„O wer einmal jemand Anders sein könnte!“ Das ... - Burgtheater
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vortintoretto<br />
Alte Meister - ein Stück Komödie<br />
DDer Privatgelehrte Atzbacher, der seit vielen Jahren<br />
im Verhältnis zu den Gedanken des Musikkritikers<br />
Reger, <strong>sein</strong>er Souveränität, <strong>sein</strong>er Potenz<br />
lebt, hat <strong>sein</strong>en „Geistesvater<strong>“</strong> verloren. Reger ist<br />
tot.Von jeher hat Atzbacher ein Kommunikationsproblem.<br />
Er schreibt, aber veröffentlicht nicht.<br />
Er lebt vom Geld <strong>sein</strong>er Familie und hat <strong>sein</strong><br />
gesellschaftliches Leben auf ein Minimum,<br />
vielleicht einzig auf den Kontakt mit Reger, reduziert<br />
- „der Inbegriff eines Privatmenschen<strong>“</strong>.<br />
Reger repräsentiert für ihn alles, was einen Vater<br />
ausmacht: die gesellschaftliche Erwartung (dazu<br />
zählt, daß ein Schreibender auch publiziert), die<br />
Behauptung von Geistesgröße, ja Genialität, und<br />
von Überblick.<br />
Mit Regers Tod droht Atzbacher die Auslöschung<br />
<strong>sein</strong>er eigenen Geistigkeit. Nur in der Erinnerung<br />
an Regers Worte findet er Koordinaten für <strong>sein</strong><br />
eigenes Weiterdenken und Weiterleben. Der Versuch,<br />
den unerklärlichen Verlust dieses Über-Ichs<br />
zu bewältigen, drängt ihn zum Protokoll. Nur die<br />
minutiöse Aufzeichnung aller Facetten dieses<br />
Reger, nur die detailgenaue Biographie <strong>könnte</strong><br />
ein Mittel <strong>sein</strong> zur eigenen Befreiung: von <strong>sein</strong>er<br />
Trauer sowie von Regers übermacht. Ein Schmerzensgang<br />
zum Zweck der Läuterung läßt den<br />
notorischen Nichtveröffentlicher <strong>sein</strong>e Erinnerung<br />
formulieren, die ihren Beginn mit einer Episode im<br />
Kunsthistorischen Museum nimmt.<br />
An einem Samstagvormittag - eine Stunde vor<br />
einer Verabredung mit Reger - beobachtet<br />
Atzbacher aus dem Sebastiano-Saal heimlich den<br />
allein dasitzenden Reger. In diesem Versteck erinnert<br />
sich Atzbacher an gemeinsame Gespräche<br />
mit und einsame Gedankengänge von Reger, an<br />
den Burgenländer Irrsigler, der als Saaldiener des<br />
Kunsthistorischen Museums eine jahrzehntelange<br />
Bekanntschaft mit Reger pflegt und Regers<br />
eigenartige Gewohnheit unterstützt: Denn Reger<br />
besucht seit dreißig Jahren jeden zweiten Tag die<br />
von Irrsigler freigehaltene Sitzbank des Bordone-<br />
Saals im Kunsthistorischen Museum. Hier sitzt er<br />
für jeweils mehrere Stunden vor dem einen<br />
Gemälde Tintorettos: dem Weißbärtigen Mann.<br />
Hier in diesem Saal, vor diesem Gemälde, auf<br />
dieser Sitzbank hat er <strong>sein</strong>e spätere Retterin, <strong>sein</strong>e<br />
Frau getroffen, <strong>sein</strong>en Geistes-Sohn Atzbacher<br />
und den Saaldiener Irrsigler. Sie haben Reger<br />
Edmund Telgenkämper, Hanspeter Müller, Urs Hefti, Adrian Furrer<br />
zugehört, zugedient, zugesprochen. Dank dieser<br />
Gewohnheit konnte Reger <strong>sein</strong>e Verzweiflung<br />
aushalten und aufheben in den grandiosen Reden<br />
über Kunst, Natur, Österreich, Wien und die Frau,<br />
die ihm verstorben ist. Der gedankliche Nachvollzug<br />
des geistigen überlebensprogramms, das<br />
Reger nach dem Tod <strong>sein</strong>er Frau entwickelt, ist<br />
es, mit dem Atzbacher <strong>sein</strong>erseits den Verlust<br />
Regers zu bestehen hofft.<br />
Zwei Erinnerungssituationen - die des beobachtenden<br />
Atzbacher im Kunsthistorischen Museum<br />
und die des schreibenden Atzbacher, der sich an<br />
diese Begebenheit erinnert - sind also die<br />
Sprungbretter für <strong>sein</strong>e Vergegenwärtigung der<br />
Beobachtungen, Polemiken, Scherze und übertreibungsreden<br />
Regers. Die Rahmenhandlung<br />
etabliert die Eingangssituation von Atzbacher mit<br />
nicht mehr als zwei Worten: „schreibt Atzbacher<strong>“</strong>.<br />
Und doch ist es diese Ebene, die begründet,<br />
warum diese Geschichte überhaupt erzählt wird,<br />
daß nämlich der ganze Roman Alte Meister ein<br />
Gedächtnistext ist, den ein Schreibender aus der<br />
Not des Verlustes, im Gedenken an den Verlorenen<br />
heraus verfaßt. Genau in dieser Not aber ist<br />
der Roman (und ist Thomas Bernhard, der kurz<br />
vor der Niederschrift <strong>sein</strong>en „Lebensmenschen<strong>“</strong><br />
Hedwig Stavianicek zu Grabe getragen hatte)<br />
selbstreflexiv: er beschreibt <strong>sein</strong>e eigene<br />
Notwendigkeit.<br />
Die Stimmen im Kopf eines Erinnernden sind<br />
viele. Während der trauernde Atzbacher im<br />
Schreiben Trost, Halt und Rettung sucht, lebt er<br />
vergangene Situationen nach, lebt er sich in<br />
Reger, in Irrsigler, in Regers Frau hinein - in ihrer<br />
ganzen Komik. Ein weiträumiges psychisches<br />
Spektrum kennzeichnet Regers Geistesreisen,<br />
und so schwankt dieser Text beständig zwischen<br />
Tragödie und Komödie. Als „philosophisches<br />
Lachprogramm<strong>“</strong> wollte Bernhard <strong>sein</strong>e Texte<br />
gelesen wissen, sich selbst als „Altersnarren<strong>“</strong><br />
verstehend. <strong>Das</strong> Clowneske reizte ihn: „<strong>Das</strong><br />
Scherzmaterial ist ja immer da, woís nötig ist,<br />
wo ein Mangel ist, irgendeine geistige oder körperliche<br />
Verkrüppelung. über einen Spaßmacher,<br />
der völlig normal ist, lacht ja kein Mensch, nicht,<br />
sondern der muß hinken, oder einäugig <strong>sein</strong> oder<br />
jeden dritten Schritt hinfallen oder (lacht) <strong>sein</strong><br />
07<br />
Arsch explodiert und schiaßt a Kerz’n heraus<br />
oder was. Darüber lachen die Leut’, immer über<br />
Mängel und über fürchterliche Gebrechen.<strong>“</strong><br />
Ein solches Mangelwesen wird in vierfacher<br />
Ausfertigung Regers Geschichte auf der Bühne<br />
des Kasinos am Schwarzenbergplatz erzählen.<br />
„Es ist ja auch eine Methode, sagte er gestern,<br />
während ich ihn jetzt, einen Tag später also, von<br />
der Seite betrachtete und dahinter den Irrsigler,<br />
der einen Augenblick in den Sebastiano-Saal<br />
hereingeschaut hatte, ohne von mir Notiz zu<br />
nehmen, während ich also noch immer Reger<br />
beobachtete, der noch immer den Weißbärtigen<br />
Mann von Tintoretto betrachtete, es ist ja auch<br />
eine Methode, sagte er, alles zur Karikatur zu<br />
machen. Ein großes bedeutendes Bild, sagte er,<br />
halten wir nur dann aus, wenn wir es zur Karikatur<br />
gemacht haben, einen großen Menschen, eine<br />
sogenannte bedeutende Persönlichkeit, wir ertragen<br />
den einen nicht als großen Menschen, die<br />
andere nicht als bedeutende Persönlichkeit, sagte<br />
er, wir müssen sie karikieren. Wenn wir längere<br />
Zeit ein Bild betrachten und ist es das ernsthafteste,<br />
wir müssen es zur Karikatur gemacht haben,<br />
sagte er, um es auszuhalten, also auch die Eltern<br />
zur Karikatur, die Vorgesetzten, so wir welche<br />
haben, zur Karikatur, die ganze Welt zur Karikatur,<br />
sagte er. (...) Schauen Sie längere Zeit in das<br />
Gesicht Ihres Vaters, er wird Ihnen zur Karikatur<br />
und Sie wenden sich ab von ihm. Lesen Sie Kant<br />
eindringlich und immer noch eindringlicher und<br />
Sie <strong>wer</strong>den plötzlich einen Lachkrampf bekommen,<br />
sagte er. Jedes Original ist ja eigentlich an<br />
sich schon eine Fälschung, sagte er, Sie verstehen<br />
doch, was ich meine.<strong>“</strong> (Thomas Bernhard,<br />
Alte Meister)<br />
ALTE MEISTER von Thomas Bernhard<br />
Österreichische Erstaufführung<br />
REGIE/DRAMATURGIE: Stephan Müller/Claudia<br />
Hamm BÜHNE: Siegfried E. Mayer KOSTÜME: Miro<br />
Paternostro<br />
MIT: Adrian Furrer, Urs Hefti, Hanspeter Müller,<br />
Edmund Telgenkämper.<br />
Premiere am 30. März<br />
im Kasino am Schwarzenbergplatz