkrüge<br />

längst als spätmittelalterliche Gefässe nachgewiesen sind 1 ), also fOr eine<br />

vorkarolingische Besiedlung nicht verwendbar sind. Es ist doch auch geradezu<br />

1) Hänselmann, Werkstücke I 307 ..<br />

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P. J. MEIER<br />

eine Irreführung, wenn er die Verwendbarkeit der Patronatsverhältnisse <strong>für</strong><br />

die Bestimmung der Grundherrschaft mit dem Hinweis leugnet, <strong>das</strong>s selbst<br />

bei der auf einem privaten Grundstück und von Bürgern gegründeten Michaeliskirche<br />

<strong>das</strong> Blasiusstift Patronats rechte besessen habe. In Wirklichkeit<br />

wählte hier wie bei der Katharinenkirche im Hagen die Gemeinde den<br />

Pfarrer, war also alleiniger Patron. Nur die Investitur erfolgte bei S. Katharinen,<br />

wie auch noch nach 1204 bei S. Martini, durch den Herzog, bei<br />

S. Michaelis durch <strong>das</strong> Domstift, <strong>das</strong> hier wie auch sonst der Stellvertreter<br />

<strong>des</strong> Fürsten war. Dahingegen ist bei der Ulrichskirche <strong>des</strong> Xl. Jahrh., wie<br />

bei allen andern Pfarrkirchen einschliesslich der Jakobskirche, ursprünglich der<br />

Herzog, bezw. der brunonische Graf, Patron gewesen, soweit nicht der Fürst<br />

eins der Stifter oder Klöster mit dem Patronatsrecht beliehen hatte, nicht<br />

aber die Gemeinde. Selbst bei der Hauptpfarrkirche der Altstadt, der Mar·<br />

tinikirche, war dies der Fall, bis König Otto 12°4 die Gemeinde mit dem<br />

Patronat begabte und <strong>das</strong> Domstift, <strong>das</strong> es bis dahin in Händen gehabt hatte,<br />

mit dem Patronat über die Burgkapelle entschädigtet).<br />

Der ganze Beweis Ohlendorfs fällt somit vollkommen in sich zusammen;<br />

auf Schritt und Tritt zeigt er uns nur, <strong>das</strong>s er sich auf einem Boden bewegt,<br />

der ihm gänzlich fremd ist. Seltsam berührt es übrigens auch, wie er die<br />

Martinikirche der nördlichen, angeblich spätem Hälfte der Stadt zuweist, <strong>das</strong><br />

frühere Rathaus aber (an Stelle der heutigen Landschaft) der südlichen.<br />

Will man einmal die Altstadt in zwei Teile zerlegen, so läuft doch die Grenzlinie<br />

nördlich von der Kirche. In Wirklichkeit ist aber diese ganze Trennung<br />

ein Akt der Willkür.<br />

X. Der <strong>Braunschweig</strong>er Hagen 2 ).<br />

Die Gründung <strong>des</strong> <strong>Braunschweig</strong>er Hagens durch Heinrich den Löwen<br />

bietet <strong>des</strong> Interessanten soviel und birgt auch so mannigfache Probleme, <strong>das</strong>s<br />

noch energische Arbeit dazu gehört, hier zur vollen Klarheit zu kommen 3 ).<br />

Ich möchte jetzt erst mal der Frage nachgehen, was bedeutet der Name<br />

Hagen, insbesondere, was bedeutet er <strong>für</strong> <strong>das</strong> <strong>Braunschweig</strong>er Weichbild?<br />

Wir werden sehen, zu welchen allgemein wichtigen Ergebnissen die Beantwortung<br />

dieser Frage führt.<br />

1) Inwiefern die Patronatsverhältnisse in <strong>Braunschweig</strong>


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ANFÄNGE DER STADT BRAUNSCHWEIG p<br />

Die Etymologie 1 ) lehrt uns, <strong>das</strong>s man ursprünglich unter Hag, Hagen,<br />

Hecke ein Dorngesträuch versteht, und stellt demgemäss <strong>das</strong> Wort zur Wurzel<br />

hag = stechen, schneiden, womit wieder hacken stammverwandt ist. Das<br />

Prägnante <strong>des</strong> Wortes liegt also in dem Stechen <strong>des</strong> Dorns. Aber es werden<br />

auch andere Gesträuche, mit denen sich eine Hecke bilden lässt, ohne <strong>das</strong>s<br />

sie dornig ist, wie Hagebuche, Hagapfel so bezeichnet, und wiewohl <strong>das</strong><br />

Wort in der Regel auf eine lebende Hecke beschränkt bleibt, so wird es doch<br />

weiter auch auf trockenes Gestrüpp oder auf einen Zaun angewandt; so<br />

heisst hegk in Niederdeutschland eine Tür, die aus Reisern geflochten oder<br />

aus Latten zusammengeschlagen ist.<br />

Es gibt aber noch eine ganze Reihe weiterer Übertragungen <strong>des</strong> Wortes.<br />

Die Hecke umgibt ein bestimmtes Gelände, sie schützt und schirmt es gegen<br />

<strong>das</strong> Eindringen Unberufener, und mit hegen bezeichnet man auch <strong>das</strong> Abgrenzen<br />

eines Platzes <strong>für</strong> einen Zweikampf, eine Gerichtsverhandlung. Man<br />

hegt ein Ding, ein Urteil, ein Recht; <strong>das</strong> geschieht aber nicht durch Aufführung<br />

einer lebenden Hecke, sondern durch Aufrichtung von Stäben u. ä.<br />

Hagen ist ferner <strong>das</strong> von einer Hecke eingezäunte Gelände selbst, Hege<br />

und Hain der geschonte Wald oder der Weideplatz, Hag ein abgegrenztes<br />

Nebengut, der Hagestalde, Hagestolze ein jüngerer, abgefundener Sohn, der<br />

solches erhält.<br />

Hagen findet sich schliesslich als Name von Ortschaften, wie Hagen in<br />

Westfalen, Haag oder s'Gravenhaag in Holland und besonders bei Dörfern;<br />

ich zähle 16 im Verzeichnis der Voigtsrhen Karte <strong>des</strong> deutschen Reiches,<br />

dazu kommen aber noch die Zusammensetzungen wie Hagenrode, Hagenau,<br />

Hagenburg, Hagenort und die erheblich häufigeren, bei dene)l Hagen die<br />

Endung <strong>des</strong> Ortsnamens bildet. Von Ortsnamen dieser letzten Art gibt es<br />

4 Gruppen bei uns: die rechts von der mittleren Weser, die in Mecklenburg­<br />

Pommern, die in Sachsen südlich von Leipzig, die in Hessen.<br />

Da der <strong>Braunschweig</strong>er I-lagen, wie wir noch sehen werden, mit Nieder- (-'<br />

ländern besetzt war und wenigstens die Hagendörfer rechts von der Weser<br />

gleichfalls niederländischen Ursprungs sind 2 ), so glaubte ich, <strong>das</strong>s die Namengebung<br />

bei bei den den gleichen Grund hätte, und suchte diesen in der besonderen<br />

Art der Befestigung, wie wir sie beim <strong>Braunschweig</strong>er Hagen - davon<br />

wird gleichfalls später die Rede sein - allerdings feststellen können. Aber<br />

dieser Weg erwies sich doch nicht als gangbar; denn es ergab sich, <strong>das</strong>s die<br />

Hagendörfer der anderen Gruppen mit Holland nichts zu tun haben, <strong>das</strong>s<br />

sie vielmehr nach dem gehegten Wald, dem Hagen, genannt waren, in dem<br />

1) Grimm, Deutsches Wörterbuch IV :.l S. 138, 1 So. ') Wie mir Herr Bauinspektor<br />

Bernh. Schmidt in Marienburg mitteilt, ist dies auch in Hinterpommern der Fall.<br />

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P.J.MEIER<br />

sie einst angelegt waren, und <strong>das</strong>s sicher auch die Weserdörfer dieser Art so<br />

gedeutet werden müssen. Ob auch die im Gebiet der letzten liegende Stadt<br />

Stadthagen oder Greven Alfeshagen, wie sie früher hiess l ), ihren Namen auf<br />

denselben Ursprung zurückführt, wie die Dörfer, oder auf denselben, wie der<br />

<strong>Braunschweig</strong>er Hagen, lässt sich vor der Hand nicht ausmachen.<br />

'I Bei dem letzten jedenfalls ist die Zurückführung auf den gehegten Wald<br />

ausgeschlossen; denn hier handelt es sich um ein sehr tief liegen<strong>des</strong>, ursprünglich<br />

sogar sumpfiges Gelände, <strong>das</strong> höchstens Wildwuchs getragen haben kann.<br />

Wo aber kommt der Name sonst her? Auffallenderweise erscheint die<br />

Endung -hagen sehr oft auch als Strassenname. Gewiss handelt es sich hier vielfach<br />

um wirkliche Gehege, an die die Strasse angrenzte, wie um eine Rosenhecke,<br />

die ein Grundstück umgab, und die nun der Strasse den Namen verlieh.<br />

Jedoch ist bekanntlich gerade der Name Rosenhagen, der sich öfter<br />

findet und der so poetisch klingt, wesentlich anders zu erklären 2 ); der Rosenhagen<br />

ist nämlich im Mittelalter der Ort, wo die durch die Rose angedeutete<br />

unzüchtige Liebe herrscht.<br />

Ganz besonders häufig findet sich die Namensendung -hagen bei Strassen,<br />

die unmittelbar an der Stadtmauer entlang gehen und unmöglich nach einem<br />

Gehege genannt sein können. Man hat sie bisher nicht erklären können, weil<br />

man in der Regel die Deutung auf dem Boden der einzelnen Stadt suchte,<br />

während sie nur durch eine Vergleichung mit den Strassennamen in anderen<br />

Städten gewonnen werden kann. Die Lösung ergab sich mir in Stralsund.<br />

Hier haben oder hatten doch wenigstens sämtliche Strassen, die an der Mauer<br />

entlang laufen, die Endung -hagen. Die jetzige Mauerstrasse hiess früher<br />

Reper- und Flachshagen, die jetzigeSchilIstrasse bis 1869 Kessenhagen, die<br />

Papenstrasse Löwenhagen, nur der Bilekenhagen hat sich zum Glück bis<br />

heute erhalten und wird hoffentlich <strong>für</strong> immer als ein ausserordentlich wichtiges<br />

geschichtliches Denkmal erhalten bleiben. Dass der Name Löwenhagen<br />

verschwunden ist, muss man ganz besonders beklagen, weil er allein in Stralsund<br />

von der Südgrenze der ältesten Stadt, die hier bereits zwei Jahrzehnte<br />

nach ihrer Verlegung an die jetzige Stelle (1240) durch die Neustadt erweitert<br />

wurde (1261), Zeugnis ablegt. Sie alle aber beweisen unwiderleglich, <strong>das</strong>s sie<br />

in irgend einer Beziehung zur Stadtbefestigung stehen müssen S ). Nun wissen<br />

1) Sie wird 1244 und 1261 civitas, bezw. oppidum lndago, 13 Pi und 13 s6 wigbild, bezw.<br />

stad tom hagen, 13 6S und 1410 stad tom Grevenalfeshagen, 1378 Stadthagen urkundlich genannt.<br />

') S. jetzt auch Paul Feit in der Festschrift der Schles. Gesellschaft <strong>für</strong> Volkskunde<br />

zur Jahrhundertfeier der Universität Breslau S. 81. ") Wie mir Herr Präsident<br />

a. D. Fabricius in Stralsund mitteilt, war er gleichfalls auf diese Deutung gekommen. Vgl.<br />

auch <strong>des</strong>sen wichtigen Aufsatz in den Sonntagsbeilagen der Stralsundischen Zeitung vom<br />

4/X1 1906 (Nr. 44), 9/XII 1906 (Nr. 49), 27/1 1907 (Nr. 4), lS/VIII 1909 (Nr. 33). Die<br />

.früheren Bezeichnungen der Mauerstrasse wechseln, haben aber stets die Endung ·hagen.<br />

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ANFÄNGE DER STADT llRAUNSCHWEIG 33<br />

wir bereits, <strong>das</strong>s Stralsund erst im Jahre 1273 eine Stadtmauer aus Ziegelsteinen<br />

erhalten hat, dieselbe, die noch jetzt in bedeutenden Resten erhalten<br />

ist. Als frühere Befestigung wird urkundlich wiederholt ein Plankenwerk 1 )<br />

bezeugt, und was es mit diesem <strong>für</strong> eine Bewandnis hat, wird durch eine<br />

Urkunde von 1261 2 ) klar, in der Fürst Wizlav von Rügen, dem damals Stralsund<br />

gehörte, dem Dominikanerkloster in der Südwestecke der Altstadt<br />

schenkt: spatium, quod est inter aream fratrum (de ordine predicatorum) et<br />

aggerem civitatis memorate, et ipsum aggerem cum fossato, transpositis pfancis<br />

super aggerem nove civitatis. Wir erfahren also aus dieser Urkunde, <strong>das</strong>s<br />

damals jene Stadterweiterung vorgenommen worden ist, <strong>das</strong>s bei dieser Gelegenheit<br />

die bisherige Befestigung an den Stellen, wo die Neustadt anschloss,<br />

beseitigt wurde, und <strong>das</strong>s <strong>das</strong> unmittelbar an <strong>das</strong> Dominikanerkloster anschliessende<br />

Stück der alten Befestigung diesem geschenkt wurde. Wir erfahren<br />

aber vor allen Dingen aus der Urkunde, woraus diese Befestigung<br />

bestand, nämlich aus dem Wall, dem Graben und den Planken; WaIl<br />

und Graben wurden natürlich <strong>für</strong> die Zwecke <strong>des</strong> Klosters eingeebnet, die<br />

Planken aber, die offenbar noch verwendbar waren, <strong>für</strong> die Befestigung der<br />

Neustadt benutzt, und zwar auf der Aussenseite <strong>des</strong> Walls. Es kann sich hier<br />

also nur um <strong>das</strong> handeln, was wir heute Pallisaden nennen. In Stralsund<br />

hat sich bei Erdarbeiten noch ein Stück jener alten Befestigung nachweisen<br />

lassen. Es fand sich dort S ) ein LehmwaIl von durchschnittlich 1 Meter Stärke<br />

und 1,25 Meter Höhe auf der Innenseite. Hier «begleitet den Wall, am Fussende<br />

entlang laufend, eine Schwelle von Eichenholz, ca. 20 Zentimeter im<br />

Quadrat stark, befestigt durch davor in die Erde geschlagene Pfähle aus<br />

Eichenholz. Auf dieser Schwelle und quer zu derselben waren eichene Lagerhölzer,<br />

ca. 12 bis 1 5 Zentimeter im Quadrat stark, und auf diesen die oben<br />

genannten eichenen Bohlen, in der Richtung <strong>des</strong> Walles laufend befestigt».<br />

Wie tief auf der anderen Seite der Graben ging, auch ob hier etwa die Reste<br />

von PaIlisaden noch vorhanden waren, ist leider nicht untersucht worden.<br />

Solches Planken werk aber hiess Hagen'). Die livländische Reimchronik<br />

berichtet in den Kämpfen der deutschen Ritterschaft mit den Samländern<br />

V. 3969 ff. (Ausgabe von Leo Meyer):<br />

Da was ein vii grozer hagen<br />

von den Samen vor geslagen,<br />

der was groz unde dicke,<br />

I) Auch septa municionis genannt. 2) UB. Fürstentum Rügen I Nr. 76. B) Vergl.<br />

Fabricius in der Sonntagsbeilage der Stralsundischen Zeitung vom 27. Januar 1907. ') Wie<br />

Schrader, Befestigungsrecht S. 28 angibt, wohnte die Burgbesatzung in England entweder in<br />

hagae oder in domus murales ; ich möchte unter hagae Blockhäuser verstehen.<br />

BrauDschw. <strong>Jahrbuch</strong> XI.<br />

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ANFÄNGE DER STADT BRAUNSCHWEIG 35<br />

durch Zerstörung mittels Feuers bestraft, und Erich Schrader a. a. O. S. 117, 9<br />

hat ganz Recht, wenn er darunter die Zerstörung <strong>des</strong> Plankenwerks versteht.<br />

In Wittenberge a./E., <strong>des</strong>sen Anlage lanzettförmig ist, heissen die Strassen,<br />

die an bei den Seiten der Befestigung entlang laufen, in Hettstedt die Strasse, die<br />

die südliche Befestigung begleitet, auch in Neustadt u./Honstein eine Strasse<br />

«Hinter den Planken», <strong>für</strong> Naumburg erklären die Markgrafen Friedrich und<br />

Dietrich im Jahre 1287, sie würden nicht dagegen sein, <strong>das</strong>s die Kurien <strong>des</strong><br />

Bischofs und der Domherren muro civitatis includantur und zwar fossatis,<br />

muris, lapidibus et lignis ac plancis (Lepsius, Gesch. d. Bischöfe v. Naumburg<br />

S. 318), <strong>für</strong> Zeitz verspricht Bischof Dietrich 1259 (ebd. S. 302) dem Markgrafen<br />

Heinrich plancas et civitatis Cyce et propugnacula niederzulegen, während<br />

er die Stadtgräben noch eine Zeit lang erhalten darf, und <strong>das</strong> Lüneburger<br />

Stadtbuch berichtet (S. 2]1, 25), <strong>das</strong>s im Jahre 1274 die planckae in<br />

der Nähe <strong>des</strong> Bardowieker Tores überstiegen wären. Von Holzminden wissen<br />

wir, auf Grund einer Beschreibung von [758, <strong>das</strong>s die Stadt von WaU<br />

und Hagen umgeben war; der WaU- heisst es hier - habe wahrscheinlich<br />

statt einer Mauer dienen soUen, der Hagen aber war damals den Bürgern zu<br />

Gärten und HofsteUen überwiesen, und Tünnekenhagen heisst die äusserste<br />

Strasse im Südosten, die dann nach Westen zu Fortsetzung in der Grabenstrasse<br />

findet. In Gandersheim zieht sich nahezu rings um die Stadt eine feste<br />

Mauer; die Flurkarte von 1768 verzeichnet aber an der Süd-Ostseite nur<br />

einen Stadtgraben, und gerade hier heisst eine auf die Befestigung zustossende<br />

Strasse «Vor dem Hagen», <strong>das</strong> benachbarte Osttor Hagentori). Als Köln im<br />

Jahre 1 106 durch die Vereinigung von Römerstadt, Rheinvorstadt, Oversburg,<br />

Niederich und Apostelbezirk zu einer Stadt im eigentlichen Sinne <strong>des</strong><br />

Wortes erhoben wurde, erhielt es, wie wir sahen, an aUen SteUen, wo die<br />

Römermauer nicht mehr die Stadtgrenze anzeigte, eine Befestigung nur aus<br />

Wall und Graben 2 ). Dem entspricht es auch, wenn Kluge in seinem Wörterbuch<br />

die Glosse bringt: heck urbs. Es scheint mir schliesslich auch nicht<br />

zweifelhaft zu sein, <strong>das</strong>s die gegen die Slaven errichteten Schunterbefestigungen<br />

<strong>des</strong> XI. und XII. Jahrh. 3 ), die als Boll-, Beul- oder BaU wälle<br />

(nur einmal als BorwaU) bezeichnet werden, aus Wall und Pallisaden bestehende<br />

Werke sind.<br />

Kehren wir wieder zu den Stralsunder Strassen namen auf -hagen zurück,<br />

so kann es nun keinem Zweifel mehr unterliegen, <strong>das</strong>s sie sich auf die ur-<br />

1) Vgl. Steinacker, Bau- und Kunstdenkmäler d. <strong>Herzogtum</strong>s <strong>Braunschweig</strong> IV, 70 und V,<br />

222 f. nebst Abb. 2,. ') S. Keussen, Topographie der Stadt Köln I 60· u. Anm. ,.<br />

8) Vg!. Meier, Bau- und Kunstdenkmäler d. Herzogt. Braunschw. I, Ein!. S. 16, und 11,<br />

Ein!. S. 8.<br />

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P. J. MEIER<br />

sprungliche Stadtbefestigung, <strong>das</strong> Plankenwerk oder den Hagen, beziehen,<br />

<strong>das</strong>s sie also etwas ähnliches bezeichnen, wie der häufige Name Mauerstrasse,<br />

der, wie wir sahen, in der Tat iri Stralsund an die Stelle der veralteten Reperund<br />

Flachshagen getreten ist, und es ist weiter klar, <strong>das</strong>s, wenn z. B. in Hil<strong>des</strong>heim<br />

die äusserste Strasse der Altstadt im Westen Langer Hagen heisst 1 ),<br />

oder die entsprechende Strasse in Hornburg Hagenstrasse J ), daraus auf den<br />

Charakter der ursprünglichen Befestigung an diesen Stellen ein Schluss gezogen<br />

werden muss. Besonders wichtig aber ist der Strassenname Tünkenhagen<br />

in Lübeck, weil er ein weiteres Zeugnis da<strong>für</strong> ist, <strong>das</strong>s die Stadt ursprünglich<br />

einen engeren Umriss besass, der im Osten in der beiderseitigen<br />

'y' Fortsetzung der oben genannten Strasse, im Westen in den verschiedenen<br />

'\ Dwasstrassen und ihren Fortsetzungen noch jetzt erkennbar ist.<br />

Und wie steht es nun mit dem <strong>Braunschweig</strong>er Hagen?<br />

Es ist seltsamerweise noch niemals 3 ) darauf geachtet worden, <strong>das</strong>s die Reimchronik<br />

ganz bestimmte Angaben über die ursprüngliche Befestigung <strong>des</strong><br />

Hagens macht. Wir lesen V. 2678 ff.') in unmittelbarem Anschluss an die<br />

Verse, die von der Ausgabe <strong>des</strong> Bleks durch Heinrich den Löwen erzählen:<br />

und heyz mit howe und mit slage<br />

iz buwen unte vesten,<br />

daz iz vor argen gesten<br />

sicher were osten, westen 6 ).<br />

So deutlich, wie wir es nur wünschen könnten, wird also auch hier ein<br />

Plankenwerk bezeugt, und wir brauchen nur darüber eine Entscheidung zu<br />

treffen, ob wir es ausschliesslich mit einem hölzernen Verhau hier zu tun<br />

haben, wie er uns in der Iivländischen Reimchronik überliefert wird, oder<br />

mit einem aus Pallisaden, Wall und Graben bestehenden Werk. Ich möchte<br />

mich, wie schon angedeutet ist, <strong>für</strong> die zweite Annahme entschliessen, ja man<br />

könnte sogar vermuten, <strong>das</strong>s da<strong>für</strong> ein bestimmtes Zeugnis bei Albert von<br />

Stade vorliegt. Dieser berichtet nämlich zum Jahre 1 166: urbem fossa et<br />

vallo circumdedi( 6 ). In der Regel versteht man hier unter urbs die Burg<br />

I) Der dortige Kurze Hagen führt nicht an der Mauer entlang, sondern auf diese zu. Doch<br />

trat uns ein ähnlicher Fall schon in Gandersheim entgegen, und es gibt auch Mauerstrassen<br />

und Wallstrassen, von denen <strong>das</strong>selbe gilt. ') Die dortige Knickstrasse ist nach dem Knick,<br />

den sie bildet, genannt. Hornburg hat nur ein kurzes Stück Mauer besessen. ") So auch<br />

nicht von Rietschel, Histor. Zeitschrift 3. Folge VI 2')6. 4) MG. D. ehr. 11. 6) Die<br />

Westseite, wo Altstadt, Burg und Neustadt jenseits <strong>des</strong> Flusses lagen, brauchte freilich nicht<br />

befestigt zu werden. Aber <strong>das</strong>s es sich hier nur um eine bequeme, <strong>für</strong> den Reim brauchbare<br />

Redensart handelt, zeigt schon der Umstand, <strong>das</strong>s besonders der Norden ganz übergangen<br />

wird. ") VYenn es sich auch um eine feste Mauer gehandelt hätte, wäre diese als der<br />

kostspieligere Teil der Befestigung sicher ausdrücklich erwähnt worden.<br />

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ANFÄNGE DER STADT BRAUNSCHWEIG<br />

Dankwarderode; aber diese war erstens stets von einem Graben oder vielmehr<br />

von zwei Armen der Oker umgeben, und die Baulichkeiten Heinrichs<br />

<strong>des</strong> Löwen auf der Burg, die wir ja ganz genau kennen, schIiessen - darüber<br />

kann ein Zweifel meiner Meinung nach gar nicht bestehen - auch <strong>das</strong> Aufwerfen<br />

eines Walles durch den Herzog völlig aus. Dann aber wüsste ich<br />

wirklich nicht, auf welchen Teil der Stadt sich die Angabe <strong>des</strong> Chronisten<br />

besser beziehen Iiesse, als auf den Hagen, <strong>des</strong>sen Anlage vermutungsweise<br />

schon immer in die 60er Jahre <strong>des</strong> XII. Jahrh. gesetzt worden ist. Es wäre<br />

sehr erfreulich, wenn wir <strong>das</strong> genannte Jahr da<strong>für</strong> wirklich annehmen dürften,<br />

und wenn wir weiter auch eine Bestätigung <strong>für</strong> die vorhin geäusserte<br />

Vermutung gewönnen, <strong>das</strong>s die Befestigung <strong>des</strong> Hagens in der Tat aus Planken,<br />

Wall und Graben bestand. Ich möchte übrigens glauben 1 ), <strong>das</strong>s der ehemalige<br />

Graben der Wilhelmstrasse ein Rest dieser Befestigung Heinrichs d. L.<br />

ist, <strong>das</strong>s also der Hagen einst hier seine Grenze im Westen fand. Die streng<br />

geradlinigen Strassen im Osten <strong>des</strong> Hagens sehen anders aus, als Wilhelmund<br />

Wendenstrasse mit ihrer spitzwinkligen gegenseitigen Zuneigung im<br />

Norden. FUr einen Kenner von Stadtplänen macht auch die ganze östliche<br />

Hälfte <strong>des</strong> Hagens den Eindruck späterer Hinzufügung, die freilich urkundlich<br />

nicht bezeugt ist.<br />

Es lässt sich nun nicht ·leugnen, <strong>das</strong>s eine so einfache Befestigung <strong>des</strong><br />

Hagens, die der Reimchronist noch dazu offenbar als etwas merkwilrdiges<br />

der Nachwelt glaubte uberliefern zu müssen, überrascht. Denn, wenn es<br />

nicht Wunder nimmt, <strong>das</strong>s unbedeutende Städte, wie Wittenberge, Hornburg,<br />

Holzminden und Hettstedt, oder solche, die wie Stralsund und Lübeck kein<br />

Steinmaterial zur Verfügung haben, sich dieser unzureichenden Form bedienen,<br />

so trifft doch nichts davon bei <strong>Braunschweig</strong> zu. Nun aber ist schon<br />

stets mit guten Gründen angenommen worden, <strong>das</strong>s Heinrich der Löwe vornehmlich<br />

Niederländer im Hagen angesiedelt habe. Die Urkunde von 1 196,<br />

in der den Flandrern in der neu gegründeten Dammstadt vor Hil<strong>des</strong>heim<br />

Vorrechte gegeben werden, verweist im übrigen auf solche, die die Flandrer<br />

unter anderen namentlich in <strong>Braunschweig</strong> genossen, und damit können, wie<br />

längst erkannt ist, nur die Ansiedler im Hagen gemeint sein. Nun wissen wir<br />

aber, <strong>das</strong>s gerade in den Niederlanden die Städte erst verhältnismässig spät<br />

feste Mauern erhalten haben. Hier steht ja kein Gestein an, und bevor man<br />

1) Wenn Beck und Sack <strong>das</strong>selbe annehmen, so ist deren Beweisführung freilich durch<br />

H. Meier, Strassennamen S. 109 widerlegt worden. Die Gründe, die dieser aber hinwieder<br />

<strong>für</strong> die ursprüngliche Grenze <strong>des</strong> Hagens jenseits der Mauerstrasse geltend macht, erscheinen<br />

mir nicht stichhaltig. Auch <strong>für</strong> Heinrichs Gründung Lübeck lässt sich eine Erweiterung über<br />

die ursprüngliche Grenze der Stadt hinaus nachweisen, wie oben schon angedeutet ist.<br />

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P. J. MEIER<br />

hier zum Ziegel bau überging, war man entweder auf Einfuhr von Steinen<br />

angewiesen, die sich natürlich sehr teuer stellte, oder auf Holz und Erdwerki).<br />

Konnten die Einwanderer nicht die besonders in den Niederlanden heimische<br />

Befestigungsart mitbringen oder sich doch <strong>für</strong> sie entscheiden? Brachten sie<br />

doch zweifellos, wie sich aus der Hil<strong>des</strong>heimer Urkunde ergibt, auch ihr<br />

heimisches Recht mit. Der Name würde dem Weichbild dann natürlich von<br />

den Bewohnern der Altstadt gegeben sein, die im Besitz ihrer Mauer auf die<br />

Hagenbefestigung <strong>des</strong> benachbarten Weichbil<strong>des</strong> mit einem gewissen Spott<br />

sehen mochten.<br />

XI. Stadt, Mauer und Plankenwerk.<br />

Irre ich nicht, so hat aber der Nachweis von dem Plankenwerk als Be·<br />

festigung <strong>des</strong> Hagens noch eine ganz alIgemeine Bedeutung. Siegfried Rietschel<br />

sieht in der festen Stein mauer <strong>das</strong> Hauptmerkmal einer Stadt im Unterschied<br />

von der Marktansiedlung und stellt in allem Ubrigen Stadt und Marktansiedlung<br />

einander völlig gleich. Die Hagenbefestigung <strong>des</strong> <strong>Braunschweig</strong>er<br />

Weichbil<strong>des</strong>, <strong>das</strong> von Anfang an ausgeprägt städtischen Charakter hatte,<br />

widerlegt diese Ansicht. Aber auch Wittenberge, Lüneburg, Hettstedt, Holzminden,<br />

Hil<strong>des</strong>heim und besonders Köln, Lübeck und Stralsund, bei denen<br />

wir dieselbe einfache Art der Befestigung nachweisen konnten, sprechen dagegen;<br />

denn auch sie sind entweder sicher Städte oder zeigen doch diese<br />

Befestigung in Stadtteilen, die städtischen Gebil<strong>des</strong> waren. Aus diesem<br />

Grunde muss ich auch die Begriffsbestimmungen einer deutschen Stadt <strong>des</strong><br />

Mittelalters, die Erich Schrader in seiner mehrfach erwähnten Schrift über<br />

<strong>das</strong> Befestigungsrecht S. 116, 9 zusammenstellt, ablehnen. Wenn Rietschel<br />

sagt: «Die Stadt ist ein Markt, der zugleich Burg ist» und Keutgen: «Die<br />

Stadt ist eine Burg, die zugleich Sitz <strong>des</strong> Handels und Gewerbes ist», wenn<br />

beide also <strong>das</strong> eine Merkmal der Stadt höher bewerten, als <strong>das</strong> andre, und<br />

zwar der eine dieses, der andere jenes, so hat Schrader scheinbar Recht,<br />

wenn er sagt: «Die Stadt ist vielmehr ein durch Befestigung geschützter und<br />

durch sie zu einem besonderen, fest umgrenzten Friedens- und Gerichtsbezirk<br />

erhobener Markt», wenn er also die genannten Merkmale der Stadt gl ei c h<br />

1) Es ist anzunehmen, <strong>das</strong>s sofort bei der Gründung <strong>des</strong> Hagens auch die Pfarrkirche zu<br />

S. Katharinen in Angriff genommen wurde. Dieser Bau könnte aber nur aus Holz bestanden<br />

haben, denn der jetzige Bau weist nicht ein einziges stilistisches Merkmal auf, <strong>das</strong> noch aus<br />

dem l. Viertel <strong>des</strong> Jahrhunderts stammen könnte. Dass ein Steinbau nach wenigen Jahrzehnten<br />

so vollständig verschwunden sein könnte, ist wenig wahrscheinlich. Hierzu und zu der Bemerkung<br />

von Frensdorff, Göttinger Nachrichten 1906 S. 289, <strong>das</strong>s der Umbau um 12,0, der<br />

nur ein Vergrösserungsbau war, auf eine Entstehung der Kirche in den 60er Jahren<br />

spräche, siehe Meier und Steinacker, Baudenkmäler der Stadt <strong>Braunschweig</strong> S. 34 ff.<br />

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P. J. MEIER<br />

XII. Ausblicke und Andeutungen.<br />

Ich möchte an die obige Sonderbetrachtung über den <strong>Braunschweig</strong>er<br />

Hagen aber noch eine zweite allgemeine Betrachtung anschliessen, die oben<br />

(S. 24) Gesagtes weiter ausfUhrt.<br />

Dass selbst die ehemaligen Römerstädte sich ohne <strong>das</strong> Zwischenglied der<br />

Marktansiedlung nicht zur mittelalterlichen Stadt entwickelt haben, erklärt<br />

sich leicht bei ruhiger Überlegung.<br />

Der Handel konnte eben in den engen Grenzen der uralten, auf die Acker·<br />

wirtschaft zugeschnittenen Verhältnisse, die bisher selbst in diesen alten<br />

Römerstädten herrschten, nicht so gedeihen, wie es der Fortschritt der Kultur<br />

unbedingt erforderte. Man wusste sich nicht anders zu helfen, als indem<br />

man sich mit der Schöpfung der Marktansiedlung auf einen ganz neuen<br />

Boden stellte. Das Entscheidende bei dieser Neubildung aber scheint mir<br />

darin zu liegen, <strong>das</strong>s hier nicht blos freie Kaufleute angesiedelt wurden, son- .<br />

dem auch die bis dahin unter Hofrecht lebenden, über diese Stellung innerlich<br />

aber herausgewachsenen und über den Bedarf ihrer Herrschaft producierenden<br />

besseren Handwerker, die nunmehr aus dem Hofrecht entlassen<br />

und frei wurden. Man lese hierüber Kapitel III von BUchers «Entstehung<br />

der Volkswirtschaft» nach. Nur glaube ich freilich nicht, <strong>das</strong>s die mercatores<br />

und negotiatores der ottonischen Marktrechtsurkunden ausschliesslich aus<br />

diesem Elemente bestanden, wie BUcher meint; denn die Juden, die neben<br />

diesen wiederholt ausdrücklich genannt werden und offenbar einen wichtigen<br />

Bestandteil der forenses bildeten, durchbrechen jedenfalls <strong>das</strong> System; es ist<br />

aber auch anzunehmen, <strong>das</strong>s es christliche Kaufleute gegeben hat, die es ihnen<br />

gleichtaten, und <strong>das</strong>s es nicht erst der im XII. Jahrh. in die Städte eindringenden<br />

und den Kaufmannsberuf ergreifenden Ministerialen bedurfte, um<br />

den Grundstock <strong>des</strong> Patriziates zu bilden (s. oben S. 28).<br />

Heinrich Brunner hat in seinem ausgezeichneten Aufsatz «Luft macht frei I)>><br />

ausgeführt, <strong>das</strong>s dieser Rechtssatz aus dem älteren «Luft macht eigen» abgeleitet<br />

ist, <strong>das</strong>s dieser letzte wiederum auf der rechten Gewere, der Ersitzung<br />

<strong>des</strong> Eigentums an einem GrundstOck binnen Jahr und Tag, beruhe, <strong>das</strong>s diese<br />

Fristbestimmung erst in der Zeit zwischen 818/9 und 895 nötig geworden<br />

sei, <strong>das</strong>s aber die rechte Gewere mit der Fristbestimmung doch schon 912<br />

von den Normannen in der Normandie als fränkische Einrichtung angetroffen<br />

sein müsse, da sie von diesen nach Unteritalien-Sicilien und nach Syrien-<br />

Lauenrode. Ebenso bilden die Reichsministerialen der Burg KaIsmunt, auf der sich die königliche<br />

Münzstätte befand, mit dem Rat der Stadt Wetzlar eine Genossenschaft; vgl. Fichard,<br />

Entstehung der Stadt Frankfurt a.!M. S. 7', 38.<br />

1) Festschrift der Berliner jurist. Fakultät <strong>für</strong> Gierke, Breslau '9' 0, Bd. I S. , ff.<br />

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ANFÄNGE DER STADT BRAUNSCHWEIG 41<br />

Palästina gebracht sei. Wenn es nun scheint, als ob die Übertragung der<br />

rechten Gewere auf den Fremden, der sich in einem anderen Orte niederlässt<br />

und der nun nach Jahr und Tag dem neuen Grundherrn verfällt, zuerst<br />

ein Vorrecht <strong>des</strong> Königs gewesen ist, der <strong>das</strong>selbe Recht an den Einwandrer<br />

gewinnt, <strong>das</strong> er an den alten Bewohnern <strong>des</strong> betreffenden Ortes schon stets<br />

besessen hat, und wenn dann eine weitere Übertragung der rechten Gewere<br />

auch auf die Kirche und die weltlichen Fürsten sich leicht erklärt, so glaube<br />

ich doch, <strong>das</strong>s die Umsetzung <strong>des</strong> Satzes «Luft macht eigen» in den jüngern<br />

«Luft macht frei» nicht so einfach gewesen sein kann. Gewiss, auch der neue<br />

Ansiedler eines bevorrechteten Ortes der spätem Zeit wird dem Grundherrn<br />

eigen, aber durch Erteilung der Vorrechte an die Bewohner eines solchen<br />

Ortes, besonders durch die der Befreiung aus der Hörigkeit beraubt sich der<br />

Grundherr so sehr seines eigenen Rechtes, <strong>das</strong>s jedenfalls der weitaus grössere<br />

Vorteil auf Seiten <strong>des</strong> Ansiedlers liegt, der seine starke Gebundenheit an Leib<br />

und Gut mit der Freiheit an beiden vertauscht. Ich kann mir aber sehr wohl<br />

denken, <strong>das</strong>s gerade die Marktansiedlung es gewesen ist, in der sich der neue<br />

Rechtssatz «Luft macht frei» herausgebildet hat. Die Bedeutung, die die<br />

Marktansiedlung in der Entwicklung der mittelalterlichen Wirtschaftsverhältnisse<br />

schon nach den bisherigen Annahmen gehabt hat, würde durch diese<br />

Vermutung noch weiter gesteigert werden. Rietschels Theorie der Marktansiedlung<br />

ist eben eine der fruchtbarsten, die je auf wirtschafts- und rechtsgeschichtlichem<br />

Gebiete gemacht worden sind. Immer aufs neue bewährt<br />

sie sich und immer neue Probleme finden erst durch sie ihre Lösung.<br />

Wenngleich es nun die Grenzen <strong>des</strong> Braunschw. <strong>Jahrbuch</strong>s überschreiten<br />

würde, in der bisher geübten Ausführlichkeit auch auf jene neun, aus<br />

aus Römerstädten erwachsenen mittelalterlichen Städte, wie sie Rietschel in<br />

seinem Buche über <strong>das</strong> Burggrafenamt zusammenstellt, einzugehen, wenn<br />

ich vielmehr in dieser Beziehung mich an einer anderen Stelle erst äussern<br />

kann, so möchte ich doch kurz andeuten, zu weIchen Ergebnissen ich hier<br />

inzwischen gekommen bin l ). Zunächst zeigt es sich, <strong>das</strong>s, wie in Regensburg<br />

und Köln, so auch in den drei mittelrheinischen Bischofsstädten, Mainz,<br />

Worms und Speier, wie ich vermutete, tatsächlich besondere Marktansiedlungen<br />

ausserhalb der Römermauer bestanden, <strong>das</strong>s diese erst im zweiten Jahrzehnt<br />

<strong>des</strong> XII. Jahrh. nach dem Vorgang von Köln mit der alten Römerstadt zu einer<br />

politischen Gemeinde verbunden, und <strong>das</strong>s dann beide zu einer wirklichen<br />

Stadt erwachsen sind. Sobald man die Verhältnisse in Köln und Regensburg<br />

erkannt hat, liegt es nahe, bei Mai n z die Angabe Ekkehards, <strong>das</strong>s Erzbischof<br />

') Ich scheue mich nicht, diese auch ohne eingehenden Beweis hier vorzutragen, da mir<br />

<strong>für</strong> B rau n s c h w e i g schon jetzt alles klar gestellt zu sein scheint.<br />

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P. J. M EI E R<br />

Hatto (891-9 I 3) Mainz von seinem alten Platz näher an den Rhein verlegt<br />

hätte, mit Hansen (a. a. O. S. (1) dahin zu verstehen, <strong>das</strong>s auch hier eine Rheinvorstadt<br />

mit kaufmännischer Bevölkerung gegründet sei; denn eine gewöhnliche<br />

Stadterweiterung, noch dazu in so frühen Zeiten, war nicht nötig, da<br />

wir wissen, <strong>das</strong>s die Stadt auch späterhin den weiten Raum innerhalb der<br />

Römermauer nicht ausgefüllt hat. -ln Speier ferner hat Bischof Rüdiger, wie<br />

wir aus einer Urkunde von 1084 (UB. (1) wissen, nicht allein in diesem<br />

Jahre eine besondere, ummauerte Ansiedlung <strong>für</strong> die Juden geschaffen, sondern<br />

schon vordem aus der Spirensis villa eine urbs gemacht, d. h. die Marktansiedlung,<br />

die auch in der Urkunde Nr. 5 von 969 noch villa genannt wird,<br />

in Nr. 13 von I 101 aber urbs, mit 'einer Befestigung umgeben; namentlich<br />

die letztgenannte Urkunde ist ohne Annahme einer Marktansiedlung mit<br />

forum, ius civile, dem Königsbann von 60 {J und den forenses, die alle hier genannt<br />

werden, gar nicht zu erklären. -:- Während in Speier eine topographische<br />

Bestätigung dieser Verhältnisse, so weit ich sehe, nicht 'mehr möglich<br />

ist, liegt die Sache in Worms ganz klar. Das suburbium der Kaiserurkunde<br />

von 979 (UB. I 35) wird hier gleichzeitig nova urbs genannt und in Gegensatz<br />

zur antiqua urbs gestellt, d. h. es werden die alte Römerstadt und die<br />

neue Marktansiedlung von einander geschieden. leh besitze nun durch die<br />

Güte Professor Weckerlings, <strong>des</strong> besten Kenners von Worms, ein Exemplar<br />

der nach Angaben von H. Boos 1893 veröffentlichten historischen Karte der<br />

Stadt, in <strong>das</strong> Weckerling den Lauf der Römermauer eingezeichnet hat; diese<br />

diente im Westen, wo sich von ihr noch heute Reste erhalten haben, auch<br />

der mittelalterlichen Stadt und erstreckte sich nach Süden hin weit über<br />

deren Grenze hinaus, liess aber im Norden und im Osten am Rhein einen<br />

schmalen Streifen liegen, offenbar die Marktansiedlung, die nova urbs, die<br />

schon vor 979 befestigt war und bereits 1080 (UB. I 57) in Bezug auf die<br />

Pfarreinteilung, ja sogar noch früher (UB. I 3 1) in Bezug auf die Erhaltung<br />

der Mauer mit der civitas innerhalb der Römermauer zu einer Einheit verschmolzen<br />

war. Erst unter der Voraussetzung, <strong>das</strong>s in Worms eine Marktniederlassung<br />

bestand, verstehen wir auch eine Reihe von Bestimmungen in<br />

dem Hofrecht <strong>des</strong> Bischofs Burchard (UB. I 48). Mit der civitas ist hier, wie<br />

mir scheint, nicht die Römerstadt, sondern die Marktniederlassung gemeint,<br />

in der, im Gegensatz zu der Ansiedlung der bischöflichen familia, der Königsbann<br />

zu 60 {J (§ 20, 27, 28) gilt, und in der die haereditalis area eines concivis<br />

nur dann dem Bischof wieder zufälIt, wenn der Eigentümer drei Jahre<br />

lang den Zins nicht entrichtet und nach dieser Zeit zu drei Gerichtstagen geladen<br />

wird, so zwar, <strong>das</strong>s er auch dann noch die Enteignung durch Zahlung<br />

<strong>des</strong> rückständigen Zinses vermeiden kann und <strong>das</strong> Grundstück nur verliert,<br />

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44<br />

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P. J. MEIEI\<br />

Ich nehme vielmehr an, <strong>das</strong>s jede der drei <strong>für</strong> die mittelrheinischen Bischofsstädte<br />

erteilten Urkunden - zwar nicht die Erhebung auch der hörigen Bevölkerung<br />

zur Freiheit ausspricht (die vielmehr mündlich erteilt sein wird),<br />

sondern stets nur die Punkte heraushebt, die besondere Anfechtungen erfahren<br />

haben mochten und <strong>des</strong>halb ausdrücklich geschützt werden mussten.<br />

In den drei Bischofsstädten Augsburg, Trier und Utrecht liegen die Verhältnisse<br />

insofern anders, als hier von dem Fortbestehen eines stadtartigen<br />

Gebil<strong>des</strong> innerhalb der Römermauer keine Rede sein kann. In Augsburg<br />

muss diese so vollständig zerstört worden sein, <strong>das</strong>s man - freilich innerhalb<br />

derselben und mit Zusammenfallen der neuen und der alten Befestigung<br />

an der Südseite - eine ganz neue Domburg mit Plankenwerk schuf, <strong>das</strong><br />

erst Bischof Ulrich (924--973) durch eine feste Steinmauer ersetzte. Dann<br />

ist im Süden dieser Domburg, also nicht auf dem Gebiet der im No r den gelegenen<br />

Römerstadt, eine Marktansiedlung gegründet worden, die als solche<br />

noch 1 1 32 bestand und erst in dem Zeitraum von 1 1 32 bis 1 1 56 zur Stadt sich<br />

ausweitetet). - In Trier war die Römermauer, vermutlich beim Norman·<br />

neneinfall von 882, auch so stark zerstört, <strong>das</strong>s eine ovale, erst um 1000 fest<br />

ummauerte Domburg, die noch jetzt in den Zügen der Strassen sich deutlich<br />

zu erkennen gibt!), zwar wieder innerhalb der Römermauer, aber diesmal ganz<br />

selbständig und ohne deren Benutzung angelegt wurde. Unmittelbar an die<br />

westliche Aussenseite der Domburg lehnte sich der Markt, <strong>des</strong>sen berühmtes<br />

steinernes Marktkreuz 958, vielleicht bald nach der Gründung der Marktansiedlung,<br />

errichtet wurde. Erzbischof Bruno (1102-1124) hat dann wenigstens<br />

im Süden mit dem Bau einer Stadtmauer begonnen, <strong>das</strong> Werk aber<br />

unvollendet gelassen, und als dann Graf Heinrich von Namur 1 142 gegen die<br />

Stadt rückte, war diese nicht durch eine Mauer geschützt, so <strong>das</strong>s die Trierer<br />

damals unter dem Zwange der Not eine solche endlich erbauten. Man errichtete<br />

sie nun im Norden und Westen auf der Grundmauer der Römerrnauer,<br />

wählte aber im Osten und Süden eine erheblich engere Linie, da die<br />

Römerstadt sich hier zu weit hinaus erstreckte. - Für U t re c h t lässt sich<br />

wenigstens <strong>das</strong> feststellen, <strong>das</strong>s die Römermauer nur die Domimmunität umfasste,<br />

so <strong>das</strong>s der Markt ausserhalb derselben lag. - Und <strong>das</strong> ist schliesslich<br />

auch in Strassburg der Fall, wo die Römermauer nicht ein stadtartiges<br />

Gebilde, sondern den Dom, die Häuser <strong>des</strong> Klerus, der Ministerialen und<br />

Hörigen umschloss, der Martinsmarkt aber ausserhalb derselben lag 9 ). Die<br />

Erhebung zur Stadt ist hier 1 129 durch Kaiser Lothar erfolgt (UB. I 78).<br />

') Vgl. den historischen Stadtplan in Pius Dirr, Augsburg (Stätten der Kultur XX) S. S2.<br />

2) V gl. den historischen Stadtplan in Krüger, die Trierer Römerbauten (Tri er 1909). B) V gl.<br />

den historischen Plan in den Städtechroniken Bd. IX.<br />

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ANFÄNGE DER STADT BRAUNSCHWEIG 45<br />

In allen diesen neun Bischofsstädten <strong>des</strong> Rhein- und Donaugebiets ist<br />

durch Rietschel <strong>das</strong> Amt <strong>des</strong> Burggrafen als <strong>das</strong> <strong>des</strong> Burgkommandanten nachgewiesen<br />

worden. Aber nur in Regensburg, Köln, Mainz, Worms und Speier<br />

handelt es sich um die alte Römermauer und um eine stadtartige Festung, bei<br />

den vier anderen Orten erstreckt sich seine Tätigkeit nur auf die erheblich<br />

kleinere Domburg, und <strong>das</strong> ist insofern von Bedeutung, als Rietschels Folgerung,<br />

der <strong>für</strong> Würzburg und Magdeburg gleichfalls bezeugte Burggraf Iiesse<br />

. hier auf städtische Gebilde bereits <strong>des</strong> XI. Jahrh. schliessen, dadurch hinfällig<br />

wird 1).<br />

Aber die Domburgen haben durch ihre Befestigung und ihre verhältnismässige<br />

Grösse immerhin ein stadtartiges Gepräge gehabt, und <strong>das</strong> ist vor<br />

allem da der Fall gewesen, wo die Kaufmannsansiedlung oder doch wenigstens<br />

der Markt in ihrem Bereich liegt. Der Ort, der daher am meisten den<br />

Anspruch erheben kOnnte, schon im XI. Jahrh. eine Stadt gewesen zu sein,<br />

ist Hamburg.<br />

Innerhalb der alten Burg (civitas) hatte Ludwig der Fromme 831 ein<br />

Erzstift gegründet, neben der nunmehrigen Domburg aber hatte sich ein<br />

suburbium, auch vicus proximus genannt, gebildet, und der Kirchen<strong>für</strong>st besass<br />

schon lange vor 888 den usus numorum et negoliandi, der aber damals<br />

wegen der vielen feindlichen Einfälle ausser Gebrauch gesetzt war. Die Burg<br />

wurde nun 983 von den Obotriten zerstört, und damals viele ex dero et civibus<br />

gefangen genommen oder getötet. Erst ErzbischofUnwan begann (c. 1020),<br />

Erzbischof Bezelin (c. 1035) vollendete die grossartige Erneuerung Hamburgs.<br />

Die steinerne, mit drei Toren und insgesamt zwölf Türmen versehene Mauer<br />

aber, die dann erst nach Bezelin vollendet wurde, umschloss ausser dem Dom<br />

und den Wohnungen der Kleriker auch <strong>das</strong> Haus <strong>des</strong> Herzogs 2 ) (<strong>das</strong> praelarium),<br />

die Marktkirche zu Sankt Peter 3 ) und <strong>das</strong> anliquum forum, vielleicht<br />

sogar die Ansiedlung der Kaufleute selbst, die vor 983 ausserhalb der Domburg<br />

gelegen hatte; denn so erklärt es sich am besten, wenn angegeben wird,<br />

<strong>das</strong>s die Hälfte der Mauertürme den cives zur Verteidigung anvertraut war_<br />

Aber <strong>das</strong>s der Herzog seinen Palast auf der Domburg hatte, versteht sich von<br />

selbst, wenn wir hören, <strong>das</strong>s die neue Bischofskirche in die bereits bestehende<br />

Burg hineingelegt wurde, aus der der weltliche Fürst niemals gewichen war,<br />

und die Verlegung von Markt und Kaufmannsansiedlung in die Burg, die<br />

noch dazu bei der gefährlichen Lage Hamburgs und den bösen Erfahrungen<br />

I) Vgl. oben S. 24. ') Der vermutlich selbst <strong>das</strong> Kommando über die Domburg<br />

hatte oder es durch einen seiner Ministerialen ausüben liess. ") Sie wird zwar erst I 19S<br />

genannt, ist aber gleich vielen anderen Marktkirchen wohl sicher schon im XI. Jahrh. gegründet<br />

worden.<br />

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P. J. MEIER<br />

besonders <strong>des</strong> Jahres 983 wohl als notwendig erkannt wurde, wiederholt sich<br />

in OsnabrUck.<br />

Aber diesen beiden Orten fehlt eben doch auch wieder die rechtliche und<br />

örtliche Vereinigung der Hörigen usw. mit den bis dahin allein bevorrechteten<br />

Kaufleuten; sie können also aus diesem Grunde noch nicht den Anspruch<br />

erheben, Städte zu sein.<br />

XIII. Zusammenfassung.<br />

Ich fasse kurz <strong>das</strong> Ergebnis dieser Ausführungen zusammen und knUpfe<br />

daran die Schlussfolgerung.<br />

I. Das Hauptkennzeichen der Stadt <strong>des</strong> XII. Jahrh. besteht darin, <strong>das</strong>s in<br />

dem durch eine Befestigung, sei es nun durch Mauer oder durch Wall mit<br />

Plankenwerk, geschützten und dadurch zugleich nach aussen abgeschlossenen<br />

Ort eine gemischte Bevölkerung von Kaufleuten, Ministerialen, Landwirten,<br />

Handwerkern und Tagelöhnern eine einheitliche politische Gemeinde bildet,<br />

die die persönliche Freiheit, aber auch eine ganze Reihe von anderen Vorrechten<br />

geniesst.<br />

2. Das erste Beispiel <strong>für</strong> solche Zusammenschweissung bis dahin getrennter<br />

Gemeinden und Stände in Deutschland, nach dem Vorbild flandrischer<br />

Städte 1 ), bietet Köln im J. 1106, und es liegt nicht der geringste Grund vor,<br />

anzunehmen, <strong>das</strong>s ihm eine andere deutsche Stadt zeitlich darin vorangegangen<br />

sei.<br />

3. Ein stadtähnliches Gebilde zeigen im XI. Jahrh. zahlreiche Domburgen,<br />

die vielfach ein grösseres, von einer Befestigung, und zwar wieder entweder<br />

von einer Verplankung oder von einer Steinmauer, umschlossenes Gebiet be·<br />

decken, die Domimmunität, die aber neben den Gotteshäusern und Klerikerwohnungen<br />

nicht blos die Wohnungen von Ministerialen und Hörigen, sondern<br />

in einigen Fällen auch die der bevorrechteten Kaufleute und deren<br />

Markt in sich begreift.<br />

4. Die Regel aber ist, <strong>das</strong>s der Markt und die Ansiedlungen der Kaufleute<br />

einen besonderen Ort fUr sich bilden, der nach aussen abgeschlossen, ja gar<br />

nicht so selten auch gleichfalls von Plankenwerk oder Mauer geschützt ist.<br />

Diese Kaufmannsorte gehören in der Regel dem X. oder dem XI. Jahrh. an.<br />

5. Wenden wir aber dies Ergebnis auf die Stadt <strong>Braunschweig</strong> an, so ist<br />

noch klarer, als zuvor, <strong>das</strong>s hier von einer Stadt im Sinne <strong>des</strong> Mittelalters<br />

vor dem XII. Jahrh. gar keine Rede sein kann. Da aber allein schon die<br />

Münzen <strong>des</strong> Markgrafen Ekbert beweisen, <strong>das</strong>s <strong>Braunschweig</strong> im XI. Jahrh.<br />

bereits Markt und kaufmännische Bevölkerung besessen hat, so ist ebenso<br />

1) Vgl. H. Brunner a. a. O.<br />

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ANFÄNGE DER STADT BRAUNSCHWEIG 47<br />

klar, <strong>das</strong>s der Ort damals <strong>das</strong> gewesen ist, was wir uns nach Rietschels Vorgang<br />

gewöhnt haben, eine Marktniederlassung zu nennen. Die Tatsache,<br />

<strong>das</strong>s um 1030 die UIrichskirche geweiht ist, <strong>für</strong> die eine andere Erklärung<br />

als die einer Pfarrkirche <strong>für</strong> eine Kaufmannsgemeinde fehlt, <strong>das</strong> Aussehen<br />

dieser Kirche ferner und schliesslich die Bezeichnung <strong>des</strong> Platzes, an dem<br />

die Kirche liegt, als Alter Markt, führen genau zu demselben Ergebnis. Auf<br />

zwei ganz von einander getrennten Wegen bin ich somit zu demselben Ziele<br />

gelangt. Ich darf darin wohl eine Gewähr da<strong>für</strong> erblicken, <strong>das</strong>s ich der<br />

Wahrheit so nahe gekommen bin, wie es in dieser überaus schwierigen Frage<br />

auf Grund <strong>des</strong> vorhandenen Materials augenblicklich möglich ist.<br />

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AUS DEN BRIEFSCHAFTEN GOTTLOS WIEDEBEINS.<br />

EIN BEITRAG ZUR BRAUNSCHWEIGISCHEN THEATER­<br />

GESCHICHTE IM 19. JAHRHUNDERT.<br />

Von Dr Paul Alfred Merbach.<br />

Die nachfolgend mitgeteilten Briefe stammen aus dem Nachlasst) Gottlob<br />

Wiedebeins, an den sie gerichtet sind, und beziehen sich in der Hauptsache<br />

auf die Umwandlung <strong>des</strong> Nationaltheaters zu <strong>Braunschweig</strong> in ein Hoftheater;<br />

sie sind um so wertvoller, als <strong>das</strong> Archiv <strong>des</strong> letzteren ja gar kein<br />

Aktenmaterial aus jener Zeit enthält, so <strong>das</strong>s sie dadurch geradezu eine urkundliche<br />

Bedeutung gewinnen.<br />

Über Wiedebeins menschliche und künstlerische Persönlichkeit und sein<br />

Wirken in <strong>Braunschweig</strong> hat Fritz Hartmann in seinen «Sechs Büchern<br />

braunschweigischer Theatergeschichte» ausführlich gehandelt; ausserdem ist<br />

noch ein längerer Aufsatz in der «Neuen Zeitschrift <strong>für</strong> Musik, Juni/Juli 1880»<br />

zu vergleichen, der manches Zeugnis <strong>für</strong> <strong>das</strong> Ansehen beibringt, <strong>das</strong> Wiedebein<br />

in der damaligen musikalischen Welt genoss.<br />

Gottlob Wiedebein (2 I. Juni 1779 bis 17. April 1854) war um 1816 vom<br />

Kantorposten an der Brüdernkirche her an die Spitze der wieder ins Leben<br />

gerufenen <strong>für</strong>stlichen Kapelle gestellt worden, und als 1818 in <strong>Braunschweig</strong><br />

unter August Klingemanns (1777-183 I) Leitung <strong>das</strong> Nationaltheater gegründet<br />

ward, übernahm Wiedebein die Leitung der Oper; der Verwaltungskommission<br />

ward der Geheime Kanzleisekretär Ribbentrop beigegeben und<br />

aus der gemeinsamen Tätigkeit am sei ben Institute entwickelte sich eine<br />

Freundschaft, welche dann in Zeiten von Wiedebeins Abwesenheit zu einem<br />

Briefwechsel führte, der notwendigerweise auch von geschäftlichen Dingen<br />

handeln musste. Freilich sind Wiedebeins Antworten nicht mehr vorhanden;<br />

aus Ribbentrops Briefen spricht ein kluger, nüchterner und doch <strong>für</strong> <strong>das</strong><br />

Wohl <strong>des</strong> Theaters interessierter Mann; leider habe ich trotz allen Nachforschungen<br />

Näheres nicht über ihn ermitteln können.<br />

Zu seiner weiteren künstlerischen Ausbildung hatte Wiedebein Ende 1820<br />

') Dieser Nachlass wird in der Stadtbibliothek zu <strong>Braunschweig</strong> - Personalabteilung -<br />

aufbewahrt. Die Erlaubnis zur Benutzung und Verwertung der Briefe hat mir Herr Direktor<br />

Professor Dr Heinrich Mack in bekannter Liebenswürdigkeit freundlichst erteilt, wo<strong>für</strong> ich<br />

ihm auch an dieser Stelle herzlichst danke.<br />

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AUS DEN BRIEFSCHAFfEN GOTTLOB WIEDEBEINS 49<br />

einen einjährigen Urlaub zu einer grösseren Reise genommen, die ihn bis<br />

nach Rom führte; dorthin berichtet ihm Ribbentrop von der gemeinsamen<br />

Wirkungsstätte:<br />

Br. 5.12. 1821 [I820?].<br />

Lieber Wiedebein.<br />

Ihre Briefe aus Wien, München und Florenz habe ich sämmtlich richtig<br />

erhalten und mich über den Inhalt sehr gefreut. Dass Sie in der Entfernung<br />

von hundert Meilen zärtlicher mit mir umgehen, als wenn Sie hier in loco<br />

sind, schiebe ich auf <strong>das</strong> uns gemeinsam obliegende, bei verschiedenen Ansichten<br />

leicht irritirende Geschäft und auf Ihren Unterleib!), den Sie nun<br />

hoffentlich ganz curirt zu uns zurückbringen werden. Hierbei fällt mir der<br />

Unterleib von unsrer grossen Choristin der Demoiselle Behrens ein, in welchen<br />

irgend ein guter Freund - der öffentliche Ruf nennt abwechselnd Sie,<br />

Klingemann und mich - ein solches Unheil angerichtet hat, <strong>das</strong>s sie seit<br />

Monaten <strong>das</strong> Theater hat verlassen müssen. Übrigens ist unser gesammtes<br />

Theaterpersonal noch <strong>das</strong>selbe, wie Sie es verlassen haben 2 ). Zu Ostern verlässt<br />

uns Doelle nebst Frau 3 ). So sehr wie wir auch ihren Abgang bedauern,<br />

so liess es sich dennoch nicht ändern. An dem Manne ist zwar nicht viel verloren,<br />

die Frau aber vortrefflich. Ihre Bedingungen waren zu absurd, als<br />

<strong>das</strong>s wir hätten auf sie eingehen können. Ostern tritt Mad. Cornet ein, die<br />

bereits zweimal den Tancrt'd als Gastrolle gegeben hat und überaus gefallen<br />

hat 4 ) •• Gesang und Spiel sind bei dieser Frau gleich gut. Als Sängerin ziehe<br />

ich sie fast allen Altsängerinnen vor, die ich gehört habe. Ausser dem DoeHe-<br />

') Wiedebein litt an einem Unterleibsübel, <strong>das</strong> ihn bereits 1830 zwang, von seinem Kapellmeisterposten<br />

zurückzutreten. 2) Es findet sich verzeichnet in dem von Klingemann auf<br />

<strong>das</strong> Jahr 1822 herausgegebenen Theateralmanach, einer der ersten im heutigen Sinne; es<br />

existiert nur dieser eine Jahrgang, der eine grosse Seltenheit geworden ist; ein Exemplar befindet<br />

sich z. B. in der berühmten und absolut vollständigen Bibliothek der deutschen Literatur<br />

von 17S0 bis 1880 <strong>des</strong> Herrn Rechtsanwaltes Dr Topp in <strong>Braunschweig</strong>, dem ich <strong>für</strong> manche<br />

wertvolle Hinweise und Unterstützung auch hier herzlichst danke. ") -Herr und Mad.<br />

Doelle engagiert April 1820/1. Abgegangen Herr und Mad. Doelle.' - - Herr Doelle Tenor<br />

in der Oper, gesetzte Rollen im Schauspiele. Mad. Doelle hochliegende Bravourparthien in<br />

der Oper> (Nach Klingemann 's Almanach 1822). 4) Mad. Cornet, die erste Frau <strong>des</strong><br />

berühmten Tenors und Opernregisseurs Julius Cornet (siehe weiter unten), eine geborne Gräfin<br />

Wartensleben, sang den «Tancred. in Rossini's gleichnamiger Oper als Gast am 4. Juli und<br />

2. September 1821. Vergleiche dagegen: Ludwig Wollrabe, sämtlicher Hamburger Bühnen<br />

Chronologie (Hamburg 1847) S. 328: Berichtigung. Mad. Cornet, geb. Exner, sang im Juni<br />

1821 die Sophie im Sargino - nicht die jetzige Frau <strong>des</strong> Herrn Cornet, welche als Dem.<br />

Kiel im Jahre 182 S als Sargino zum ersten Male in dem Alter von 16 Jahren in Hamburg<br />

debütierte. Mad. Cornet, geb. Exner, war Altistin und starb 1823. Mad. Cornet, geb. Kiel,<br />

heiratete 1826 im März und kam als solche in <strong>das</strong> Engagement nach Hamburg. - Die Verschiedenheit<br />

der Namen ist nicht zu erklären.<br />

Siaunschw. <strong>Jahrbuch</strong> Xl.<br />

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4


5°<br />

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PAUL ALFRED MERBACH<br />

schen Ehepaare ist <strong>das</strong> gesamte Personal wiederum auf zwei Jahre engagirt,<br />

auch Beuther, den Göthe in seinem neusten Hefte von Kunst und Altertum<br />

dem berühmten Mailänder Decorateur an die Seite stelltl). Die Veränderungen<br />

im Orchester sind bis zu Ihrer Rückkehr aufgeschoben. Nur dringen<br />

wir noch darauf, <strong>das</strong>s dem Orchester gleich von Ostern ab die unbedingte<br />

Verpflichtung zum Theaterdienste auferlegt, so wie <strong>das</strong>s Bösecke 2 ) als Ihr<br />

Gehülfe und Stellvertreter anerkannt werde, da sein jetziger Standpunkt <strong>das</strong><br />

Verhältniss nothwendig bedingt. Ich hoffe, <strong>das</strong>s Sie mit Bösecke recht gut<br />

zu stehen kommen werden. So weit ich ihn habe kennen lernen, ist er wirklich<br />

ein sehr rechtlicher Mann, mit dem sich, wenn man nur offen gegen ihn<br />

ist, leicht verkehren lässt. Heute Morgen ist der alte Spiess zum ersten Male<br />

wieder ins Orchester gekommen. Sorgen Sie nur <strong>für</strong> einige tilchtige Geiger.<br />

Diese thun uns namentlich sehr Noth. Auch ein kräftiger Contrabassist muss<br />

wieder angeschafft werden. - Es wird gut sein, wenn Sie hier mit einer<br />

neuen schönen Oper debütiren, bei deren Darstellung Sie die während Ihrer<br />

Reise gesammelten Erfahrungen darlegen könnenS). Fänden Sie dort oder<br />

auf Ihrer Rückreise eine Oper, die sich zu diesem Zwecke eignet, so kaufen<br />

Sie dieselbe oder lassen Sie sie abschreiben. Hundert Thaler wollen wir<br />

allenfalls fUr solche Ankäufe bewilligen. Ich will dieses Blatt möglichst voll<br />

schreiben, kann aber nichts da<strong>für</strong>, wenn durch die Oblaten manches verloh<br />

ren geht. Ihre Frau 4 ) habe ich heute Morgen besucht und ihr mehere erfreuliche<br />

Nachrichten, die uns Rettberg aus Florenz über Sie ertheilt hat,<br />

überbracht. Ist es denn wahr, <strong>das</strong>s Sie sich in Florenz haben öffentlich hören<br />

lassen? - Ihre ganze Familie ist wohl und munter .. __ Ich wollte, Sie könnten<br />

diesen Abend <strong>für</strong> mich ins Donauweibchen Ö ) - <strong>das</strong> uns immer die Casse<br />

voll macht - und ich an Ihrer Stelle aufs Capitolium gehen. Wie muss<br />

I) Vgl. August Klingemann: Kunst und Natur, 3, 369, 400; I, 436, 4,0. - .Über<br />

Kunst und Altertum, 3. Bd. 3. Heft, 1822.' - «Jahres- und Tageshefte 181" Sophienausgabe<br />

Bd. 36, Seite 101>. - Friedrich Beuther (1776- I 8,6) war der Schöpfer der Längenperspektive<br />

der Bühnendekoration; 1814-18 in Weimar, bis 23 in <strong>Braunschweig</strong>, dann in<br />

Kassel. ') Über ihn ist weiter nichts bekannt, als <strong>das</strong>s er der treue Gehülfe Wiedebeins<br />

war und bei <strong>des</strong>sen häufigen Absagen stets <strong>für</strong> ihn eintrat. 11) Die erste Opernnovität<br />

nach Wiedebeins Rückkehr war am 17. Januar 1822


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AUS DEN BRIEFSCHAFTEN GOTTLOB WIEDEBEINS 51<br />

Ihnen Glücklicher zu Muthe seyn? - Die Nachbewilligung 1 ) der Regierung<br />

wird schon längst in Ihren Händen sein.<br />

Der Ihrige R.<br />

(Wie geachtet Wiedebein auch unter den Grössen der Schauspielkunst war,<br />

bezeugt nachstehender Brief Emil Devrients, den er aus nicht mehr deutlich<br />

erkennbarer Veranlassung auf der Höhe seines Ruhmes an ihn schrieb, voll<br />

Dankbarkeit <strong>für</strong> den einstigen Lehrer: (vielleicht hatte ihm Wiedebein nach<br />

dem ersten Gastspiel am Hoftheater vom 7. bis 26. November 1845 seine Anerkennung<br />

mit Erwähnung der gemeinsamen Vergangenheit ausgesprochen).<br />

Er befindet sich im Stadtarchiv zu <strong>Braunschweig</strong> (Personaliensammlung) und<br />

lautet:<br />

Dresden, 29.12.1845.<br />

Werther Herr und Freund.<br />

Nicht leicht konnte mir eine grössere Freude werden, als Ihr so freundlicher<br />

Nachruf mir gebracht; - welch höhere Genugthuung bietet <strong>das</strong> Leben,<br />

als die Früchte unsers Lebens, unsers Wirkens, so schwach sie auch seien,<br />

von denen anerkennend aufgenommen zu sehen, auf deren Urtheil wir Wert<br />

legen, - die selbst freundlich Hand angelegt uns zu leiten, zu führen! Sie<br />

gaben mir einst <strong>das</strong> genugthuende Gefühl, - urtheilen Sie wie warm Ihnen<br />

mein Herz da<strong>für</strong> schlägt, - wie sich dadurch mein inniges Andenken <strong>für</strong> Sie<br />

verstärkt.<br />

Mit steter Anhänglichkeit und Hochschätzung Ihr<br />

E. Devrient.)<br />

In dem Briefwechsel tritt nun eine längere Pause ein, <strong>das</strong> Amt fesselte<br />

Wiedebein an <strong>Braunschweig</strong> und der Verkehr mit Ribbentrop war ein mündlicher;<br />

der Dienst führte sie ja täglich zusammen. Erst 1825 kam wieder eine<br />

längere Abwesenheit <strong>des</strong> Hofkapellmeisters und auch ein innerer Anlass zu<br />

einer lebhaften Korrespondenz.<br />

Der jugendliche Herzog Karl 11 war 1823 zur Regierung gelangt; Hartmann<br />

hat in seinem erwähnten Werke geschildert, wie <strong>das</strong> Interesse <strong>des</strong><br />

Fürsten <strong>für</strong> Theaterdinge sehr lebhaft war, und wie er selbst in die Organisation<br />

seines zu errichtenden Hoftheaters eingriff. Noch ehe Klingemanns<br />

Schöpfung und Lieblingskind, <strong>das</strong> Nationaltheater, am 19. März 1826 mit<br />

der «Zauberflöte» geschlossen wurde 2 ), stand der Plan eines eigenen Hoftheaters<br />

bei Karl längst fest; Wiedebein und Klingemann wurden da<strong>für</strong> von<br />

vornherein verpflichtet und der erstere im Frühjahr 1825 mit Instruktionen<br />

') Wohl die Nachbewilligung <strong>des</strong> Urlaubes gemeint. ') Ursprünglich war Spohrs<br />

cJessonda. angesetzt, konnte aber wegen Erkrankung <strong>des</strong> zweiten Kapellmeisters Bösecke<br />

nicht gegeben werden.<br />

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PAUL ALFRED MERBACH<br />

<strong>des</strong> Herzogs auf eine längere Dienstreise geschickt, um von den verschiedenen<br />

Theatern Deutschlands gute und beste Kräfte <strong>für</strong> <strong>das</strong> neue Institut in <strong>Braunschweig</strong><br />

anzuwerben_<br />

In den Einzelheiten ist diese Kunstfahrt nicht mehr genau zu erkennen,<br />

da die Adressen verschiedener Briefe Ribbentrops fehlen; Wiedebein ging<br />

mit grosser Sorgfalt zu Werke, <strong>das</strong> zeigen seine im Stadtarchive zu <strong>Braunschweig</strong><br />

aufbewahrten Berichte über die Opern zu Dresden und Wien, Berichte,<br />

die wahre Muster an sicherem und gerechtem Urteile und von staunenswerter<br />

Sachkenntnis sind und die noch der Veröffentlichung harren_<br />

Auch über Schauspielkräfte hatte Wiedebein zu entscheiden; er wurde von<br />

dem Freunde daheim über alle Dinge <strong>des</strong> Theaters auf dem laufenden erhalten,<br />

und da Ribbentrop in Inhalt und Stil ausführlich, oft weitschweifig<br />

ist, so ist die «Einseitigkeit» der Korrespondenz fUr <strong>das</strong> Verständnis und die<br />

lebendige Anschauung der damaligen Vorgänge nicht hinderlich_<br />

Der erste der erhaltenen Briefe lautet folgendermassen :<br />

Br., 22. 2. 1825.<br />

Lieber Freund.<br />

Ihren Brief aus Berlin vom 9. d. M. habe ich erhalten und zweifle keineswegs,<br />

<strong>das</strong>s Ihnen Serenissimus <strong>das</strong> Schweigen streng zur Pflicht gemacht,<br />

da sonst kein Grund vorhanden wäre, weshalb Sie nicht gegen die Personen<br />

sich hätten auslassen sollen, die mit Ihnen künftig <strong>das</strong> Geschäft führen sollen.<br />

Ihren Auftrag an die Commission habe ich ausgerichtet. Auf Sie ist Niemand<br />

böse. Gott gebe nur, <strong>das</strong>s Sie mit der Ausführung Ihrer Aufträge glucklich<br />

sind. Wir haben uns hier in<strong>des</strong>sen bemüht, den Hr. Dr Klingemann festzuhalten,<br />

auch hat sich Serenissimus schon bereit erklärt, den Mann anzustellen,<br />

aber auf die Frau will er sich durchaus nicht einlassen!). Sie wissen, was<br />

wir unter diesen Umständen zu hoffen haben; also nochmals bitte ich Sie,<br />

sich auf Ihren Reisen nach einem qualifizirten Subjekte umzusehen. Übereilt<br />

braucht <strong>des</strong>halb nichts zu werden.<br />

Folgende Neuigkeiten werden Sie interessiren.<br />

I. Am Sonnabend vor 8 Tagen wollte Fränzchen Kiel 2 ) ins Wasser sprin-<br />

') So schlimm war die Sache nicht. Der Herzog liess sich doch bewegen, Elise Klingemann,<br />

geb. Anschütz (178,-1862), zu behalten; sie ist bis zu ihres Mannes Tode 1831 eine<br />

treffliche Stütze <strong>des</strong> Ensembles gewesen. ') Franziska Kiel ward am 23. Januar 1808<br />

zu Kassel geboren, wo ihre Eltern am königlich westfälischen Hoftheater engagiert waren.<br />

Der Vater musikalisch ungemein gründlich gebildet, ein trefflicher M usik- und Gesanglehrer ;<br />

die Mutter wird als eine tüchtige Schauspielerin im Charakter- und komischen Fache geschildert.<br />

Im Februar 181, siedelte die ganze Familie zur Waltherschen Gesellschaft nach<br />

<strong>Braunschweig</strong> über und Franziska betrat am 3. April dieses Jahres zum I. Male die Bretter<br />

in einer kleinen Rolle in «Der verbrannte Amor. oder «Die argwöhnischen Eheleute. von<br />

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AUS DEN BRIEFSCHAFTEN GOTTLOB WIEDEBEINS 53<br />

gen und heute ist ihre feierliche Verlobung mit Cornet 1 ), der dem Alten<br />

3000 Rthl. <strong>für</strong> <strong>das</strong> Mädgen gibt 2 ). Beide sehen sich mit der alten Kiel nach<br />

einem andern Engagement um 3 ). Ich bin nach einigen neueren Erfahrungen<br />

Kotzebue. In <strong>das</strong> Nationaltheater trat die Mutter als fest engagiertes Mitglied ein, der Vater<br />

sang öfters aushilfsweise und Franziska mit ihren Geschwistern Amalie, Adolph und August<br />

wurde in Kinderrollen verwendet. Der Köhlerbube in der Jungfrau von Orleans, Teils Knabe<br />

Walther und ähnliche Aufgaben waren zunächst ihr Gebiet, bis sie allmählich vom Vater zur<br />

Sängerin ausgebildet ward und am 17. Januar 1822 in der braunschweigischen Premiere <strong>des</strong><br />

«Freischütz. als Brautjungfer zum ersten Male als «Dem. Kiel. auf dem Zettel stand. Allmäh·<br />

lieh wuchs sie zu einer ersten Kraft <strong>des</strong> Hoftheaters heran und sang als Mädchen zum letzten<br />

Male am 13. Juni 1825, und zwar die Lydia in Aubers heute vergessener Oper «Der Schnee •.<br />

') Die Verlobungsanzeige stand in den «Braunschw. Anzeigen. vom 22. Februar 1825.­<br />

Julius Cornet (1794-1860) war einer der ersten Tenöre seiner Zeit; er hatte am 14. Mai<br />

1820 von Graz aus <strong>für</strong> den von Spontini nach Berlin gerufenen berühmten Bader als Tamino<br />

gastiert und war engagiert worden; auch seine erste Frau war Mitglied der braunschweigischen<br />

Bühne (siehe oben). . ') Diese merkwürdige Sache findet ihre Bestätigung in<br />

einem Briefe, den um dieselbe Zeit Hofrat Gottfried Petri, der auch der Verwaltung <strong>des</strong> Theaters<br />

angehörte, an Wiedebein schrieb. Petri berichtet in seinen ebenfalls im Wiedebeinschen<br />

Nachlasse aufbewahrten Briefen viel Stadtklatsch und führt diese eigenartige Verlobungsaffaire<br />

mit sichtlicher Freude ausführlich aus: (23.2.25): Der alte Kiel hat heute die Verlobung<br />

seiner Francisca - welche durch ein neuliches Entlaufen aus dem väterlichen Hause und versuchtes<br />

Ertränken in dem Ihrem Hause vorüberströmenden Okerkanal den Vater dahin disponirt<br />

haben mag - mit Hrn. Cornet bekannt gemacht; man behauptet, <strong>das</strong>s Letzterer vorgestern<br />

am Tage der Verlobung dem künftigen Schwiegerpapa 1000 Rthl. gezahlt und versprochen<br />

habe, am Tage der Hochzeit nochmals 1000 Rthl. und 8/. Jahr darauf die letzten<br />

1000 Rthl. zu zahlen. Eine Art von Seelenverkäuferei, aber den Umständen nach freilich wohl<br />

dem alten Kiel nicht ganz zu verdenken. - Glücklich war die Ehe in der ersten Zeit wohl nicht,<br />

denn der Vater Franziskas, der mit den Seinen also von 1821 bis 1827 in <strong>Braunschweig</strong> gelebt<br />

hatte und nachher als <strong>für</strong>stlicher Musikdirektor nach Sondershausen gegangen war, schrieb<br />

von dort über ein Jahr später an Kiel (14. 9. 1826): « ... Zu meinem Leidwesen höre ich<br />

von fremden Leuten, <strong>das</strong>s meine a::lteste Tochter höchst unglücklich ist und <strong>das</strong>s der schlechte<br />

Mensch sie ganz tirannisch behandelt. Ich habe bis jetzt noch keine Zeile von ihr und ich<br />

habe daher auch noch nicht an sie geschrieben, weil sie sich ihr Schicksal selbst bereitet hat .•.<br />

ich weiss mein Kind durch eigene Schuld so unglücklich. Ich habe daher nach Hamburg an<br />

einen guten Freund geschrieben, <strong>das</strong>s er ihr eröffnen soll, den schlechten Menschen, welcher<br />

mich um Ruhe, Brod und Kind beraubt hat zu verlassen und zu mir zu kommen. Vielleicht<br />

reise ich auch selbst nach <strong>Braunschweig</strong>, um <strong>das</strong> unglückselige Geschöpf dem Wütherich zu<br />

entreissen.. 11) Am 21. Juni 1825 fand Franziskas Heirat mit Cornet statt; am 5. Juli<br />

1825 sang sie zum ersten Male als «Madame Cornet., diesmal die Alphodine im «Taucher.<br />

von Konradin Kreutzer; bald fühlten sie sich aber doch recht unbehaglich und sangen zum<br />

letzten Male am 12. März 1826 in <strong>Braunschweig</strong>, einige Tage also vor dem Schlusse <strong>des</strong> alten<br />

Nationaltheaters. Julius und Franciska Cornet gingen einige Monate nach Kassel ins Engagement,<br />

(siehe weiter unten) waren dann bis Anfang 1832 in Hamburg tätig, dann wieder aber<br />

«schon ziemlich stimmlos. in <strong>Braunschweig</strong>, wo sie öfters gastiert hatten, so namentlich im<br />

August und September 1829. Dort leitete er als ausgezeichneter Regisseur die Oper vier<br />

Jahre lang, war wieder in Hamburg, stand dann längere Zeit an der Spitze der Wiener Hof-<br />

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54<br />

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PAUL ALFRED MERBACH<br />

ganz damit zufrieden, wünsche aber, <strong>das</strong>s Sie einen guten Tenoristen wiederfinden<br />

mögen. 2. Der kleine Wirtemberger 1 ) soll wieder engagiert werden,<br />

was mir sehr erfreulich ist. 3. Ist Ihnen nicht recht, wenn alle Besoldungs­<br />

Veränderungen im Orchester bis zu <strong>des</strong>sen Reorganisation aufgeschoben<br />

werden? Von diesem Gesichtspunkte bin ich bei einigen Anträgen ausgegangen<br />

und habe vorgeschlagen, lieber Extraordinaria zu bewilligen, namentlich<br />

dem John und Freudenthai, weIch letzterer sich aber auf ein Versprechen<br />

von Ihnen berief. 4. Am nächsten Donnerstag geht die Dermer') zu ihren<br />

Gastrollen nach Hannover 3 ) ab. Diesen Abend bin ich mit Ihrer sehr wohl<br />

oper und schloss sein Leben in BerIin als Direktor am Victoriatheater. Zweifellos war er ein<br />

bedeutender Vertreter seines Faches und hat in der Regieführung Grundsätze an den Tag<br />

gelegt und zu verwirklichen versucht, die unbewusst manche Anschauungen Richard Wag- --\<br />

ners, der Meininger und unserer Tage zur Durchführung bringen wollten. Namentlich seine<br />

Inscenierungen in <strong>Braunschweig</strong> - er hatte 1836 in Paris Studien gemacht - hatten einen<br />

hervorragenden Ruf. In einem heute sehr seltenen Werke: .Die Oper in Deutschland und<br />

<strong>das</strong> Theater der Neuzeit. Aus dem Standpunkt praktischer Erfahrung. Hamburg 1848. hat<br />

Cornet manches von seinen Gedanken und Erfahrungen niedergelegt. Ein • Versuch über<br />

Opernschulen. ist mir als besonderes Buch unbekannt geblieben. Von Cornet stammt die<br />

heute noch gebräuchliche Übersetzung der .Stummen von Portici. von Auber, Masaniello<br />

war seine Hauptleistung. Franziska hat ihren Gatten in den verschiedenen Stellungen als<br />

Sängerin begleitet, war dann Gesangslehrerin und lebte seit 1863 wieder in <strong>Braunschweig</strong>,<br />

wo sie von ihrer 90jährigen Mutter überlebt starb; 1869 hatten beide die Feier gemeinsamen<br />

Auftretens vor 50 Jahren an <strong>Braunschweig</strong>s Hofbühne begangen, die Mutter damals als Hedwig<br />

im .Tell., die Tochter als .Walther •. Beide liegen auf dem Magnifriedhofe in <strong>Braunschweig</strong><br />

begraben. - Die Angaben über Julius und Franziska Cornet in der Allg. deutsch. Biographie<br />

sind nach obigem zu berichtigen.<br />

1) Wirtenberger war Theaterinspektor und <strong>für</strong> kleine Rollen engagiert. Seine Frau spielte<br />

<strong>das</strong> Fach der Mütter in Nebenrollen. ') Betty Dermer, die Geliebte <strong>des</strong> Herzogs KarllI,<br />

war 1823 bis 1830 Mitglied <strong>des</strong> Hoftheaters; mit dem Regime <strong>des</strong> Herzogs endete auch ihre<br />

Tätigkeit. Sie hatte am 15. August 1820 auf der Bühne <strong>des</strong> Theaters an der Wien zum<br />

I. Male die Bretter betreten als. Rosenhütchen. in Blums gleichnamiger Oper und sich rasch<br />

entwickelt; sie war an der Hofoper zu Wien engagiert; seit April 1823 war sie in Braun·<br />

schweig (vergl. Hartmann, S. 405 und folgende), wo sie alle Höhen und Tiefen eines Künstlerlebens<br />

auskosten sollte. Ihr Vertrag mit dem Hoftheater war, vorläufig auf zwei Jahre, am<br />

2. Februar 1825 geschlossen worden mit 2250 Gulden Gage und vier Wochen Urlaub. Trotz<br />

allen Bitternissen behielt sie <strong>Braunschweig</strong> und seine Bühne in treustern Gedenken; sie schrieb<br />

aus Wien am 18. Januar 1848 an den Kammermusikus Hering: .<strong>Braunschweig</strong> ist <strong>das</strong> Land<br />

meiner seligsten Gefühle .. und mein Herz bleibt immer dort zurück> (Waltersche Sammlung).<br />

Als sie am I. November 1861 in Wien gestorben war, hatte sie 1/. ihres Vermögens<br />

dem braunschweigischen Hoftheater vermacht; die Summe bildete den Grundstock <strong>des</strong> Pensionsfonds.<br />

Es waren zunächst HO Gulden Zinsen. ") Sie gastierte vom 2. bis I I. März<br />

an 5 Abenden am Hoftheater in Hannover. Über ihr erstes Gastspiel schreibt der Theaterarzt<br />

Taberger in seinem handschriftlichen - in der Generalintendantur zu Hannover befindlichen<br />

- Tagebuche: .Die Dermer sang die Desdemona (- in Rossini's Othello -) als erste Gastdarstellung<br />

.••• sie ist eine überaus liebliche Erscheinung. Schöne Gesichtszüge und eill<br />

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AUS DEN BRIEFSCHAFTEN GOTTLOB WIEDEBEINS 55<br />

aussehenden Gemahlin bei der Dermer zu einem Abschiedsschmause eingeladen.<br />

5. Cornet und die Kiel gehen am 8. März zu den Vermählungsfeierlichkeiten<br />

1) nach Cassel ab. Gestern kam die Nachricht, <strong>das</strong>s dieselben<br />

wegen <strong>des</strong> To<strong>des</strong> <strong>des</strong> Herzogs von Gotha 2 ) aufgeschoben wären und heute<br />

ist gar die Nachricht hier, <strong>das</strong>s der Chur<strong>für</strong>st am Sonnabend erstochen sei.<br />

Man glaubt aber letzteres nicht.<br />

Auf jeden Fall bin ich überzeugt, <strong>das</strong>s wir von Cornet aus Cassel') den<br />

Antrag wegen sofortiger Entlassung bekommen. Wir haben zwar nur nöthig<br />

«Nein» zu sagen. Allein wozu nutzt <strong>das</strong> uns? Wenn irgend zu helfen wäre,<br />

wünsche ich, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Liebespaar auf dem Blocksberge sässe.<br />

Leben Sie wohl. Ihr R.<br />

Mehr wie ein Monat vergeht nun bis zu dem nächsten erhaltenen Briefe<br />

Ribbentrops nach Mannheim ; Wiedebein mochte auf seiner Kunstfahrt nicht<br />

ganz nach den Wünschen <strong>des</strong> Herzogs vorgegangen sein, denn dem fernen<br />

Freunde teilt Ribbentrop eine genaue «Instruktion» ihres Herren mit, nach<br />

der er sich bei den vorzunehmenden Engagements richten sollte. Freilich<br />

war <strong>das</strong> Resultat von Wiedebeins kritischer Reise, <strong>das</strong>s die meisten Kräfte<br />

<strong>des</strong> alten Nationaltheaters behalten wurden. Aber diese Instruktion ist ausser<br />

dem von Hartmann im Anhange seines Buches mitgeteilten Briefe aus London<br />

<strong>das</strong> einzige erhaltene Dokument, wie der Herzog persönlich in die Umgestaltung<br />

der braunschweiger Bühne eingegriffen hat.<br />

Br. 31. 3. 1825.<br />

Lieber Freund.<br />

Ueber die hiesigen Theaterangelegenheiten melde ich Ihnen folgen<strong>des</strong>.<br />

Der Schimon4.) wäre allerdings sehr gut <strong>für</strong> hier fOr 2te Tenor- und Baritonschianker,<br />

hoher Körper. Ihre Mimik ist vortrefflich und ihr Gesang angenehm, obschon noch<br />

nicht ganz ausgebildet. Sie gefiel allgemein, erhielt rauschenden Beifall und wurde am Ende<br />

der Oper enthusiastisch hervorgerufen. (Nach gütiger Mitteilung <strong>des</strong> Herrn Hofrat Poppe<br />

vom Hoftheater in Hannover).<br />

') Am 23. März 182S fand im Bellevueschlosse zu Kassel die Vermählung der Prinzessin<br />

Marie Friederike Wilhelmine Christiane, <strong>des</strong> fünften Kin<strong>des</strong> <strong>des</strong> Kur<strong>für</strong>sten Wilhelm 11, mit<br />

Bernhard Erich Freund, regierendem Herzog von Sachsen·Meiningen·Hildburghausen statt. -<br />

Am 24. und 27. März ward im Hoftheater zu Kassel Ludwig Spohrs romantische Oper .Der<br />

Berggeist. mit Fr. Kiel als Alma und Cornet als Fürst Oskar gegeben. Am 29. März sangen<br />

Beide in den Hauptrollen <strong>des</strong> Freischütz; Cornet dann noch im April in Aubers Schnee und<br />

Boildieus Rotkäppchen. ') Am 1 I. Februar 182 S starb an einem Lungenschlage Herzog<br />

Friedrich IV, der letzte Herzog von Sachsen·Gotha·Altenburg. 8) Nach obigen Aus·<br />

führungen sind die Angaben zu berichtigen in: Lynker, Geschichte <strong>des</strong> Theaters und der<br />

Musik in Cassel, 186S, Seite 382; und bei W. Brenneke, Das Hoftheater zu Cassel, 1906,<br />

Seite 44. - Die Entlassung wurde gewährt. ') Ferdinand Schimon, seit 1821 Tenor<br />

der Münchener Hofbühne, (vergl. Klingemann a. a. O. 3, (73) hatte als Nachfolger <strong>für</strong> Cornet<br />

am 16. März als Johann von Paris und am 20. März als Othello in Rossinis Oper gastiert.<br />

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PAUL ALFRED MERBACH<br />

parthien. Er hat hier aber nicht gefallen und der Herzog mag ihn auch nicht.<br />

Sr. Durchlaucht haben mir aufgetragen, Ihnen zu schreiben, <strong>das</strong>s Sie nicht<br />

weiter auf ihn reflektiren möchten. 2. Hammermeister 1 ) ist mit 600 Rthl.<br />

<strong>für</strong> <strong>das</strong> Jahr 1826/27 engagirt. 3. Am nächsten Sonntag reisst der Herzog<br />

nach England ab und möglich ist es, <strong>das</strong>s er bis zum Februar kommenden<br />

Jahres ausbleibt. Sr. Durchlaucht hatten mir aufgetragen, <strong>für</strong> die Zeit Ihrer<br />

Abwesenheit eine Instruktion über <strong>das</strong>, was von uns zu thun sei, aufzusetzen.<br />

Ich theile Ihnen <strong>des</strong> Herzogs Randbemerkungen wörtlich mit, damit Sie sehen,<br />

wie die Sache hier beschaffen ist. Den Namen setze ich voran, <strong>das</strong> Hinzugefügte<br />

sind <strong>des</strong> Herzogs Worte.<br />

Schütz 2 ) und Frau sollen auf ein Jahr wieder engagirt werden, insofern<br />

von Wiedebein nichts an deren Stelle engagirt worden. Madame Schütz soll<br />

aber in der Oper anders gestellt werdenS).<br />

Meck und Frau') auf keinen Fall zu engagiren, ohne Debatten.<br />

Metzner und Frau 6 ) auf keinen Fall zu behalten.<br />

1) Hammermeister, Bariton und im Schauspiel kleiner Charakterrollen, war schon am<br />

Nationaltheater tätig. ') Johann Nikolaus Eduard Schütz 1799-1868, bekanntlich der<br />

erste Darsteller von Goethe's Faust, ist hier einiger Worte wert. \Vie Heinrich Marr geborener<br />

Hamburger, machte er wie dieser und Karl Devrient (beide später ja auch in <strong>Braunschweig</strong><br />

engagiert) in der hanseatischen Legion 181, den Feldzug nach Frankreich mit und .leitete.<br />

vor Paris ein .Soldatenliebhabertheater>. Er war in allem vollkommener Autodidakt; 1818<br />

trat er dann im Steinstrassentheater seiner Vaterstadt zuerst öffentlich auf. Über Höxter und<br />

Detmold ging es nach Magdeburg, wo er von 1819 bis 182 I blieb. Dort erschoss sich der<br />

Director Fabricius aus Schwermut am 4. Januar 1821 während einer Vorstellung <strong>des</strong> Don<br />

Carlos im ,. Akte mit dem Pistolenschusse, der im Drama dem Posa gilt, hinter den Coulissen.<br />

(Verg\. Klingemann a. a. O. 3, j I I). Die Gesellschaft spielte im benachbarten Helmstedt<br />

weiter, dort sah ihn Klingemann und liess ihn am 26. August <strong>des</strong>selben Jahres in <strong>Braunschweig</strong><br />

als Don Carlos gastieren - die kleine Infantin spielte damals die später berühmte Soubrette<br />

Carotine Günther-Bachmann! -. Er sprach in dieser Rolle gar nicht an und musste sich erst<br />

an den folgenden Abenden in zwei Kotzebueschen Stücken die Zustimmung <strong>des</strong> Direktors<br />

und der Zuschauer erringen. Von 1829 bis 183 I war er in Leipzig, dann aber bis 18, 3 als<br />

Heldenspieler in <strong>Braunschweig</strong>; es folgten zwei Jahre Unterbrechung am Hoftheater zu Wiesbaden;<br />

dann leitete er <strong>das</strong> Hoftheater der Welfenstadt bis an seinen Tod als artistischer Direktor.<br />

Schöne Gestalt, klangvolles Organ und unermüdlicher Fleiss zeichneten ihn aus neben<br />

sehr achtbaren menschlichen Eigenschaften, er war kein Genie, ein oft trockener Darsteller,<br />

aber ein gediegener dramaturgischer Schriftsteller. Er war viermal verheiratet; seine zweite<br />

Frau war seit 1824 Betty Schmidt geb. Herz, die als treffliche Soubrette geschildert wird, sie<br />

starb 1835; dann heiratete er 1836 <strong>das</strong> langjährige Mitglied <strong>des</strong> braunschweigischen Theaters<br />

Sophie Höffert, die dort ihre ganze künstlerische Entwicklung durchmachte und von der<br />

Cholera am 8. August 18,0 dahingerafft wurde; seine vierte Frau war seit 18, I wieder ein<br />

Mitglied <strong>des</strong> Hoftheaters, Marie Würth. S) Sie ging allmählich ins ältere Fach über.<br />

') Meck spielte Väter, Tyrannen, Intriguants; seine Frau Liebhaberinnen. Sie blieben beide<br />

dem Theater erhalten bis 1827. 6) Metzner war im Fache der Väter, Greise und Intrigants<br />

tätig, seine Frau in kleinen Rollen; auch sie blieben beide.<br />

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AUS DEN BRIEFSCHAFTEN GOTTLOB WIEDEBEINS 57<br />

Bertho\d1), wenn Wiedebein nichts besseres bringt, auf ein Jahr billig zu<br />

engagiren.<br />

Moller 2 ) auf ein Jahr zu engagiren.<br />

BachmannS) nicht zu behalten.<br />

Köster 4 ) auf ein Jahr zu engagiren, wenn Wiedebein nichts besseres hat.<br />

Stotzo) nicht zu behalten.<br />

Feuerstacke 6 ) nach Umständen zu behalten.<br />

Kielsche Familie nicht zu engagiren 7 ).<br />

Knaust 8 ) nach Umständen zu behalten.<br />

Lösch 9 ) aus Gnade beizubehalten.<br />

Souffleuse Eversmann 10) beizubehalten.<br />

Gesterling und Kilster ll ) nach Umständen beizubehalten.<br />

Henkel U) auf keinen Fall zu behalten.<br />

Devrient 1S ) geht ab.<br />

Dem. Höfert 14 ) ist zu behalten.<br />

Haake 1o ) auf keinen Fall zu behalten.<br />

Dobritz 16 ) ist nach Umständen zu engagiren oder nicht.<br />

Die Bemerkung «nach Umständen zu behalten» deutet so viel an, <strong>das</strong>s es<br />

I) Berthold gab in der Oper jugendliche Bassparthien, im Schauspiel jugendliche komische<br />

Bediente, ward engagiert. 2) Moller junior, junge naive Bursche, komische Bursche<br />

und Liebhaber in der Oper und im Schauspiele, ward engagiert. ") Bachmann vertrat die<br />

feinkornischen Charakterrollen im Schauspiel und in der Oper die Tenorbuffos und komische<br />

Bedientenparthien. Er ward engagiert. ') Köster spielte ältere Helden; er ward<br />

wieder verpflichtet. b) Stotz sang zweite Tenorparthien und ward mit übernommen.<br />

Il) Feuerstacke war <strong>für</strong> Nebenrollen in der Oper und im Schauspiele engagiert und blieb bis<br />

in die ,oer Jahre Mitglied <strong>des</strong> Hoftheaters. ') Wie oben erwähnt, erleichterten die<br />

Familienverhältnisse die Durchführung <strong>des</strong> herzoglichen Befehles. Nur Mad. Kifl blieb kurze<br />

Zeit. Il) Knaust gab Nebenrollen, .angehender Tenor»; er blieb. 9) Lösch eben·<br />

falls Nehenrollen; er blieb. 10) Blieb auch. 1') Beide Nebenrollen, sie blieben.<br />

12) Henkel gab Heldenväter, wie den Wallenstein ; er blieb. 18) Emilie Devrient, <strong>das</strong><br />

einzige Kind (geb. 1808) <strong>des</strong> grossen Ludwig D., die der Vater seit 1821 bei seinem Freunde<br />

Klingemann in <strong>Braunschweig</strong> ausbilden liess, wo sie von 1824 bis 1826 engagiert war. Sie<br />

war bis 184') bühnentätig in Danzig, Stettin und Schwerin - unter dem Namen ihres Gatten<br />

Höffert - und starb 18')7. Sie war eine mittelmässige Künstlerin, die nichts von dem all·<br />

gewaltigen Genie <strong>des</strong> Vaters geerbt hatte. 14) Siehe S. ,6 Anm. 2; sie hatte am 17. Juni<br />

1824 in der .Deutschen Hausfrau. von Kotzebue von Schwerin aus debutiert. 16) August<br />

Haake spielte erste Liebhaber. Er war von 1818 bis 1823 in <strong>Braunschweig</strong> engagiert und galt<br />

damals schon nach Goethes Zeugnis als trefflicher Schauspieler. Dann gastierte er verschie·<br />

dentlich, war, trotz <strong>des</strong> Herzogs Widerspruch, allerdings nur kurze Zeit, am Hoftheater tätig,<br />

obgleich schon am 13. Februar 1826 auf dem Zettel stand: Abgegangen Herr und Frau Haake.<br />

Er ging nach Wiesbaden und hat dann bis an seinen Tod 1864 eine hervorragende Stellung<br />

an verschiedenen Theatern eingenommen. Seine Frau gab in <strong>Braunschweig</strong> «junge Frauen ••<br />

1") Dobritz gab zweite jugendliche Liebhaber, ward nicht engagiert.<br />

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PAUL ALFIUD MERBACH<br />

in die Willkühr der Behörde gestellt ist, ihn zu behalten oder nicht. Zugleich<br />

hatten wir darauf angetragen, kein Geheimniss mehr gegen uns daraus<br />

zu machen, welche Aufträge Ihnen ertheilt seien und sie bereits ausgerichtet<br />

hätten. Hierauf schrieb der Herzog:<br />

Engagirt sind die Dermer, Mehrstrofl), Günther 2 ) und Frau, BaderS) und<br />

Frau. .<br />

Muthmasslich sind oder werden noch engagirt: Kettel 4 ) Liebhaber<br />

Wilhelmi 5 ) Intriguant<br />

Rosener 6 ) Tenor<br />

Wieseneder 7 ) Tenor<br />

KUhn Bariton<br />

I) Wohl verschrieben; eine Künstlerin oder Künstler dieses Namens wird nirgends erwähnt<br />

') Karl Günther spielte Bassbuffo's und erste komische Rollen im Lustspiel, seine Frau erste<br />

komische Alte; beider Tochter war die schon erwähnte Caroline Günther-Bachmann, eine ganz<br />

bedeutende Schauspielerin, die in Leipzig ihre langjährige Tätigkeit fand. ") Karl Adam<br />

Bader (1789 bis 1870) gehörte zu den hervorragendsten Tenoristen seiner Zeit. Er stand<br />

während seine5 braunschweigischen Engagements schon auf der Höhe seiner Kunst und seines<br />

Ruhmes und hat dann in Berlin durch Jahrzehnte hindurch namentlich in den Opern Spontini's<br />

grosse Triumphe gefeiert. Er verabschiedete sich in <strong>Braunschweig</strong> am 26. März 1820 als<br />

Licinius in der «Vestalin. Spontinis. Bader mochte sich in den ersten Jahren wohl nicht recht<br />

wohl in Berlin fühlen und Verhandlungen gingen hin und her, um ihn wieder <strong>für</strong> <strong>Braunschweig</strong><br />

zu gewinnen. Freilich so leicht war <strong>das</strong> nicht; am 24. September 1825 schrieb er von einem<br />

Sommeraufenthalte auf dem Linkischen Bade bei Dresden an Wiedebein - ich habe den vollständigen<br />

Brief in «Neue Zeitschrift <strong>für</strong> Musik> 1911 Jahrgang 78, Nr. 12, veröffentlicht-:<br />

« .• Er selbst will nicht kommen, werden Sie sagen I Ja, liebster Freund, Schicksal I Ich kann<br />

nicht loskommen, wenigstens nicht ohne Skandal, und <strong>das</strong> geht denn wahrhaftig nicht.' Freilich,<br />

ein Vierteljahr später klang es anders; da schrieb er an Wiedebein: Berlin 7. I. 1826.<br />

Glauben Sie mir, hochgeschätzter theurer Freund, <strong>das</strong>s ich jetzt alle Mittel anwenden werde,<br />

um hier loszukommen. Sponti ni kommt noch lange nicht; es thut auch gar nichts zur Sache;<br />

am Montag dem Carnevalsanfang wird angefangen an dem grossen Werke. Ich will meine bisherige<br />

Gutmüthigkeit gänzlich abwerfen, und ich hoffe, die Kraft meinen Entschluss auszuführen<br />

wird mir nicht fehlen. Längstens in 14, vielleicht schon in 8 Tagen kann ich Ihnen<br />

bestimmte Resolution mittheilen. Wann kommt denn Sr. Durchlaucht von seiner Reise nach<br />

<strong>Braunschweig</strong> zurück? Behüt Sie Gott! Bald ein Meheres I aber still! Ihr aufrichtiger<br />

Freund Bader. - Die Verhältnisse besserten sich in Berlin und Bader blieb. Seine Frau<br />

Sophie Laurent, die ihm 1830 schon starb, war eine leidliche Charakterschauspielerin am kgl.<br />

Schauspielhause in Berlin (siehe unten). 4) Johann Georg Kettel (1789 bis 1862) kam<br />

nach einem zehnjährigem Engagement am Wiener Burgtheater nach <strong>Braunschweig</strong>, wo er als<br />

Liebhaber und dann als Charakterspieler 30 Jahre lang als trefflicher Vertreter seiner Fächer<br />

blieb. (Vergl. Hartmann, S. 402). 6) Ein Schauspieler dieses Namens war nie in <strong>Braunschweig</strong><br />

engagiert. (Gemeint ist der beste Lustspielvater seiner Zeit, W., von 1821-1851 an<br />

der Burg). b) Franz Rosner (1800 bis 1841) war nur von 1826 bis 1829 Mitglied der<br />

<strong>Braunschweig</strong>er Oper. Sein prachtvolles Falsett konnte die übr!gen Mängel uicht aufheben.<br />

7) Auch er entsprach nicht den gehegten Hoffnungen und verschwand bald wieder.<br />

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60 PAUL ALFRED MERBACH<br />

scheinlich so viel sagen will, als bis zu Wiedebeins Berichte ausgesetzt. . Ich<br />

melde Ihnen dies, damit Sie Ihre Massregeln danach ergreifen können. Auf<br />

keinen Fall würde ich dazu rathen, mit Gassmann sofort abzuschliessen.<br />

5. Wirtemberger ist wieder angestellt, auch <strong>das</strong> ganze Hilfspersonal meinen<br />

Wünschen gemäss engagirt. Alles <strong>das</strong> wäre recht gut, wenn wir nur erst die<br />

erforderlichen Schauspieler hätten. 6. Hat es der Herzog gut geheissen, <strong>das</strong>s<br />

bei der Organisation <strong>des</strong> Chores 1000 Rthl. mehr aufgewendet werden, als<br />

er jetzt kostet. 7. Beuther benutzt seinen Casseler Urlaub, um <strong>für</strong> <strong>Braunschweig</strong><br />

zu malen und wird mit ihm dieserhalb auf zwei Jahre abgeschlossen.<br />

Dies Jahr malt er <strong>für</strong> hier in den Monaten August und September und wird<br />

also bald die Oper zu bestimmen sein, womit wir debutiren wollen t). 8. Das<br />

Innere <strong>des</strong> Schauspielhauses wird aufgeputzt, mithin wohl ein mehrwöchentlicher<br />

Stillstand der Bühne erforderlich werden 2 ). 9. Die noch abzuschliessenden<br />

Contracte richten Sie doch in der Art vorsichtig ein, <strong>das</strong>s Sie der<br />

Clausel wegen der Conventionalstrafe hinzufügen, «vorbchältlich der Klage<br />

auf Erfüllung <strong>des</strong> Contractes und auf vollständige Schadloshaltung. » Dies<br />

Unterlassen hätte uns bald um die Dermer gebracht und sie wäre wirklich<br />

<strong>für</strong> uns verloren gewesen, wenn ich nicht dazwischen kam. Sie hat nemlich<br />

während ihres Gastspieles in Hannover - wo sie ungeheueres Glück gemacht<br />

hat und bekränzt, gekrönt und besungen ist - dort einen zehnjährigen<br />

Contract abgeschlossen 3 ), welcher ihr eine jährliche Gage von 2300 Rthl.,<br />

einen sechswöchigen Urlaub nebst dem Versprechen einer baldigen lebenslänglichen<br />

Anstellung gewährte. Sie hatte sich dabei gedacht - ipsissima<br />

verba - der Wiedebein holt jetzt die Sonntag von Wien 4 ) her, die gefällt<br />

besser und dann gibt Dir der Herzog die 200 Dukaten Conventionalstrafe<br />

und jagt Dich zum Thore hinaus, besser ists also, Du kommst dem Herzog<br />

zuvor, giebst ihm die 200 Dukaten und gehst nach Hannover, wo eine halb·<br />

jährige Gage den Schaden wieder gut macht. So kam sie höchst vergnügt<br />

über ihren neuen Contract hier an und machte auch gar kein Geheimnis<br />

weiter daraus. Ich setzte ihr in<strong>des</strong>sen die Sache näher auseinander, sie sah<br />

') Das Hoftheater ward am 2'). Mai 1826 eröffnet mit «Die Prinzessin von Provence,<br />

grosse Zauberoper, gedichtet und in Musik gesetzt von Freiherrn von Poissl, Intendant der<br />

königlichen Theater zu München.. 2) Die Spielpause reichte vom 20. März bis zum<br />

24. Mai 1826. ') Betty Dermer hatte am 1 1. März 182') mit dem Leiter <strong>des</strong> Hoftheateri<br />

in Hannover, Franz von Holbein, einen zehnjährigen Vertrag vom 1. April 1826 bis dahin<br />

1836 geschlossen. ') In Bäuerle's Theaterzeitung vom 2. Juni 182, heisst es: Das Theater<br />

in <strong>Braunschweig</strong> hat sich auch bemüht, dieses seltene Talent (nämlich Henriette Sontag) zu<br />

requiriren, denn in einem Berliner Blatte kommt vor, der Kapellmeister Wiedebein sey in<br />

ferne Lande gezogen, und man flüstere sich zu, er werde einen neuen Sonntag <strong>für</strong> den <strong>Braunschweig</strong>er<br />

Kunstkalender bringen.<br />

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PAUL AU'RED MERBACH<br />

Hake, Hanke I und Mecks bleiben, weIches aber, wie Sie aus meinem vorigen<br />

Briefe ersehen haben werden, der Herzog rund abgeschlagen hat. Bleiben<br />

diese Leute nicht, so steht sehr zu besorgen, <strong>das</strong>s Ostern k. J. die Maschine<br />

ins Stocken geräth. Es kommt freilich alles darauf an, weIche Engagements<br />

Sie in Wien geschlossen haben. Ich kann es mir aber nicht möglich denken,<br />

<strong>das</strong> es uns gelingen sollte, Leute wie Kettel und Wilhelmi von Wien wegzubringen.<br />

Auf jeden Fall ist es gut, <strong>das</strong>s Sie um Misstrauen zu verhüten, vor Ihrer<br />

Rückkehr berichten; denn der Bericht <strong>des</strong> Hofmarschallamtes wäre <strong>das</strong> letzte<br />

Hülfsmittel, den Herzog zur Nachgiebigkeit in Ansehung einiger hiesiger<br />

Subjekte zu bewegen, und dieses Mittel wird dann erst wirksam sein, wenn<br />

der Herzog aus Ihrem Berichte sieht, wie die Sachen stehen. Könnten Sie<br />

nicht wenigstens dahin arbeiten, <strong>das</strong>s der Herzog den Stamm der Gesellschaft<br />

ein Jahr lang beibehielte')? Während dieses einen Jahres könnten ja dann<br />

alle Ihnen aufgezeigten Lieblinge von ihm hierher dtirt werden, um Gastrollen<br />

zu geben und Ausmerzung der ihm nicht gefallenden Subjekte einzuleiten.<br />

In Ansehung der Dermer hat der Herzog bestimmt, <strong>das</strong>s sie die 15°0 Rthl.<br />

blos <strong>für</strong> ihre Opernleistungen beziehen und ausserdem als Kammersängerin<br />

eine Gage von 300 Rthl., auch 150 Garderobe-Geld erhalten soll. Die 300<br />

Rthl. sind ihr auf ihre Lebenszeit beigelegt. Sie ist sehr glücklich ober diese<br />

Wendung ihres Schicksales. Am Freitag war sie 2'/2 Stunde beim Herzog.<br />

Mehere andere Personen waren zugegen und es ist auch dabei überaus anständig<br />

hergegangen. Der Herzog hat sie bloss mal in der Nähe sehen wollen.<br />

Nach Aussagen von Oeynhausen und Bause 2 ) hat sich die Dermer allerliebst<br />

benommen und dem Herzog viel vorgesungen. Gestern Abend sind Serenissimus<br />

abgereist. Oeynhausen folgt ihm später und geht vor der Hand auf<br />

drei Monate nach Naumburg.<br />

Ich sitze hier jetzt also allein in der Patsche. - Zur Betreibung der auf<br />

<strong>das</strong> Theater sich beziehenden currenten Geschäfte ist aus dem Hofmarschallamte<br />

eine aus Oeynhausen und mir bestehende Deputation eingesetzt, da <strong>das</strong><br />

Oberhofmarschallamt als Behörde <strong>für</strong> dieses Geschäft zu schwerfällig ist. -<br />

In Ansehung <strong>des</strong> Hülfs-Personales, der Cassirer, Oekonomen, Inspectoren<br />

sind alle meine Vorschläge genehmigt und dabei einige 100 Rthl. gegen jetzt<br />

gespart. Dass die Schröder 3 ) jetzt schon komme, halte ich nicht <strong>für</strong> gut.<br />

') Das trat ja in Wirklichkeit auch ein. 2) Bause war Major und Adjutant <strong>des</strong> Herzogs.<br />

I) Betty Schröder (1806 bis ,887) war die zweite Tochter der grossen Sophie<br />

Schröder; unter der Anleitung der Mutter war sie eine nicht unbedeutende Schauspielerin am<br />

Theater an der Wien geworden und dann erst hatte sie sich der Opern bühne zugewendet.<br />

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PAUL ALFRED MERBACH<br />

gefallen. Sind Ihnen denn sonst keine Mädgen aufgestossen? - Es wäre<br />

besser, wenn Sie den Rhein hinauf noch einige Theater besuchen dürften,<br />

als wenn Sie sich Gassmanns wegen in Cassel aufhielten. Ich weiss aber<br />

nicht, wie weit in dieser Hinsicht Ihre Aufträge gehen. Leben Sie wohl.<br />

Ihr R.<br />

(Wiedebeins Antwort an Costenoble ist nicht erhalten; er mochte «nicht<br />

abgeneigt sein», Betty Schröder und ihren unbekannten Bräutigam zu engagiren<br />

; da ergriff die grosse Tragödin selbst <strong>das</strong> Wort in dieser Angelegenheit<br />

und schrieb an Wiedebein [vergl. H. Sti1mcke: Briefe von Sophie<br />

Schröder (Schriften d. Gesell. f. Theatergeschichte, Bd. 16) S. 17 I 1 :<br />

Wien 16. 3. 1825.<br />

Wohlgebohrener Herr.<br />

Aus Ihrem werthen Schreiben an meinen wUrdigen Freund Costenoble<br />

habe ich ersehen, <strong>das</strong>s Sie nicht abgeneigt sind ein Engagement mit meiner<br />

Tochter Betty abzuschliessen.<br />

Was den jungen Mann betrifft, welchen Sie bei mir sahen und <strong>des</strong>sen<br />

mein Freund Costenoble mit meiner Bewilligung in Beziehung meiner Tochter<br />

Betty gegen Sie erwähnte, haben sich die Umstände leider dergestalt geändert,<br />

<strong>das</strong>s seine Gesundheitsumstände, besonders was seine Stimme anbelangt,<br />

welche sehr oft Heiserkeiten ausgesetzt ist, ihm nach dem Ausspruch<br />

meherer Aerzte durchaus nicht gestatten <strong>das</strong> Theater als Sänger zu betreten.<br />

Nicht sowohl Leidenschaft als ein höherer Grad von Freundschaft, welche<br />

sich durch Gewohnheit, da sie mit einander aufgewachsen sind, bildete, hatte<br />

dieses Band geknUpft und kann sich daher auch wieder leicht lösen. Meine<br />

Tochter Betty, weIche, was ich ohne mütterliche Eitelkeit sagen kann, mit<br />

jedem Tage bedeutende Fortschritte in ihrer Kunst macht, wovon sich <strong>das</strong><br />

Wiener Publikum in mehreren Conzerten, worin sie Gelegenheit hatte sich<br />

zu zeigen, Uberzeugt und worüber in meheren Blättern ihrer mit Auszeichnung<br />

erwähnt ist, würde also mit Vergnügen <strong>für</strong> ihre Person unter folgenden<br />

Bedingungen ein Engagement mit Ihnen abschliessen:<br />

I. Einen jährlichen Gehalt von 2500 Thalern und <strong>das</strong> ausschliessliche Fach<br />

als erste Sängerin.<br />

2. Zwey Monate jährlicher Urlaub und freye Garderobe.<br />

3. Einen zweyjährigen Contrakt, welcher dann nach Ablauf, wenn beide<br />

Theile zufrieden sind, auf längere beliebige Zeit erneuert werden kann.<br />

4. Einen Vorschuss von 500 Thalern und ein einer so weiten Reise angemessenes<br />

Reisegeld.<br />

Ich glaube Ew. Hochwohlgebohren werden diese Forderung schon darum<br />

nicht unbillig finden, weil wir auf alle VergUtung <strong>des</strong> Jahres, weIches noch<br />

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AUS DEN BRIEFSCHAFTEN GOTTLOB WIEDEBEINS 65<br />

zwischen hier und <strong>des</strong> in Kraft zu tretenden Contractes liegt, verzichten und<br />

meine Tochter in dieser Zeit an Ausbildung und Kunstfertigkeit noch auf<br />

jeden FaU gewonnen haben wird.<br />

Da meiner Tochter schon bereits von meheren Orten, und auch von hier,<br />

wo sich im Herbst wieder eine deutsche Oper etabliren wird, sehr annehmbare<br />

Anträge gemacht worden sind, sie aber <strong>Braunschweig</strong> recht gern einem<br />

andern Engagement vorziehen würde, so bitte ich Ew. Wohlgeboren recht<br />

sehr mir bald eine bestimmte Erklärung zukommen zu lassen, damit wir,<br />

im FaU <strong>des</strong> nicht Uebereinkommens, unsere weiteren Verfügungen treffen<br />

können. Mit der vollkommensten Hochachtung nenne ich mich als Ew. Wohlgebohren<br />

ergebenste S. S.<br />

Die Verlobung Bettys ging auseinander; <strong>das</strong> Engagement in <strong>Braunschweig</strong><br />

kam nicht zu Stande; es scheiterte in erster Linie wohl an den hohen von<br />

der Mutter gestellten Bedingungen; auch war in Bettys künstlerischer Laufbahn<br />

der Plan, Sängerin zu werden, nur eine Episode; sie hat in Hamburg<br />

bis zur Verheiratung im Jahre I B 3 I nur als Schauspielerin gewirkt. V gl.<br />

dazu übrigens auch Klingemann 3, 231.)<br />

Wie aus dem folgenden Briefe hervorgeht, war Wiedebein nach Mannheim<br />

schon längere Zeit in München gewesen; der Briefwechsel wird nun<br />

doppelt interessant, weil von jetzt ab einige Male August Klingemann <strong>das</strong><br />

Wort ergreift und seinerseits an Wiedebein von den Dingen <strong>des</strong> heimischen<br />

Theaters und von Vorschlägen und Veränderungen spricht. Der Einfachheit<br />

halber wurden die Schreiben zusammen befördert, <strong>das</strong> Bild der Zustände an<br />

der braunschweigischen Bühne wird dadurch noch lebendiger.<br />

Ribbentrop an Wiedebein.<br />

Lieber Freund.<br />

Ich habe nur einen Brief von Ihnen aus München erhalten, worin Sie mir<br />

meldeten, <strong>das</strong>s Sie dort glücklich angekommen wären und in einigen Tagen<br />

umständlich an mich schreiben würden. Der Brief war, wenn ich nicht irre,<br />

vom 20. d. v. -?- Monats; seitdem habe ich von Ihnen nichts gesehen und<br />

muss also ein Brief verloren gegangen sein.<br />

Anbei ein Brief von Dr. Klingemann. Die darin enthaltenen Ansichten<br />

sind auch die meinigen. Also engagiren Sie die Mädgen frisch drauf los,<br />

wenn Sie Vollmacht haben. Von Seiten der Commission ist darin gewilligt,<br />

<strong>das</strong>s die Ritter!) schon Michaelis bei ihr in Engagement tritt. Daneben glaube<br />

ich es verantworten zu können, <strong>das</strong>s ich die Reisekosten derselben aus der<br />

Hof theaterkasse zahlen lasse. Sie können mithin die Sache gleich definitiv<br />

1) Eine Dem. Ritter war in den folgenden Jahren nicht in <strong>Braunschweig</strong> engagiert.<br />

BrauDschw. <strong>Jahrbuch</strong> XI.<br />

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66 PAUL ALFREO MERBACH<br />

abmachen. Der Commission ist aber daran gelegen, bald ein Rollenverzeich·<br />

nis der Demoiselle Ritter zu erhalten.<br />

Becker kommt am 26. zu Gastrollen hierher 1 ) und der Herzog hat uns befohlen,<br />

ihn zu engagiren, wenn er gefällt. Wie ich höre, geht er auch schon<br />

ins ältere Heldenfach über. Was sollen wir dann noch mit Katzianer? Was<br />

Bader betrifft, so hoffe ich, <strong>das</strong>s <strong>des</strong> Doktors Besorgnisse unbegründet sein<br />

werden. Am letzten Montage hat er unserm ältesten MüllerlI), der in Berlin<br />

war, erzählt, <strong>das</strong>s er sich dort wegsehne, mit Ihnen bereits alles abgemacht<br />

habe und nur auf gute Gelegenheit warte, um dort loszukommen. Für den<br />

Augenblick scheint es also noch sein fester Wille zu sein, hierher zu wandern.<br />

Dagegen scheinen sich die Berliner rächen zu wollen, Sie sind meheren hiesigen<br />

Theater-Personen bereits zu Leibe gegangen, namentlich der Dermer,<br />

der sie die Aussicht zu einer Pension von 1000 Rthl. eröffnen liessen. Sie<br />

hat sich aber auf nichts eingelassen. - Ihren Bericht an den Herzog lassen<br />

Sie ja recht bald abgehen. Retten wir Mercks, Bachmann und Hake - der<br />

ganz vortrefflich geworden ist S ) - so ist mir auch um <strong>das</strong> Schauspiel nicht<br />

bange .. Der Befehl <strong>des</strong> Herzogs «auf keinen Fall zu behalten» verhindert<br />

mich, die Sache wieder in Gang zu bringen. Ihr Bericht muss dazu als Einleitung<br />

dienen.<br />

Schütz und Frau sind wir autorisirt zu behalten, wenn Sie nichts besseres<br />

haben. Könnten Sie <strong>das</strong> nicht bestimmt vor dem 16. k. M. von sich sagen?<br />

Möglich wäre es z. B., <strong>das</strong>s Sie zu Darmstadt hörten, <strong>das</strong>s Becker noch längeren<br />

Contrakt dort habe. Am gedachten Tage tritt Schütz eine Reise an,<br />

um Gastrollen zu geben und Engagement zu suchen. Sehr wahrscheinlich<br />

gehen die Leute <strong>für</strong> uns verloren, wenn sie bis dahin nicht wieder engagirt<br />

werden. - Wie müsste nach Ihrer Meinung die Mad. Schütz hinsichtlich<br />

der Oper gestellt werden? Partieen wie die Myrrha 4 ), Rosa 6 ), Elvira 6 ) kann<br />

sie auf keine Weise behalten. Aber eine Menge anderer Opern könnte doch<br />

durch sie gleich im Gange erhalten werden, z. B. ein grosser Theil der komischen<br />

Opern, die Vaudevilles, welche viel Geld einbringen und Geld werden<br />

wir nöthig haben. - Gestern waren die Wiener in Berlin 7 ) zum 17ten<br />

Male, und brachten uns an einem Freitage die vielleicht bedeutendste Einnahme<br />

seit der Messe. Cornet sang zum ersten Male den Franz. Er spielte ihn<br />

nicht so gut, wie der Gerber, sang ihn aber überaus schön. - Uebermorgen<br />

1) In der angegebenen Zeit hat kein Gastspiel <strong>des</strong> Künstlers stattgefunden; vergl. oben.<br />

') Kar! Müller, Mitglied <strong>des</strong> weltberühmten Quartettes der vier Brüder Müller. ') Haake<br />

und Frau (vergl. oben) gastierten im April 1825 wieder in verschiedenen Rollen. .) • Myrrah.<br />

in «Das unterbrochene Opferfest» von Winter aus dem Jahre 1796. 6) .Rosa. in «Die<br />

Jagd. von Adam Hiller aus dem Jahre 1769. 6) .Elvira. in Mozarts Don Juan.<br />

1) • Wiener in Berlin., Liederposse von Kar! von Holtei.<br />

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AUS DEN BRIEFSCHAFTEN GOTTLOB WIEDEBEINS<br />

sind zum ersten Male die von Ihnen empfohlenen Schneider·Mamsellst ).<br />

Bäsecke war eben bei mir und lässt sich Ihnen freundschaftliehst empfehlen ..<br />

- Ihre Familie befindet sich sehr wohl. Ich habe eben fragen lassen, ob die<br />

Frau was zu bestellen habe, aber die Antwort nur erhalten «viele GrÜsse».<br />

Haben Sie nicht Lust die Peterssche Wohnung im Beverschen Schlosse zu<br />

beziehen 2 )? Ich kann es vielleicht machen, <strong>das</strong>s Sie dieselbe erhalten.<br />

Ihr R.<br />

Klingemann an Wiedebein. B r. 23.4. 8 I 25·<br />

Lieber Wiedebein.<br />

Unser Freund Ribbentrop hat mir Ihr letztes Schreiben aus Mannheim zur<br />

Einsicht mitgeteilt und ich säume nicht mich über Einiges darin sofort mit<br />

Ihnen in Rapport zu setzen. - Vor allen Dingen schliessen Sie ja gleich mit<br />

den jungen Damen StubenrauchS) und Gutseh") ab, da wir auf jeden Fall<br />

mehere junge, nette Liebhaberinnen haben müssen und dieses Fach jetzt<br />

überall ausfällt. Wegen der Betty Pistor5 ) habe ich schon unterm 1 I. April<br />

nach Prag geschrieben und erwarte Antwort. Wenn nur Talent in den jun·<br />

gen Mädchen ist, so wollen wir es schon herausbringen und können weiter·<br />

hin immer noch sichten. Dem. Ritter will die Verwaltungskommission von<br />

Michael d. J. in Gehalt setzen und Sie können <strong>des</strong>halb auch abschliessen,<br />

aber ja alles ernst, bündig und juristisch. Unter den hiesigen Schauspielern<br />

dürften Bachmann, Meck und I-Iaacke wohl nicht leicht zu ersetzen sein.<br />

Ich kenne keine Bühne, wo zwei Komiker so zusammengestellt sind wie<br />

Günther und Bachmann. Meck ist ebenfalls vielseitig brauchbar und ein<br />

fleissiger und ernstlicher Mann, und seine Frau, welche der Herzog in tragischen<br />

Rollen - mit Recht - nicht sehen mag, kann daraus zurückgezogen<br />

und abwechselnd <strong>für</strong> <strong>das</strong> muntere Fach verwendet werden, damit nicht alle<br />

') Am 2 S. April .zum Geburtstage <strong>des</strong> Herzogs August Ludwig Wilhelm Max Friedrich.<br />

(Bruder von KarlI!.) zum I. Male .Die Schneidermamselles, nach Scribe frei bearbeitet und<br />

mit bekannten Melodien versehen von Louis Angely.. Dazu gab es <strong>das</strong> bekannte Stück<br />

<strong>des</strong> Stiefvaters Richard Wagners .Der bethlehemitische Kindermord.. ') Nach dem<br />

Adressbuch von 182S wohnte Wiedebein Ruhfäutgenplatz 28 19; <strong>das</strong> Bevernsche Schloss war<br />

in der heutigen Münzstrasse gelegen; der Umzug fand in Abwesenheit <strong>des</strong> Mannes im März<br />

und Apnl 182S statt. ") Amalie von Staubenrauch (18oS bis 1876) war damals ein beliebtes<br />

und begabtes Mitglied der Münchener Bühne, wo sie Wiedebein gesehen hatte; dann<br />

von 1829 bis 1846 in bevorzugter Stellung am Hoftheater in Stuttgart. ') Dem. Gutsch<br />

vom Hoftheater in Karlsruhe gastierte im November 182 S in zwei Lustspielliebhaberinrollen<br />

und ward engagiert. 6) Betty Pistor war die jüngste Tochter der Burgtheater-Mitglieder<br />

Karl und Wilhelmine Pistor. Der Vater war unter Klingemann schon in <strong>Braunschweig</strong> tätig<br />

gewesen, Betty wirkte neben den Eltern von 1822 bis 1826 in Prag und dann ebenfalls an<br />

der Wiener Burg; <strong>das</strong> beabsichtigte Engagement der später ausgezeichneten Künstlerin kam<br />

also nicht zu Stande (vgl. Klingemann, a. a. O. 3, 19S).<br />

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68 PAUL ALFRED MERBACH<br />

Tage ebendieseIben Liebhaberinnen vorgeritten werden. Haacke ist wieder<br />

aufgetreten und in Rollen wie der leichtsinnige Lügneri), so wie überhaupt<br />

im leichten Conversationsfache wahrlich vortrefflich, da kann Serenissimus<br />

schon etwas über seinen Mund - weIcher sich auch jetzt nicht mehr so ins<br />

Viereck zieht - hinwegsehen.<br />

Was Gassmann betrifft, so trug mir der Herzog vor meiner neulichen<br />

Reise nach Cassel ebenfalls auf ihn zu engagieren und ich habe auch mit G.<br />

<strong>des</strong>halb <strong>das</strong> Nötige eingeleitet. Da ich übrigens hörte, <strong>das</strong>s Gassmann einige<br />

1000 Thl. Auslösung dort bedürfe, so hat Serenissimus die Sache auf sich<br />

<strong>für</strong>s erste beruhen lassen und will nötigen Falls mit Köster auf ein Jahr abschliessen<br />

lassen 2 ). Unter uns bemerke ich, <strong>das</strong>s G. nicht der verträglichste<br />

Mensch ist, auch zweifle ich, <strong>das</strong>s die JugenderinnerungS) <strong>des</strong> Herzogs Stand<br />

halten wird, wenn er jenen jetzt wiedersieht.<br />

Vor allen Dingen fehlt uns <strong>für</strong> Henkel ein erster Held. - Brandt gefiel hier<br />

früher in Gastrollen nicht und hat eine Frau als Zugabe. Katzianer ist schön,<br />

aber roh und arrogant, nebstdem auch ohne Verstand. Becker kommt am<br />

26. Mai zu Gastrollen hierher, und ich will <strong>das</strong> Mögliche versuchen, ihn<br />

wenn er gut ist festzuhalten. Haben Sie Rou') am Theater Palfy's, und<br />

Maurer 6 ) in Stuttgart nicht in Augenschein genommen? Für Metzner giebt<br />

es in Breslau einen gewissen Paul, und in Dresden Pauly6) - nebst Frau -,<br />

sahen Sie diese nicht? und was ist an ihnen? Ferner ist mir Dessoir in München<br />

als kräftiger Intriguant gerühmt - wie ist's mit dem?<br />

In Weimar, wo <strong>das</strong> Theater abbrannte 7 ), werden Sie Mad. Hartknoch 8 ),<br />

Dem. Meyer 9 ), Mad. und Dem. Müller als Liebhaberinnen finden - ich<br />

glaube nicht, <strong>das</strong>s es dort Ausbeute <strong>für</strong> <strong>das</strong> heruntergekommene Schauspiel<br />

giebt. Sahen Sie die artige WeberIO) im Burgtheater nicht? - In Darmstadt<br />

werden Sie ausser Becker auch noch FischerlI) <strong>für</strong> Liebhaber gefunden haben.<br />

Stehen Sie übrigens denn mit Bader auch recht fest? Er ist <strong>des</strong> Königs<br />

I) .Der leichtsinnige Lügner> von dem berühmten Hamburger Theaterdirektor Fr. Lud.<br />

Schmidt; Haake gab die Rolle <strong>des</strong> .Felix Wahn. ") Vergl. oben; Köster blieb.<br />

') Vergl. Hartmann 398. ') Moritz Rot! (1797 bis 1867), der interessante Helden· und<br />

Heldenväterspieler <strong>des</strong> Berliner Hoftheaters (von 1832 bis 18, ,) war von 1821 bis 1829 am<br />

Theater an der Wien, wo ihn Wiedebein gesehen hatte. 6) August Wilhelm Maurer<br />

(1792 bis 1864), lfflands Pathenkind, war am Berliner kgl. Schauspielhause und seit 1819 in<br />

Stuttgart bis an seinen Tod. ") Ludwig Ferdinand Pauli (1793 bis 1841) war seit 1818<br />

bis an seinen Tod am Dresdener Hoftheater als bedeutender Charakterspieler tätig, einer der<br />

besten Mephistodarsteller aller Zeiten. Seine Frau Auguste Tilly war in munteren Rollen bis<br />

1828 engagiert, wo sie starb. 1) In der Nacht vom 2 I. zum 22. März 182 5. 8) Mad.<br />

Hartknoch 1817-1827 In Weimar. 9) Dem. Meyer 1823-1860 in Weimar; seit 1826<br />

Mad. Seidel. 10) Louise Weber, seit 1815-1826 am Burgtheater, wo sie früh starb.<br />

11) Karl Fischer 1812-I 852 in Darmstadt.<br />

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AUS DEN BRIEFSCHAFTEN GOTTLOB WIEDEllEINS 69<br />

Liebling und der preussische Stolz ist gross - früher hatte schon der König<br />

von Württemberg vergeblich mit Bader auf Lebenszeit abgeschlossen, und<br />

ich habe Winke aus Berlin selbst, die mich nur zu sehr <strong>für</strong>chten lassen, <strong>das</strong>s<br />

aus der Sache nichts wird. Der Graf Brühl 1 ) meint, <strong>das</strong> Berliner Hoftheater<br />

könne, nötigen Falls, seinen brauchbaren Mitgliedern viermal so viel bewilligen<br />

als <strong>das</strong> <strong>Braunschweig</strong>er - und Brühl fängt schon an sich zu revangiren,<br />

wie es so eben bei der Dermer 2 ) und - noch anderweitig versucht worden<br />

ist. Also sichern Sie sich in dieser Sache! Ich warne nicht ohne Not.<br />

Ihr herzlich ergebener A. Kl.<br />

Lassen Sie uns nur bald wissen, wie weit die Abschlüsse gediehen sind.<br />

Wieder fehlt auch hier die Antwort Wiedebeins, die von seinen verschiedenen<br />

Engagements berichtet hätte; ihr Inhalt ist aus den folgenden Briefen<br />

ohne Mühe zu ergänzen. Klingemanns Briefe enthalten eine treffliche Übersicht<br />

der in Betracht kommenden Kräfte an den verschiedenen Theatern<br />

Deutschlands und sind durch die Urteile gleichzeitig von einem über <strong>Braunschweig</strong><br />

hinausgehenden Interesse. Auch diesmal schreiben Ribbentrop und<br />

Klingemann rasch hintereinander; die Lage der Dinge und <strong>das</strong> Drängen <strong>des</strong><br />

Herzogs erforderten rasche Entscheidungen, und der artistische Direktor war<br />

nicht ohne Sorge um die Zukunft seines Institutes.<br />

Br. 30. 4· 182 5.<br />

Lieber Freund.<br />

Ihr Schreiben aus Frankfurt vom 25. d. M. habe ich gestern erhalten und<br />

die Einlage sofort besorgt. - Bis zu der Abreise <strong>des</strong> Herzogs - heute vor<br />

vier Wochen S ) - habe ich nichts davon bemerkt, <strong>das</strong>s er in seiner Meinung<br />

über Sie wanke. Wer sollte es aber gewesen sein, der Sie später verklatscht<br />

hätte? Ich glaube, <strong>das</strong>s Sie über diesen Punkt ruhig sein können. - Es ist<br />

allerdings schlimm, <strong>das</strong>s der Herzog Sie nichts engagiren lassen will, was er<br />

nicht selbst abgegeben hat. Sie werden also jetzt erst anfangen müssen und<br />

darüber kann die beste Zeit verloren gehen. Auf der anderen Seite hat jener<br />

Befehl aber wieder was Gutes. Sie gehen sicherer und <strong>das</strong> ist auch <strong>für</strong> uns<br />

hier gut. - Ueber die Acquisition von Wieseneder freue ich mich; ein 2ter<br />

Tenorist, der gut spielt, hat hier von jeher gefehlt. Wenn Sie nun den Cramolini')<br />

gleichfalls engagirt haben und noch einen jungen Zögling <strong>für</strong> Tenor<br />

aus Mannheim mitbringen, so sind wir ja mit Tenoristen überflüssig versehen.<br />

') Graf M. v. Brühl (1772-1837) leitete <strong>das</strong> Berliner Hoftheater 181 S-1828. ') Nichts<br />

näheres Aktenmässiges zu ermitteln, da <strong>das</strong> Archiv der Berliner Hoftheater <strong>für</strong> kleinere<br />

Fragen nur schwer zugänglich ist. ") Dieselbe erfolgte am 3. April; siehe oben. 4) L. D.<br />

Cramolini (18°5-1884) begann i824 am Theater am Kärthnerthore seine Laufbahn; er war<br />

erst in den dreissiger Jahren in <strong>Braunschweig</strong>.<br />

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72 PAUL ALFRED MERBACH<br />

wird nicht ersetzt werden. Meine eigene Frau kann der Herzog gleichfalls<br />

nicht leiden; doch kann ich <strong>für</strong> Anstandsdamen und tragische Charakterrollen<br />

keine bessere nachweisen. Die Brede 1 ) ist eine liebe Frau, aber es mangelt<br />

ihr an Kraft und sie stösst die Worte heraus, so <strong>das</strong>s sie bei den Gastrollen<br />

meiner Frau durchaus im Schatten stehen blieb. Ohne die Anstellung der<br />

letzteren kann dann doch ich selbst auch nicht <strong>für</strong> die Folge hier bleiben,<br />

da meine Frau ihren Verdienst ihrer Familie schuldig ist. Was die Bader<br />

betrifft, so ist diese so entsetzlich dick und unbehülflich, <strong>das</strong>s es ihr wieder<br />

so gehen wird, wie vormals, wo sie in Stille Wasser sind tieP) kaum vor<br />

Pochen S ) zu Ende spielen konnte; wie aber wird der Mann <strong>das</strong> aufnehmen?<br />

- Diese und ähnliche Dinge machen mich sehr besorgt <strong>für</strong> die Zukunft,<br />

zumal da <strong>das</strong> den Actionären zugethane Publikum recht darauf wartet, dem<br />

neuen Hoftheater etwas auszuwischen. Kehren Sie doch daher bald zurück,<br />

damit wir in der Hauptsache aufs Reine kommen, und dann noch zeitig ver·<br />

fahren können; denn in zwey Monaten ist die ganze hiesige Bühne <strong>für</strong> <strong>das</strong><br />

nächste Jahr gesprengt und wir haben <strong>das</strong> Nachsehen; in<strong>des</strong>s wir hier an<br />

Ort und Stelle doch als verständige Menschen niemand Hoffnungen machen<br />

dürfen, welche vielleicht durch ein Wort <strong>des</strong> Herzoges wieder zerstört würden.<br />

- Das Zweckmässigste wäre in alle Wege den Stamm der Gesellschaft<br />

fUr's erste fest zu halten, weiterhin aber mit Musse von Jahr zu Jahr, wie die<br />

verschiedenen Contracte sich lösen, die Schauspieler zu gewinnen, und ein·<br />

zureichen, welche der Herzog vorzugsweise leiden mag. Dixi et salvavi<br />

animam meam.<br />

Ganz der Ihrige Aug. Kl.<br />

P. S. Die Sonntag ist mit 4000 Rthl. bei dem Königsstädter Theater engagirt<br />

und wird feierlich eingeholt werden'). Den Thürnagel kenne ich persönlich;<br />

er künstelt viel und hat etwas gespanntes von einem Deutsch· Franzosen<br />

an sich.<br />

Wiedebein mochte auf seiner Kunstfahrt immer mehr einsehen, <strong>das</strong>s es<br />

fast unmöglich sei, bessere Mitglieder zu bekommen, als sie <strong>das</strong> Nationaltheater<br />

hatte. Er riet daher immer mehr, die bisherigen Kräfte zu behalten<br />

und brachte nur wenig Neuerwerbungen mit.<br />

Ribbentrops nächste Briefe erörtern die mannigfachen Schwierigkeiten<br />

1) Auguste Brede (1786-18,9) war von 1815-I 836 Heroine in Stuttgart, dann bis 18,0<br />

tür ältere Rollen am Burgtheater. Klingemann a. a. O. 3,77. ')


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AUS DEN BfllEFSCHAFTEN GOTTLOB WIEDEBEINS 73<br />

daheim und schliessen so <strong>das</strong> Bild ab, <strong>das</strong> lebendig und deutlich sich uns<br />

von der Umgestaltung eines Kunstinstitutes durch <strong>für</strong>stliche Willkür bietet.<br />

Br. 12. 5. J 825.<br />

Lieber Freund.<br />

Auf Ihren 2ten Brief aus Mainz vom 3ten d. M. werden wir nunmehr mit<br />

dem SchUtzschen Ehepaare in Unterhandlung treten. Künftigen Dienstag<br />

reisst er ab und Montags darauf spielt er schon in DUsseldorf. -:- Dass Sie<br />

mir den Platz der Schütz in der Oper nicht näher bezeichnet haben - wie<br />

ich gebeten hatte - ist gar nicht gut. Ich weiss mir nicht anders zu helfen,<br />

als <strong>das</strong>s ich die Schütz bewege diesen Punkt von Ihrer demnächstigen Entscheidung<br />

abhängig zu machen. - Nehmen Sie sich vor den Amsterdamer<br />

SchUtzenleuten in Acht! Das soll ja wahrer Satanskram und Cornet sogar<br />

ein Engel gegen den Mann seyn! Ich habe dies aus ziemlich sicherer Quelle<br />

und warne daher. - Knaust werde ich Ihrem Wunsche gemäss hinhalten.<br />

- Ihre Verhandlungen in Mainz sind Herrn Hake von daher gemeldetl).<br />

Die Stern 2 ) will Hake nicht sehr loben, er meint, sie passe durchaus nicht fUr<br />

<strong>Braunschweig</strong>. Sie müssen <strong>das</strong> besser verstehen. Ich zweifle aber doch, <strong>das</strong>s<br />

Sie, wie der Mainzer Brief sage, die Stern engagirt haben, weil Sie mir nichts<br />

davon schreiben. - Dobritz ist gekündigt und an <strong>des</strong>sen Stelle kommt der<br />

Meisinger, der Ihnen in Pyrmont mal den Rossinischen Barbier vorgesungen<br />

hat. - Cornet und Frau KieP) sollen sich in Cassel engagirt haben. Die<br />

alte Dame werden sie uns wol lassen. Ich wünsche sehr, <strong>das</strong>s Bösecke<br />

bleibt. Er sagte mir vor einigen Tagen, <strong>das</strong>s er einen Ruf nach Bremen<br />

habe und baldige Entscheidung über sein hiesiges Schicksal wünsche.<br />

Schreiben Sie mir doch, was ich ihm antworten soll. - Die Kainz kommt<br />

gewiss nicht. Ich habe mit der alten Katze auch schon mal unterhandelt und<br />

kenne ihre Maniren. Sie mag nichts lieber, als die Leute bei der Nase herumfuhren<br />

und verspricht viel, hält aber nicht Wort. Schreiben Sie mir nur<br />

recht bald, wann Sie Antwort vom Herzoge bekommen. Petri habe ich gebeten,<br />

die Absendung Ihres Berichtes zu beschleunigen. Jede Stunde Verzug<br />

kann hier Unheil bringen 4 ). Leben Sie wohl. Ihr R.<br />

Auf der Adresse: abzugeben bei Herrn Moltke 5 ), Kammersänger zu Weimar;<br />

durchgestrichen in <strong>Braunschweig</strong>.<br />

') Haake (vergl. oben) war zwischen den <strong>Braunschweig</strong>er Engagements in Mainz gewesen.<br />

') Dem. Stern, eine geborene Mainzerin, von 1824-1826 dort Primadonna. 8) Vergl.<br />

oben. Mad. Kiel blieb in <strong>Braunschweig</strong>. ') So schlimm standen in Wahrheit die Dinge<br />

gar nicht. 6) Karl Melchior Joseph Moltke (178,-18,1), war ein Schützling <strong>des</strong> Herzogs<br />

von <strong>Braunschweig</strong> und dort erst als Tenor tätig, bis Goethe ihn nach Weimar holte, wo<br />

er zu einem bedeutenden Sänger sich heranbildete.<br />

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74<br />

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PAUL ALFRED MERBACH<br />

Br. 16. 5.1825.<br />

Lieber Freund.<br />

Am letzten Mittwoch habe ich noch einen Brief fOr Sie nach Mainz abgehen<br />

lassen und ihn an den Professor Schacht 1) addressirt, höre aber jetzt<br />

von der Frau Gemahlin, <strong>das</strong>s Sie wahrscheinlich schon in Weimar sein werden.<br />

Ich <strong>für</strong>chte; <strong>das</strong>s jener Brief Sie noch vorerst nicht erreichen wird,<br />

wiederhole <strong>des</strong>halb den Inhalt <strong>des</strong>selben und füge hinzu, was sich seitdem<br />

hier ereignet hat.<br />

I. Da Sie schreiben, <strong>das</strong>s Sie nichts besseres <strong>für</strong> Schütz gefunden, so ist<br />

mit demselben und mit der Frau zu 1800 Rthl. auf ein Jahr abgeschlossen.<br />

Das Rollenfach der Frau ist so gestellt, «Mad. Schütz übernimmt muntere<br />

und naive Parthien in der Oper wie im Schauspiele; jedoch bleibt hinsichtlich<br />

der Oper <strong>das</strong> bestimmtere Arrangement bis zur Rückkehr <strong>des</strong> Hrn. Hofkapellmeister<br />

Wiedebein ausgesetzt.» Morgen früh reisst übrigens dieses<br />

Ehepaar nach Düsseldorf ab.<br />

2. Hat die Commission den Ihnen von der Pichlerschen Gesellschaft her<br />

bekannten Meisinger, den Sie mal in Pyrmont als Barbier gehört haben,<br />

engagirt. Ob Sie auf denselben fOr die Folge reflektiren wollen, gebe ich<br />

anheim.<br />

3. Hatte ich Sie ganz besonders vor dem Schützschen Ehepaare in Amsterdam<br />

gewarnt. Der Stenn-?- (unleserlich) soll sehr bösartig und Cornet<br />

ein Engel gegen ihn sein. Ich weiss es aus sicherer Quelle.<br />

4. Wünschte ich, <strong>das</strong>s Bösecke beibehalten werde. Er hat jetzt einen Ruf<br />

nach Bremen, will aber lieber hier bleiben und bittet um baldige Entscheidung.<br />

5. Anliegender Brief vom Director Klingemann ist einige Tage liegen geblieben.<br />

Bis auf, was er von der Frau Doktorin schreibt, bin ich mit dem<br />

Inhalte einverstanden. Die eigene Ruhe <strong>des</strong> Mannes erfordert es, <strong>das</strong>s die<br />

Frau vom Theater wegbleibe; ich habe es ihm schon 50mal gesagt, aber bis<br />

jetzt nicht durchdringen können. Zuweilen sieht er es ein, zuweilen dreht<br />

er plötzlich wieder um. Ich glaube wohl, <strong>das</strong>s er die Hölle im Hause haben<br />

würde, wenn die Frau nicht mehr Comödie spielte, in<strong>des</strong>sen sollte cr doch<br />

so vernünftig sein, sie hierüber auf andere Gedanken zu bringen. Der Herzog<br />

hat sich hier sehr bestimmt gegen sie erklärt und dies entscheidet doch zuletzt.<br />

Ich besorge sogar, <strong>das</strong>s Sie den übrigen Mitgliedern schaden würde, wenn<br />

Sie mit auf die Beibehaltung der Frau Doktorin drängen.<br />

6. Sollten Sie von Weimar aus weiter reisen und dann noch längere Zeit<br />

I) Vergl. über Theodor Schacht (geb. zu Br. 7. Dez. 1786 t 10. Juli 1870 zu Darmstadt)<br />

Goethe-<strong>Jahrbuch</strong> 28, 247 und Allg. D. Biogr. B. 30 S. 772 ff.<br />

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AUS DEN BRIEFSCHAFTEN GOTTLOB WIEDEBF.INS 75<br />

ausbleiben wollen, so wäre es sehr gut, wenn wir uns vorher an irgend einem<br />

Orte ein Rendez-vous geben könnten. Ort und Zeit überlasse ich Ihrer Bestimmung,<br />

nur müsste es nicht gar zu weit von hier sein.<br />

7. Anbei ein Brief von NageP) in Berlin. Früher schrieben Sie mir mal,<br />

<strong>das</strong>s Sie nicht glaubten, <strong>das</strong>s Nagel den <strong>Braunschweig</strong>ern so gefallen werde,<br />

wie frUher; halten Sie nicht dafUr. <strong>das</strong>s er fUr den widerwärtigen Köster zu<br />

Väter- und älteren Heldenrollen taugt? Ich bitte hierüber um bestimmte<br />

Nachricht und zwar in der Art, <strong>das</strong>s ich sie als Extract einem Berichte ad<br />

Serenissimum beifi.lgen kann, da ich in diesen Tagen doch einen solchen Bericht<br />

abgehen lassen muss und darin, wenn Ihr Urtheil günstig ausfällt, auf<br />

<strong>das</strong> Engagement <strong>des</strong> Nagel antragen würde.<br />

8. Die Sonntag geht nicht nach dem Königstädtischen Theater. Mehere<br />

<strong>Braunschweig</strong>er haben sie in Leipzig 2 ) gesprochen. Sie hat erzählt, <strong>das</strong>s ihr<br />

von <strong>Braunschweig</strong> aus gute Bedingungen gemacht seien, sie käme aber auf<br />

keinen Fall, wegen der Gerüchte, die über ihr Verhältnis zum Herzog herrschten<br />

3 ). Was meinen Sie dazu, sollen wir hier noch einen Versuch mit ihr<br />

machen, falls sie - wie man sagt - über <strong>Braunschweig</strong> ginge? Ich könnte<br />

es leicht einrichten, <strong>das</strong>s ihr von der Commission einige Gastrollen zugestanden<br />

würden und da fände sich denn <strong>für</strong> Klingemann und mich gute Gelegenheit,<br />

mit ihr anzubinden. - Uebrigens halte ich <strong>das</strong> Engagement der Sonntag<br />

<strong>für</strong> <strong>das</strong> unzweckmässigste, <strong>das</strong> wir machen könnten. Sie spielt ja ganz<br />

<strong>das</strong> Fach der Dermer, und diese wird täglich besser und besitzt jetzt die Liebe<br />

<strong>des</strong> Publikums in einem seltenen Grade. Die <strong>Braunschweig</strong>er - auch Oeynhausen,<br />

der die Sonntag in Leipzig gesehen hat') - finden, <strong>das</strong>s sie nicht so<br />

hilbsch wie die Dermer sei.<br />

9. Der Hammermeister hat neulich im Othello Gerbers Rolle ganz vortrefflich<br />

gesungen 5 ). Wir haben ihn <strong>für</strong> 2. und 3. Partien engagirt, jedoch<br />

versprechen müssen, <strong>das</strong>s er im Laufe <strong>des</strong> Jahres wenigstens eine erste singe.<br />

Sie werden Ihre Freude an ihm haben.<br />

10. Das Theaterbureau wird in mein Haus verlegt 6 ). Wenn Seren. nicht<br />

') Vergl. Klingemann a. a. O. I, ,66; ,,294; er war am Königstädtischen Theater Regisseur.<br />

") Franziska Sontag gastierte mit ihren heiden Töchtern Henriette und Nina<br />

während <strong>des</strong> ganzen Monats Mai am Stadttheater zu Leipzig. Henrielle sang 9 mal, darunter<br />

am 20. Mai <strong>für</strong> Leipzig zum ersten Male Webers Euryanthe. Ausserdem gab sie im Gewandhaussaale<br />

am I,. Mai ein grosses Conzert und sang verschiedentlich beim Auftreten ihrer<br />

Mutter und Schwester Arien zwischen kleineren Lustspielen. 8) Nach allen vorliegenden<br />

Zeugnissen ist sie nicht die Geliebte <strong>des</strong> Herzogs Karl 11. gewesen. ') Der Intendant<br />

Oeynhausen war damals in Naumburg; vergl. oben. 6) Vielleicht ein Gedächtnisfehler<br />

Ribbentrops; es kann nur <strong>das</strong> Auftreten Hammermeisters als Gottfried von Bouillon in Rossinis<br />

Zauberoper cArmida. am 12. Mai i 82, gemeint sein. 8) Ribbentrop wohnte damals<br />

Steingraben 188,; vorher befand sich <strong>das</strong> Theaterbureau Scharrnstrasse 71 16.<br />

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PAUL ALFRED MERBACH<br />

gar zu eigensinnig sind, so wollen wir unsere Sachen schon machen, Klingemann<br />

ist wirklich ein vortrefflicher Director.<br />

1 I. Bis jetzt halte ich noch <strong>das</strong> gesammte Personal hin. Sie glauben gar<br />

nicht, wie die Menschen an <strong>Braunschweig</strong> hängen und dies erleichtert mir<br />

die Sache sehr.<br />

12. In Hannover ist die Comittel) ausgepfiffen und mehere <strong>des</strong>selben<br />

haben ihren Abschied genommen. Der Process gegen die Dermer wird also<br />

wolliegen bleiben. Nun leben Sie wohl und antworten Sie recht bald.<br />

Ihr R.<br />

Den Nagelsehen Brief erbitte ich zurück.<br />

Ich füge hier noch einen Brief Klingemanns an, der zwar nicht an Wiedebein<br />

gerichtet ist, der aber seinem Inhalte nach hierher gehört und die mitgeteilten<br />

Schreiben auf <strong>das</strong> beste ergänzt.<br />

Nach Wiedebeins Rückkehr ward Klingemann vorn Herzog auf die Suche<br />

geschickt, um neue Kräfte zu finden; freilich war seine Ausbeute auch nicht<br />

übermässig gross; er hat in dem trefflichen Buche «Kunst und Natur» (3. Bd.)<br />

über diese Reisen ja in anschaulichster Weise berichtet.<br />

Mit dem folgenden Briefe Klingemanns an Registrator Bornhardt S ) mögen<br />

die mitgeteilten Ergänzungen zur braunschweigischen Theatergeschichte ihren<br />

Abschluss finden.<br />

Magdeburg 14. 10. 1825.<br />

Wenn ich mich gleich in diesem Augenblicke wieder sehr nahe bei Dir<br />

befinde 3 ), so werde ich selbst mich doch heute Abend wieder weiter entfernen,<br />

da ich auf Berlin abreise und nur meine Frau mit den Kindern von<br />

hier nach <strong>Braunschweig</strong> zurücksende. Von Berlin möchte ich über Strelitz<br />

auf Schwerin, Harnburg und Bremen gehen, um dann in einigen Wochen<br />

nach <strong>Braunschweig</strong> über Hannover zurückzukehren. Die Freude und Leiden<br />

meiner Reise wird Dir mein dickes Tagebuch weiterhin mittheilen. Beinahe<br />

wäre ich im fernen Ungarlande, wo Du den goldenen, köstlichsten Tockayer<br />

wohlfeiler kaufst als die ätzenden Brortzschen Getränke'), an einer Halsentzündung<br />

abgefahren o ), weIche mir <strong>das</strong> Wetter, welches urplötzlich aus Sommer<br />

in Winter überging, zuzog und wovon ich jetzt noch einen Husten übrig<br />

habe. Ich habe übrigens dem Willen <strong>des</strong> Herzogs gemäss fast <strong>das</strong> ganze<br />

1) Hofmarschall Graf von Hardenberg, Graf von Platen, Obersteuerrat Baron von Grote,<br />

Hofrat Falk und Kaufmann Ahles machten <strong>das</strong> Directionscomitee aus (Nach Marr, Der letzte<br />

der alten Schule in «Der Salon., Band I, 1876, Seite 828). Ueber den Vorfall selbst ist nichts<br />

festzustellen. ') Bornhardt war Registrator beim Collegium medicum. 8) Klingemanns<br />

Ruch: Kunst und Natur reicht nur bis Herbst 182,; der Abschnitt ;, ;09 «Magdeburg.<br />

ist undatiert. ') Etwas unleserlich und mir nicht erklärbar. b) Klingemanns<br />

«Kunst und Natup, ;, 22S.<br />

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AUS DEN BRIEFSCHAFTEN GOTT LOB WIEDEBEINS 77<br />

Theater neu gesteHt und auch seinen Liebling Kettel in Wien engagiert und<br />

Oper und Schauspiel dürften in der Hauptsache vortrefflich werden.<br />

Recht lieb wäre es mir, wenn Du mir (jedoch mit nächster Post, da ich<br />

eilig bin) nach BerIin unter der Adresse <strong>des</strong> Hofrathes Esperstedt 1 ) ein paar<br />

Worte schriebst, auch mir viel1eicht nötige Briefe welche an mich eingegangen<br />

(wie z. B. auch den Müllnerschen 2 ) sendetest. - Der Brief mit einer<br />

Lyra gesiegelt, ist von Mathilden an meine Frau, und ich bitte Dich, ihn der<br />

letzteren selbst zu geben, und ihr <strong>das</strong> Neueste aus <strong>Braunschweig</strong> mitzutheilen,<br />

so weit Du davon unterrichtet bist.<br />

Ich wollte, Du könntest die weitere Tour mit mir machen; kosten sollte<br />

es Dich nichts, und solltest Du Dich auf einige Wochen losmachen können,<br />

so fahre mit dem Eilwagen nach Berlin und mache wenigstens einen kleinen<br />

Abstecher durch Deutschland. Ich meine es ernstlich!<br />

Der Deinige A. Klingemann.<br />

Meine Frau trifft morgen Abend in <strong>Braunschweig</strong> ein, und Du fin<strong>des</strong>t sie<br />

am Sonntage froh zu Hause.<br />

') Esperstedt (1783 -1861), von 1806-18,0 Beamter der Berliner Hoftheater; er brachte<br />

es vom Souffleur zum Hofrat. ') Der Schicksalsdramendichter Adolf Müller redigierte<br />

<strong>das</strong> damals in <strong>Braunschweig</strong> erscheinende. Mitternachtsblatt •.<br />

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DER BRAUNSCHWEIGISCHE LANDTAG VON 1768- 177 0 79<br />

Diesen Anmerkungen - der Bibliothekskatalog 1 ) nennt als Verfasser Praetorius-<br />

Harenberg - liegt der Bericht eines Augenzeugen und zwar eines<br />

Prälaten, vielleicht eben Harenbergs 2 ), zugrunde. Der Autor weiss über<br />

manche Einzelheiten bei der Eröffnung und beim Schluss <strong>des</strong> Landtages gut<br />

Bescheid. Er erzählt aber nichts von den Verhandlungen der Deputierten.<br />

Dieser zeitgenössische Bericht ist dann später von einem zweiten 3 ), vielleicht<br />

von Praetorius 4 ), überarbeitet; seine Zusätze bestehen im wesentlichen in<br />

Lamentationen über die damalige Regierung, die Stände und die Deputierten<br />

insbesondere.<br />

Von der vorhandenen Literatur schildert am eingehendsten den Landtag<br />

Venturini 6 ). Er lehnt sich eng an Praetorius- Harenberg an und ist <strong>des</strong>halb<br />

über die Verhandlungen der Deputierten nicht unterrichtet. Auch ist er durch<br />

seine Quelle zu Ungunsten der Stände beeinflusst. Sonst gehen so wenig die<br />

älteren Darstellungen der braunschweigischen Geschichte von Hühne 6 ) und<br />

Havemann 7 ), wie v. Heinemann R ) näher auf die Vorgänge <strong>des</strong> Landtages ein.<br />

Rhamm (Die!Verfassungsgesetze <strong>des</strong> <strong>Herzogtum</strong>s <strong>Braunschweig</strong>) und v. Fran·<br />

kenberg (Das Staats- und Verwaltungsrecht <strong>des</strong> <strong>Herzogtum</strong>s <strong>Braunschweig</strong>)<br />

betonen im wesentlichen nur die Bedeutung <strong>des</strong> Landtagsabschie<strong>des</strong> und der<br />

Privilegien <strong>für</strong> die spätere Verfassung.<br />

Der Landtagsabschied von '770 ist bei der <strong>für</strong>stlichen Waisenhausbuchhandlung<br />

in <strong>Braunschweig</strong> im Druck ershienen, ausserdem in den Werken<br />

von Liebhaber!)) und Steinacker 10 ) abgedruckt.<br />

Abkürzungen der am häufigsten benutzten Aktenstücke.<br />

I) Protokolle der Ständeversammlungen, (


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WILHELM SCHMI01<br />

versammelten sich also am Morgen <strong>des</strong> 2. Dezember im <strong>Braunschweig</strong>er<br />

Dome. Nachdem sich die Mitglieder <strong>des</strong> Ministeriums l ) eingefunden hatten,<br />

erschien der Herzog Karl mit seinen Söhnen, dem Erbprinzen 2 ) und dem<br />

Prinzen Leopold 3 ), an der Spitze <strong>des</strong> Hofstaates. Darauf hielt der Abt Jerusalem<br />

4 ) die Landtagspredigt. Nach dem Gottesdienst begaben sich die Stände<br />

in gemeinsamem Zuge durch die von Zuschauern dicht besetzten Strassen zum<br />

damaligen <strong>für</strong>stlichen Schlosse, dem Grauen Hofe. Dort wurden die drei<br />

Kurien vom HofmarschaII in den Audienzsaal geführt, wo sie der Herzog<br />

Karl auf einem Thronsessel unter einem Baldachin erwartete, umgeben von<br />

seinen Söhnen und den Räten <strong>des</strong> Ministeriums. Nachdem sich die Stände,<br />

nach Kurien geordnet, vor dem Herzog aufgesteIlt hatten, eröffnete in seinem<br />

Namen der Minister v. Schliestedt 5 ) die Versammlung mit der Verlesung der<br />

<strong>für</strong>stlichen Proposition 6 ).<br />

Nach einer kurzen Einleitung 7 ) kam Schliestedt sogleich auf die augenblickliche<br />

tiefe Verschuldung der <strong>für</strong>stlichen Kammer zu sprechen.<br />

Wie er ausführte, liege deren Ursprung schon vor der Regierung <strong>des</strong> jetzigen<br />

Herzogs. Dieser habe daher bei seinem Regierungsantritt die lan<strong>des</strong>herrlichen<br />

Einkünfte bereits sehr geschmälert vorgefunden. Dann aber sei<br />

die <strong>für</strong>stliche Kasse sehr belastet durch ausserordentliche Ausgaben <strong>für</strong> die<br />

herzogliche Familie: grosse Summen wären erforderlich gewesen <strong>für</strong> die Versorgung<br />

mehrerer Witwen <strong>des</strong> <strong>für</strong>stlichen Hauses, <strong>für</strong> die Ausstattung verschiedener<br />

Prinzessinnen, die teilweise - wie Schliestedt hervorhob - mit<br />

Königen vermählt seien. Viel sei auch <strong>für</strong> die stan<strong>des</strong>gemässe Erziehung<br />

und Unterhaltung der zahlreichen Kinder und Geschwister <strong>des</strong> Herzogs verbraucht.<br />

Besonders führte der Minister dabei die übergrossen Kosten an, die<br />

durch die Verheiratung <strong>des</strong> Herzogs Anton Ulrich mit der russischen Prinzessin<br />

Anna entstanden seien 8 ).<br />

Landschaftlichen Registratur entnommen. ') Für die Darstellung der Eröffnungsfeierlichkeiten<br />

wurde ein unter den Akten der Landschaftlichen Registratur vorhandener Bericht benutzt:<br />

.Bei gehaltenem Landtage zu <strong>Braunschweig</strong>, den 2. Derbr. 1768 •.<br />

') Es waren die Geheimräte v. Schliestedt, v. Praun und v. Münchhausen. ') Karl<br />

Wilhelm Ferdinand, geb. 173" regierte seit 1780, gest. 1806 an seinen bei Auerstädt erhaltenen<br />

Wunden. 8) geb. 17,2, ertrank 178, in der Oder bei Frankfurt. 4) Johann Friedrich<br />

Jerusalem, Hofprediger und Erzieher <strong>des</strong> Erbprinzen, Abt von Riddagshausen, geb. 17°9,<br />

gest. 1789. 6) Heinrich Bernhard Schrader v. Schliestedt war geboren am 3. Oktober 1706,<br />

und starb am 19. Juli '773. 1733 wurde er Sekretär <strong>des</strong> Herzogs Karl, '735 Hofrat und Mitglied<br />

der Justizkanzlei, schliesslich 17,4 Staatsminister CA. D. B. Bd. 32 S. 43, IL) b) • Welchermassen<br />

der .... '; die der Landschaft ausgehändigte Abschrift der Proposition zeigt Siegel<br />

und Unterschrift <strong>des</strong> Herzogs. 1) Es wurde darin hervorgehoben, <strong>das</strong>s den Gerechtsamen<br />

der Stände daraus kein Nachteil erwachsen solle, <strong>das</strong>s der Landtag nicht, wie hergebracht, an<br />

einen offenen Ort berufen sei. 8) Anton U Irich, geb. 1714, heiratete 1739 Anna CElisa-<br />

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DER BRAUNSCHWEIGISCHE LANDTAG VON 1768-1770 83<br />

Aber trotz diesen grossen Ausgaben <strong>für</strong> <strong>das</strong> herzogliche Haus wären auch.<br />

beträchtliche Summen <strong>für</strong> die Verbesserung <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> aufgewandt. Der<br />

Minister erwähnte hier zunächst die Errichtung von U nterrichts- und Erziehungsanstalten,<br />

in den Städten sei die Polizei verbessert. Grosse Summen<br />

habe man ausgegeben, um die gewerblichen Erzeugnisse <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> zu vervollkommnen.<br />

Vor allem wurde hier auf die Förderung hingewiesen, die die<br />

Leineweberei auf dem platten Lande erfahren habe; ferner seien Porzellanfabriken<br />

errichtet, Eisen· und Glashütten angelegt. Wie Schliestedt weiter<br />

bemerkte, sei schon ein Erfolg zu verspüren gewesen. Das Aussehen der<br />

Städte habe sich durch neue Bauten belebt. Im Handel sei der Umsatz und<br />

die Ausfuhr gestiegen: <strong>das</strong> Land sei aufgelebt.<br />

Dann aber wäre der Krieg gekommen, der neue Summen verschlungen,<br />

<strong>das</strong> Land verwüstet, die HOlfsquellen der Kammer vernichtet hätte.<br />

Schliesslich, erkbrte der Minister weiter, habe man eine Besserung der<br />

Verhältnisse davon erwartet, <strong>das</strong>s man von England nach dem Frieden eine<br />

ausserordentliche Entschädigung <strong>für</strong> die Leiden <strong>des</strong> Krieges erhalte. Doch der<br />

unerwartete Tod Georgs l\1) habe auch diese Hoffnung vernichtet.<br />

Nach Schliestedts Ausführungen war nun durch alle diese Umstände die<br />

<strong>für</strong>stliche Kammer in eine Schuldenlast geraten, deren Summe er ganz allgemein<br />

auf einige Millionen Taler angab. Aus dieser Notlage müsse die fOrstliche<br />

Kammer befreit werden: <strong>das</strong> könne allein den Fürsten und sein Land<br />

vor den « herbesten» Auftritten retten.<br />

Der Herzog und der Erbprinz hätten zwar schon begonnen, durch Einschränkungen<br />

und Ersparnisse beim Theater, bei Hof und Militär selbst ein<br />

tatkräftiges Beispiel zu geben, um zur Rettung <strong>des</strong> allgemeinen Kredits beizutragen.<br />

Damit aber wirkliche Hülfe geschafft würde, müssten die Stände<br />

der Kammer einen «erklecklichen» Teil der Schulden abnehmen. Um die<br />

schon stark belastete ständische Kasse, die Landrenterei, hier<strong>für</strong> instand zu<br />

setzen, schlug Schliestedt vor, müsse man die Einkünfte der Landschaft erhöhen.<br />

Dies solle einerseits durch neue Auflagen geschehen, auf der anderen<br />

Seite würde man der Landschaft herrschaftliche Einkünfte überweisen.<br />

Wie der Minister dann noch hervorhob, sei es einer «besondern Vorsehung»<br />

zuzuschreiben, <strong>das</strong>s der Landschaft ein grosses Kapital zu 4 Prozent<br />

verschafft werden könne. Diese überaus günstige Gelegenheit müsse aber<br />

bald benutzt werden, wenn sie nicht verloren gehen solle. Schliestedt legte<br />

beth), die Tochter Kar! Leopolds von Mecklenburg, eine Nichte der russischen Kaiserin Anna.<br />

Anton Ulrich starb in der Gefangenschaft I77S. Vgl. Brückner: Die Familie <strong>Braunschweig</strong><br />

in Russland im 18. Jahrhundert.<br />

') gest. 2S. Oktober 1760.<br />

6*<br />

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DER BRAUNSCHWEIGISCHE LANDTAG VON 1768--1770 85<br />

wurde. Nur in der Frage, ob man sich sogleich wegen <strong>des</strong> angebotenen<br />

Kapitals in Verhandlungen einlassen solle, standen sich die Ansichten schroff<br />

gegenüber. Ein Teil der Kurie wollte sofort auf <strong>das</strong> Anerbieten der Regierung<br />

eingehen. Zu dieser Partei gehörten in erster Linie die Mitglieder <strong>des</strong><br />

engeren Ausschusses: die drei Schatzräte v. Bötticher 1 ), v. Hoym 2 ) und v.<br />

Bülow 3 ), sowie der Kammerpräsident v. Völker 4 ). Der grössere Teil der·<br />

Ritterschaft wollte sich jedoch zu nichts verstehen, ehe <strong>das</strong> Quantum<br />

der Kammerschulden, <strong>das</strong> man übernehmen sollte, sowie die näheren Umstände<br />

<strong>des</strong> offerierten Kapitals bekannt wären. Diese Meinung drang schliess·<br />

lich durch, obgleich die Mitglieder <strong>des</strong> engeren Ausschusses alles versuchten,<br />

um die Versammlung zu ihrer Ansicht zu bekehrenD). Der Landsyndikus<br />

erhielt also den Auftrag, ein gemeinsames Votum zusammenzustellen, durch<br />

<strong>das</strong> die Meinung der Mehrheit der Kurie wiedergegeben würde.<br />

Am folgenden Tage wurde dieser Entwurf durchberaten ß ). Was <strong>das</strong> angebotene<br />

Kapital anging, so erhielt die ablehnende Antwort eine etwas<br />

weniger schroffe Form: wenn der unbekannte Kreditor der Landschaft <strong>das</strong><br />

Kapital <strong>für</strong> 3 bis 6 Monate bereit halten wolle, so werde sie während dieser<br />

Zeit die Zinsen tragen, aber ohne nachher <strong>das</strong> Kapital nehmen zu müssen<br />

oder sonst irgend wie verpflichtet zu sein.<br />

Obgleich v. Bötticher und v. Hoym nochmals verschiedene Änderungen<br />

durchzusetzen versuchten, wurde diese Fassung doch beibehalten und genehmige).<br />

Da inzwischen auch die Prälaten und die städtischen Abgeordneten ihre<br />

Vota fertiggestelIt hatten S ), traten am 9. Dezember die Kurien zusammen 9 ).<br />

I) Just Heinrich v. Bötticher, Geheimer Rat und Hofrichter, ältester Schatzrat, Erbherr<br />

auf Helmstedt und Linden, geb. 1692, gest. 31. August 1769. (


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88 WILHELM SCHMIDT<br />

nicht mehr zu rechnen sei. Die Bekanntgabe aller Schulden wurde ab·<br />

gelehnt mit der Begründung, <strong>das</strong>s dieses früher auch nicht Brauch gewesen<br />

sei. Auf den Vorschlag, <strong>das</strong>s die Regierung mit den begonnenen Einschränkungen<br />

fortfahren solle, ging Schliestedt nicht ein, sondern kam gleich<br />

auf <strong>das</strong> Kapital zu sprechen: wie er mitteilte, betrage es eine Million Taler;<br />

es sei zu 4 Prozent auf eine Reihe von Jahren zu haben und könne in Raten<br />

abbezahlt werden; der Kreditor, der vor dem Zustandekommen <strong>des</strong> Geschäfts<br />

nicht genannt sein wolle, würde sich mit seinem Kapital wahrscheinlich<br />

anderweitig verpflichten, wenn von der Landschaft nicht bald eine Entscheidung<br />

getroffen würde. Die Stände wurden <strong>des</strong>halb mit der Bitte entlassen,<br />

ihre Deputierten auch in diesem Punkte den gemachten Vorschlägen entsprechend<br />

zu instruieren.<br />

3) Die Instruktion und Wahl der Deputierten.<br />

Bereits vor der Abgabe ihrer Erklärung hatte sich unter den Ständen eine allgemeine<br />

Spaltung vollzogen: auf der einen Seite standen die Anhänger der<br />

Regierung, die Prälaten und städtischen Abgeordneten, mit dem Kammerpräsidenten<br />

v. Völker, den beiden Hoyms und dem Hofrat Lichtenstein an<br />

der Spitze. Im Gegensatz zu ihnen zeigte die andere aus dem grössten Teil<br />

der adeligen Gutsbesirzer bestehende Partei dem Ministerium sehr wenig Entgegenkommen.<br />

Sie wollte bei der bevorstehenden Regelung der Regierungsfinanzen<br />

vor allem den ständischen Einfluss zur Geltung bringen, überhaupt<br />

den Rechten der Landschaft zu neuer Kraft verhelfen. Der Hauptvertreter<br />

dieser Ansicht war der frühere Hofrichter v. Veltheim.<br />

Friedrich August v. Veltheim gehörte der braunschweigischen Ritterschaft<br />

als Besitzer <strong>des</strong> Kochenhofes in <strong>Braunschweig</strong> an. 1747 bis 1755 war<br />

er Präsident am Hofgericht in Wolfenbüttcl, wurde aber auf sein Gesuch<br />

hin entlassen. Ein Stammbaum der Familie berichteti), Veltheim habe sich<br />

als Mitglied der magdeburgischen und halberstädtischen Stände - er besass<br />

dort in der Gegend die Güter Aderstedt und Harbke - während <strong>des</strong> Siebenjährigen<br />

Krieges so ausgezeichnet, <strong>das</strong>s ihm Friedrich der Grosse einen Ministerposten<br />

angeboten habe. Veltheim hätte jedoch diesen Posten aus Gesundheitsrücksichten<br />

abgelehnt. Jetzt, bei dem Landtage, trat er wieder sehr<br />

hervor. Sicher war er der bedeutendste unter den Deputierten. Trotz seinem<br />

vorgeschrittenen Alter 2 ) zeigte er noch grosse Arbeitskraft. Das beweisen<br />

zahlreiche von ihm verfasste Denkschriften. Es spricht aus ihnen eine genaue<br />

1) Stammtafel der uradeligen Familie v. Veltheim 186,. o. O. ') Friedrich August<br />

v. Veltheim war geboren am 2 I. Oktober '709 und starb am '9' April '779 (Gothaisches<br />

genealogisches Taschenbuch der uradeligen Häuser 1907. S. 773).<br />

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90 WILHELM SCHMIDT<br />

Die Instruktion 1) umfasste 18 Artikel; zunächst') wiederholte sie die von<br />

den Ständen bereits vorgebrachte Forderung, <strong>das</strong>s ihre Desideria und Gravamina<br />

«pari passu» mit dem «Hauptwerke» abgetan werden sollten. Auch<br />

wurden die Deputierten beauftragt, noch während <strong>des</strong> Landtages oder doch<br />

in unmittelbarem Anschluss daran eine lan<strong>des</strong>herrliche Bestätigung der ständischen<br />

Privilegien durchzusetzen 8 ).<br />

Mit der «Verwilligung» beschäftigten sich die folgenden Artikel. Hierbei<br />

wurde vorausgesetzt, <strong>das</strong>s die bereits übernommenen I 50000 Taler mit in<br />

Anrechnung kommen sollten 4 ). Im übrigen überliessen es die Stände den<br />

Deputierten, festzustellen, wieviel Schulden die Landschaft übernehmen<br />

könne. Nur wurde bestimmt, <strong>das</strong>s alles bei einer Verzinsung zu 4 Prozent<br />

in 20 Jahren durch die zu bewilligenden ausserordentlichen Mittel wieder<br />

abgetragen sein müsste 5 ).<br />

Über diese verfügte die Instruktion, die neuen Auflagen hätten den Kräften<br />

<strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> «gernäss» zu sein 6 ). Auch dürfe dadurch « Commercium und<br />

Industrie» nicht geschädigt und die ärmere Bevölkerung nicht zu sehr gedrückt<br />

werden 7 ). Weiter wurde vom Herzog Bürgschaft verlangt, <strong>das</strong>s die<br />

an die Landschaft abzutretenden Kammerintraden im vollen Betrage auch<br />

wirklich einkommen würden 8 ). Alle diese Gelder sollten in eine unter Aufsicht<br />

der Landschaft stehende Kasse fliessen ; ebenso forderten die Stände<br />

<strong>für</strong> sich <strong>das</strong> Recht, durch den engeren Ausschuss die übernommenen Schulden<br />

zu verwalten 9 ). Schliesslich wurde bestimmt, es sollten alle ausserordentlichen<br />

Massregeln «ipso facto» wieder ausser Wirksamkeit treten, sobald die<br />

übernommenen Schulden getilgt sein würden lO ).<br />

Um eine durchgreifende Besserung der Verhältnisse herbeizuführen, verpflichtete<br />

die Instruktion die Deputierten, auch daraufhin zu wirken, <strong>das</strong>s<br />

künftig von der Regierung alle zwei Jahre dem engeren und dem grösseren Ausschusse<br />

darüber Bericht erstattet würde, wie weit die Kammer mit der Tilgung<br />

ihrer übrigen Schulden gekommen sei 11). Ferner sollten die Deputierten<br />

mit dem Ministerium sich darüber verständigen, wie die Kammer vor neuen<br />

Schulden bewahrt werden könne. Auf zwei Punkte - die Stände hatten<br />

trägt die Ueberschrift: .Project zur Illstruetion <strong>für</strong> die zu wählende Deplltirte, verlesen bey<br />

Versammlung der Herren Stände in Cllria Nohitium, den I,. Da. 1768.. ") Das Akten·<br />

stück zeigt die Kopfnote von der Hand Hartkens: .Ad Illstruetionem ex Curia Praelatorum.'<br />

Es ist eine Abschrift <strong>des</strong> vom Landsyndikus verfassten Entwurfs. Die zahlreichen Verbesserungsvorschläge<br />

der Prälaten sind als Randnotizen eingetragen. Sie zeigen im allgemeinen die<br />

Handschrift <strong>des</strong> Hofrats Lichtenstein, einige wenige rühren vom Oberforstmeister v. Hoym her.<br />

') Sie ist datiert vom 17. Dezember und von allen Ständen nnterschrieben. ') Art. I.<br />

11) Art. 2. 4) Art. 10. ') Art. 3 und 4. ") Art. 5. 1) Art. ,.<br />

8) Art. 6. 9) Art. 7 und 8. '0) Art. 1 I. 11) Art. 13.<br />

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DER B RAU N S C H W E I GIS eHE LA l' D TAG VON 1768-177° 9 1<br />

sie schon in ihrer ersten Erklärung in Vorschlag gebracht - machte die Instruktion<br />

noch besonders aufmerksam: die Regierung müsse mit den Ein·<br />

schränkungen bei der Kammer und im Militärwesen fortfahren; ebenso solle<br />

der Herzog bei seinen staats· und volkswirtschaftlichen Versuchen auf den<br />

Zustand der <strong>für</strong>stlichen Kassen Rücksicht nehmen I). Auf jeden Fall aber<br />

sollten die Deputierten es zu erreichen suchen, <strong>das</strong>s man den Ständen als<br />

den «consiliariis perpetuis patriae» vorher Mitteilung machen würde, wenn<br />

die Kammer notgedrungen doch wieder neue Schulden machen müsse 2 ).<br />

Was die Kapitalfrage anging, so enthielt die Instruktion günstigere Be·<br />

stimmungen 3 ), als die Regierung nach der letzten Erklärung der Stände hätte<br />

erwarten können.<br />

Dieser Umschwung wurde durch die Patrioten bewirkt: auf den Vorschlag')<br />

<strong>des</strong> Hofrichters v. Veltheim beschlossen sie - weniger um dem Hof entgegenzukommen,<br />

als in der Hoffnung, im Besitze <strong>des</strong> Kapitals auf die Vorgänge<br />

<strong>des</strong> Landtags einen stärkeren Einfluss ausüben zu können - folgen<strong>des</strong>:<br />

die Landschaft solle <strong>das</strong> Kapital aufnehmen, doch auf eigene Rechnung und<br />

Gefahr, 'die Gelder während <strong>des</strong> Landtages in Händen behalten, um sie dann<br />

beim Schlusse der Verhandlungen dem Herzog ganz oder teilweise zur Verfügung<br />

zu stellen.<br />

Auf dieser Grundlage fusste dann auch die endgültige, von sämtlichen<br />

Ständen genehmigte Fassung"). Es wurde vorausgesetzt, <strong>das</strong>s der Herzog<br />

alle Übermachungskosten sowie die Verzinsung, bis zur verbindlichen Übernahme<br />

der Kammerschulden beim Schluss <strong>des</strong> Landtages, tragen würde, <strong>das</strong>s<br />

<strong>das</strong> Kapital 15-20 Jahre unkündbar sei, und <strong>das</strong>s nach Ablauf dieser Frist<br />

nicht mehr als 100000 Taler auf einmal gekündigt werden könnten. Unter·<br />

diesen Bedingungen erhielten die Deputierten die Erlaubnis, in die Annahme<br />

der Million zu willigen. Doch müsste <strong>das</strong> Kapital an die Landrentereikasse<br />

ausbezahlt werden und dort stehen bleiben, bis beim Schlusse <strong>des</strong> Landtages<br />

bestimmt sein würde, ob die Million ganz oder teilweise zur Bezahlung von<br />

Kammerschulden verwandt werden solle. Im letzteren Falle beanspruchten<br />

die Stände, über den Rest <strong>des</strong> Kapitals verfügen zu können. Schliesslich 6 )<br />

wies die Instruktion die Deputierten nochmals an, es durchzusetzen, <strong>das</strong>s die<br />

Wirksamkeit aller Beschlüsse <strong>des</strong> Landtages durch bündige Recesse sicher<br />

gestellt würde.<br />

Über alle diese Punkte einigten die Stände sich ohne Schwierigkeiten;<br />

') Art. 12. ') Art. 13· ") Art. 9. () Enthalten in dem Aufsatz: «Neuer<br />

Gedanke wegen Besprechung <strong>des</strong> angetragenen Darlehns ad I Million Thaler in Louis d'or.'<br />

<strong>Braunschweig</strong>, IIj. Dezember 1768. 6) Sie war den Vorschlägen der Prälaten entnommen.<br />

6) Art. 14, IS, 16.<br />

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DER BRAUNSCHWEIGISCHE LANDTAG VON 1768-1770 93<br />

fluss geltend machte, hatte sie deren Zahl auf 9 festgesetzt, da von den beiden<br />

anderen Kurien ursprilnglich je drei Deputierte gewählt waren 1 ), und - wie<br />

der Hofrichter anführte - «die erste noch bis auf den heutigen Tag bestehende<br />

Einrichtung <strong>des</strong> Schatz-Collegii» bestimmte, <strong>das</strong>s die Ritterschaft gegenüber<br />

je einem Deputierten der beiden anderen Kurien drei Abgeordnete zu wählen<br />

hätte. Die Wahlen waren geheim. 43 StimmzettelS) wurden abgegeben:<br />

unter den 9 Mitgliedern der Ritterschaft, die die meisten Stimmen erhielten S ),<br />

stand an erster Stelle der Hofrichter v. Veltheim, der Wortführer der Patrioten.<br />

Ebenso zählte der grösste Teil der übrigen Gewählten zur gleichen<br />

Partei. Nur der Geheimrat v. Bötticher sowie der ältere v. Hoym') waren<br />

entschiedene Anhänger Hofes. Die Wahl <strong>des</strong> letzteren hatten die Patrioten<br />

nicht erwartet 5 ); er verdankte aber seine Ernennung zum Deputierten, ebenso<br />

wie v. Bötticher, im wesentlichen nur dem Umstande, <strong>das</strong>s er Schatzrat<br />

und Mitglied <strong>des</strong> engeren Ausschusses war.<br />

Unter lebhafter Teilnahme der Bevölkerung hatte der Landtag seinen<br />

Anfang genommen. Jetzt waren mit der Wahl der Deputierten die Eröffnungsverhandlungen<br />

beendigt, und die Stände gingen bis zu ihrer abermaligen<br />

Berufung auseinander 6 ).<br />

11. Die Verhandlungen der Deputierten.<br />

I) Das Programm der Regierung,<br />

die Aufnahme <strong>des</strong> holländischen Kapitals 7 ).<br />

Die Beratungen <strong>des</strong> Ministeriums mit den ständischen Abgeordneten wurden<br />

am 21. Dezember durch eine gemeinsame Konferenz in der <strong>für</strong>stlichen<br />

Geheimen Ratsstube eröflnet 8 ). Wie bei den meisten späteren Zusammenkünften,<br />

war auch jetzt der Erbprinz anwesend. Als eigentlicher Vertreter<br />

') Die städtische Kurie hatte anfangs ausser Koch und Lichtenstein noch den Bürgermeister<br />

von Königslutter, Kühne, gewählt. ') Hartkens Protokoll über die Wahl:


94<br />

Digitale Bibliothek <strong>Braunschweig</strong><br />

WILHELM SCHMIDT<br />

der Regierung fungierte jedoch der Minister v. Schliestedt. Er führte allein<br />

<strong>das</strong> Wort - die übrigen Minister traten vollständig hinter ihm zurück -,<br />

wie überhaupt alles, was von der Regierung geschah, durch seine Hand ging.<br />

Schliestedt war eben «die eigentliche Seele der Staatsverwaltung!)>>.<br />

Jetzt, am 2 I. Dezember, machte er zunächst die Deputierten mit den Absichten<br />

der Regierung näher bekannt.<br />

Er begann mit der Aufforderung, mari wolle sich bei den bevorstehenden<br />

Beratungen frei und offenherzig entgegenkommen; im übrigen erwarte er,<br />

<strong>das</strong>s über die Verhandlungen Schweigen bewahrt werde. Was den «modus<br />

tractandi» angehe, so wolle man - dieses sei auch bei den früheren Landtagen<br />

der Geschäftsgang gewesen - in gemeinsamen Konferenzen die beiderseitigen<br />

Ansichten zu Protokoll geben.<br />

Man erwarte die baldige Einsendung der Desiderien, die ja «pari passu»<br />

mit der eIgentlichen Landtagsangelegenheit vorgenommen werden sollten,<br />

und wolle mit dieser heute beginnen.<br />

Unter dem Siegel der Verschwiegenheit werde den Deputierten eröffnet,<br />

<strong>das</strong>s die Schulden der Kammer sich auf über 5 Millionen Taler - <strong>für</strong> <strong>das</strong><br />

Land eine ungeheure Summe - beliefen; wie schon mitgeteilt sei, halte der<br />

Herzog ein auf die Einzelheiten eingehen<strong>des</strong> Verzeichnis aller Schulden <strong>für</strong><br />

schädlich. Man würde jedoch diejenigen im Einzelnen angeben, welche der<br />

Landschaft überwiesen oder mit deren Mitteln getilgt werden sollten.<br />

Es sei zwar unmöglich, sagte der Minister, die Kammer auf einmal von<br />

allen Schulden zu befreien; doch hoffe man dieses allmählich durch Sparsamkeit<br />

erreichen zu können. Auf jeden Fall aber müssten die Stände jetzt<br />

3 Millionen Taler übernehmen.<br />

Wie Schl.iestedt zugab, sei dieses <strong>für</strong> die schon sehr überbürdete ständische<br />

Kasse eine schwere Aufgabe. Deshalb sollten Ministerium wie Deputierte<br />

einen Entwurf darüber einreichen, wie alle nur denkbaren Hülfsquellen dem<br />

alleinigen Zwecke dienstbar gemacht werden könnten, der landschaftlichen<br />

Kasse neue Einkünfte zu verschaffen.<br />

Ganz abgesehen vom Ausfall dieser Überlegungen, fuhr der Minister fort,<br />

sei aber die holländische Anleihe unbedingt notwendig. Er kam dabei auf<br />

eine von den Ständen in dieser Sache am 17. Dezember eingereichte und<br />

auf den Bestimmungen der Deputierteninstruktion fussende Erklärung 2 ) zu<br />

sprechen: der Herzog sei mit den darin gestellten Bedingungen einverstanden,<br />

nur mache er eine Einschränkung: um die Kammer vor unnützen Zinsen<br />

1) A. D. B. Bd. 12 S. 43). ')


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DER BRAUNSCHWEIGISCHE LANDTAG VON 1768- 177 0 95<br />

zu bewahren - sie hatte nach der Instruktion die Verzinsung bis zur Übernahme<br />

der Kammerschulden beim Schlusse <strong>des</strong> Landtages zu tragen -, solle<br />

<strong>das</strong> Kapital nicht bis dahin unbenutzt bei der Landrentereikasse stehen bleiben,<br />

wie die Stände verlangt hatten, sondern schon in nächster Zeit zur Schuldentilgung<br />

verwandt werden.<br />

Zum Schluss betonte der Minister, <strong>das</strong>s er auf die gemachten Vorschläge,<br />

vor allem wegen <strong>des</strong> Kapitals, eine baldige Antwort erwarte.<br />

Die Deputierten verabredeten sich jedoch am folgenden Taget), diese Angelegenheit<br />

vorläufig beiseite zu setzen, dagegen alle nötigen Schritte einzuleiten,<br />

um die Desidericn sowie den von der Regierung erbetenen Entwurf<br />

sobald als möglich einreichen zu können.<br />

Man war von ständischer Seite mit den Arbeiten hier<strong>für</strong> beschäftigt, als<br />

am 13. Januar von Schliestedt ein Schreiben 2 ) einlief, in dem er wegen der<br />

holländischen Anleihe nochmals zu einem baldigen Entschlusse mahnte:<br />

600000 Gulden ständen schon zum I. Februar zur Auszahlung an die Landrentereikasse<br />

bereit 3 ). Hätte der Amsterdamer Bankier 4 ), durch den <strong>das</strong> Geschäft<br />

vermittelt sei, nicht bis dahin die Zusage der Landschaft in Händen,<br />

so wUrde <strong>das</strong> Kapital kaum noch zu den bisherigen Bedingungen zu haben,<br />

sein. Da Schliestedt im übrigen von <strong>des</strong>sen sofortiger Verwendung nichts<br />

mehr verlauten liess, so erteilten die Deputierten, unter Berufung auf ihre<br />

am I]. Dezember eingereichte Erklärng, die Einwilligung zur Aufnahme <strong>des</strong><br />

Gel<strong>des</strong> fi ).<br />

2) Der Entwurf der Deputierten, die Überreichung der<br />

Desiderien und die interimistische Zahlung 6 ).<br />

Inzwischen waren die Beratungen der ständischen Abgeordneten so weit<br />

gediehen, <strong>das</strong>s sie Mitte Februar einen Entwurf wegen der RettungsmitteF)<br />

einreichen konnten.<br />

Dieser war erst nach längeren Vorarbeiten zustandegekommen. Die ersten<br />

Schritte hatte dabei ein Teil der ritterschaftlichen Deputierten getan. Es war<br />

von ihnen ein VotumS) ausgearbeitet, wonach die Landschaft, wenn auch<br />

') Actum: Landschaft, 22. Dezember 1768. ') Schliestedt hatte an jede Kurie ein<br />

besonderes Schreiben gerichtet; <strong>das</strong> <strong>für</strong> die Ritterschaft bestimmte ist datiert vom 12. Januar<br />

1769. S) Die 600000 Gulden wurden nach einem vom 28. Oktober 1769 datierten<br />

Promemoria <strong>des</strong> Landrentmeisters Bokelmann in PI) 000 Taler Kurant umgerechnet. Mehr<br />

Erfolg scheint die ursprünglich in Höhe von einer Million Taler geplante Anleihe nicht gehabt<br />

zu haben. ') Lüden & Comp. ") Promemoria der Deputierten an den Geh.<br />

Rat v. Schliestedt. <strong>Braunschweig</strong>, den 13. Januar 1769. 6) Vgl. Anm. 7 auf S. 93.<br />

') Promemoria der Deputierten ans Ministerium. Datiert vom 6. Februar, übergeben am 16.<br />

Februar J 769. 8) Datiert vom 30. Januar. Es haben unterzeichnet: v. Honrodt, v.<br />

Veltheim-Destedt, v. Bülow, Schatzrat v. Hoym, v. Campe, v. Cramm.<br />

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WILHELM SCHMIDT<br />

nicht 3 Millionen, wie die Regierung verlangt, so doch 21/2 Million Taler<br />

auf folgende Weise übernehmen sollte: die Kammer müsse aus ihren Einkünften<br />

die nötigen Summen zur Verzinsung und Amortisation von einer<br />

Million abtreten, während die Landschaft die anderen 1 1 / 2 Millionen von den<br />

ihr neu zu schaffenden Einnahmen verzinsen und abtragen würde.<br />

Vor allem sollte die «Generalkassenangelegenheit l )>> während <strong>des</strong> Landtages<br />

geordnet werden, und man hoffte darauf, - der ganzen Berechnung<br />

war ein Plan <strong>des</strong> Landrentmeisters Bokelmann 2 ) zugrunde gelegt - <strong>das</strong>s<br />

hierbei die Landschaft ein vorgeschossenes Kapital von 61 5000 Talern zurückerhalten<br />

würde. Diese Summe sollte mit zur Deckung der 1 1 / 2 Millionen<br />

verwandt werden. Ausserdem war zu deren Verzinsung und Amortisation<br />

vorgeschlagen, die Steuer vom fremden und einheimischen Bier um <strong>das</strong> Doppelte<br />

<strong>des</strong> bisherigen Betrages zu erhöhen 3 j. Ebenso sollte neben der Steuer<br />

von fremdem Branntwein') die Weinakzise bedeutend erhöht werden 5 ),<br />

und es war in Aussicht genommen, die bisher eximierten <strong>für</strong>stlichen und<br />

landschaftlichen Beamten dieser Steuer zu unterwerfen, so<strong>das</strong>s nur die<br />

Ritterschaft und die Prälaten befreit bleiben sollten. Ferner beabsichtigte man<br />

<strong>das</strong> Fürstentum Blankenburg zu den Lan<strong>des</strong>lasten mit heranzuziehen, und<br />

schliesslich war ausser der Errichtung einer Tontine vorgeschlagen, die bis<br />

1770 laufende ausserordentliche Kontribution von 5/ 12 Simplis 6 ) weiter auf<br />

20 Jahre auszuschreiben. Durch diese neuen Hülfsquellen hoffte man alljährlich<br />

83000 Taler aufzubringen, um so den Rest der 1 1 / 2 Millionen verzinsen<br />

und abtragen zu können. Man verlangte von der Regierung eine<br />

detaillierte Angabe der abzutretenden Kammerintraden und nahm nach den<br />

Bestimmungen der Deputierteninstruktion die Verwaltung der ganzen, auf<br />

20 Jahre berechneten Einrichtung <strong>für</strong> die Stände in Anspruch.<br />

Der Hofrichter v. Veltheim 7 ) riet zwar davon ab, die 615000 Taler mit<br />

in Rechnung zu ziehen, weil deren Zurückerstattung grosse Schwierigkeiten<br />

machen würde. Trotzdem wurde aber <strong>das</strong> Votum der ritterschaftlichen De-<br />

1) Die Kasse war angelegt worden, um die dem Lande durch den Siebenjährigen Krieg<br />

erwachsenen Schulden aufzubringen. Es war jedoch in dieser Sache bis jetzt noch nichts<br />

Wesentliches unternommen. ') Promemoria <strong>des</strong> Landrentmeisters 130kelmann an die<br />

Deputierten. <strong>Braunschweig</strong>., den 3 o. Januar 1769. S) Von der Biersteuer erhielt die<br />

Kammer zwei Fünftel, <strong>das</strong> Ubrige kam der Landschaft zu, <strong>für</strong> die man jetzt einen Mehrertrag<br />

von über 42000 Talern erwartete. ') Pro Halbfass von 7 Talern 8 Pfennige auf 9 Taler<br />

10 gute Groschen 8 Pfennige. 6) Die


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WILHELM SCHMIDT<br />

Die Stände beschwerten sich über die während <strong>des</strong> Sieben jährigen Krieges<br />

und nachher vorgenommene Reduktion der Münzei), über Missstände, die<br />

beim <strong>für</strong>stlichen Leihhaus in <strong>Braunschweig</strong> eingerissen waren 2 ), über den<br />

teilweise noch bestehenden MühlenzwangS); die Rittergutsbesitzer forderten<br />

eine Feuerlöschordnung <strong>für</strong> <strong>das</strong> platte Land'). Neben der Bitte um eine neue<br />

Festsetzung der landschaftlichen GefälleO) figurierten Vorschläge, um die 1746<br />

von der Regierung begonnene «General-Lan<strong>des</strong>-Vermessung» endlich zum<br />

Abschluss zu bringen 6 ). Zugleich sollten die Kontributionskataster neu geordnet<br />

werdenT). Man verlangte eine Revision der Polizeigesetze 8 ), Einschränkung<br />

<strong>des</strong> .Bettelunwesens auf dem Lande 9 ) und Verbesserungen im<br />

Justizwesen. Es wurde Beschwerde geführt über zu hohe Gerichtskosten,<br />

über die Langsamkeit der Rechtspflege, besonders bei den Untergerichten,<br />

<strong>für</strong> die man eine neue Gerichtsordnung verlangte. Auch bat man darum,<br />

der Herzog möge nicht in den Gang der Prozesse eingreifen, sondern der<br />

Justiz «ihren stracken Lauff» lassen 10 ). Die Städte forderten sogar ein Lan<strong>des</strong>gesetzbuch<br />

in deutscher Sprache 11). Besonders bemerkenswert ist die Vorstellung<br />

wegen der allgemeinen Wegebesserung 12 ). Das Unternehmen war<br />

von der Regierug im Jahre 17; I begonnen, dann aber ins Stocken geraten.<br />

Die Deputierten überreichten jetzt sorgfältig ausgearbeitete Vorschläge, wonach<br />

der Wegebau unter ihrer eigensten Mitwirkung energisch und nach<br />

einem einheitlichen Plane in Angriff genommen werden sollte. Die Mitglieder<br />

der Ritterschaft wollten persönlich die Aufsicht über den Bau der in der<br />

Nähe ihrer Güter liegenden Strassen übernehmen. Zuerst sollten die grossen<br />

Heerstrassen nach den Nachbarterritorien, dann die weniger wichtigen im<br />

Inneren <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> in Angriff genommen werden. Wenn irgend möglich,<br />

wollten sie nur Chausseen gebaut wissen. Die Arbeit sollte nicht durch Handund<br />

Spanndienste geleistet, sondern nach Möglichkeit verdungen werden.<br />

Schliesslich wurde zur Unterhaltung der neuen Strassen die Errichtung einer<br />

besonderen Kasse in Vorschlag gebracht. Ihr geistiges Interesse beweisen die<br />

Stände durch die von den Städten und Prälaten vorgebrachte Forderung nach<br />

einer Verbesserung <strong>des</strong> Schulwesens lS ) und durch ihre Vorschläge zur Hebung<br />

') Des. gen. 16. Ebenso die städtische Kurie in ihrem <strong>des</strong>. gen. 8. ') Hierüber war<br />

eine besondere Denkschrift eingereicht worden: «Acta, Desideria und wavamina, welche<br />

auf dem Landtage von 1768-1770 zwischen Herrn und Ständen hinsichtlich <strong>des</strong> Leihhauses<br />

sind verhandelt worden, betr.' L. R. XVI. 2. 8) Des. gen. 41. ') Des. gen. 9<br />

der Curia Nobilium. 6) Des. gen. 27. 6) Sie sind nachträglich eingereicht und<br />

datiert vom 12. April 1769. (St. A. Landtagsakten Bd. XXXII). ') Des. gen. 28.<br />

") Des. gen. 2 I. ") Des. gen. 17 und 18. 10) Des. gen. 8. ") Des. gen. 10<br />

der städtischen Kurie. 1 2 ) Sie ist datiert vom 29. April und am I. Mai 1769 übergeben<br />

worden: «Acta, die Wegebesserung betr. 17,0-18031 (L. R.B.a.l. XVI). 18) Des. gen.<br />

S der Prälaten, Des. gen. , der städtischen Kurie.<br />

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DER BRAUNSCHWEIGISCHE LANDTAG VON 1768- 177 0 99<br />

der Universität Helmstedt. Man beschwerte sich vor allem darüber, <strong>das</strong>s nicht<br />

alle Professoren stellen besetzt wären, und verlangte die Berufung tüchtiger<br />

Privatdozenten - <strong>das</strong> Desiderium spricht von «privat-doctoribus und<br />

magistris 1 )>> -.<br />

Mit der Aufsetzung der Desiderien hatten die Deputierten bis in den März<br />

hinein zu tun gehabt - der Rest war am 13. März übergeben worden 2 ) -,<br />

als vom Ministerium die Einladung zu einer zweiten Konferenz erfolgteS).<br />

Hier') ging Schliestedt zuerst auf verschiedene Desiderien ein, weIche er<br />

ohne grössere Zugeständnisse im Sinne der Deputierten beantworten zu<br />

können glaubte. Dann trat der Minister mit seinen eigentlichen Absichten<br />

hervor.<br />

Er schilderte zunächst die immer wachsende Verlegenheit der Kammer:<br />

da noch kein Ende der Verhandlungen abzusehen sei, müsse der Bankerott<br />

jeden Tag eintreten, wenn nicht die dringendsten Gläubiger unverzüglich befriedigt<br />

würden. Der Minister wies darauf hin, <strong>das</strong>s die in Holland aufgenommenen<br />

Gelder jetzt auf der Landrentereikasse unbenutzt lägen. Mit einer<br />

Bewilligung von 200000 Talern würde der Kammer geholfen sein.<br />

Als die Deputierten mit der Antwort zögerten, da sie ihre Instruktion erst<br />

zu Rate ziehen mUssten, wurde Schliestedt dringender: er könne sich nicht<br />

denken, <strong>das</strong>s eine Instruktion bestehe, die bestimme, «<strong>das</strong> Vaterland allenfalls<br />

zu Grunde gehen zu lassen, damit in Formalien nur nichts verwahrloset<br />

werdelI. Deshalb glaube er im Sinne der Deputierten zu handeln,<br />

wenn er dem Herzog eine baldige zusagende Antwort in Aussicht stelle.<br />

In der Deputiertenversammlung am folgenden Tage 6 ) bestätigten v. Völker<br />

und der Oberforstmeister v. Hoym, die beide der Kammer angehörten, die<br />

Grösse der Gefahr. Darauf kamen die Stände zur Überzeugung, <strong>das</strong>s man<br />

in diesem Falle von der Instruktion abweichen könne und müsse: gegen die<br />

Stimmen <strong>des</strong> Hofrichters v. Veltheim und <strong>des</strong> Landdrosts v. Westphalen 6 )<br />

wurde beschlossen, in die Auszahlung der 200000 Taler zu willigen 7 ).<br />

Hatte Schliestedt zunächst die Anleihe zustande gebracht, indem er scheinbar<br />

auf ihre sofortige Verwendung verzichtete, so konnte jetzt die Regierung<br />

«ohne völligen Ruin» dem Ende der Beratungen entgegensehen.<br />

1) Des. gen. 7. ') Das beigefügte Schreiben ist datiert vom 7. März 1769 (L. R. 11.<br />

D. 2S. Vol. 3)' ") Promemoria <strong>des</strong> Ministeriums an die Deputierten, datiert vom 16.<br />

März 1769. .) Actum: Geh. Ratsstube, 17. März 1769. 6) Actum: Landschaft,<br />

18. März 1769. 11) Der erstere wollte von der Instruktion nicht abweichen, weil er an<br />

die Gefahr der Kammer nicht glaubte. Sein Votum ist datiert vom 18. März 1769. 1) Das<br />

von der Deputation in dieser Sache ans Ministerium abgelassene Promemoria ist datiert vom<br />

20. März 1769.<br />

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100 WILHELM SCHMIDT<br />

3) Verzögerung <strong>des</strong> Landtages. Der Entwurf der Regierung 1 ).<br />

In der nächsten Zeit, von Anfang April bis Ende Mai, wurde im wesentlichen<br />

nur wegen der Desiderien verhandelt. In mehreren Konferenzen 2 ),<br />

nachher auf schriftlichem Wege - die Deputierten hatten zur Beschleunigung<br />

der Verhandlungen um schriftliche Resolutionen gebeten S ) - erfolgten vom<br />

Ministerium die ersten Erklärungen auf die meisten Generalia4-). Die Stände<br />

schickten stets unverzüglich ihre Repliken ein. Da diese aber unbeantwortet<br />

blieben, so kamen im Juni die Verhandlungen ins Stocken, zumal die Regierung<br />

auch wegen <strong>des</strong> Rettungswerks im Rückstand war; in einer Konferenz<br />

am 1 I. April 6 ) äusserte Schliestedt sich zwar über verschiedene Punkte <strong>des</strong><br />

ständischen Votums vom 6. Februar und stellte die Übersendung eines Entwurfs<br />

in Aussicht. Dabei blieb es aber. Deshalb reichten die Deputierten<br />

Anfang Juli ein Schreiben an den Herzog ein 6 ), worin sie auf die Rückstände<br />

<strong>des</strong> Ministeriums aufmerksam machten - auf ihre Specialia und einige der<br />

wichtigsten Generalia hätten sie noch die ersten Antworten zu erwarten -<br />

und um Beschleunigung der Verhandlungen ersuchten. Diese Bitte blieb unbeantwortet.<br />

Am 20. Juli erfolgte aber vom Ministerium der längst angekündigte<br />

Entwurf1).<br />

Hiernach hoffte man durch landschaftliche und Kammer-Intraden jährlich<br />

186000 Taler aufzubringen.<br />

Die neuen Einkünfte der Kammer bestanden in erster Linie aus einer erhöhten<br />

Akzise auf Tabak, Kaffee, Tee, Zucker, Gewürze, Austern und Neunaugen<br />

8 ). Ausserdem plante man eine Schlachtviehakzise 9 ). Alle diese Auflagen<br />

sollten sowohl in <strong>Braunschweig</strong> und Wolfenbüttel, wie im übrigen<br />

Lande erhoben werden 10). Dazu kam noch eine Belastung der «ausländischen<br />

Ellenwaren» und der ausser Lan<strong>des</strong> gehenden Wolle. Schliesslich beabsichtigte<br />

man eine besondere Besteuerung der Juden und wollte in <strong>Braunschweig</strong><br />

und Wolfenbüttel eine Abgabe von Brennholz erheben.<br />

1) V gl. Anm. 7 auf S. 93. 2) Am 29. u. 3 J. März, sowie am I. April 1769. S) Promemoria<br />

der Deputierten ans Ministerium. <strong>Braunschweig</strong> 7. April 1769. CL. R. II D. 2S<br />

Vol. 3). ') Es waren nicht beantwortet: die Desideria generalia 48, 49, So; ferner<br />

die Vorstellungen wegen <strong>des</strong> Leihhauses, der Lan<strong>des</strong>vermessung und der Wegebesserung.<br />

') Actum: Geh. Ratsstube, 1 J. April 1769. ") Das Promemoria ist datiert vom 4. Juli<br />

1769 (L. R. 11 D. 2S Vol. 1). 7) Promemoria <strong>des</strong> Ministeriums an die Deputierten,<br />

«Die zu Verzinsung und Bezahlung der Theils von löblicher Landschafft zu übernehmenden,<br />

Theils der Fürstlichen Cammer verbleibenden Schulden erforderliche Fonds betreffend •.<br />

<strong>Braunschweig</strong>, 7. Juli 1769. 8) Die Abgaben sollten zum Teil direkt von den Konsumenten<br />

erhoben, «auf die Köpfe gelegt. werden. 9:J Sie war in <strong>Braunschweig</strong> und<br />

Wolfenbüttel bedeutend höher als in den übrigen Städten und auf dem platten Lande.<br />

"') Die <strong>für</strong>stliche Kammer hatte bisher nur aus Wolfenbüttel und <strong>Braunschweig</strong> Einkünfte von<br />

der Akzise bezogen.<br />

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102 WILHELM SCHMIDT<br />

Die beiden Schriftstückei) kamen jedoch nicht zur Absendung. Der Kammerpräsident<br />

v. Völker hatte ihre Ausfertigung zu verzögern gewusst. Inzwischen<br />

kam die Regierung den Ständen mit einer Einladung zu einer Konferenz<br />

zuvor 2 ) •<br />

. Diese fand am 2. Oktober statt S ). Schliestedt teilte hier mit: der Herzog<br />

habe in einem Reskript 4 ) ans Ministerium sein Missfallen Ober den bisherigen<br />

geringen Fortgang der Verhandlungen ausgesprochen; der Landtag errege<br />

bereits <strong>das</strong> Aufsehen der Nachbarstaaten ; schon ober zehn Monate dauerten<br />

die Beratungen, wobei zwar ein guter Teil der Desiderien abgetan, aber<br />

wegen der eigentlichen Landtagsangelegenheit noch sehr wenig geschehen<br />

sei. Der Herzog habe befohlen, es sollten von jetzt ab anstatt <strong>des</strong> schriftlichen<br />

Verfahrens wieder Konferenzen, und zwar täglich vor- und nachmittags statt·<br />

finden, wobei man ein um den anderen Tag Rettungsmittel und Desiderien<br />

vornehmen würde.<br />

Wider die Erwartung <strong>des</strong> Ministeriums erklärten aber die Deputierten, <strong>das</strong>s<br />

sie so ohne weiteres in diese Abänderung <strong>des</strong> «modus tractandi» nicht einwilligen<br />

könnten. Sie verlangten eine Frist zur Abgabe einer Antwort, die<br />

ihnen, wenn auch widerstrebend, von Schliestedt gewährt wurde.<br />

Am folgenden Tage 6 ) liessen dann die Abgeordneten dem Herzog eine<br />

Denkschrift 6 ) überreichen, in der sie darauf hinwiesen, <strong>das</strong>s die Schuld an<br />

der Verzögerung der Verhandlungen durchaus nicht bei ihnen zu suchen sei.<br />

Am besten ginge <strong>das</strong> aus den Landtagsakten hervor. Auch beweise <strong>das</strong> ihre<br />

beigefügte Erklärung vom 28. September, deren Absendung nur durch die<br />

Einladung zur Konferenz verhindert sei.<br />

Mit den vorgeschlagenen täglichen Beratungen erklärten die Stände sich<br />

einverstanden, machten aber zur Bedingung, <strong>das</strong>s ihnen zur Abgabe ihrer<br />

Antwort je<strong>des</strong>mal die nötige Zeit gelassen werden möchte. Sie baten darum,<br />

mit den rückständigen Desiderien zu beginnen 7 ).<br />

Daraufhin erfolgten am 4- Oktober vom Ministerium die Erklärungen auf<br />

einige noch nicht behandelte Generalia 8 ). Am anderen Tage wollte die Regierung<br />

über <strong>das</strong> Rettungswerk beraten, musste aber den Deputierten nach-<br />

') Sie sollten in einer Deputiertenversammlung am 29. September unterzeichnet werden.<br />

Auf Veranlassung <strong>des</strong> Kammerpräsidenten v. Völker wurde dann diese Sitzung verschoben.<br />

(Promemoria <strong>des</strong> Landsyndikus an die Deputierten, <strong>Braunschweig</strong>, 28: September 1769).<br />

2) Promemoria <strong>des</strong> Ministeriums an die Deputierten, <strong>Braunschweig</strong>, ]0. September 1769.<br />

') Actum: Geh. Ratsstube, 2. Oktober 1769. ') Es ist datiert vom 30. September 1769.<br />

Das Konzept zeigt die Handschrift Schliestedts. (L. H. A. Geh. Ratsregistratur VII. 440).<br />

6) Actum: LJndschaft, 3. Oktober 1769. ") Sie ist datiert vom 2. Oktober 1769.<br />

1) Promemoria der Deputierten ans Ministerium <strong>Braunschweig</strong>, 3. Oktober 1769. ") Actum:<br />

Geh. Ratsstube, 4. Oktober 1769.<br />

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104 WILHELM SCHMIOT<br />

nung der Generalkassenangelegcnheit 1 ). In der Folge wurde ihnen vom<br />

Ministerium ein Verzeichnis der Schulden dieser Kasse 2 ), und als man dieses<br />

nicht ausreichend fand, die vom August 1757 bis Ende [762 geführte Generalkassenrechnung<br />

zur Einsicht übergeben 3 ). Hiernach beliefen sich die Schulden<br />

der Kasse - mit Inbegriff der « Vorschussgelder 4 )>> in Höhe von [68 187 Taler<br />

- auf über [ 300000 Taler 5 ). Oie Landrenterei hatte davon allein 6 [5000<br />

Taler zu fordern, während auf die <strong>für</strong>stlichen Kassen 6 ) 274349 Taler entfielen.<br />

An dem Rest waren verschiedene Städte7), mehrere Ämter und GerichteS),<br />

sowie Privatleute 9 ) beteiligt.<br />

Zunächst 1o ) wurden die Rechnungen von einigen Deputierten zusammen<br />

mit einem Vertreter der Regierung!!) genau geprüft und alle unberechtigten<br />

Forderungen gestrichen.<br />

Trotzdem schien es unmöglich, die ganze Summe aufzubringen; <strong>des</strong>halb<br />

gab die Kammer ihre dargeliehenen Gelder bis auf [42000 Taler preis und<br />

schlug vor, die Landrenterei sollte sich mit einer Entschädigung von 200000<br />

Talern begnügen. Wenn weiter die Vorschussgdder nicht zurück bezahlt<br />

würden, so könnten die noch übrigen 618000 Taler durch eine Kopf- und<br />

Feuerstellensteuer aufgebracht werden 12).<br />

Zu der geplanten Kopfsteuer 1S ) waren die Mitglieder der Ritterschaft <strong>für</strong><br />

ihre Person und ihre Familie nicht mit herangezogen, da sie sich zu einer<br />

ausserordentlichen Beihilfe von 20000 Talern l4 ) bereit erklärt hatten.<br />

gekennzeichnet sind, dem Aktenbande XXVIII der Sammlung von Landtagsakten im Städtischen<br />

Archiv in <strong>Braunschweig</strong> an.<br />

1) V gl. die Anm. 1 auf S. 96. 2) Der «Extract der auf der Genera/·Casse haftenden<br />

Schulden. war am 19. Juli überreicht. ") Das Begleitschreiben ist datiert vom 1 o. August<br />

1769. Der Rechnung war ein .Summarisches Verzeichnis der auf der Gel/era/-Casse haftenden<br />

Schulden. beigefügt. 4) Diese waren auf Grund der 17,)8/')9 anlässlich <strong>des</strong> Krieges<br />

ausgeschriebenen sogenannten Vorschusssteuer eingekommen. Vgl. Anm. 11 auf S. 97.<br />

6) Genau: 1 )88680 Taler. Die folgenden Angaben stützen sich auf <strong>das</strong> .Summarische Verzeichnis>.<br />

") Es waren vor allem die Berghandlungskasse und die <strong>für</strong>stliche Münze.<br />

1) <strong>Braunschweig</strong>, Wolfenbüttel, Helmstedt, Seesen, Gandersheim, Holzminden, Stadtoldendorf<br />

und Eschershausen. Die Forderungen beliefen sich an Kapital auf 67 2 ')7 Taler. Dazu<br />

kamen noch die Zinsen in Höhe von 19921 Talern. 8) Sie lagen sämtlich in der Wesergegend.<br />

An Kapital hatten sie 1 14 17) und an Zinsen 400) 7 Taler zu bekommen. 9) Auf<br />

sie entfielen 71192 Taler. Dazu kamen noch 28)6 Taler Zinsen. 10) Das Resultat dieser<br />

Untersuchungen war niedergelegt in der Denkschrift .Der specialen Land-Tags-Deputatiol/<br />

Relation in pleno den 19 10n September 1769, die General-Casse und darauf noch haftende<br />

Schulden betreffend. (L. R. II D. 2'). Spezialakten). ") Hofrat Unger. ") Promemoria<br />

<strong>des</strong> Ministeriums an die Deputierten. <strong>Braunschweig</strong>, 19. Dezember 1769. "') Für<br />

diese Darstellung wurden folgende Aktenstücke benutzt: .Plan zur Aufbringung einer Summe<br />

von 182000 Thalern durch eine einzige Kopf-Steuer. <strong>Braunschweig</strong> 9. Dezember 1769.<br />

(Ohne näheres Datum).<br />

H) Die Ritterschaft wollte diese Summe in ) Jahren nach dem Fusse der Rittermatrikel auf-<br />

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DER BRAUNSCHWEIGISCHE LANDTAG VON 1768-1770 105<br />

Man hoffte durch die Steuer 182000 Taler zu beschaffen, und zwar sollte<br />

dieses in zwei Hauptklassen geschehen.<br />

Zur ersten Klasse gehörten zunächst die <strong>für</strong>stlichen, landschaftlichen und<br />

städtischen Beamten; sie hatten vom Gehalt, wenn es unter 100 Taler betrug,<br />

2 Prozent, sonst 8 Prozent zu entrichten. Weiter mussten die Geistlichen<br />

von ihren Präbenden l ) 4 Prozent geben; auch hatten die Pächter von Kammer-,<br />

Kloster- und anderen Gütern <strong>das</strong> Pachtgeld mit 2 Prozent zu versteuern.<br />

Ausserdem mussten alle Dienstherren, auch die Mitglieder der Ritterschaft,<br />

<strong>für</strong> ihre Dienstboten eine Abgabe entrichten. Die gleiche Verpflichtung hatten<br />

die Handel- und Gewerbetreibenden <strong>für</strong> ihre Angestellten. Alles Dienstpersonal<br />

hatte man in Klassen 2 ) eingeteilt und danach die Abgaben festgesetzt.<br />

Diese waren am niedrigsten <strong>für</strong> die Bauern, höher in <strong>Braunschweig</strong> als in<br />

den übrigen Städten und am stärksten <strong>für</strong> die Ritterschaft, die Beamten,<br />

Geistlichen und Pächter.<br />

In der zweiten Hauptklasse sollten 132000 Taler dadurch beschafft werden,<br />

<strong>das</strong>s man von den HaushaltungenS) eine allgemeine Abgabe erhob; die zur<br />

ersten Klasse beisteuernden Personen konnten jedoch nur herangezogen<br />

werden, wenn sie ausser ihrem Gehalt oder ihrer Pachtung noch andere<br />

Einnahmequellen hatten. Ganz frei war ausserdem die Ritterschaft. Die<br />

einzelnen Haushaltungen hatte man nach der Höhe <strong>des</strong> Einkommens 4 ) in<br />

Klassen eingeteilt. Die Abgaben waren <strong>für</strong> <strong>Braunschweig</strong> am stärksten -<br />

100 Taler in der höchsten Klasse, 2 Taler in der niedrigsten - und <strong>für</strong> <strong>das</strong><br />

platte Land schwächer als in den kleineren Städten: die oberste Klasse hatte<br />

hier 40, dort 25 Taler zu entrichten, die niedrigsten Klassen bezahlten gleichmässig<br />

1 Taler 16 gute Groschen. Man rechnete in <strong>Braunschweig</strong> auf einen<br />

Ertrag von 40000 Talern, aus den übrigen Städten auf 18000 Taler und von<br />

dem platten Lande auf 74000 Taler.<br />

Die Steuer sollte nur einmal erhoben werden; die Einschätzung der Steuerpflichtigen<br />

hatte durch die Obrigkeit zu geschehen.<br />

bringen. Die zur Vorschussteuer gezahlten Gelder sollten jedoch in Abrechnung kommen.<br />

(.Anlage zu denen von Löblicher Ritterschaft <strong>des</strong> Herzogthums <strong>Braunschweig</strong>-Lüneburg­<br />

Wolfenbüttelschen Theils anstatt der Kopf-Steuer behuf der Krieges-Kosten verwilligten<br />

20000 Thaler. Anno 1770')'<br />

1) (Von ihren Prcebenden und sonstiger Kompetenz>. (.Plan zur Aufbringung ...• ).<br />

') Es waren 3 Klassen vorgeschlagen, und in den einzelnen Klassen die Abgaben <strong>für</strong> beide<br />

Geschlechter verschieden. S) Die Unverheirateten beiderlei Geschlechts - bei den<br />

Männern war ein Min<strong>des</strong>talter von 30 Jahren vorgeschrieben -, wenn sie bemittelt waren oder<br />

.sonst ihren Umständen nach eine eigene Haushaltung haben könnten., sollten die Auflage<br />

mittragen. Arme Beamtenwitwen blieben frei; sonst war von einer Eximierung der Ärmsten<br />

nicht die Rede. (


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DER B RAU N SC H W E I GIS eHE LA ND' AG VON 1768-. '770 107<br />

200000 Talern <strong>für</strong> die Landrenterei; um sie aufzubringen, soHte die Kopfsteuer<br />

noch ein oder zwei Jahre länger, wenn auch nicht mehr in voHem<br />

Betrage I), erhoben werden. Ebenso verlangten die Stände eine Zurückerstattung<br />

der Vorschusssteuer.<br />

Das Ministerium woHte jedoch hiervon nichts wissen 2 ). Auch machte es<br />

auf die Gefahren aufmerksam, die eine Verlängerung der Kopfsteuer bei der<br />

sonstigen starken Belastung der Bevölkerung mit sich bringen müsste. Würde<br />

die Rückerstattung der 200000 Taler schliesslich doch nötig sein, so soHten<br />

die Ausschüsse durch einen Beschluss der demnächst zusammentretenden<br />

Stände bevollmächtigt werden, die Kopfsteuer weiter auszuschreiben.<br />

Darauf erklärten die Abgeordneten 3 ), <strong>das</strong>s sie die Erledigung dieser Fragen<br />

auf die allgemeine Zusammenkunft der Stände verschieben müssten.<br />

Diese Verhandlungen zogen sich durch den Winter bis zum März hin;<br />

inzwischen waren auch die Arbeiten wegen der Desiderien ihrer Vollendung<br />

nahe.<br />

5) Die Erledigung der Desiderien. Die Privilegien.<br />

Im November waren die Beratungen wieder so weit in Gang gekommen,<br />

<strong>das</strong>s die Regierung an die Aufsetzung <strong>des</strong> Landtagsabschie<strong>des</strong> gehen konnte,<br />

der <strong>das</strong> Resultat der Verhandlungen über die Desiderien wiedergeben sollte 4 ).<br />

Ein Entwurf wurde Anfang März 6 ) den Deputierten vom Ministerium mit<br />

der Bitte überreicht, ihre «Monita» einzusenden. Ende <strong>des</strong> Monats war man<br />

dann über die endgültige Fassung einig 6 ).<br />

Ein grosser Teil der vorgebrachten Wünsche wurde im Sinne der Stände<br />

beantwortet und auf die meisten Desiderien hin wenigstens Abhilfe versprochen.<br />

So stellte die Regierung in Aussicht, die erbetene Revision der Polizeigesetze,<br />

die Neuordnung der Kontributionskataster und landschaftlichen Gefälle, die<br />

Abschaffung <strong>des</strong> Mühlenzwanges 7 ), die verlangten Verbesserungen beim<br />

Leihhaus in <strong>Braunschweig</strong> 8 ). Einige dieser Versprechen wurden auch er-<br />

') Im zweiten Jahre sollte sie nur in halber Höhe, im dritten Jahre in halber Höhe und nur<br />

von den .angesessenen. Untertanen eingefordert werden. ") Promemoria <strong>des</strong> Ministeriums<br />

an die Deputierten. <strong>Braunschweig</strong>, 2 I. Februar 1770. B) Promemoria der Deputierten<br />

ans Ministerium, <strong>Braunschweig</strong>, 26. Februar 1770. ') Konferenzen <strong>des</strong> Ministeriums<br />

fanden in dieser Sache am 18.,21.,22. und 23. November '769 statt. Die Protokolle sind<br />

zum Teil erhalten: L. H. A. Geh. Ratsregistratur VII. 448. 6) Am 2. März; <strong>das</strong> Begleit·<br />

schreiben <strong>des</strong> Ministeriums ist datiert vom 26. Februar '770. CL. R. II D. 25 vol. 4).<br />

") Promemoria der Deputierten ans Ministerium, <strong>Braunschweig</strong> 3 I. März '770. Promemoria<br />

<strong>des</strong> Ministeriums an die Deputierten, <strong>Braunschweig</strong>, I. April '770 CL. R. Il D. 25 vol. 4).<br />

l) Art. 20, 2', 24. ") Diese Angelegenheit sollte nicht im Rezess zur Sprache kommen,<br />

sondern durch eine besondere <strong>für</strong>stliche Resolution erledigt werden. - Actum: Geh. Rats·<br />

stube '9. März '770 (L. R. II D. 25 vol. 4).<br />

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108 WILHELM SCHMIDT<br />

füllt: im Jahre 1784 trat die neue Kontributionsbeschreibung in Krafti), und<br />

eine <strong>für</strong>stliche Deklaration vom 20. April 1770 verordnete die geforderte<br />

Herabsetzung der Gebühren beim <strong>für</strong>stlichen Leihhause 2 ). Auch die Abfassung<br />

eines Lan<strong>des</strong>gesetzbuches sagte die Regierung zu 3 ). Wirklich wurden<br />

in einem Reskript vom 22. Mai 1770 die <strong>für</strong>stlichen Ämter aufgefordert,<br />

alle <strong>das</strong> Bauern- und Meierrecht betreffenden rt'chtlichen Entscheidungen<br />

und Gesetze, sowie alle Nachrichten über <strong>das</strong> in diesen Punkten bestehende<br />

Herkommen zu sammeln, da man «jetzo mit Zusammentragung der hiesigen<br />

Lan<strong>des</strong>rechte in ein eigenes Gesetzbuch im Werke begriffen» wäre'). Verschiedene<br />

Ämter kamen auch der Verordnung nach!»). Am 18. Oktober <strong>des</strong><br />

gleichen Jahres erging nochmals ein Umlauf, «die Sammlung der hiesigen<br />

Lan<strong>des</strong>rechte in ein eigenes Gesetzbuch betreffend 6 )>>. Hiermit scheint <strong>das</strong><br />

Unternehmen ins Stocken geraten zu sein. Jedenfalls kam die geplante<br />

Kodifikation <strong>des</strong> braunschweigischen Landrechts nicht zustande 7 ).<br />

Besonders gab die Regierung den Ständen in solchen Punkten nach, wo<br />

sie ohne grössere Zugeständnisse den einzelnen Kurien mit der Förderung<br />

ihrer wirtschaftlichen oder sozialen Interessen einen Gefallen tun konnte. So<br />

erreichten die Prälaten unter anderem, <strong>das</strong>s den Klöstern <strong>das</strong> Präsentationsrecht<br />

zurückgegeben wurde, <strong>das</strong> ihnen I 741 genommen war 8 ). Die Mitglieder<br />

der Ritterschaft, die sich als Patronatsherren durch <strong>das</strong> Konsistorium,<br />

als Inhaber der adeligen Gerichte durch verschiedene Einrichtungen der Regierung,<br />

besonders durch <strong>das</strong> Collegium Medicum bedroht fühlten, erhielten<br />

gleichfalls mehrere Zusagen 9 ). Auch wurde den Rittergutsbesitzern gestattet,<br />

von ihren Dienstuntertanen anstatt der Geldleistungen die ursprünglichen<br />

Naturaldienste fordern zu dürfen 1o ), wie es der Kammer schon seit einigen<br />

Jahren zustandli). Schliesslich erhielt die städtische Kurie die Versicherung,<br />

<strong>das</strong>s Handel und Gewerbe mit geringen Ausnahmen allein in den Städten<br />

betrieben werden dürftenU).<br />

Dagegen wurden von der Regierung a11e politischen Forderungen ab-<br />

I) Bode: Das Grundsteuersystem <strong>des</strong> <strong>Herzogtum</strong>s <strong>Braunschweig</strong> S. 62 (Beiträge zur Ge·<br />

schichte <strong>des</strong> <strong>Herzogtum</strong>s <strong>Braunschweig</strong>. 1). ') <strong>Braunschweig</strong>ische Anzeigen. 1770,<br />

1 '5. Stück. ") Art. 8 <strong>des</strong> Landtagsabschie<strong>des</strong>. ') Das Reskript ist abgedruckt bei<br />

Gesenius: Das Meyerrecht, mit vorzüglicher Hinsicht auf den Wolfenbüttelschen Theil <strong>des</strong><br />

Herzogthums <strong>Braunschweig</strong>·Lüneburg. Bd. I Beilagen. 6) Gesenius: a. a. O. Bd. I<br />

S. '516. ") Leiste: Repertorium der Verordnungen und Rescripte, welche in dem Her·<br />

zogthume <strong>Braunschweig</strong> in den Jahren 17'50-1804 erlassen sind. 1) Hampe: Das par·<br />

tikulare <strong>Braunschweig</strong>ische Privatrecht 2. Aufl. S. " Anm. 10. ") Art. 46 <strong>des</strong> Land·<br />

tagsabschie<strong>des</strong>. 9) Landtagsabschied Art. ;, 4 und ;, 28 und 55. '0) Landtags.<br />

abschied Art. 46. ") Verordnung vom 8. Oktober 1767. (Leiste: a. a. 0.) 1') Land·<br />

tagsabschied Art. 61 und 64.<br />

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DER BRAUNSCHWEIGISCHE LANDTAG VON 1768-1770 1°9<br />

schlägig beschieden, obgleich die Deputierten gerade hierauf <strong>das</strong> meiste<br />

Gewicht legten.<br />

Zunächst scheiterte der Versuch der Stände, ihrem Steuerbewilligungsrecht<br />

zu neuer Kraft zu verhelfen: <strong>das</strong> Ministerium wies die Forderung ab,<br />

<strong>das</strong>s alle allgemeinen Auflagen, wie die 1758 ausgeschriebene Vorschusssteuer<br />

stets auf einem öffentlichen Landtage von sämtlichen Ständen genehmigt<br />

werden müssten. Vielmehr bestand die Regierung darauf, <strong>das</strong>s sie in<br />

Fällen dringender Not nur die AusschUsse zu befragen brauchte. Als die<br />

Deputierten verlangten, <strong>das</strong>s dann die von diesen ergriffenen Massregeln<br />

nachträglich auf einem allgemeinen Landtage ratifiziert werden sollten, verwarf<br />

<strong>das</strong> Ministerium auch diesen Vorschlag: da die Stände den von den<br />

AusschUssen in der Not gefassten Beschlüssen ihre Bestätigung nicht versagen<br />

könnten, so sei die nachträgliche Berufung eines allgemeinen Landtages<br />

eine blosse Zeremonie und daher überflüssig!).<br />

Auch die <strong>für</strong> die Ausschüsse geplante Instruktion trat nicht in Wirksamkeit 2 );<br />

sie war vom Hofrat Lichtenstein entworfen und bestimmte, indem sie im<br />

wesentlichen die bestehenden Verhältnisse zum Ausdruck brachte, über Kompetenz,<br />

Zusammensetzung und Ergänzung der Ausschüsse, über die Ernennung<br />

und Pflichten der landschaftlichen Beamten, überhaupt über den ganzen<br />

ständischen Verwaltungsapparat. Der Hofrichter v. Veltheim verfasste zu<br />

diesem Entwurf «Anmerkungen»5). Er forderte hier, <strong>das</strong>s zur Schatzratswahl<br />

und ebenso bei den Wahlen der ritterschaftlichen Abgeordneten <strong>für</strong> den<br />

grösseren Ausschuss nicht je<strong>des</strong>mal nur ein Drittel der Ritterschaft, wie es<br />

die Lichtensteinsehe Fassung bestimmte, sondern alle Rittergutsbesitzer berufen<br />

werden sollten. Auch verlangte Veltheim, es dürften <strong>für</strong>stliche Beamte,<br />

die im Ministerium, in der Kammer oder im Kriegskollegium Sitz und<br />

Stimme hätten, nicht in die Ausschüsse gewählt werden. Vor allem wollte<br />

er genau festgelegt wissen, wann der engere oder der grössere Ausschuss<br />

oder die ganze Landschaft zusammen zu treten hätte. Von den übrigen<br />

Deputierten wurde jedoch der Entwurf Lichtensteins fast unverändert angenommen<br />

4 ). Er sollte dann dem Ministerium eingereicht werden. Hierzu<br />

scheint es aber nicht gekommen zu sein, wahrscheinlich weil inzwischen<br />

verschiedene Desiderien von der Regierung abgewiesen waren, deren Erfullung<br />

die Instruktion voraussetzte.<br />

Vor allem lehnte die Regierung <strong>das</strong> bedeutendste Desiderium - der Hof-<br />

1) Promemoria <strong>des</strong> Ministeriums an die Deputierten. <strong>Braunschweig</strong>, 13. November 1769<br />

(L. R. 11 D. vol 4). ') Sie ist enthalten: L. R. 11 G. a 7. ') Datiert vom 4. Juli<br />

1769. St. A. Landtagsakten Bd. CXXXVII. ')


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DER BP.AUNSCHWEIGISCHE LANDTAG VON 1768-177° [[ [<br />

Ebenso war bei der Abfassung der Lan<strong>des</strong>gesetze die Zuziehung der Stände<br />

nicht mehr erforderlich; die Regierung erklärtel), es hätten sich die Stände<br />

hier nur zu äussern, so oft sie gefragt würden; der Entwurf der Deputierten 2 )<br />

und die Privilegien von [7 [0 3 ) schrieben dagegen die Zustimmung der Stände<br />

unbedingt vor.<br />

Schliesslich wurde vom Ministerium die Forderung abgewiesen, <strong>das</strong>s der<br />

Herzog, wenn es zum Kriege kommen sollte, vorher die Meinung und<br />

Beistimmung der Stände einzuholen hätte.<br />

Veltheim machte zwar auf diese wichtigen Punkte aufmerksam 4 ), aber alle<br />

Versuche der Deputierten 5 ), hier noch einige Änderungen zugunsten der Stände<br />

durchzusetzen, waren vergeblichtl). Noch in einem anderem Punkt mussten<br />

sie nachgeben. In ihrem Entwurf) war die Bestimmung, <strong>das</strong>s die Ritterschaft<br />

zum Rossedienst verpflichtet sei, mit der Begründung weggelassen,<br />

dieser werde «nach eingeführtem Militär-Etat» doch nicht mehr gefordert 8 ).<br />

Der Passus wurde aber wieder eingefügt 9 ), da <strong>das</strong> Ministerium erklärte lO ),<br />

<strong>das</strong>s die Pflicht <strong>des</strong> Rossedienstes «keineswegs als erloschen anzusehen sei».<br />

So erreichte die Regierung, <strong>das</strong>s den neuen Privilegien die von ihr vorgeschlagene<br />

Fassung fast unverändert zugrunde gelegt wurde.<br />

Eine besondere Auseinandersetzung knüpfte sich noch an die Frage, ob<br />

ausser den Deputierten auch die übrigen Stände auf allgemeinen Landtagen<br />

Diäten beanspruchen könnten. Die Deputierten be<strong>für</strong>worteten es lI ). Ihr Gesuch<br />

wurde aber von der Regierung abgelehnt l2 ) unter Hinweis auf die Privilegien<br />

von [7 [0 13 ), wonach die Stände sich auf allgemeinen Landtagen selbst<br />

unterhalten sollten. Es wurde jedoch fUr die diesmalige Versammlung eine<br />

Ausnahme gemachta).<br />

6) Der Rettungsplan l6 ).<br />

Die Generalkassenangelegenheit, die Desiderien und die Bestätigung der<br />

Privilegien waren nunmehr so weit gefördert, wie es vor der Zusammen­<br />

land. Bd. 11 S. I SO ff. ") Art. 12. ") Art. 36. 10) Art. 21. Die gleiche Ein<br />

schränkung der ständischen Rechte sprach der Art. 22 aus.<br />

') Art. 10. ') Art. 14. ') Art. 4. 4) «Relatio cum Vota Bey Gegeneinanderhaltung<br />

<strong>des</strong> neuen Ministerial-Entwurfs zu den Lan<strong>des</strong> Privilegien gegen den von den<br />

Ständen übergegebenen Aufsatz und dem Exemplar der conjirmirten Privilegien de anno 1710.><br />

<strong>Braunschweig</strong>, 17. März 1770. F. A. v. Veltheim. 6) Promemoria der Deputierten ans<br />

Ministerium. <strong>Braunschweig</strong>, 24. März 1770. 6) Actum: Geh. Ratsstube, 26. März 1770.<br />

7) Art. 85. ") Actum: Landschaft, 17. März 1770. ") Art. S4 der endgültigen<br />

Fassung. 10) Actum: Geh. Ratsstube, 26. März 1770. ") Promemoria der Deputierten<br />

ans Ministerium. <strong>Braunschweig</strong>, 24. März 1770. '') Actum: Geh. Ratsstube,<br />

26. März 1770. 13) Art. 29. 11) Promemoria <strong>des</strong> Ministeriums an die Deputierten,<br />

<strong>Braunschweig</strong>, I. April 1770. 16) Die <strong>für</strong> diesen Abschnitt benutzteu Akten sind -<br />

soweit sie nicht besonders gekennzeichnet sind - dem Aktenbande 11 D. 2 s vol. 2 der Landschaftlichen<br />

Registratur entnommen.<br />

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IHR BRAUNSCHWEIGISCHE LANDTAG VON 1768-1770 115<br />

kassenangelegenheit geregelt wurde. Aber auch mit ihren Desiderien hatten<br />

die Stände manches erreicht. Sie konnten zwar Helmstedt nicht zu seiner<br />

alten Blüte verhelfen, und es blieb bei dem bIossen Plane eines Gesetzbuches,<br />

aber sonst ist einiges auf <strong>das</strong> Konto der Stände zu setzen: die Lan<strong>des</strong>vermessung<br />

kam wieder in Gang, die Wegebesserung wurde sogar bedeutend<br />

gefördert; wenn sonst ihre Vorschläge und Pläne nicht alle zur Durchführung<br />

kamen, so wirkten sie zum min<strong>des</strong>ten doch anregend.<br />

Bei allen Aktionen der Stände ging die Initiative immer von den Mitgliedern<br />

der Ritterschaft aus. Sie erscheinen auch als die eigentlichen Träger <strong>des</strong><br />

ständischen Prinzips, und sie allein bilden einen Rückhalt gegenüber der<br />

Regierung, wenn sie auch deren absolutistischen Bestrebungen nicht den<br />

genügenden Widerstand entgegensetzen konnten.<br />

Das Selbstbewusstsein der Stände war also noch wach. Das bewiesen sie<br />

vor allem auch mit ihrem Bestreben, durch die Einrichtung von periodischen<br />

Landtagen ihren Rechten zu neuer Kraft zu verhelfen. Aber dieser Versuch<br />

scheiterte. Deshalb bildeten auch die Privilegien von 1770, die diese Verminderung<br />

der ständischen Macht äusserlich erkennen liessen, nicht einen besonderen<br />

Wendepunkt in der Geschichte der braunschweigischen Landschaft:<br />

sie brachten nur formell zum Ausdruck, was den tatsächlichen Verhältnissen<br />

entsprach 1). Insofern waren sie jedoch <strong>für</strong> die spätere Zeit von Bedeutung,<br />

als sie die Grundlage <strong>für</strong> die Erneuerte Landschaftsordnung von 1820 bilden<br />

sollten 2 ). Hier wurde dann auch die schon 1770 geforderte Periodizität der<br />

Landtage verwirklichtS).<br />

I) Rhamm: Die Verfassungsgesetze <strong>des</strong> <strong>Herzogtum</strong>s <strong>Braunschweig</strong>. S. 17 Anm. 2.<br />

) Rhamm: a. a. O. S. 18. S) Rhamm: a. a. O. S. 26.<br />

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IMMER WIEDER DIE ANFÄNGE DER STADT<br />

BRAUNSCHWEIG.<br />

Eine Entgegnung von Heinrich Mack.<br />

Bei der Durcharbeitung der diesen Band eröffnenden «Untersuchungen<br />

uber die Anfänge der Stadt <strong>Braunschweig</strong>. Von P. J. Meier» drängte sich<br />

mir wiederholt der Gedanke auf, <strong>das</strong>s eine Entgegnung UberflUssig sei. Denn<br />

wer <strong>das</strong>, was von Hänselmann, H. Meier, P. J. Meier und mir über dieses<br />

Thema geschrieben ist, einigermassen kennt und die in Rede stehende Abhandlung<br />

wirklich genau liest, dem dUrfte nicht entgehen, <strong>das</strong>s ihr Verfasser<br />

seinen Gegnern mehrfach Behauptungen zuschreibt, die diese nie und nirgends<br />

aufgestellt haben, und <strong>das</strong>s er mit sich selber verschiedentlich in offenen<br />

Widerspruch gerät. Die Abhandlung verurteilt sich also, um es kurz zu<br />

sagen, schon selbst. Da in<strong>des</strong>sen von ihren Lesern sehr viele die fruhere,<br />

ziemlich zerstreute Literatur gar nicht oder nur oberflächlich kennen und<br />

<strong>des</strong>halb auch die neueste Veröffentlichung zur Sache nicht mit der nötigen<br />

Kritik lesen werden, so scheint es mir in Erwägung <strong>des</strong> alten Wortes qui<br />

tacet, consentire videtur, <strong>für</strong> richtiger, mit der meinigen nicht zurückzuhalten.<br />

Dass ich mit ihr der Sache gross dienen werde, glaube ich freilich nicht, denn<br />

die ist meines Erachtens schon genug und Ubergenug erörtert worden. Nur<br />

darauf darf ich vielleicht hoffen, dem Sicheinnisten von Vermutungen zu<br />

wehren, die durch den Reiz der Neuheit bestechen mögen, aber dabei, soviel<br />

ich sehe, auf sehr schwachen Grundlagen ruhen.<br />

Bevor ich aber P. J. Meiers einzelne Behauptungen prüfe, will ich einen von<br />

ihm geäusserten Zweifel lösen. Er sagt S. 22, er sei sich nicht klar darüber,<br />

«welches denn eigentlich positiv» meine Ansicht über die Anfänge <strong>Braunschweig</strong>s<br />

sei, oder ob ich wirklich glaube, «<strong>das</strong>s die Überlieferung zu dürftig<br />

sei, als <strong>das</strong>s man auch nur vermutungsweise eine Kombination versuchen<br />

dUrfte». Ich muss zugeben, <strong>das</strong>s ich, während ich in den einschlägigen Erörterungen<br />

im Geschichtsvereine meine Ansicht wiederholt mit aIler Bestimmtheit<br />

geäussert habe, in meinen bisherigen Veröffentlichungen (Brschw. Lan<strong>des</strong>zeitung<br />

19°8 Nov. 14- Nr. 537 und Brschw. Magazin 1908 S. 16o ff.),<br />

deren Hauptzweck die kritische Prüfung der Aufstellungen P. J. Meiers war,<br />

es an einer scharfen Formulierung dieser Ansicht habe fehlen lassen. Das<br />

will ich nun nachholen. Ich bin aIlerdings der Meinung, <strong>das</strong>s es bei der<br />

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118 HEINRICH MACK<br />

Doch nun mag unsere Wanderung durch die sehr mannigfaltig bestellten<br />

Fluren von P. J. Meiers neuestern Aufsatze beginnen! Die Behandlung der<br />

Haupteinwände, die sich gegen <strong>das</strong> erste Kapitel ergeben, überlasse ich meinem<br />

Bun<strong>des</strong>genossen, Herrn Oberst H. Meier. Ich will mich darauf beschränken<br />

darzutun, wie nachlässig P. J. Meier in diesem Kapitel bei der<br />

Wiedergabe der Ausführungen und Meinungen andrer Autoren, insbesondere<br />

seiner Gegner, verfährt. Er spricht von einem Nachweise v. Strombecks, <strong>das</strong>s<br />

bereits in den Jahren 747 und 780 von den fränkischen Heeren ein Okerübergang<br />

bei Ohrum benutzt worden sei. Allein v. Strombeck sagt im engen<br />

Anschluss an die Quellen nur, <strong>das</strong>s 748 Pipins Halbbruder Grifo sich im Streite<br />

mit jenem an der Oker bei Ohrum festgesetzt habe und Pipins Marsch gegen<br />

ihn über Schöningen nach der Oker unweit Ohrum gegangen sei. Einen<br />

Schluss aber auf <strong>das</strong> Bestehen eines Okerübergangs bei Ohrum zieht er hieraus<br />

nicht und noch viel weniger aus der Anwesenheit Karls <strong>des</strong> Grossen bei<br />

Ohrum im Jahre 780, die er überhaupt nicht erwähntI). Sodann behauptet<br />

P. J. Meier, Hänselmann habe in seinem Aufsatze «<strong>Braunschweig</strong>s Beziehungen<br />

zu den Harz- und Seegebieten» (1873) den Übergang bei Ohrum seltsamer<br />

Weise mit dem bei Wolfenbüttel verwechselt und <strong>das</strong> auch in seiner<br />

«Geschichtlichen Entwicklung der Stadt <strong>Braunschweig</strong>» (1897) :wieder getan<br />

2 ). Nun spricht allerdings Hänselmann in jenem ersten Aufsatze von einem<br />

alten Flussübergange bei Wolfenbüttel, aber er tut es, wie aus der Note 4<br />

dazu deutlich hervorgeht, im Anschluss an Guthe, Die Lande <strong>Braunschweig</strong><br />

und Hannover (1867) S. 3148), nicht, weil er sich einer Verwechselung Wol-<br />

') Auch Hahn, Jahrbücher <strong>des</strong> fränkischen Reichs 741-7';2, S. 94 und Abel, Jahrbücher<br />

<strong>des</strong> Fränkischen Reiches unter Karl dem Grossen (2. Aufl.) Bd. I S. 346 sagen<br />

von einem Okerübergange bei Ohrum kein Wort. Trotzdem nennt P. J. Meier im I. Bande<br />

dieses <strong>Jahrbuch</strong>es (1902) S. 3 jenen Übergang, auch nur auf v. Strombec'k sich berufend,<br />

einen von der Forschung längst anerkannten. Mit welchem Rechte, liegt nach dem Gesagten<br />

auf der Hand. So führt denn auch Rübel in seinem bekannten Werke. Die Franken'<br />

(1904) S. 399 geradezu P. J. Meier als Urheber der Annahme eines Okerübergangs<br />

bei Ohrum an, ohne sich jedoch <strong>für</strong> oder gegen diese Annahme zu erklären. Erst 1907<br />

hat dann P. Höfer (Zeitschr. d. V. f. Thüring. Gesch. u. Altertumsk. N. F. Bd. 17 S. 38)<br />

gleich P. J. Meier Ohrum als Okerübergang der Strasse von der Weser über Hil<strong>des</strong>heim<br />

nach Magdeburg in Anspruch genommen; aber trotzdem kann auch jetzt noch von a 11gern<br />

ein e r Anerkennung der Meierschen Ansicht keine Rede sein. ') V gl. S. 3. Zuerst<br />

freilich scheint es, als ob P. J. Meier die Verwechselung auf den Aufsatz von 1873 beschränken<br />

wolle, dann aber sagt er gegen Ende der Seite ausdrücklich: .warum bezeichnete<br />

er 1873 und 1897 den irrtümlich bei Wolfenbüttel angesetzten Übergang <strong>für</strong> älter<br />

als den bei <strong>Braunschweig</strong>?' ') Wie Guthe - und vermutlich ihm folgend - nimmt<br />

auch noch Rauers auf seiner Spezialkarte der mitteldeutschen Strassen (Zur Gesch. der<br />

alten Handelsstrassen in Deutschld. Gotha 1907) einen alten Okerübergang bei Wolfenbüttel<br />

an, während er Ohrum nur von der Strasse Goslar - Wolfenbüttel - <strong>Braunschweig</strong><br />

berührt werden lässt.<br />

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IMMER WIEDER DIE ANFANGE DER STADT BRAUNSCHWEIG 119<br />

fenbUttels mit Ohrum schuldig gemacht hätte. Und von einer solchen kann<br />

hinsichtlich der Abhandlung von 1897 volIends nicht die Rede sein, weil<br />

darin der Übergang bei Wolfenbüttel gar nicht erwähnt wird. Weiter vergleiche<br />

man P. J. Meiers Behauptung (S. 2 Note 4), ich häue in meinem<br />

Aufsatze in der Brschw. Lan<strong>des</strong>zeitung vom 14. November 1908 die kaufmännische<br />

Ansiedlung bei <strong>Braunschweig</strong> ausdrücklich jUnger als den dortigen<br />

Okerübergang angesetzt, mit meinen eigenen Worten 1 )! «Und konnte denn<br />

- heisst es in jenem Aufsatze - die Handelsansied!ung wirklich nur um<br />

die Stätte <strong>des</strong> Kohlmarktes als den Schnittpunkt der beiden Heerstrassen<br />

(nämlich Frankfurt - CelIe - Hamburg und Köln - Magdeburg) entstehen?<br />

Die Schneidung ist ja erst eine Folge der doppelten Überbrückung der Oker<br />

im Zuge Hutfiltern - Damm und der Aufschüttung <strong>des</strong> Dammes gewesen,<br />

bei<strong>des</strong> Dinge, die wohl erst verhältnismässig spät zur Ausführung gelangt sind,<br />

möglicherweise ziemlich gleichzeitig mit der Erbauung der Ulrichskirche.<br />

Schon vorher aber hatte <strong>für</strong> <strong>das</strong> linke Okerufer die Frankfurter Strasse grosse<br />

Bedeutung. Nachdem sie kurz zuvor die vom Harze herkommenden Strassen<br />

aufgenommen, gabelte sie sich im Südwesten der nachherigen Altstadt: der<br />

eine Arm zog zum Stapelplatze beim Werder, der andre von dem Trennungspunkt<br />

geradeaus nach Norden, bis er da, wo demnächst <strong>das</strong> Petritor<br />

entstand, sich auf den Rennelberg zu nordwestlich wandte. Dieser Arm aber<br />

durchschnitt der Länge nach die Ansiedlung um die Jakobskirche, die also<br />

mit nichten ausserhalb <strong>des</strong> grossen Handelsverkehrs lag. So scheint mir die<br />

mit besonderem Nachdrucke von Hänselmann und nach ihm vom Oberstleutnant<br />

Meier vertretene Annahme, <strong>Braunschweig</strong> habe sich eben von jener<br />

Ansiedlung aus zum Markte und zur Stadt entwickelt, durchaus gut begründet<br />

zu sein, wenngleich die grosse Dürftigkeit der Überlieferung wirkliche<br />

Gewissheit ausschliesst.» Hiernach habe ich also gerade <strong>das</strong> Gegenteil von<br />

dem gesagt, was P. J. Meier mir zuschreibt, und man wird es mir nicht verdenken<br />

können, wenn ich gegen diese Art der Wiedergabe meiner Ansichten<br />

Verwahrung einlege. Wissen möchte ich übrigens auch, um <strong>das</strong> hier gleich<br />

mit abzutun, worauf sich P. J. Meiers Behauptung in Kap. VII (S. 22) stützt,<br />

ich glaubte, <strong>Braunschweig</strong> könne sehr wohl schon im I I. Jahrhundert eine<br />

Stadt gewesen sein. Mir ist nicht bekannt, wann und wo ich <strong>das</strong> mündlich<br />

oder schriftlich geäussert haben sollte. Doch ich muss noch einmal auf <strong>das</strong><br />

erste Kapitel zurückkommen, denn <strong>des</strong>sen Schluss lehrt ganz besonders deutlich,<br />

wie P. J. Meier seine Gegner bekämpft. Er behauptet dort, durch seine<br />

Ausführungen über Ohrum bewiesen zu haben, <strong>das</strong>s die günstigen Umstände,<br />

1) Sie finden sich allerdings nicht in der von P. J. Meier zitierten Note 6, die mit<br />

diesem Punkte gar nichts zu tun hat.<br />

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120 HEINRICH MACK<br />

die nach Hänselmanns Meinung die frOhe Bildung einer kaufmännischen<br />

Niederlassung auf dem Boden der spätern Altstadt veranlasst hätten, hier nicht<br />

vorhanden gewesen seien. Nun hat aber Hänselmann mit stärkster Betonung<br />

zu jenen Umständen die Schitfbarkeit der Oker bis <strong>Braunschweig</strong><br />

hinauf und die hierdurch verursachte Bildung eines Stapels gerechnet 1).<br />

Glaubt nun P. J. Meier wirklich, auch dieses Moment durch seinen angeblichen<br />

Nachweis eines Okerübergangs bei Ohrum aus dem Wege geräumt zu<br />

haben? Und wenn nicht, womit lässt sich eine so unzulängliche Abfertigung<br />

eines verdienten verstorbenen Forschers entschuldigen?<br />

Den Schwerpunkt seines Aufsatzes hat, wenn ich mich nicht täusche, P.<br />

J. Meier in <strong>das</strong> «Allodien und Vorwerke» betitelte zwei te Kapitel legen wollen.<br />

Es beginnt mit den gewichtigen Worten: «Aber auch die scheinbar<br />

festeste Stütze der Hänselmannschen Theorie, die «der Freihöfe», erweist sich<br />

als gänzlich morsch». Auch hier erlaube ich mir wieder entgegengesetzter<br />

Meinung zu sein. P. J. Meier gibt selbst zu (S. 12), <strong>das</strong>s die innerhalb der<br />

Altstadt belegenen bürgerlichen allodia oder Vorwerke - und nur diese hat<br />

Hänselmann bei Aufstellung seiner Vermutungen im Auge gehabt - vielleicht<br />

nicht Lehnsbesitz gewesen sind, er macht also nicht den geringsten<br />

Versuch, Hänselmanns Annahme, es handle sich hier um bürgerliches Eigengut,<br />

zu erschUttern. Er behauptet aber, <strong>das</strong>s diese Vorwerke verhältnismässig<br />

späten Ursprungs seien, weil keine Lathufen zu ihnen gehört hätten, während<br />

solche doch bei einem Vorwerk im eigentlichen, alten Sinne neben den<br />

unmittelbar von ihm aus bewirtschafteten Hufen nie gefehlt hätten. Daher<br />

auch die Bezeichnung Vorwerk, die «die Oberordnung <strong>des</strong> Fronhofes ober<br />

die Latenhufen klar zum Ausdruck bringe» (S. 7). Meier beruft sich <strong>für</strong> seine<br />

Ansicht auf die bereits von Wittich, Ohlendorf u. a. dargelegte Rolle, die <strong>das</strong><br />

Allodium oder Vorwerk in der Villikationsverfassung spielt. Dabei liest er<br />

aber aus der Quellenstelle, die er zur Erläuterung <strong>des</strong> Wesens jener Verfassung<br />

anführt, etwas heraus, was gar nicht darin steht. Aus jener Stelle erhellt<br />

ganz deutlich, <strong>das</strong>s die Allodien mit ihren Hufen einerseits und die Lathufen<br />

andrerseits zwei streng von einander geschiedene Bestandteile der<br />

Villikation sind 2 ). Davon, <strong>das</strong>s die Lathufen den Allodien im Gegensatze zu<br />

') Im Jahrb. d. Geschichtsv. f. d. Herzogt. <strong>Braunschweig</strong> 1902 S. 3 führt sogar P. J.<br />

Meier selber aus, e<strong>das</strong>s <strong>Braunschweig</strong>, zunächst wohl als Endpunkt der Okerschiffahrt und<br />

daher als wichtiger Stapelplatz <strong>für</strong> den Verkehr von Norden nach Süden und umgekehrt,<br />

im Laufe <strong>des</strong> XI. Jahrh. zu einer namhaften Handelstadt emporblühte. und bezieht sich<br />

dabei auf Hänselmann, Werkstücke I 6 f. Freilich nicht ganz mit Recht, denn Hänselmann<br />

hat in der Schiffbarkeit der Oker bis <strong>Braunschweig</strong> wohl eine sehr wichtige, aber nie die<br />

einzige Ursache <strong>für</strong> die Entstehung <strong>Braunschweig</strong>s gesehen. ') Dem entspricht auch die<br />

Beschreibung der ViIIikation bei Wittich, Die Grundherrschaft in Nordwestdeutschland S.276<br />

abgesehen davon, <strong>das</strong>s nach der zitierten Stelle zu jeder Villikation mehrere Allodien gehörten.<br />

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IMMER WIEDER DIE ANFÄNGE DER STADT BRAUNSCHWEIG 121<br />

den unmittelbar zu ihnen gehörenden Hufen mittelbar angegliedert seien<br />

(5. 6), ist dort durchaus keine Rede, noch weniger von einer Überordnung<br />

der Allodien (Fronhöfe) ober die Lathufen 1 ), sofern damit gesagt werden<br />

soll, <strong>das</strong>s diese von jenen abhängig gewesen seien. Übergeordnet war ihnen<br />

allerdings wohl der auf einem oder dem einzigen Allodium sitzende villicus,<br />

nicht aber dieses selber. Also nicht einmal fUr <strong>das</strong> Allodium in der Villikation<br />

ist die Zugehörigkeit von Lathufen ein konstitutives MerkmalS). Ganz abgesehen<br />

davon aber wird doch nie und nimmer bewiesen werden können, <strong>das</strong>s es neben<br />

den Allodien in den Villikationen nicht stets auch solche ausserhalb derselben<br />

gegeben hat. P. J. Meier weist ja selbst auf eine grosse Menge von Fällen hin,<br />

in denen - und zwar auch schon in sehr früher Zeit - Allodien oder Vorwerke<br />

zu Lehen gegeben worden sind 3 ), von denen er doch wohl selber nicht<br />

annehmen will, <strong>das</strong>s sie zu dem Behuf immer erst aus einem Villikationsverbande<br />

hätten eximiert werden müssen. Und von diesen Allodien wird doch<br />

erst recht nicht gesagt werden können, <strong>das</strong>s von Haus aus die Zugehörigkeit<br />

von Lathufen <strong>für</strong> sie wesentlich gewesen sei. Die Behauptung P. J.<br />

Meiers, <strong>das</strong>s Allodien ohne Lathufen eine sekundäre Bildung seien, ist also<br />

unbewiesen. Es hindert uns also gar nichts anzunehmen, <strong>das</strong>s die bilrgerlichen<br />

Allodien oder Vorwerke in der Altstadt <strong>Braunschweig</strong> sehr alt seien,<br />

und es zwingt uns sogar dazu die von mir schon früher (Brschw. Magazin<br />

1908 5. 163) genügend hervorgehobene Tatsache, <strong>das</strong>s bürgerliche Allodien<br />

in den übrigen Weichbildern, zum al im I-lagen'), fehlen. Nun wendet freilich<br />

P. J. Meier dagegen ein, im Osten und Nordosten der Stadt habe sich<br />

der mächtige Grundbesitz <strong>des</strong> Klosters Riddagshausen ausgedehnt, was wohl<br />

soviel heissen soll, <strong>das</strong>s der Hagen keine zur Bildung von Allodien ausreichend<br />

grosse Flur gehabt haben könne. Da P. J. Meier einen Beweis hier<strong>für</strong><br />

nicht beigebracht hat, so berufe ich mich hier bloss auf einen demnächst im<br />

Brschw. Magazin erscheinenden Aufsatz H. Meiers, in dem m. E. überzeugend,<br />

weil zahlenmässig, dargetan wird, <strong>das</strong>s die Flur <strong>des</strong> Hagens von recht<br />

erheblichem Umfange gewesen ist.<br />

') Man wird also auch nicht behaupten können, <strong>das</strong>s diese Überordnung durch die Bezeichnung<br />

Vorwerk zum Ausdruck gebracht werde. Eine sichere Erklärung <strong>des</strong> Wortes<br />

wird wohl erst nach Abschluss der Sammlungen <strong>für</strong> <strong>das</strong> deutsche Rechtswörterbuch gegeben<br />

werden können. ') Sofern allodium nicht die ganze Villikation bedeutet, was auch<br />

vorkommt (Wittich a. a. O. S. 276 Anm. 1). ") Dass Allodien, wie Meier S. 7 annimmt,<br />

den ihnen ursprünglich anhaftenden Begriff <strong>des</strong> Eigenguts vollkommen einbüssten, wenn sie<br />

zu Lehen gegeben wurden, vermag ich nicht einzusehen: sie blieben doch immer noch<br />

Eigengut <strong>des</strong> Lehnsherrn. ') Das Vorwerk der v. Semmenstedt (vgl. Ohlendorf S. 24 und<br />

'Meier S. (0) lag freilich am Steinwege, aber unter diesem ist nach Ausweis der Quelle<br />

(1. Testamentbuch der Altstadt) der Steinweg der Altstadt, nicht, wie Meier will, der<br />

<strong>des</strong> Hagens zu verstehen.<br />

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122 HEINRICH MACK<br />

Hinsichtlich <strong>des</strong> dri tt en Kapitels P. J. Meiers kann ich in erster Linie wieder<br />

auf die von H. Meier daran geübte Kritik verweisen. Nur ein paar Kleinigkeiten<br />

will ich noch hinzufügen. Gegen die Auffassung der Sonnenstrasse als<br />

Teiles einer Heerstrasse l ) spricht vielleicht auch der Umstand, <strong>das</strong>s sie erst<br />

spät einen eigenen einheitlichen Namen erhält 2 ). Dass der die Sonnenstrasse<br />

fortsetzende Steinweg vor dem Hohentore, tibrigens eine Vorstadt, gepflastert<br />

. war, würde ihn nur dann zum Teil einer Heerstrasse stempeln, wenn die<br />

Pflasterung <strong>für</strong> alle im Zuge von Heerstrassen liegenden Strassen der Stadt<br />

charakteristisch wäre. Und was weiter die Frühmessen <strong>für</strong> Wanderer und<br />

Arbeiter (dorch der arbey<strong>des</strong> unde wanderer lude willen) in der H. Geistskapelle<br />

an dem genannten Steinwege anlangt - solche finden wir übrigens<br />

auch in der Katharinenkirche im Innem der Stadt S ) -, so soll gar nicht geleugnet<br />

werden, <strong>das</strong>s dabei an die aus dem Hohentore kommenden Wanderer<br />

gedacht ist. . Die aber konnten von der H. Geistskapelle aus nach den verschiedensten<br />

Richtungen ziehen, waren nicht an die angebliche Heerstrasse<br />

<strong>Braunschweig</strong> - Lichtenberg gebannt. Wanderer kamen eben aus jedem<br />

Tore, nicht nur aus denen, die im Zuge grosser Heerstrassen lagen. Endlich<br />

muss bei der grundsätzlichen Wichtigkeit der Sache doch auch ich gleich H.<br />

Meier darauf aufmerksam machen, <strong>das</strong>s alle Wissenschaft aufhört, wenn P.<br />

J. Meier (S. 16) als Beweisgrund ein so subjektives Moment wie «den geschulten<br />

Blick» mit heranzieht, der «ohne weiteres» <strong>das</strong> sieht, was P. J.<br />

Meier <strong>für</strong> richtig hält.<br />

In dem vierten Abschnitte seines Aufsatzes macht mir P.J. Meier den Vorwurf,<br />

ich hätte ihn inbetreff seiner Ausführungen über die ursprtingliche Bedeutung<br />

<strong>des</strong> Kohlmarktes zu Unrecht eines circulus vitiosus bezichtigt. Dazu<br />

darf ich nicht stillschweigen. Meine hier in Betracht kommenden kritischen<br />

Bemerkungen im Brschw. Magazin 1908 S. 163 bezogen sich auf P. J. Meiers<br />

Darlegungen ebenda S. [33 f. Ich könnte nun einfach auf seine und meine damaligen<br />

Auseinandersetzungen verweisen, wenn er jetzt nicht ganz anders<br />

argumentierte als damals. Ich sage nach wie vor: wenn, wie es der Fall<br />

ist, im Degedingebuche der Altstadt I 3°6 der Altstadtmarkt antiquum forum,<br />

1339 der Kohlmarkt (und zwar der Teil <strong>des</strong>selben, der heute den Namen<br />

Poststrasse führt) de olde market heisst, so sind beide Benennungen gleich<br />

zu deuten d. h. entweder als Altstadtmarkt, so <strong>das</strong>s wir es also mit einer abgekürzten<br />

Bezeichnung zu tun hätten, oder wörtlich als alter Markt. P. J.<br />

Meier sagt gleichfalls nach wie vor: antiquum forum im Jahre [306 heisst<br />

1) V gl. hierzu insbesondere H. Meier im Brschw. Magazin 1908 S. 166. ') V gI.<br />

Urkdb. der Stadt Braunschw. III S. 'i5 I Nr. 34, IV S. 608 Nr. 45, H. Meier, Strassennamen<br />

der St. Brschw., S. 81 f. 8) Urkdb. II S. 199 18 , 24216.<br />

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IMMER WIEDER DIE ANFANGE DER STADT BRAUNSCHWEIG 123<br />

Altstadtmarkt, de olde marke! im Jahre I 3 39 heisst der alte Markt im Gegensatze<br />

zum neuen Markte. Auf meine Beanstandung, <strong>das</strong>s er so die gleiche<br />

Bezeichnung in der gleichen Quelle verschieden deute, antwortete er 1908:<br />

«Mit Erlaubnis - der Ausdruck antiquum forum ist in der Tat ungenau und<br />

nur eine der häufigen Verkürzungen, und er hat sich auch niemals eingebürgert;<br />

aber inwiefern der Ausdruck «Alter Markt» auch beim Kohlmarkt ungenau<br />

und verkürzt sein soll, verstehe ich nicht. Die Lage der Ulrichskirche<br />

macht es, wie wir sahen, wahrscheinlich, <strong>das</strong>s auf dem heutigen Kohlmarkt<br />

einst der Mittelpunkt der Marktansiedlung gewesen ist. Sobald nun der neue t )<br />

Markt bei St Martini angelegt war, wurde der bei St Ulrich selbstverständlich<br />

der alte Markt ... ». Er sagt also, um es kurz zusammenzufassen, folgen<strong>des</strong>:<br />

de olde marke! = Kohlmarkt bedeutet der alte Markt, weil bei St<br />

Ulrich der ursprüngliche Markt lag. Dabei hat er aber vorher (S. J 33) feierlich<br />

angekündigt, <strong>das</strong>s er erst noch «einen ganz zwingenden Beweis fuhren»<br />

wolle, «<strong>das</strong>s bei St Ulrich in der Tat die Marktansiedlung <strong>Braunschweig</strong> gelegen<br />

habe», - nämlich aus der Bezeichnung «de olde marke!». Dieser Beweis<br />

hat nun, wie dargelegt, folgenden Gang: bei St Ulrich lag der alte Markt,<br />

denn der Kohlmarkt, auf dem die Ulrichskirche lag, heisst einmal der alte<br />

Markt, eine Bezeichnung, die wörtlich zu nehmen ist, weil bei St Ulrich<br />

der alte Markt lag. Ist <strong>das</strong> nicht ein Schulbeispiel fUr den circulus lIitiosus?<br />

Das muss doch auch P. J. Meier nicht verborgen geblieben sein, denn jetzt<br />

ersetzt er seinen Beweis von 1908 durch folgenden, von jenem sehr abweichenden:<br />

de olde market im Jahre 1339 bedeutet nicht wie antiquum forum<br />

im Jahre 1306 Markt der Altstadt, sondern alter Markt, weil antiquum forum<br />

lateinisch, de olde market deutsch ist und weil antiquum forum 1306, de olde<br />

market aber 1339 gesagt wird. Dass ich diesen Beweis nicht <strong>für</strong> zwingender<br />

halte als den früheren, werden mir unparteiische Leser nachfuhlen können.<br />

Neben ihn wird nun als ganz selbständiger zweiter Beweis der bauliche<br />

Charakter der Ulrichskirche gestellt, aus dem P. J. Meier glaubt erschliessen<br />

zu können, <strong>das</strong>s diese Kirche die Kirche der Marktansiedlung <strong>Braunschweig</strong><br />

gewesen sei. In dem Aufsatze von 1908 (S. 133) hatte P. J. Meier erklärt,<br />

<strong>für</strong> seine Beweisführung sei <strong>das</strong> Aussehen der Ulrichskirche nicht mehr von<br />

Bedeutung. Jetzt aber kämpft er doch wieder damit. Ich brauche auf den<br />

zweiten Beweis nicht näher einzugehen, weil ich immer noch auf dem Standpunkte<br />

stehe - <strong>das</strong> ist zugleich meine Erwiderung auf den 6. Abschnitt -,<br />

<strong>das</strong>s man die Abbildung, auf die P. J. Meier sich stützt, so lange nicht als<br />

glaubwürdige Urkunde anerkennen darf, bis nicht eine - bislang immer<br />

1) Wohlgemerkt nach P. J. Meiers Meinung «neue', denn die Quellen kennen ihn als<br />

solchen nicht.<br />

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IMMER WIEDER DIE ANFÄNGE DER STADT BRAUNSCHWEIG 125<br />

heisst er doch 1 335 einmal, wie letzterer oft, schlechtweg de market. Ist<br />

diese Vermutung zutreffend'), so hat H. Meier vollkommen recht mit seiner<br />

Annahme (Strassen namen S. 60), <strong>das</strong>s de olde market 1339 so gut wie antiquum<br />

forum 1306 als Markt der Altstadt zu deuten sei.<br />

Auf <strong>das</strong> fünfte Kapitel P. J. Meiers brauche ich nicht einzugehen, weil er<br />

den urkundlichen Beweis <strong>für</strong> seine Theorie!) von der planmässigen Anlage<br />

auch der meisten westelbischen Städte durch die Grundherren noch immer<br />

nicht erbracht hat; so behauptet er z. B. jetzt wieder, <strong>das</strong>s sich <strong>für</strong> Hamm<br />

und Bern die planmässige Anlage durch die Grundherren urkundlich beweisen<br />

lasse, aber er hält es nicht <strong>für</strong> nötig, diesen Beweis zu führen. Im wesentlichen<br />

begnügt er sich damit, auf gewisse Ähnlichkeiten, die ja oft auch wirklich<br />

vorhanden sein mögen, zwischen den einzelnen Stadtplänen hinzuweisen<br />

und zu behaupten, diese Ähnlichkeiten seien der Art, <strong>das</strong>s sie nur aus plan·<br />

mässiger Anlage durch den Grundherrn zu erklären seien. Man sieht ohne<br />

weiteres, <strong>das</strong>s hier <strong>das</strong> subjektive Urteil an Stelle <strong>des</strong> objektiven Beweises<br />

gesetzt ist. Wohin <strong>das</strong> führt, da<strong>für</strong> ein Beispiel. S. 20 heisst es: «Bei der<br />

Lorenzer Seite von Nürnberg und bei Goslar lässt sich die planmässige Bildung<br />

nur wahrscheinlich machen», aber drei Zeilen vorher ist wenigstens von<br />

einem Teile Goslars gesagt: «Dass hier eine ganz regelmässige, planvolle<br />

Anlage vorliegt, ist gar nicht zu bezweifeln». Was soll nun gelten? Aber<br />

ich brauche nicht nur nicht auf dieses Kapitel einzugehen, ich kann es auch<br />

nicht, denn ich vermag nicht zu erkennen, was jetzt P. J. Meiers Ansicht über<br />

die planmässige Anlage <strong>Braunschweig</strong>s ist. Früher hatte er angenommen,<br />

<strong>das</strong>s der grösste Teil der Altstadt (d. h. der nach Abzug der Marktansiedlung<br />

um die Ulrichs- und etwa <strong>des</strong> Dorfes um die Jakobskirche bleibende Rest)<br />

und fast die ganze Neustadt künstliche Anlagen Heinrichs <strong>des</strong> Löwen seien S ).<br />

1) Angedeutet habe ich sie schon 1908 a. a. O. S. 162 Anm. 6. ') Ich habe zu<br />

dieser Theorie bereits im Anschluss an H. Meier (Br. Mag. 1906 S. 121 ff.) in meinem<br />

Aufsatze in der Brschw. Lan<strong>des</strong>zeitung 1908 Nr. S 37 klar und deutlich Stellung genom·<br />

men. Ich wiederhole hier meine damaligen Worte, weil P. J. Meier nie <strong>für</strong> nötig gehal·<br />

ten hat, darauf zu antworten. c Wenn es an sonstigen, in jeder Hinsicht einwandfreien Zeu·<br />

gen fehlt - und <strong>das</strong> ist in Bezug auf die Entstehung von Städten sehr oft der Fall -,<br />

so muss der Grundriss einer Stadt doch schon eine fast mathematische Regelmässigkeit be·<br />

sitzen, um zu dem Schlusse zu berechtigen, <strong>das</strong>s er von der Grundherrschaft bis in alle<br />

Einzelheiten festgestellt worden sei. Grundrisse nämlich, denen nur eine relative Regel.<br />

mässigkeit eignet, können auch sehr wohl andern Ursprungs sein, zumal wir sie nicht nur<br />

bei Städten, sondern auch bei Dörfern finden - ich erinnere bloss an die slavischen Rund·<br />

linge. Häufiger finden wir sie in Städten, weil begreiflicherweise die städtische Kultur,<br />

namentlich wenn sie in rasch aufsteigender Entwickelung begriffen ist, mehr auf eine ge·<br />

wisse Regelmässigkeit hindrängt als dörfliches Wirtschaftsleben; und <strong>für</strong> diese Regelmässig.<br />

keit pflegt dann die Richtung der alten Handelswege von grosser Wichtigkeit zu sein.'<br />

') Vgl. P. J. Meier und K. Steinacker, Die Bau· und Kunstdenkmäler der Stadt Braun·<br />

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HEINRICH MACK<br />

Jetzt aber sagt er nicht nur, die vom Petritore strahlenförmig ausgehenden<br />

Strassen der Neustadt seien erst später angelegt als die entsprechenden der<br />

Altstadt, wobei er uns völlig im unklaren darüber lässt, wann <strong>das</strong> geschehen<br />

sein soll, sondern - und <strong>das</strong> ist besonders wichtig - er stellt sich jetzt auch,<br />

gegen ühlendorf polemisierend, S. 30 auf den Standpunkt, es sei WiIlkür, die<br />

Altstadt in zwei Teile, einen älteren und einen jüngeren, zu zerlegen. Danach<br />

also scheint P. J. Meiers Ansicht jetzt die zu sein, <strong>das</strong> Strassennetz der Altstadt<br />

sei eine einheitliche Anlage und zwar, da er ja die Marktansiedlung im<br />

Gebiete der Altstadt um 1°30 ansetzt, eine Anlage <strong>des</strong> 11. Jahrhunderts. Wie<br />

sich freilich damit die Tatsache vereinigen lassen soll, <strong>das</strong>s er, nach Kapitel IV<br />

zu urteilen, noch immer im Kohlmarkte den alten, im Altstadtmarkte den neuen<br />

Markt dieses Weichbil<strong>des</strong> sieht, ist mir unklar. Und auch die S. 21 wiederkehrende<br />

Betonung der angeblichen Verwandtschaft zwischen den Grundrissen <strong>des</strong><br />

Hagens und der Altstadtl) hat doch gar keinen Sinn mehr, wenn die Hypothese<br />

von der Erweiterung durch Heinrich den Löwen aufgegeben ist. Wie<br />

sind diese Widersprüche zu lösen? Übrigens bedarf auch <strong>das</strong> der Erklärung,<br />

wie P. J. Meier dazu kommt, bei jenem Vergleiche <strong>des</strong> Hagens mit der Altstadt<br />

auch Schöppenstedterstrasse und Mauernstrasse als zum Hagen Hein-<br />

. richs <strong>des</strong> Löwen gehörig zu betrachten, während er im Abschnitt X (S. 37)<br />

die Gründung <strong>des</strong> genannten FOrsten nur bis zum ehemaligen Graben der<br />

Wilhelmstrasse reichen lässt und «die ganze östliche Hälfte <strong>des</strong> Hagens» auf<br />

spätere Hinzufügung zurückführt.<br />

Soweit ich mich mit dem 6. und 7. Abschnitte der Meierschen Abhandlung<br />

auseinanderzusetzen hatte, ist dies schon oben geschehen. Für die Beurteilung<br />

<strong>des</strong> 8. Abschnittes ist H. Meier zuständig, auf den 9. aber wird ühlendorf<br />

2 ) vermutlich die Antwort nicht schuldig bleiben S ). Freilich von den erstaunlichen<br />

Irrtümern, die er nach P. J. Meier begangen hat, und aus denen<br />

schweig (1906) S. 6, P. J. Meier, Die Grundrissbildungen der deutschen Städte <strong>des</strong> Mittelalters<br />

usw. (Sonderabdr. aus dem Stenogr. Bericht über den 8. Tag <strong>für</strong> Denkmalpflege,<br />

Mannheim 1907) S. 9, Zur Frage der Grundrissbildung der Stadt Brschw. (Br. Mag. 1908)<br />

S. Il4f. und <strong>Braunschweig</strong> (Stätten der Kultur Bd 27 Leipzig 19iO) S. 14.<br />

') Auf den von H. Meier und mir erhobenen Haupteinwand, <strong>das</strong>s der Altstadt so ausgesprochene<br />

Querstrassen wie der Steinweg und die Fallersleberstrasse fehlen, erwidert P.<br />

J. Meier nicht. Auch <strong>das</strong> muss beachtet werden, <strong>das</strong>s die Hauptstrassen im Hagen viel<br />

breiter sind als die in der Altstadt. ') Leider hat es mir bisher an Zeit gefehlt, mich<br />

mit Ohlendorfs ungemein f1eissiger Arbeit so eingehend zu beschäftigen, wie sie es verdient;<br />

<strong>des</strong>halb habe ich auch mit meinen Bedenken gegen ihre Ergebnisse einstweilen noch zurückgehalten.<br />

") Nur nebenher sei hier zu S. 29 bemerkt, <strong>das</strong>s die herzoglichen Mini·<br />

sterialen, die Lehnshöfe im Hagen hatten, sich schon <strong>des</strong>halb nicht zu den Patriziern rechnen<br />

konnten, weil sie gar nicht zur Bürgerschaft gehörten: sie blieben Ministerialen und sassen<br />

auch gar nicht dauernd auf ihren Lehnshöfen in der Stadt.<br />

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IMMER WIEDER DIE ANFÄNGE DER STADT BRAUNSCHWEIG 127<br />

ersichtlich sein soll, «wie wenig er sich mit den Anfängen der deutschen Stadt<br />

überhaupt abgegeben hat», wird ja einer auch von H. Meier und mir geteilt.<br />

Auch wir leugnen ja die planmässige Anlage der Altstadt. Auch darüber ist<br />

oben schon zur Genüge gesprochen, nicht minder dargelegt, <strong>das</strong>s am wenigsten<br />

P. J. Meier Ohlendorf <strong>des</strong>halb der Willkür bezichtigen darf, weil er die<br />

Altstadt in einen ältern und jüngern Teil zerlegt. Dagegen ist noch ein Wort<br />

zu dem zu sagen, was P. J. Meier hier ober die Patronatsverhältnisse in<br />

<strong>Braunschweig</strong> ausführt. Nach ihm ist bei allen Pfarrkirchen der Stadt, die<br />

Jakobskirche eingerechnet, mit Ausnahme der Michaelis- und der Katharinenkirche<br />

ursprünglich der Herzog bzw. der brunonische Graf Patron gewesen,<br />

soweit nicht der Fürst eins der Stifter oder Klöster mit dem Patronatsrechte<br />

beliehen hatte .. Wo sind die Urkunden, die <strong>das</strong> beweisen? Wo ist z. B. die<br />

Urkunde, in der die Verleihung <strong>des</strong> Patronates der Martinikirche durch Heinrich<br />

den Löwen an <strong>das</strong> Blasienstift ausgesprochen wird? Wenn sie oberhaupt<br />

existiert hätte, würde jener Patronat zwischen Otto IV und dem Blasienstifte<br />

nicht strittig gewesen sein, wie doch aus Ottos Urkunde 12°4 Okt. 22 ober<br />

die Verleihung <strong>des</strong> Pfarrwahlrechtes zu St. Martini an die Bürger geschlossen<br />

werden darf1). Meine Äusserung im Brschw. Mag. 1908 S. 16 I, die Patronatsverhältnisse<br />

in <strong>Braunschweig</strong> seien m. E. sehr verwickelt gewesen, war·<br />

also doch vielleicht nicht so grundlos, wie P. J. Meier S. 30 Anm. I meint.<br />

In dem zeh nt e n, dem Hagen zu <strong>Braunschweig</strong> gewidmeten Abschnitte bezeichnet<br />

P. J. Meier S. 36 es als seltsam, <strong>das</strong>s noch· niemals darauf geachtet<br />

worden sei, wie die <strong>Braunschweig</strong>ische Reimchronik ganz bestimmte Angaben<br />

über die Befestigung <strong>des</strong> Hagens mache. Es ist ihm also seltsamerweise entgangen,<br />

<strong>das</strong>s DUrre in seiner Geschichte der Stadt <strong>Braunschweig</strong> S. 61 diese Angaben<br />

der Reimchronik wohl beachtet hat und unter ausdrücklicher Berufung auf<br />

sie berichtet, Heinrich der Löwe habe den Hagen bei <strong>des</strong>sen Gründung -<br />

wohl nur vorläufig - mit Verhauen und Schlagbäumen befestigen lassen.<br />

Und der erste, der den Namen <strong>des</strong> Weichbil<strong>des</strong> auf diese Befestigung zurückgeführt<br />

hat, ist auch nicht P. J. Meier, sondern sogar schon Leibniz gewesen,<br />

der in seiner Ausgabe der Reimchronik in den Scriptores rerum Brunsvic.<br />

III S. 5 ° zu den Worten<br />

Unde heil mit howen unde mit fchlagen 2 )<br />

Et buwen unde feften<br />

bemerkt: «Howen idem eft ac hagen, indago, qua olim urbes muniebantut,<br />

unde et ipfa civitatis Brunsvicenjis pars, de Hagen, nomen fuum accepit?S)>><br />

') Urkdb. II S. 14"· Otto sagt nicht: quia eecleJia i//a (Je. f Martilli) ad deealliam<br />

(f. BlaJii) pertillebat, sondern: quia ipJi fratres (f BlaJii) dieeballt eecleJiam i//am ad deealliam<br />

pertillere. ') In Weilands Ausgabe: mit howe ulld mit Jlage. ") Das Frage-<br />

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128 HEINRICH MACK<br />

Es fragt sich nun aber zunächst, ob man in den Worten der Reimchronik<br />

ein vollständig zuverlässiges, wörtlich zu nehmen<strong>des</strong> Zeugnis sehen darf. Wie<br />

P. J. Meier selbst von einem andern Verse (268 I) der hier in Rede stehenden<br />

Stelle sagt, <strong>das</strong>s es sich da nur «um eine bequeme, <strong>für</strong> den Reim brauchbare<br />

Redensart» handle (S. 36 Anm. 5), so kann man <strong>das</strong> allenfalls auch von den<br />

Worten mit howe und mit jlage vermuten, weil es unmittelbar vorher heisst:<br />

went her uzgah daz blich,<br />

daz geheyzen ift dhe Hage,<br />

also ein Reim auf Hage nötig war. Ausserdem ist aber zu beachten, <strong>das</strong>s die<br />

Reimchronik, wenn sie auch aus guter Quelle schöpft, doch erst gegen Ende<br />

<strong>des</strong> 13. Jahrhunderts, also über 100 Jahre nach der Gründung <strong>des</strong> Hagens<br />

entstanden ist. Daraus erklärt sich, wie Weiland, doch zweifellos ein ebenso<br />

gewissenhafter wie scharfsinniger Forscher, in seiner Ausgabe der Reimchronik<br />

in den Mon. Germ. (Deutsche Chroniken 11 S. 493 Anm. 4) zu der Wendung<br />

mit howe und mit jlage iz buwen unte veften hat bemerken können: «Dass<br />

Heinrich den Hagen bemauern liess, sagt auch die Tabula S. Blajii.» Immerhin<br />

will ich eine gewisse Möglichkeit, <strong>das</strong>s die älteste Befestigung <strong>des</strong><br />

Hagens eine der von Stralsund ähnliche mit Graben, Wall und PaIIisaden<br />

gewesen sei, nicht bestreiten und zum Beweise, wie objektiv ich der Sache<br />

gegenüberstehe, auf einen vor einigen Jahren gemachten, P. J. Meier vielleicht<br />

unbekannt gebliebenen Fund hinweisen, bei <strong>des</strong>sen Erörterung jene Möglichkeit<br />

ernstlich in Betracht gezogen wurde. Bei Ausschachtungen auf dem<br />

Grundstücke <strong>des</strong> Lichtwerkes an der Wilhelmstrasse stiess man nämlich im<br />

April 1908 auf drei dem Wendenmühlengraben, dem alten Mauergraben,<br />

parallel laufende Reihen von zugespitzten Eichenpfählen (24 X 24 cm stark),<br />

von denen die bei den vordern, von der Mitte <strong>des</strong> Grabens 6,20 m bzw. 8,eo m<br />

abstehenden, Längs- und Querverbindungen aus Eichenholz aufwiesen,<br />

während die Pfähle der dritten, von der Mitte <strong>des</strong> Grabens 16,00 m entfernten<br />

Reihe weder unter sich noch mit den Pfählen der beiden andern<br />

Reihen verbunden waren. Von den zu Rate gezogenen Sachverständigen,<br />

Obersten K. Gerloff und H. Meier, ward sorgfältig erwogen, ob es sich hier<br />

um Reste alter Befestigungswerke handle, doch kamen beide zu dem Schlusse,<br />

<strong>das</strong>s dies nicht wahrscheinlich sei, die Anlage vielmehr mit dem im Hagen<br />

blühenden Tuchmachergewerbe in Zusammenhang gestanden haben werde;<br />

allerdings sprach sich Oberst Gerloff nicht ganz so bestimmt aus wie Oberst<br />

Meier. Gesetzt übrigens den Fall, <strong>das</strong>s man hier wirklich Reste der ursprünglichen<br />

Befestigung Heinrichs <strong>des</strong> Löwen gefunden hätte, so wäre die Ansicht<br />

zeichen verdient besonderer Beachtung, denn es lehrt, <strong>das</strong>s Leibniz seine Annahme nicht<br />

<strong>für</strong> unumstösslich gehalten hat.<br />

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IMMER WIEDER DIE ANFÄNGE DER STADT BRAUNSCHWEIG 129<br />

P. J. Meiers, der ehemalige Graben im Zuge der Wilhelmstrasse sei der Graben<br />

dieser Befestigung gewesen, ohne weiteres als hinfällig erwiesen.<br />

Und dann die Ableitung <strong>des</strong> Namens Hagen aus der ältesten Befestigung<br />

<strong>des</strong> Weichbil<strong>des</strong>! Die Worte der Reimchronik sprechen nicht dafUr, allerdings<br />

auch nicht bestimmt dagegen. In Konrad Botes Sachsenchronik aber<br />

lesen wir BI. s IIv: «Oek fo leyt he (d. i. Heinrich der Löwe) begraven unde<br />

bemuren den hagen to Brunßwiek unde buwede dar eyne kereken in de ere<br />

funte katherina, dat heyt in dem haghen unde was ein hagen vul brokes, bufehe,<br />

wifche» usw. Ich führe diese Stelle an, weil hier ein braunschweigischer<br />

Chronist <strong>des</strong> 15. Jahrhunderts den Namen anders deutet als P. J. Meier und<br />

zwar etwa so, wie man ihn jetzt <strong>für</strong> gewöhnlich auffasst, nämlich als die Bezeichnung<br />

eines in Wildwuchs starrenden Gebietest). Dass diese Deutung<br />

aber min<strong>des</strong>tens ebensoviel <strong>für</strong> sich hat als die P. J. Meiers, davon bin ich<br />

schon <strong>des</strong>halb überzeugt, weil, wo sonst in <strong>Braunschweig</strong> <strong>das</strong> Wort Hagen<br />

bei der Bezeichnung von Örtlichkeiten eine Rolle spielt, ein Zusammenhang<br />

mit der Stadtbefestigung ausgeschlossen ist: es kommen da die Strassennamen<br />

Rosenhagen, Geiershagen, Käthgenhagen in Betracht. Für den ersten dieser<br />

drei Namen gibt ja P. J. Meier auch selber schon andern Ursprung zu, doch<br />

passt die von ihm aus Grimm entnommene Deutung auf den Rosenhagen zu<br />

<strong>Braunschweig</strong> nicht, denn <strong>das</strong>s hier die feilen Dirnen ihr Unwesen getrieben<br />

hätten, ist nicht zu belegen. Auch fUr die drei Rosenhagen in Hil<strong>des</strong>heim<br />

und den Rosenhagen in Rostock lässt sich aus der lokalhistorischen Forschung<br />

keine Bestätigung dieser Deutung entnehmen, und es ist doch auch von<br />

vornherein unglaublich, <strong>das</strong>s in Hil<strong>des</strong>heim drei ganze Strassen solche Bewohnerschaft<br />

gehabt haben sollten.<br />

Die weiteren Ausführungen P. J. Meiers betreffen <strong>Braunschweig</strong> nicht, und<br />

so kann ich damit schliessen, <strong>das</strong>s ich auf Grund meiner kritischen Bemerkungen<br />

hinter <strong>des</strong> Gegners vermeintliche Feststellung, er sei hinsichtlich der<br />

Anfänge <strong>Braunschweig</strong>s der Wahrheit so nahe als zur Zeit möglich gekommen,<br />

ein grosses Fragezeichen setze.<br />

I) Vgl. dazu die im Grimmschen Wörterbuche zu .Hagen. unter Nr 5 aufgeführten Bedeutungen:<br />

Gebüsch, Gehölz.<br />

BrauuS


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ZU DEN UNTERSUCHUNGEN P. J. MEIERS ÜBER DIE<br />

ANFÄNGE DER STADT BRAUNSCHWEIG.<br />

Von H. Mei er.<br />

Bei den Forschungen, welche Museumsdirektor Dr P. J. Meier seit mehreren<br />

Jahren mit grossem Eifer und in grossem Umfange betreibt, handelt es<br />

sich um eine Entdeckung auf kunstgeschichtlichem Gebiete, welche, wenn<br />

sie sich bestätigt, auch der Geschichtswissenschaft ganz neue Bahnen eröffnen<br />

würde. Er meint gefunden zu haben, <strong>das</strong>s die Grundrisse der Städte ebenso<br />

wie Kirchenbauten einem wechselnden Stile unterworfen gewesen 5ind.<br />

Unter den Thesen, welche er darüber aufgestellt hat, interessiert uns <strong>Braunschweig</strong>er<br />

besonders die eine, wonach im 12. Jahrhundert und nicht schon<br />

früher der Meridianstil geherrscht hat. Bei ihm laufen die langen Strassen<br />

zum Haupttore, wie die Meridiane zum Pole. Ausser dem Markte haben sie<br />

keine durchgehenden, sondern nur partielle höchst mangelhafte und enge<br />

Querverbindungen. P. J. Meier findet diesen Stil in der Altstadt <strong>Braunschweig</strong>,<br />

aber nicht in ihrem ganzen Umfange, sondern nur in einem Teile,<br />

der zu einem schon vorher bebaut gewesenen Teile im 12. Jahrhundert demnach,<br />

wie er meint, planmässig neu hinzugefi1gt sein muss. Welcher Teil der<br />

Altstadt bereits vor dem 12. Jahrhundert bebaut gewesen ist, darüber hat er<br />

1906 in den Bau- und Kunstdenkmälern l) und in der Sitzung <strong>des</strong> <strong>Geschichtsvereins</strong><br />

vom 12. November 2 ) eine Hypothese aufgestellt, sie aber selbst 1907<br />

in der Sitzung <strong>des</strong> <strong>Geschichtsvereins</strong> vom 4. März S ) umgestossen und durch<br />

eine neue ersetzt'). Anfangs war es ein schmaler Streifen im Osten der Altstadt,<br />

der die Gördelingerstrasse enthielt und etwa die Ulrichsbauerschaft<br />

umfasste, später die südliche Hälfte der Altstadt etwa bis zur Sonnen- und<br />

Stephanstrasse, die ihrerseits etwa durch die Linie Brabantstrasse-Bruchtor<br />

in eine Kaufmannsgemeinde beim Kohlmarkte und eine hofrechtliehe Bauerngemeinde<br />

in der Michaelisbauerschaft geschieden war. Zu dem nach dem<br />

Meridianstile im 12. Jahrhundert neu bebauten Gebiete gehörte 1906 ein<br />

Teil westlich <strong>des</strong> Kohlmarktes, der 1907 davon ausgeschlossen wurde, und<br />

1906 war von ihm ein Teil nördlich <strong>des</strong> Kohlmarktes ausgeschlossen gewesen,<br />

der 1907 dazu' gerechnet wurde. Es ist begreiflich, <strong>das</strong>s hiernach die Laien<br />

') Wolfenbüttel 1906. S. 6. 2) Br. Mag. 1907 S. 22. B) Daselbst S. 70. 4) Daselbst<br />

1908 S. 134.<br />

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ANFÄNGE DER STADT BRAUNSCHWEIG<br />

in <strong>Braunschweig</strong> dem Meridianstile einigermassen skeptisch gegenilberstanden;<br />

denn, wenn es in unserer Altstadt Teile gibt, in denen selbst <strong>das</strong> «geschulte<br />

Auge» <strong>des</strong> Forschers ebensowohl <strong>das</strong> Vorhandensein als auch <strong>das</strong> Nichtvorhandensein<br />

<strong>des</strong> Meridianstils herauszulesen vermochte, so trug <strong>das</strong> nicht dazu<br />

bei, die Sache einleuchtend zu machen. Abgesehen davon verlangten diese<br />

Laien aber mit Recht den Nachweis, <strong>das</strong>s der Meridianstil wirklich im 12.<br />

Jahrhundert geherrscht hatte und zwar bei Städten, von denen man ganz bestimmt<br />

weiss, und <strong>für</strong> die man schriftliche Zeugnisse beibringen kann, <strong>das</strong>s<br />

sie im 12. Jahrhundert wirklich planmässig gegründet worden sind. Und es<br />

lag von vornherein auf der Hand, <strong>das</strong>s solcher Nachweis ausserordentlich<br />

schwer zu erbringen sein würde. Denn wenn auch <strong>für</strong> kirchliche Bauten <strong>das</strong><br />

spärliche Urkundenmaterial immerhin noch ausreichen mag, um z. B. <strong>für</strong><br />

den Stil von Säulenkapitälen Zeitgrenzen festzulegen, so redet es über Erbauung<br />

städtischer Strassen selten oder nie. Selbst in den wenigen Fällen,<br />

wo Gründungsurkunden von Städten vorhanden sind, bleibt man über den<br />

Bau ihrer Strassen im Zweifel. Die Gründungsurkunde <strong>für</strong> Leipzig vom Jahre<br />

I 160 spricht z. B. von einem schon bestehenden Markte, und man weiss<br />

nicht, ob Neumarkt und Reichsstrasse vor I 160 bestanden haben oder damals<br />

planmässig aufgebaut worden sind 1).<br />

Nun hat ja allerdings P. J. Meier in Vorträgen zu Mannheim 2 ) und Lübeck 3 )<br />

1907 und 1908 eine staunenswerte Fülle von Plan material erbracht; aber<br />

als schriftlich bezeugte Gründungen nach dem Meridianstile aus dem 12.<br />

Jahrhundert hat er doch nur zwei, München und Bern, namhaft machen<br />

können, und diese weichen in ihren Grundrissen so wesentlich von unserer<br />

Altstadt ab, <strong>das</strong>s von einem gemeinsamen Stile nicht die Rede sein kann.<br />

Das München <strong>des</strong> 12. Jahrhunderts war 375 m breit und 450 m lang. Es<br />

bestand aus dem Strassenkreuze Kaufingergasse, Markt, Wein- und Rosenstrasse<br />

und einer Ringstrasse längs der Stadtmauer, von der nur Fürstenfelderstrasse<br />

und Rindermarkt erhalten sind.<br />

Bern ist auf einer hochaufragenden, tiefunten von der Aare umflossenen<br />

Halbinsel erbaut, die bei 400 m Breite 1000 m lang ist. Naturgemäss laufen<br />

auf dem langen Plateau die drei Längsstrassen auf die Spitze der Halbinsel<br />

zu, wo sie sich bei der Nydeckkirche treffen, um die einzige Aarebrücke zu<br />

erreichen. Ursprünglich endete die Anlage im Westen mit dem Zeitglockenturme.<br />

Zwischen diesem und der Nydeckkirche haben die drei Längsstrassen<br />

fünf Querverbindungen:<br />

1) Wustmann, Geschichte der Stadt Leipzig 190,. S. 5, 6, 8, 10, 185 und 186 ..<br />

') Stenographischer Bericht <strong>des</strong> VIII. Tages <strong>für</strong> Denkmalpflege. Berlin 1907. B) Korrespondenzblatt<br />

1909. März.<br />

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H. ME I ER<br />

I. Zwiebelgasse.<br />

2. Beim Bärenbrunnen.<br />

3. Vorn Kirchplatze zur Brunnengasse.<br />

4. Zwischen Münster und Rathaus (Kreuzgasse).<br />

5. Vorn Erlacher Hofe zur Postgasse.<br />

Allerdings sind diese Gassen schmal, aber ihre grosse Zahl widerspricht<br />

durchaus dem Stile, welchen P. J. Meier als Meridianstil charakterisiert hat.<br />

Bei einern so augenscheinlich der Örtlichkeit angepassten Aufbau kann von<br />

einern Mo<strong>des</strong>tile überhaupt nicht die Rede sein.<br />

Auch in vorstehender Untersuchung hat P. J. Meier dem nichts hinzugefügt.<br />

Denn, wenn er jetzt von Hamm sagt, <strong>das</strong>s es 1213 planmässig<br />

gegründet sei, so widerspricht er seiner eigenen Aussage in Mannheim, wo<br />

er nur behauptet hatte, die Stadt sei 1213 mit Stadtrecht begabt worden.<br />

Völlig unbegreiflich ist, wie P. J. Meier jetzt noch und jetzt wieder die<br />

Ähnlichkeit der Altstadt mit dem Hagen, an die kein <strong>Braunschweig</strong>er glaubt I),<br />

behaupten kann. In Mannheim hatte er doch wenigstens die Sache dadurch gemildert,<br />

<strong>das</strong>s er von einer vermutlich ältesten Form <strong>des</strong> Hagen sprach, deren<br />

einzige zwei Strassen, Wenden- und Wilhelmstrasse, sich am Wendentore<br />

träfen. In <strong>Braunschweig</strong> ist die Wiederholung der unhaltbaren Ansicht, wonach<br />

der Graben auf der Wilhelmstrasse ein Befestigungsgraben war, unmöglich,<br />

denn wir wissen, <strong>das</strong>s dann der Hagen nicht zwei 2 ), sondern nur eine Längsstrasse<br />

gehabt hätte, den Bohlweg, der in seiner Fortsetzung Wendenstrasse<br />

heisst.<br />

Seit 1907 hat in<strong>des</strong>sen P. J. Meier als Zeugen <strong>für</strong> einen planmässigen<br />

Ausbau der Altstadt die rechtsgeschichtliche Hypothese Rietschels herangezogen.<br />

Nach dieser sind die Städte im inneren Deutschland erst im 12. Jahrhundert<br />

aus grundherrlichen Marktansiedlungen mit ausschliesslichen Kaufmannsgemeinden<br />

entstanden, die sich stets an benachbarte hofrechtliehe<br />

Bauerngemeinden anlehnen mussten, um existieren zu können. Ihre Anwendbarkeit<br />

auf <strong>Braunschweig</strong> ist allerdings in Frage gestellt, weil Schröder')<br />

sie nur <strong>für</strong> Städte gelten lassen will, deren Anfang sich feststellen lässt, weil<br />

sie nur passt, wo nachgewiesen werden kann, <strong>das</strong>s der Grund und Boden,<br />

auf dem die Marktansiedelung erfolgte, zuvor herrschaftliches Eigentum gewesen<br />

ist'), und weil in der Altstadt <strong>Braunschweig</strong> niemals Wortzins an die<br />

Herrschaft entrichtet worden ist. Aber Rietschel hat dieser Schwierigkeit<br />

1) Strassen namen der Stadt <strong>Braunschweig</strong>, S. 109, I 10. Br. Mag. 1906. S. 124 .<br />

. ') Der Graben f1iesst auf der Mitte der Wilhelmstrasse, z. T. sogar nahe der westlichen<br />

Häuserreihe, an deren Stelle die Befestigung hätte sein müssen. I) Schröder, Lehrbuch<br />

der Rechtsgeschichte. 1II. Auflage 1898. S. 164. ') Rietschel, Markt und Stadt. S. 13 I.<br />

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ANFÄNGE DER STADT BRAUNSCHWEIG 133<br />

durch die Annahme Rechnung getragen, es möge in der Altstadt <strong>Braunschweig</strong><br />

ähnlich zugegangen sein wie in Naumburg, wo der Bischof die<br />

Kaufleute von Grossjena zum Niederlassen anlockte, indem er ihnen Hausstätten<br />

zins- und verfügungsfrei schenkte. Hierbei sah er mit gutem Grunde<br />

die benachbarte hofrechtliehe Bauerngemeinde in der Altenwik. Das ergab<br />

eine, wenn auch unbewiesene, doch immerhin mögliche Lösung, und P. J.<br />

Meier würde eine brauchbare Stütze gewonnen haben, wenn er sie unverändert<br />

adoptiert hätte. Aber <strong>das</strong> Missgeschick wollte, <strong>das</strong>s er sie verbessern<br />

zu müssen glaubtet). Indem er die zur Abwehr volkswirtschaftlicher Bedenken<br />

unbedingt notwendige 2 ) hofrechtliche Bauerngemeinde aus der Altenwik<br />

in den Kern der Altstadt verlegte, schuf er sich selbst unüberwindliche<br />

Schwierigkeiten. Denn er wird nun darlegen müssen, wie aus hofrecht lichen<br />

Zuständen im Handumdrehen zu Heinrichs <strong>des</strong> Löwen Zeiten allgemeine<br />

Zinsfreiheit hat entstehen können. Spuren hofrechtlicher Zustände sind doch<br />

aus den Urkunden unserer Altstadt durchaus nicht herauszulesen. In Hameln,<br />

wo, wie er selbst nachgewiesen hat S ), tatsächlich ein Teil der Stadt in<br />

hofrechtlichen Verhältnissen sich befunden hat, treten doch die Spuren davon<br />

noch 1314 sehr deutlich hervor. In den jetzigen Untersuchungen P. J.<br />

Meiers ist auch nicht der geringste Versuch gemacht worden, eine Lösung<br />

dieses Problems zu finden.<br />

Natürlich war <strong>das</strong>, was RietscheI 1897 gegen Hänselmann vorgebracht<br />

hatte, durchaus ungenUgend. Erstens kannte er die erst in demselben Jahre<br />

von Hänselmann veröffentlichte Auseinandersetzung über die geschichtliche<br />

Entwicklung der Stadt noch nicht und stützte sich noch immer auf Hänselmanns<br />

erste Mitteilungen von 1868 in den Chroniken deutscher Städte<br />

Band VI. Zweitens lagen Band 11, III und IV unseres Urkundenbuches noch<br />

nicht vor, welche jetzt allein fUr denjenigen in Betracht kommen, welcher<br />

über die Allodien der Altstadt ein Urteil abgeben will. Drittens kannte er<br />

noch nicht die Darlegungen P. J. Meiers in den Bau- und Kunstdenkmälern<br />

von 1906 über die verhältnismässig späte Entstehung der Martini- und Petrikirche<br />

zu einer Zeit, wo die Befugnisse der Patrone nicht mehr als Ausflüsse<br />

<strong>des</strong> Eigentums angesehen wurden').<br />

Aus diesem Grunde ist es durchaus verständlich, wenn P. J. Meier bestrebt<br />

ist, die Ansichten Hänselmanns wirksamer zu bekämpfen.<br />

Trugschlüsse über die Entstehungszeit der Altstadt sind seiner Ansicht<br />

nach unter andern bei Hänselmann hervorgerufen durch Verkennung der<br />

1) Br. Mag. 1908. S. I 34. ') Schröder S. 6 I ,. B) Zeitschrift <strong>des</strong> historischen Vereins<br />

<strong>für</strong> Niedersachsen 1909. S.8, bis 112. Br. Mag. 1909. S. 108. C) Hinschius, Kirchenrecht<br />

H, 625 f. f.<br />

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'34<br />

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H. ME 1 E R<br />

Bedeutung von Ohrum als einzigen Übergangspunkt über die Oker in karolingischer<br />

Zeit!).<br />

Nun ist aber Ohrum als Übergangspunkt ganz und gar nicht bezeugt. Die<br />

GeschichtsqueIlen sagen ganz etwas anderes. 747 2 ) bildete hier die Oker geradezu<br />

eine trennende Schranke, welche verhinderte, <strong>das</strong>s die beiden Gegner<br />

Pippin und Griffo Oberhaupt aneinander kamen. 7803) bildete der Talkessel<br />

um die Okerinsel bei Ohrum mit den beiderseitig amphitheatralisch ansteigenden<br />

Uferhöhen nur <strong>das</strong> Taufbecken <strong>für</strong> die sich unterwerfenden Ostsachsen.<br />

Noch viel weniger lassen die topographischen Verhältnisse es irgend<br />

wahrscheinlich erscheinen, <strong>das</strong>s man jemals Ohrum fUr einen zum Uferwechsel<br />

geeigneten Ort hätte in Betracht ziehen können. Wie Professor Lohmann')<br />

treffend hervorgehoben hat, sind ja allerdings durch die Enge zwischen<br />

dem Elme und dem <strong>das</strong> grosse Bruch begleitenden Höhenzuge Deywege von<br />

Schöningen westwärts gezogen; aber sie haben sich dann teils nordwärts<br />

über Kneitlingen und Ampleben auf <strong>Braunschweig</strong> 5 ) und um Asse und<br />

Oesel 6 ) auf Wolfenbüttel teils südwärts über Ührde 7 ) und Semmenstedt<br />

auf Hornburg gewandt, und keiner ist auf Ohrum gerichtet gewesen ..<br />

Das hat auch seine sehr guten GrUnde. Bei Ohrum erhebt sich nämlich<br />

die linke Talbegleitung der Oker auf der 'I Kilometer langen Strecke<br />

von Burgdorf bis zur weissen Schanze bei Wolfen bUttel schon auf '000 m<br />

Abstand um 20 m über die Talsohle und trägt vielfache erhebliche Erhöhungen,<br />

die bis 125m über dem Flusstale liegen. Zum grössten Teile vom<br />

Oderwalde bedeckt, ist dieses HugeIland so unwegsam 8 ), <strong>das</strong>s sich kaum vorstellen<br />

lässt, wie überhaupt KarI der Grosse 780 dahin gelangt sein mag. Er<br />

kam von den QueIlen der Lippe. Man darf vermuten, <strong>das</strong>s die Reise Ober<br />

Höxter, Holzminden, Bevern, Stadtoldendorf ll ), Gandersheim, Seesen 10),<br />

Goslar nach Schladen gegangen ist oder aber von Seesen in der Richtung<br />

') <strong>Jahrbuch</strong> <strong>des</strong> <strong>Geschichtsvereins</strong> 1902. S.3. Kunstdenkmäler 111. S. X. Br. Mag.<br />

1908. S. q I, 132. ') Mon. Germ. S. S. I. 136, '37. Harzzeitschrift 1873. S. 87 f. f.<br />

Pippin hat die Oker überhaupt nicht berührt, sondern ist durch Thüringen nach Schöningen<br />

gelangt. Auch Griffo hat nicht daran gedacht die Oker zu überschreiten, sondern hat<br />

sich hinter derselben verschanzt. 8) Mon. Germ. S. S. S. 160, 161. ') Sitzung <strong>des</strong> <strong>Geschichtsvereins</strong><br />

vom 13.3. 1911. Die beywege sind übrigens nicht durch P. J. Meier<br />

und Lühmann, sondern durch Andree, Volkskunde S. 91 festgestellt, auch der bei Siersse.<br />

6) P. J. Meier, Kunstdenkmäler IIJ. S. X. Zeile 34-37. 6) P. J. Meier, Kunstdenkmäler<br />

III, S. 20. P. J. Meier lässt ihn über Halberstadt nach Leipzig weiter gehen. 7) P. J.<br />

Meier, Kunstdenkmäler 111, S. X. Zeile 37-39. P. J. Meier spricht aus, er sei auf<br />

Goslar gerichtet gewesen. Demnach müsste er bei Schladen die Oker überschritten haben.<br />

Über die Fortsetzung von Goslar nach Seesen vergI. P. J. Meier, Kunstdenkmäler V.<br />

S. IX. ") P. J. Meier, Kunstdenkmäler III. Seite X bis XII, wo nur ein Fussweg vorkommt.<br />

9) P. J. Meier, Kunstdenkmäler IV. S. X. 10) P. J. Meier, Kunstdenkmäler V, S. IX.<br />

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ANFÄNGE DER STADT BRAUNSCHWEIG '39<br />

der Altstadt können daher sehr wohl von Urzeiten an 9 bis, 2 Edle gesessen<br />

und 9 bis '2 Allodien besessen haben.<br />

Eine eigentümliche Ansicht von P. J. Meier muss hier noch zur Sprache<br />

kommen. Er meint, <strong>das</strong>s ein Allodium dadurch seinen Charakter verlöre, <strong>das</strong>s der<br />

Besitzer es verlehnt. Er sagt: » Diese Vorwerke waren vielleicht sämtlich nur<br />

Lehnbesitz. Jedenfalls wurde <strong>das</strong> AlIod Raff vom Kloster Dorstadt '238 verlehnt«.<br />

Für den, der <strong>das</strong> Allodium zu Lehn erhielt, in diesem Falle die v.<br />

Lucklum, wurde es dadurch nicht Ailodium, <strong>für</strong> den, der es zu Lehn ausgab,<br />

in diesem Falle <strong>das</strong> Kloster, blieb es doch Allodium, bis es etwa verkauft wurde.<br />

Eine Verschiebung dieser Grundbegriffe kann niemals vorgekommen sein,<br />

auch nicht in Folge der Villikationsverfassung.<br />

Was ich im Br. Mag. '9" über die älteste Stadtmauer der Altstadt gesagt<br />

habe, hat P. J. Meier missverstanden. Ich behandelte dort hypothetische Zustände<br />

<strong>des</strong> '2. Jahrhunders. Diese kann man nicht durch Beispiele aus dem<br />

'3-. '4· und, 5· Jahrhundert beleuchten. Der freie Raum hinter der Stadtmauer,<br />

<strong>des</strong>sen Bebauung ich vor dem Jahre, 300 <strong>für</strong> unwahrscheinlich halte,<br />

kann natürlich, da er eben im '4. oder '5. Jahrhundert nicht mehr frei war,<br />

aus Stadtplänen <strong>des</strong> '4. oder '5. Jahrhunderts nicht mehr ersehen werden.<br />

P. J. Meier hat noch nie einen Stadtgrundriss <strong>des</strong> Mittelalters gesehen, der an<br />

der äusseren Peripherie einen so breiten freien Raum liess. Gibt es denn aber<br />

überhaupt Stadtpläne aus dem Mittelalter? Ich habe noch keinen aus dem<br />

,6. Jahrhundert gesehen. Unser ältester in <strong>Braunschweig</strong> ist von, 606. Im<br />

übrigen möchte ich auf die Befestigungsfrage hier nicht eingehen, weil ich<br />

hoffe, in den deutschen Geschichtsblättern noch im Laufe dieses Jahres dieses<br />

Thema im Zusammenhange behandeln zu können.<br />

Nur auf den Schlusssatz zu VIII, wo ich belehrt werde, <strong>das</strong>s eine mittelalterliche<br />

Stadtmauer mit Wehrgang die Anwendung von Artillerie von ihr aus<br />

unmöglich machte und auf die Türme beschränkte, muss ich erwidern, <strong>das</strong>s<br />

dieser Satz auf die Artillerie <strong>des</strong> 12. Jahrhunderts nicht passt. Die Blide<br />

musste, wenn sie ihre Steine zur Erreichung der grössten Wurfweite in einem<br />

Winkel von 45 Graden fortschleudern wollte, eben jenen von mir beanspruchten<br />

freien Raum hinter der Mauer haben. Die Schleuder der Blide<br />

musste min<strong>des</strong>tens soweit von der Mauer entfernt sein, wie die Mauer hoch<br />

war. Dass man dem wirklich Rechnung trug, ergibt sich auch urkundlich l ).<br />

Auf <strong>das</strong>, was unter III über die Hil<strong>des</strong>heimerstrasse gesagt ist, brauchte ich<br />

eigentlich nicht einzugehen, weil es nach den über Ohrum gemachten Angaben<br />

.hinfällig ist. P. J. Meier überrascht uns hier durch folgenden Satz:<br />

I) <strong>Jahrbuch</strong> fiir Münchener Geschichte. 1890. S. 220, wonach 131 S <strong>für</strong> Anbauten<br />

an die Mauer ein Abstand von 24 Fuss vorgeschrieben war.<br />

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H. ME I E R<br />

» Man erinnere sich aber an die ursprüngliche westöstliche Heerstrasse, die<br />

von Hil<strong>des</strong>heim über Ohrum und Schöningen nach Magdeburg fohrte.« Dies<br />

bringt mich in Verlegenheit. Denn ich vermag mich nicht einer Sache zu er·<br />

innern, von der ich noch nie etwas gesehen, gehört oder gelesen habe. Sogar<br />

in den Kunstdenkmälern <strong>des</strong> Kreises Wolfenbüttel fehlt jeder Hinweis auf<br />

eine solche Heerstrasse. Es ist <strong>das</strong>elbst Seite X bis XII in ausführlicher Weise<br />

über alte und neue Wegeverbindungen Auskunft gegeben. Eine Heerstrasse<br />

von Wolfenbüttel ober Adersheim, Lobmachtersen, Lichtenberg kommt vor,<br />

aber irgend eine Verbindung von Ohrum mit Cramme, Adersheim oder Lobmachtersen<br />

ist nicht erwähnt oder vermutet. Jetzt erfahren wir, <strong>das</strong>s P. J.<br />

Meier eine FOhrung solcher Heerstrasse über Lichtenberg sich vorstellt.<br />

Und in diese Strasse bei Lichtenberg einzubiegen sollen die Sraunschweiger<br />

noch um 1030 gezwungen gewesen sein, weil ein anderer Weg zwischen Oker<br />

und Weser damals noch nicht gangbar gewesen sein soll, weder der Deyweg<br />

<strong>Braunschweig</strong>, Vechelde, Siersse, Peine, Minden, noch die Strasse <strong>Braunschweig</strong>,<br />

Vechelde, Steinbrück, Hil<strong>des</strong>heim. Über die Sonnenstrasse nämlich<br />

führt aus dem hohen Tore eine gleich in einem halben rechten Winkel nach<br />

Süden umbiegende und dann ganz sOdlich gehende Strasse auf Umwegen<br />

ober Blekenstedt nach Lichtenberg. Solche unzweckmässige Wanderung wird<br />

den <strong>Braunschweig</strong>ern <strong>des</strong> 1 I. Jahrhunderts zugetraut, weil <strong>für</strong> einen »geschulten<br />

Blick« die Strasse über <strong>das</strong> weisse Ross und Lehndorf erst nach Anlage<br />

<strong>des</strong> Petritors entstanden sein kann. Auch mir ist es nicht entgangen,<br />

<strong>das</strong>s der Madamenweg kOrzer ist, als die Strecke ober Lehndorf. Ich erkläre<br />

mir diesen Umweg aber auf zweierlei Art. Erstens ist Lehndorf möglicher<br />

Weise älter 1 ) als <strong>Braunschweig</strong>. Zweitens bevorzugten die alten Wege den<br />

Höhenrocken und mieden die Niederung. Ausserdem meine ich, <strong>das</strong>s, solange<br />

die festen BrOcken nicht bestanden, die Frankfurter Strasse nach Celle gewissermassen<br />

<strong>das</strong> ein und alles war. Von ihr ist auch der Verkehr nach Südwesten,<br />

Westen und Nordwesten ausgegangen und zwar von Punkten, die<br />

ausserhalb der Stadt lag!:'n. FOr die Richtung nach SOdwesten hat dieser Punkt<br />

in Seesen, fOr alle obrigen Richtungen beim weissen Rosse gelegen, so <strong>das</strong>s<br />

ein Strassenkreuz in <strong>Braunschweig</strong> nicht bestand. Dies passt aber nicht zu<br />

P. J. Meiers Hypothese. Desha Ib hält er an seinem Strassenkreuze auf dem<br />

Kohlmarkte fest, trotz meinen im Sr. Mag. 1908, Seite 166 dagegen ausgesprochenen<br />

Bedenken.<br />

Schliesslich noch einige Bemerkungen zu X. Der auf dem rechten Okerufer,<br />

der Burg gegenüber, im Überschwemmungsgebiete liegende Hagen ist<br />

1) Voges, Vorgeschichte <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> <strong>Braunschweig</strong>. Wolfenbiittel '906, wonach auf<br />

der Flur von Lehndorf steinzeitIiche Funde gemacht worden sind.<br />

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NACHTRAG ZU SEITE 24 UND 38ff.<br />

Von P. J. Meier.<br />

Die Erklärung <strong>des</strong> Begriffs der mittelalterlichen deutschen Stadt, die ich an<br />

den angeführten Stellen gegeben habe, besteht nach wie vor zu recht, sie muss<br />

aber, wie ich jetzt sehe, zeitlich und örtlich eingeschränkt werden. Sie bleibt<br />

bestehen <strong>für</strong> die rheinischen Bischofsstädte, die im Anfang <strong>des</strong> XII. Jahrhun·<br />

derts durch Zusammenschweissung der bis dahin getrennten Einzelgemeinden<br />

und durch Übertragung <strong>des</strong> Satzes «Luft macht frei» von den Marktansiedlungen<br />

auf die neue Gesamtgemeinde entstanden, sie bleibt auch <strong>für</strong> die Stadtgründungen<br />

Heinrichs d. L. bestehen, und sie drückt vor allem den Gegensatz<br />

zwischen Marktansiedlung und Stadt aus. Aber es sind namentlich die sächsischen<br />

Städte geistlichen Besitzes gewesen, die sich nicht zu dieser massenhaften<br />

Erhebung der Hörigen zu freien Bürgern bekannten; ich nenne als<br />

Beispiele nur Hameln und Halberstadt. In Hameln sind, wie ich in der Zeitschrift<br />

<strong>des</strong> Histor. Vereins <strong>für</strong> Niedersachsen [909, [05ff. gezeigt habe, <strong>das</strong><br />

Frohndorf und der Zehnthof gegen [200 mit in die Stadtmauer aufgenommen<br />

worden, und es hat erst einer langen Entwicklung bedurft, bis auch dieser<br />

Bestandteil der Stadt ([ 3 [4) die Freiheit erlangte. Vor allem aber sind die<br />

beiden bischöflichen Frohndörfer Vogtei und Westendorf in Halberstadt, die<br />

gleichfalls mit in die Stadtmauer aus dem Ende <strong>des</strong> XII. Jahrhunderts aufgenommmen<br />

wurden, wenigstens noch im [5. Jahrhundert in rechtlicher Beziehung<br />

scharf von der Stadt getrennt gewesen. Vgl. Urk.-B. der Stadt Halberstadt<br />

559ff. ([ 371) und 1144 (1486), RietscheI, Markt und Stadt 66ff.<br />

Wir können ferner wiederholt beobachten, <strong>das</strong>s die geistlichen Herrn zwar<br />

im allgemeinen den Satz «Stadtluft macht frei» <strong>für</strong> ihre Städte anerkannten,<br />

<strong>das</strong>s sie aber, wie der Erzbischof von Bremen (s. Urk.-B. I Nr. 65 = Keutgen,<br />

Urk.-B. z. Städt. Verfassungsgesch. Nr. 25) I [86, diese Vergünstigung nur<br />

<strong>für</strong> die Hörigen anderer Herren, nicht <strong>für</strong> die eigenen geIten liessen. Vgl.<br />

auch über Hameln in meinem angeführten Aufsatz S. 107. In der Tat konnte<br />

die allgemeine Freimachung der Hörigen, die zuerst 1106 in Köln durch den<br />

Kaiser im Gegensatz zu dem Stadtherrn, dem Erzbischof, erfolgte, in wirtschaftlicher<br />

Beziehung <strong>für</strong> diesen ein sehr zweischneidiges Schwert sein. -<br />

Und wenn ich die Ansicht widerlegt habe, <strong>das</strong>s in der Befestigung, gleichviel,<br />

ob es sich um die Steinmauer, oder um den Hagen mit Wall und Graben<br />

handelt, <strong>das</strong> hauptsächlichste Unterscheidungsmerkmal der Stadt gegenüber<br />

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NACHTRAG<br />

der Marktansiedlung zu sehen sei, so steht und fällt doch später der Begriff<br />

. «Stadt« mit der Mauer; Deutz z. B. hat im XIII. und XIV. Jahrhundert, wie<br />

Erich Schrader a. a. O. 1°7, Anm. 9, nach ligen ausfUhrt, durch Niederlegen<br />

der Mauer den Charakter als Stadt wiederholt eingebüsst. Aber auch die<br />

AckerbUrgerstädte bilden, wie längst erkannt ist, eine besondere Art von Städten,<br />

und dies ist schliesslich auch bei solchen Städten der Fall, die im Laufe<br />

<strong>des</strong> XIV. und XV. Jahrhunderts ganz allmählich so weit erstarkten, <strong>das</strong>s ihnen<br />

gewisse städtische Vorrechte zu teil wurden. Hier ist aber überall noch eine<br />

eingehende Untersuchung von nöten.<br />

Im übrigen bemerke ich, <strong>das</strong>s ich mich nicht veranlasst sehe, meine Ausführungen<br />

über die Anfänge der Stadt <strong>Braunschweig</strong> und der deutschen Stadt<br />

im Mittelalter auf Grund der Entgegnungen von H. Mack und H. Meier S.<br />

1 16-1 4 1 dieses <strong>Jahrbuch</strong>es in irgend einem Punkte zu ändern. Gleichwohl<br />

werde ich an einer anderen Stelle mich eingehend mit meinen Gegnern<br />

auseinandersetzen.<br />

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Inhalt.<br />

I. Untersuchungen über die Anfänge der Stadt <strong>Braunschweig</strong>. Vom Geh.<br />

Hofrat Prof. Dr P. J. Meier, Museumsdirektor in <strong>Braunschweig</strong>.<br />

I. Hänselmanns Theorie von der Entstehung <strong>Braunschweig</strong>s. - Die<br />

Okerübergänge • • • • • • • • . • • • • •<br />

2. Allodien und Vorwerke • • • . • . • • . • •<br />

3. Die neue Theorie von der Entstehung <strong>Braunschweig</strong>s. Die<br />

Hil<strong>des</strong>heirner Heerstrasse .•...•..••<br />

4. Der alte Markt bei ber Ulrichskirche ..•..<br />

;. Der Stadtplan von <strong>Braunschweig</strong> und verwandte Stadtpläne<br />

6. Die Ulrichskirche . • . . . • . • . . . • •<br />

7. <strong>Braunschweig</strong> als Stadt nicht vor dem XII. Jahrhundert<br />

8. Die Stadtmauer von <strong>Braunschweig</strong><br />

9. Ohlendorfs Ansicht über die Anfänge <strong>Braunschweig</strong>s<br />

10. Der <strong>Braunschweig</strong>er Hagen<br />

1 I. Stadt, Mauer und Plankenwerk<br />

12. Ausblicke und Andeutungen<br />

1 3. Zusammenfassung<br />

11. Aus den Briefschaften Gottlob Wiedebeins. Ein Beitrag zur <strong>Braunschweig</strong>ischen<br />

Theatergeschichte im 19. Jahrhundert. Von Dr<br />

Paul Alfred Merbach in Berlin .•••<br />

III. Der <strong>Braunschweig</strong>ische Landtag von 1768-177°. Von Dr Wilhelm<br />

Schmidt in Wolfenbüttel.<br />

Besprechung der benutzten Archivalien und Literatur<br />

Einleitung. . . .<br />

I. Die Eröffnung <strong>des</strong> Landtages<br />

a. Eröffnungsfeierlic': keiten und Verlesung der <strong>für</strong>st\. Proposition<br />

b. Die Erklärung der Stände, ihre Beantwortung durch Schliestedt<br />

c. Die Instruktion und Wahl der Deputierten . • • • • •<br />

2. Die Verhandlungen der Deputierten . . • • • • . . • •<br />

a. Das Programm der Regierung, die Aufnahme <strong>des</strong> holländischen<br />

Kapitals . . • . • . . • • • . • • • • • • .<br />

b. Der Entwurf der Deputierten, die Ueberreichung der Desiderien<br />

und die interimistische Zahlung • • • • . • . • •<br />

c. Verzögerung <strong>des</strong> Landtages. Der Entwurf der Regierung<br />

d. Die Generalkassenangelegenheit und die Kopfsteuer •<br />

e. Die Erledigung der Desiderien. Die Privilegien •<br />

f. Der Rettungsplan . . . • . • . • •<br />

3. Der Schluss <strong>des</strong> Landtages • . . .<br />

IV. Immer wieder die Anfänge der Stadt <strong>Braunschweig</strong>. Eine Entgegnung<br />

vom Stadtarchivar Prof. Dr Heinrich Mack in <strong>Braunschweig</strong><br />

V. Zu den Untersuchungen P. J. Meiers über die Anfänge der Stadt<br />

<strong>Braunschweig</strong>. Vom Oberst a. D. Heinrich Meier in <strong>Braunschweig</strong><br />

VI. Nachtrag zu Seite 24 und 38 ff. Von Dr P. J. Meier in <strong>Braunschweig</strong><br />

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Seite<br />

i3-16<br />

16- 17<br />

17-21<br />

22<br />

22-2;<br />

2;-27<br />

27-3°<br />

3°-3 8<br />

38-39<br />

4°-46<br />

46-47<br />

78- 80<br />

80-81<br />

81--93<br />

81-84<br />

84-88<br />

88-93<br />

93-1 13<br />

9;-99<br />

99- 1°3<br />

1°3-1°7<br />

1°7-111<br />

111-113<br />

113-11 ;<br />

116-129


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· I<br />

I


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