die vermeidbare katastrophe die ersten warnzeichen ... - Die Gazette
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D, AU: 8 Euro, CH: 14 Fr<br />
<strong>die</strong> <strong>Gazette</strong><br />
DAS POLITISCHE KULTURMAGAZIN NUMMER 16 / WINTER 2007/2008<br />
Thema Klimawandel<br />
Es wird wärmer<br />
DIE VERMEIDBARE KATASTROPHE<br />
Michael Müller<br />
Alexander von Humboldt als Klimaforscher<br />
DIE ERSTEN WARNZEICHEN<br />
Frank Holl<br />
Nicht bloß technische Lösungen<br />
DEM WANDEL EIN SCHNIPPCHEN SCHLAGEN<br />
Nico Stehr, Hans von Storch<br />
Wo steht Deutschland?<br />
OFF-ROAD-WAGEN UND CO2 Interview mit Wendelin Wiedeking
D, AU: 8 Euro, CH: 14 Fr<br />
<strong>die</strong> <strong>Gazette</strong><br />
DAS POLITISCHE KULTURMAGAZIN NUMMER 16 / WINTER 2007/2008<br />
Thema Klimawandel<br />
Es wird wärmer<br />
DIE VERMEIDBARE KATASTROPHE<br />
Michael Müller<br />
Alexander von Humboldt als Klimaforscher<br />
DIE ERSTEN WARNZEICHEN<br />
Frank Holl<br />
Nicht bloß technische Lösungen<br />
DEM WANDEL EIN SCHNIPPCHEN SCHLAGEN<br />
Nico Stehr, Hans von Storch<br />
Wo steht Deutschland?<br />
OFF-ROAD-WAGEN UND CO2 Interview mit Wendelin Wiedeking
Editorial<br />
Es wird schöngeredet. Selbst „Katastrophe“ ist ei ne<br />
Beschönigung. Der Klimawandel ist kei ne Katastrophe.<br />
Ein<br />
Tsunami ist eine Katastrophe: Man geht (wenn man<br />
noch kann) in <strong>die</strong> Berge, da nach kehrt man zurück,<br />
<strong>die</strong> Überlebenden begraben <strong>die</strong> Toten, bauen <strong>die</strong><br />
Häuser wieder auf, und das Leben geht weiter wie<br />
zuvor. <strong>Die</strong> Erderwärmung je doch bleibt, unumkehrbar.<br />
Sie wird ein anderes Leben erzwingen.<br />
Aber <strong>die</strong>se Wahrheit wagt kaum jemand auszusprechen.<br />
Im April des Jahres, im publizistischen Lärm<br />
um das Klima, forderte zwar eine große Boulevard-<br />
Zeitung <strong>die</strong> Re duktion des CO 2 -Ausstoßes um 80<br />
Prozent (bis 2050, so Andreas Troge vom Bundes-<br />
Umweltamt), und andere Blätter schlugen Alarm,<br />
wir hätten „nur noch 12 Jah re Zeit“. Kon kreter wurden<br />
<strong>die</strong>se Forderungen nicht und <strong>die</strong> prak tischen<br />
Folgen für unsern Alltag erst recht nicht.<br />
Nur verschämt, nur leise, und nur ein einziges Mal<br />
redete Angela Merkel davon, dass auch „ein Weniger“<br />
denkbar sei; im UN-Weltklimareport (siehe Re -<br />
zension Seite 95 in <strong>die</strong>ser Ausgabe) lesen wir wenigstens<br />
metaphorisch vom „Virus der Maßlosigkeit“,<br />
der „zum Tode führen kann“; Der 4. Sachstandsbericht<br />
des IPCC, dessen Ergebnisse gerade in Valencia<br />
zusammengefasst wurden, spricht schon mal von<br />
(nicht näher ausgeführten) „Verbraucher vor lieben“,<br />
<strong>die</strong> „den Möglichkeiten zur Emis si ons min derung<br />
entgegenstehen“; und an an derer Stelle kaum deutlicher<br />
von „Änderungen im Le bens stil“, <strong>die</strong> „zur Minderung<br />
des Klimawandels bei tra gen können“.<br />
Wer da genau hinhört, spürt, um welche unangenehme<br />
Wahrheit hier herumgeredet wird: um <strong>die</strong><br />
Erkenntnis nämlich, dass unser Le bens stan dard<br />
nicht zu halten sein wird, auf den ganzen Planeten<br />
hin gesehen schon aus Gerechtigkeitsgründen nicht.<br />
<strong>Die</strong>s aber ohne falsche Rücksicht aus zu sprechen<br />
bleibt derzeit denen vorbehalten, <strong>die</strong> im mer schon<br />
als notorische Nörgler denunziert werden konnten,<br />
Klaus Michael Meyer-Abich zum Beispiel, der sich<br />
wünscht, wir sollten uns „in einer politischen<br />
Öffentlichkeit da rüber klarwerden, dass es unanständig<br />
ist, durch un sere Autofahrerei, unsere<br />
Urlaubsfliegerei, unsern viel zu hohen Wärmebedarf<br />
<strong>die</strong> Lebensgrundlagen der ärmeren Länder zu zerstören“.<br />
Dr. Bjørn Lomborg, der Kopenhagener<br />
Klimawandel-Skeptiker, würde ihm widersprechen.<br />
Er näm lich hält es für richtig, <strong>die</strong> ganze Welt ebenso<br />
reich zu ma chen wie New York, „damit <strong>die</strong> Menschen<br />
überall sich so etwas leisten können wie hö here<br />
Deiche und Air con ditio n“. Lomborg ist gerngesehener<br />
Gastredner auf hohen Symposien (so beim 6.<br />
Europe an Business Summit in Brüs sel im Februar<br />
2008 zum Thema „Greening The Econo my - New<br />
Energy for Business“), Meyer-Abich nicht.<br />
Zweifellos hat inzwischen ein weltweiter Bewusstseinswandel<br />
eingesetzt. Ihn zu befördern hat sich<br />
<strong>die</strong>se Ausgabe der GAZETTE vorgenommen, <strong>die</strong><br />
deshalb erstmals einen entsprechenden Themen-<br />
schwerpunkt enthält.<br />
Den potenziell wichtigsten Beitrag dazu hat Mi -<br />
cha el Müller geschrieben, Parlamentarischer Staatssekretär<br />
im Berliner Umweltministerium. Er nennt<br />
klar <strong>die</strong> beunruhigende Ausgangslage und <strong>die</strong> notwendigen<br />
Maßnahmen. Man kann sich nur wünschen,<br />
dass der Autor und sein Minister <strong>die</strong>se Sicht<br />
der Dinge ohne Zeitverlust (und ohne dass <strong>die</strong> In -<br />
dustrie ihnen Knüppel zwischen <strong>die</strong> Beine wirft)<br />
auch in tatsächliche Politik umsetzen.<br />
Frank Holl belegt in seinem Text, dass wir schon<br />
lange den Menschen als Verursacher des Klimawandel<br />
hätten erkennen können: spätestens seit Alexander<br />
von Humboldt den Anrainern des Valencia-Sees<br />
in Venezuela erklärte, sie seien selbst schuld am Ab -<br />
sinken des Seewasserspiegels, weil sie <strong>die</strong> umliegenden<br />
Wälder abgeholzt hätten.<br />
<strong>Die</strong>trich Krusche betrachtet <strong>die</strong> sogenannte internationale<br />
Gemeinschaft, <strong>die</strong> als Gemenge souveräner,<br />
egoistischer, ja imperialer Staaten unfähig ist,<br />
im vorliegenden Fall wirklich ge mein same Be -<br />
schlüsse zu fassen, wenn damit Ver pflichtungen drohen.<br />
Ändern wird sich darin wenig, solange Su per -<br />
mächte es aktiv darauf anlegen, <strong>die</strong> Organisation der<br />
Vereinten Nationen zu entmachten.<br />
<strong>Die</strong> drei darauffolgenden Expertenbeiträge befassen<br />
sich mit der falschen Annahme, es gäbe für jedes Problem<br />
eine einfache technische Lösung (Nico Stehr,<br />
Hans von Storch), mit den übertriebenden Hoffnungen,<br />
<strong>die</strong> sich auf das Allheilmittel Biokraftstoffe<br />
richten (Thorsten Mertz) sowie mit der Aufstellung<br />
von Modellen und Szenarien (geschrieben für all<br />
<strong>die</strong>, <strong>die</strong> gern handkehrum das Eintreten von Klima-<br />
Prognosen bezweifeln). Nur scheinbar im Widerspruch<br />
dazu steht der letzte Beitrag in <strong>die</strong>ser Reihe:<br />
eine Analyse typischer Fehler, <strong>die</strong> auch (und gerade)<br />
Wissenschaftlern in ihrer Ar beit unterlaufen.<br />
Zum Thema gehört auch <strong>die</strong> Bildstrecke über <strong>die</strong><br />
Zerstörung ganzer Landschaften auf der Su che nach<br />
billigerer Energie und eine Sammel re zen sion einiger<br />
neuerer Publikationen zum Klimawandel.<br />
Es fällt nach alldem nicht leicht, sich noch eine<br />
begründete Hoff nung auf eine menschenwürdige<br />
Zu kunft für alle Bewohner <strong>die</strong>ses Planeten zu be -<br />
wahren. Sogar <strong>die</strong> in Bali vereinbarte Fortsetzung des<br />
Kyoto-Protokolls ist für manchen kein Anlass zur<br />
Freude: Es sei „zu wenig zu spät“, schrieb <strong>die</strong> Zeitschrift<br />
Foreign Po licy (im September 2007). Und in<br />
Nature (Oktober 2007) erklärte Steve Rayner von<br />
der Universität Oxford: „Es gibt keine Anzeichen,<br />
dass irgendjemand bis 2012 seine Verpflichtung er -<br />
füllen wird“; er sehe daher nicht ein, warum man ein<br />
neues Ab kommen verabreden wolle, dessen noch<br />
ehrgeizigere Ziele ab sehbar wieder niemand erreichen<br />
wird. Hans Joachim Schellnhuber, Berater der<br />
deutschen Bundeskanzlerin, erkennt im Kyoto-Protokoll<br />
im merhin den Einstieg in völkerrechtlich verbindliche<br />
Klima-Abkommen.<br />
<strong>Die</strong> chinesische Verwünschung „Mögest du in in -<br />
teressanten Zeiten leben!“ hat uns offenbar erreicht.<br />
Fritz Glunk
Szenen vom Ende des Jahrtausends<br />
Exterritorium<br />
»Der Krieg nimmt all jenen <strong>die</strong> Heimat,<br />
<strong>die</strong> nicht in <strong>die</strong>se oder jene Nationalgeschichte,<br />
in <strong>die</strong>se oder jene Gemeinschaft<br />
hineingeboren wurden. Wer aus der<br />
großen kollektiven Erzählung ausgestoßen,<br />
wer in Acht und Bann getan wurde,<br />
sich also seinen Verstand und seine<br />
Unabhängigkeit bewahrt hat, allein der<br />
besitzt noch Individualität. Doch dafür<br />
bezahlt er einen hohen Preis: Er verliert<br />
<strong>die</strong> Heimat.« László Végel<br />
László Végel<br />
Exterritorium<br />
Szenen vom<br />
Ende des Jahrtausends<br />
László Végel<br />
Exterritorium<br />
Aus dem Ungarischen von Akos Doma<br />
192 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag<br />
Euro 18,80 / sFr 41,60<br />
DAAD Spurensicherung 20, hg. vom Berliner Künstlerprogramm des DAAD<br />
ISBN 978-3-88221-111-5<br />
Göhrener Straße 7 – 10437 Berlin – www.matthes-seitz-berlin.de
THEMA<br />
KLIMAWANDEL<br />
THEMEN<br />
INTERVIEW<br />
DOKUMENTATIONEN<br />
REPORTAGE<br />
SKIZZEN<br />
STORY<br />
LYRIK<br />
GALERIE<br />
REZENSIONEN<br />
MARGINALIEN<br />
HEFTKRITIK<br />
7 - 14<br />
15<br />
20<br />
26<br />
31<br />
34<br />
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106<br />
106<br />
Editorial<br />
Fundsachen<br />
<strong>Die</strong> aufhaltsame Katastrophe Michael Müller<br />
Wie der Klimawandel entdeckt wurde Frank Holl<br />
Internationale Unordnung <strong>Die</strong>trich Krusche<br />
<strong>Die</strong> alltägliche Hybris Nico Stehr, Hans von Storch<br />
Bio-Energie: <strong>Die</strong> Hoffnung ist grün Torsten Mertz<br />
Modelle, Szenarien und Prognosen Karl-Friedrich Wetzel<br />
Ich vereinfache jetzt mal Ulrich Frey<br />
Der italienische Filz Leoluca Orlando<br />
EU: Wertegemeinschaft oder Rechtsordnung Yvanca B. Raynova<br />
mit Dr. Wendelin Wiedeking<br />
Wie wollen wir 2020 leben? (2. Teil)<br />
Poesiealbum der Electrizität<br />
Weihnachtslandschaften Oskar Holl<br />
Fremde Heimat Viktoria Baron<br />
Corinna Sigmund Radio Nord<br />
Frederick Pollack Kopfverletzung<br />
Wo einmal Berge waren (Text von Phylis Geller)<br />
Bücher zum Klimawandel<br />
Blindlings Claudio Magris<br />
Der Innenminister hat keine Ahnung Philipp Schneidenbach<br />
Revisionismus hoch zwei Anton Stahlberg<br />
Unaufgeregt anspruchsvoll Michael Freund (Der Standard)<br />
Autoren<br />
Impressum<br />
NUMMER 16 / WINTER 2007/2008<br />
Titel: Gasvulkane bei Turbaco in Kolumbien<br />
(nach einer Zeichnung von Alexander von Humboldt, 1810)
Als Spion auf Görings Schloß<br />
Orgien – Intrigen – Attentate<br />
Olympia in Berlin 1936, prominente Gäste<br />
aus aller Welt strömen herbei. Der Spanienkrieg<br />
steht bevor, <strong>die</strong> Bündnisse formieren<br />
sich in Erwartung des kommenden<br />
Weltkriegs. Der norwegische Marathonläufer<br />
Roar Trögesen gelangt ins Zentrum<br />
der Macht und soll <strong>die</strong> Pläne der deutschen<br />
Regierung um Hitler ausspionieren.<br />
Schauplatz <strong>die</strong>ses Romans ist Herman Görings<br />
Karinhall, das riesige »germanische<br />
Jagdschloß« in der Schorfheide nahe Berlin.<br />
Um den drogensüchtigen Hausherren<br />
schart sich ein Bestiarium aus Industriellen,<br />
Politikern und Militärs. Im Verlauf des<br />
tagelangen Jagdfests im militärisch abgeschirmten<br />
Revier um das Schloß geraten<br />
alle gesellschaftlichen Regeln aus den Fugen.<br />
Wird der Spion Roar Trögesen seinen<br />
Auftrag ausführen können?<br />
Carl-Henning Wijkmark<br />
<strong>Die</strong> Jäger auf Karinhall<br />
Roman<br />
Aus dem Schwedischen von Paul Berf<br />
Mit einem Nachwort von<br />
Steve Sem-Sandberg<br />
400 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag<br />
€ 22,80 / sFr 40,50<br />
ISBN 978-3-88221-896-1<br />
Göhrener Straße 7 – 10437 Berlin – www.matthes-seitz-berlin.de
Fundsachen<br />
Am Schwarzen Brett<br />
Kartoffeln kochen<br />
Eine indische Soziologin (der Name ist der Redaktion<br />
bekannt) stieß bei einer internen Stu<strong>die</strong> über ein<br />
deutsches High-Tech-Unternehmen auch auf <strong>die</strong>ses<br />
Stück „graue Literatur“, einen im Un ter nehmen kursierenden<br />
längeren Witz, den sie in der Stu<strong>die</strong> unredigiert<br />
wiedergibt:<br />
Warum es bei N.N. nicht so richtig läuft:<br />
So bereitet man in einem kleinen Startup eine Kartoffel<br />
zu:<br />
Man heizt einen neuen, hochwertigen Herd auf<br />
200 Grad. Man legt eine große Folien-Kartoffel<br />
hinein und wendet sich in den folgenden 45 Minuten<br />
einer produktiven Aufgabe zu. Dann wird überprüft,<br />
ob <strong>die</strong> Kartoffel gar ist. Man nimmt <strong>die</strong><br />
gekochte Kartoffel aus dem Herd und serviert sie.<br />
So bereitet man bei N.N. eine Kartoffel zu: Man<br />
gründet ein Projektteam und bestimmt einen<br />
Owner für den Kartoffel-Task.<br />
Der Owner schlägt beim Management vor, eine<br />
Kartoffel zuzubereiten. Das Management lehnt ab,<br />
weil man ja schließlich seit Firmengründung noch<br />
nie eine Kartoffel zubereitet hat, und verlangt eine<br />
Machbarkeitsstu<strong>die</strong> für Kartoffelzubereitung und<br />
einen Nachweis eines positiven Kartoffel-Nutzen-<br />
Effektes für <strong>die</strong> Firma.<br />
Der Owner entwirft eine Powerpoint-Präsentation,<br />
<strong>die</strong> genauestens alle Einzelheiten des Projektes<br />
definiert. Leicht zu begreifende Passagen und einfach<br />
zu verstehende Tatsachen müssen dabei in<br />
Management-Newspeech übersetzt werden, damit<br />
sie dem Zielpublikum verständlich gemacht werden<br />
können.<br />
Der Owner geht mit besagter Präsentation in zahlreiche<br />
Meetings und packt damit das Management<br />
und <strong>die</strong> Verantwortlichen in ihrer Denke. Es darf<br />
nicht vergessen werden, anschließend <strong>die</strong> Präsentation<br />
per Mail-Verteiler an alle anwesenden und<br />
nichtanwesenden Beteiligten und Unbeteiligten zu<br />
verschicken. .<br />
Das Team aligned sich daraufhin und sucht 6<br />
Monate nach einem TS 16949 zertifizierten Kartoffellieferanten<br />
und findet keinen. Als Konsequenz<br />
wird ein ISO zertifizierter Rübenlieferant gezwungen,<br />
Kartoffeln zu liefern. Da er keine Kartoffeln im<br />
Programm hat, kauft er sie von einem unzertifizierten<br />
Kartoffelhändler und schlägt 25% auf den Preis<br />
auf.<br />
Der Rübenlieferant wird beauftragt, den Herd auf<br />
200 Grad vorzuheizen. Man verlangt, dass der Lieferant<br />
zeigt, wie er den Knopf auf 200 Grad gedreht<br />
hat, und erwartet, dass er Informationsmaterial des<br />
Herdherstellers beibringt, aus dem hervorgeht, dass<br />
der Herd richtig geeicht ist.<br />
Man überprüft das Informationsmaterial und veranlasst<br />
dann den Lieferanten, <strong>die</strong> Temperatur mit<br />
Hilfe eines zertifizierten Temperaturfühlers zu überprüfen,<br />
und weist den Lieferanten an, <strong>die</strong> Kartoffel<br />
in den Herd zu legen und <strong>die</strong> Zeituhr auf 45 Minuten<br />
zu stellen.<br />
Man veranlasst den Lieferanten, den Herd zu öffnen,<br />
um zu zeigen, dass <strong>die</strong> Kartoffel richtig platziert<br />
wurde, und erbittet eine Stu<strong>die</strong>, <strong>die</strong> beweist, dass 45<br />
Minuten <strong>die</strong> ideale Garzeit für eine Kartoffel <strong>die</strong>ser<br />
Größe ist.<br />
Nach 10 Minuten wird eine Prüfung verlangt, ob<br />
<strong>die</strong> Kartoffel vielleicht schon gar ist.<br />
Nach 11 Minuten wird eine Prüfung verlangt, ob<br />
<strong>die</strong> Kartoffel vielleicht schon gar ist.<br />
Nach 12 Minuten wird eine Prüfung verlangt, ob<br />
<strong>die</strong> Kartoffel vielleicht schon gar ist.<br />
Man wird ungeduldig mit dem Lieferanten<br />
(warum dauert es so lange eine einfache Kartoffel zu<br />
kochen?) und verlangt einen aktualisierten Gar-Statusreport<br />
alle 5 Minuten.<br />
Nach 35 Minuten kommt man zu dem Schluss,<br />
dass <strong>die</strong> Kartoffel fast fertig ist.<br />
Man gratuliert dem Lieferanten, dann informiert<br />
man den Management Circle über das hervorragende<br />
Arbeitsergebnis, das erzielt wurde, obwohl<br />
man mit einem unkooperativen Lieferanten zusammenarbeiten<br />
musste. <strong>Die</strong> Mitarbeiter schlagen sich<br />
gegenseitig für einen Good-Cooperation-Award<br />
vor.<br />
7
8<br />
Nach 40 Minuten Garzeit nimmt man auf Verlangen<br />
der Kaufleute [d.h. der Controlling-Abteilung,<br />
A.d.V.] hin <strong>die</strong> Kartoffel aus dem Herd, um eine<br />
Kosteneinsparung ohne Wert- und Qualitätsminderung<br />
der Kartoffel im Vergleich zu der ursprünglich<br />
angesetzten Garzeit von 45 Minuten zu realisieren.<br />
Man serviert <strong>die</strong> Kartoffel und wundert sich,<br />
wie zum Teufel es ein kleines Startup schafft, so eine<br />
gute, preiswerte Kartoffel kochen, <strong>die</strong> den Leuten<br />
offensichtlich besser schmeckt als <strong>die</strong> N.N.-Kartoffel.<br />
Zwischenzeitlich gibt es verschiedene Verbesserungsvorschläge<br />
des Managements:<br />
- Man könnte Rüben in Kartoffelform verwenden,<br />
um Kosten zu sparen.<br />
- Der fehlende Kartoffelgeschmack soll dann in<br />
einer Imageoffensive den Kunden als neues Qualitätsmerkmal<br />
dargestellt werden.<br />
- Es wird gefordert, bei 20% geringerer Gartemperatur<br />
im Herd <strong>die</strong> Garzeit um 20% zu verkürzen.<br />
- Man prüft, ob es nach einer Verlagerung des Herdes<br />
nach In<strong>die</strong>n noch möglich ist, <strong>die</strong> Kartoffeln in<br />
Deutschland heiß zu servieren...<br />
Bevor einer <strong>die</strong>ser Vorschläge umgesetzt werden<br />
kann, werden <strong>die</strong> Manager befördert, <strong>die</strong> gesamte<br />
Abteilung restrukturiert und umbenannt, und <strong>die</strong><br />
Welt wartet weiter auf <strong>die</strong> erste N.N.-Kartoffel.<br />
Der alltägliche Gift-Handel<br />
Der Kampf gegen eine gute Verordnung<br />
Schier unbemerkt auch von der deutschen Öffentlichkeit<br />
wurde im Dezember 2006 in Brüssel <strong>die</strong><br />
„REACH“-Verordnung verabschiedet, ein europaweites<br />
System der Registrierung, Bewertung und Zu -<br />
lassung von Chemikalien (REACH = Registration,<br />
Evaluation and Authorisation of Chemicals). Eine<br />
große Handelsnation hat versucht, <strong>die</strong>se Regulierung<br />
zu verhindern (Quelle: Mark Shapiro in Harper’s,<br />
Ok tober 2007):<br />
<strong>Die</strong> amerikanische Öffentlichkeit und <strong>die</strong> amerikanischen<br />
Me<strong>die</strong>n haben sich bisher kaum um das neue<br />
Chemikalienrecht der EU gekümmert.<br />
<strong>Die</strong> Bush-Regierung und <strong>die</strong><br />
Produzenten in den USA jedoch sind<br />
seit Jahren fixiert darauf. REACH ist<br />
mehr als schon wieder so ein ausländisches<br />
Verbot bestimmter Chemikalien,<br />
mit dem sich jetzt <strong>die</strong> Wirtschaft<br />
der USA herumschlagen muss.<br />
REACH greift <strong>die</strong> fundamentale<br />
Überzeugung an, dass es <strong>die</strong> Vereinigten<br />
Staaten sind, <strong>die</strong> entscheiden, was<br />
oder was nicht in all den Waren stecken<br />
darf, <strong>die</strong> in der ganzen Welt verkauft<br />
werden. Als demnach REACH<br />
in den Jahren 2003 bis 2006 im Europäischen<br />
Parlament diskutiert wurde,<br />
schlossen sich Regierung und Industrie<br />
der USA zusammen und betrie-<br />
ben mit noch nie dagewesenen Aufwand eine internationale<br />
Lobby-Tätigkeit, um das EU-Projekt aus der<br />
Welt zu schaffen oder wenigstens radikal auszudünnen.<br />
Den <strong>ersten</strong> Angriff startete ein Team diverser Wirtschafts-<br />
und Industrievertreter. Ein Memo aus der<br />
Europa-Asien-Abteilung des Außenministeriums<br />
verurteilte REACH als für <strong>die</strong> Industrie zu „kostspielig,<br />
belastend und kompliziert“. Das Handelsministerium<br />
gab bekannt: Falls <strong>die</strong> Chemikalien eine derart<br />
starre Überprüfung durchlaufen müssten, „würden<br />
Hunderttausende Amerikaner ihre Jobs verlieren“.<br />
Der amerikanische Handelsbeauftrage Robert Zoellick<br />
[seit Juli 2007 Präsident der Weltbank] übergab<br />
der Welthandelsorganisation ein Protestschreiben:<br />
REACH sei nichts anderes als ein „außer-tarifliches“<br />
Handelshemmnis für Exporteure nach Europa. Eine<br />
Delegation aus Beamten des Außenministeriums<br />
und zwei Vorstandsmitgliedern von Dow Chemical<br />
flog nach Athen, um <strong>die</strong> Griechen zu bearbeiten, <strong>die</strong><br />
damals <strong>die</strong> EU-Präsidentschaft innehatten. Colin<br />
Powell höchstpersönlich schickte an alle Botschaften<br />
der USA weltweit ein siebenseitiges Telegramm, das<br />
be sagte, REACH „könnte Hindernisse für den Handel<br />
errichten“ und würde <strong>die</strong> amerikanische chemische<br />
Wirtschaft durch verhinderte Exporte zig<br />
Mil liarden Dollar kosten. Gleichzeitig entsandte Wa -<br />
shington Sonderbotschafter in <strong>die</strong> neuen EU- Mit -<br />
gliedsstaaten Ungarn, Polen, Estland und Tschechien<br />
(früher kommunistische Länder, in denen das Um -<br />
weltbewusstsein weit weniger entwickelt war als in<br />
Westeuropa), um deren Unterstützung für <strong>die</strong> Regulierung<br />
innerhalb der EU zu schwächen mit der<br />
Behauptung, REACH würde <strong>die</strong> Exportchancen der<br />
Europäer auf dem Weltmarkt verringern. Das Außenministerium<br />
stellte zum Kampf gegen REACH ein<br />
Team aus besonders exportabhängigen Alliierten zu -<br />
sammen, und entsprechende Appelle, unter den<br />
„Handelspartnern der EU“ eine „koordinierte Kontakt-Strategie“<br />
zu entwickeln, gingen an Brasilien,<br />
In <strong>die</strong>n, Japan, Südafrika und andere. Bei den<br />
REACH-Beratungen im europäischen Parlament, <strong>die</strong><br />
ich selbst besuchte, entdeckte ich Lobbyisten nicht<br />
nur der amerikanischen und europäischen chemi-<br />
Der behinderte Siviani (9) aus Costa Rica<br />
UNICEF-Bild des Jahres 2005,
schen Industrie, sondern auch aus weiterverarbeitenden<br />
Chemie-Branchen wie Zement-, Automobil-,<br />
Textil-, und Pharma-Industrie. <strong>Die</strong> Lobbytätigkeit<br />
der USA war ein historischer Höhepunkt an Einmischung<br />
in europäische Angelegenheiten. Robert<br />
Donkers, der von der EU-Kommission 2003 in <strong>die</strong><br />
USA entsandt wurde, um den Amerikanern REACH<br />
zu erläutern, schlug mir vor, ich solle mit das einmal<br />
umgekehrt vorstellen: Europäische Regierungsvertreter<br />
fliegen in Washington ein und machen Stimmung<br />
gegen ein Gesetz, das gerade im Kongress beraten<br />
wird. „Das würde nicht durchgehen“, sagte er,<br />
„nach zehn Minuten wären wir draußen!“<br />
Kampfblatt<br />
Der Sozialstaat als Misserfolgsgeschichte<br />
In ihrer Broschüre Initiative Kompakt. Das kleine<br />
1x1 der Sozialen Marktwirtschaft baut <strong>die</strong> sogenannte<br />
„Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“<br />
(INSM) den Sozialstaat ab – mit falschen Zahlenspielen.<br />
Wo selbst <strong>die</strong> Frankfurter Allgemeine Zeitung<br />
2007 ein mittleres Netto-Einkommen von 59<br />
Prozent der Bruttosumme errechnet, behauptet <strong>die</strong><br />
INSM, von jedem Euro gehe mehr als <strong>die</strong> Hälfte an<br />
den Staat. Was liegt da näher, als <strong>die</strong> „erfolglose“<br />
Sozialhilfe abzuschaffen und <strong>die</strong> Bedürftigen sich<br />
selbst und dem Markt zu überlassen?<br />
Wir könnten uns zur Abwechslung einmal dazu<br />
durchringen, das Konzept der Marktwirtschaft auch<br />
wirklich umzusetzen – und nicht immer nur eine<br />
abgespeckte Variante davon. Mehr Marktwirtschaft,<br />
das hieße vor allem: weniger Staat. Doch<br />
warum eigentlich? Warum soll sich der Staat soweit<br />
es geht zurückziehen und dem Markt Platz machen?<br />
<strong>Die</strong> Antwort lautet: 5. Juli 2006, 5 Uhr 35. Das<br />
nämlich ist nach Berechnungen des Bundes der<br />
Steuerzahler exakt der Zeitpunkt, bis zu dem alle<br />
Deutschen ihr gesamtes Einkommen, das sie bis<br />
dahin in <strong>die</strong>sem Jahr erwirtschaftet haben, in Form<br />
von Steuern und Sozialabgaben an <strong>die</strong> Staatskassen<br />
abführen. Von den 365 Tagen des Jahres 2006 arbeiten<br />
wir also 186 Tage ausschließlich für den Staat –<br />
und nur 179 Tage fürs eigene Portemonnaie. Oder<br />
anders gerechnet: Von jedem einzelnen Euro Ver<strong>die</strong>nst<br />
geht mehr als <strong>die</strong> Hälfte an den Staat. Keine<br />
Frage, ohne Staat geht es auch nicht. Wir, <strong>die</strong> Gesellschaft,<br />
brauchen <strong>die</strong> Polizei, <strong>die</strong> Bundeswehr, Ämter<br />
und Behörden, <strong>die</strong> Justiz, Universitäten, Straßen<br />
und dergleichen mehr. Das alles kostet Geld. Was<br />
aber ist mit jenen Abermilliarden Euro, <strong>die</strong> der Staat<br />
und <strong>die</strong> Sozialkassen jedes Jahr von den Bundesbürgern<br />
und den Unternehmen einsammeln, nur um<br />
sie dann – im Namen der Gerechtigkeit – über Subventionen<br />
und Sozialleistungen wieder an <strong>die</strong> Bürger<br />
und Betriebe zurückzugeben? Ist <strong>die</strong>se Umverteilung,<br />
wie Ökonomen das Ganze nennen,<br />
überhaupt noch sinnvoll?<br />
Machen wir <strong>die</strong> Probe aufs Exempel: Das deutsche<br />
Sozialbudget hat sich seit 1960 von damals rund 33<br />
Milliarden Euro auf mittlerweile fast 696 Milliarden<br />
Euro erhöht. <strong>Die</strong>ses Geld fließt in <strong>die</strong> Renten-,<br />
Kranken-, Pflege-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung,<br />
es wird ausgegeben für Beamtenpensionen,<br />
Altershilfen für Landwirte, <strong>die</strong> Entgeltfortzahlung<br />
bei Krankheit, Kindergeld, Erziehungsgeld,<br />
soziale Entschädigungen, Wohngeld, Jugendhilfe<br />
und Sozialhilfe.<br />
Jahr für Jahr gibt Deutschland mehr und mehr<br />
Geld dafür aus, <strong>die</strong> Risiken des Lebens abzusichern<br />
und abzufedern. Mit Erfolg? Mitnichten! <strong>Die</strong> Rentenversicherungen<br />
hangeln sich von Monat zu<br />
Monat; <strong>die</strong> Pflegeversicherung ist ein finanzielles<br />
Desaster; das deutsche Gesundheitssystem verschlingt<br />
Milliarden, gilt aber nach internationalen<br />
Maßstäben als ineffizient; <strong>die</strong> Arbeitslosigkeit ist<br />
trotz ABM, Frühverrentung und all der anderen<br />
Programme gestiegen und gestiegen; und <strong>die</strong> Förderung<br />
der Familie über Kinder-und Erziehungsgeld<br />
hat alles Mögliche bewirkt – nur nicht den dringend<br />
benötigten Anstieg der Geburtenrate und der Frauenerwerbstätigkeit.<br />
Politik als Marken-Ware<br />
Man muss sie nur richtig verkaufen<br />
Eine Umfrage aus der Münchner Dissertation Politische<br />
Kommunikation. Analyse und Perspektiven<br />
eines sich verändernden Kommunikations-Genres<br />
von Hans Peter Ketterl, M.A. (Neuere Deutsche Literatur,<br />
Wintersemester 2003/2004) zu der Frage, wie<br />
man Politik richtig vermarktet::<br />
1. Wie beurteilen Sie <strong>die</strong> Möglichkeit, eine Partei<br />
wie eine Produkt-Marke zu führen?<br />
Olaf Scholz (SPD): Eine Partei unterliegt anderen<br />
Gesetzen als eine Produkt-Marke, ihre Führung<br />
erfolgt nach politischen Urteilen und Abwägungen.<br />
Kommunikative Überlegungen fließen in <strong>die</strong>se<br />
Abwägungen ein.<br />
Laurenz Meyer (CDU): Mit Blick auf ein zeitgemäßes<br />
Politikmarketing ist <strong>die</strong> Wiedererkennbarkeit<br />
der „Marke CDU“ natürlich von zentraler Be -<br />
deu tung. <strong>Die</strong> CDU hat 2002 ihre Corporate<br />
Identity behutsam modernisiert (Logo etc.). Alle<br />
Verbände haben ein „Markenhandbuch“ erhalten,<br />
um <strong>die</strong> Einheitlichkeit dezentral erstellter Kommunikationsmittel<br />
zu gewährleisten.<br />
Dr. Thomas Goppel (CSU): Mit einer Marke verbinden<br />
Konsumenten idealer Weise verschiedene<br />
Eigenschaften. <strong>Die</strong>s gilt selbstverständlich auch für<br />
den Wähler im Bezug zu einer Partei.<br />
Steffi Lemke (Bündnis 90/<strong>Die</strong> Grünen): Eine Partei<br />
ist natürlich vielschichtiger und dynamischer als<br />
eine reine Produkt-Marke. Deshalb ist nur begrenzt<br />
möglich, eine Partei im klassischen als Marke zu<br />
betrachten. Allerdings sind klassische „Markeneigenschaften“<br />
wie Markenattraktivität, Abgrenzung<br />
zu anderen Marken, ein Logo und ein corporate<br />
design auch für Parteien notwendig.<br />
9
10<br />
Cornelia Pieper (FDP): Politisches Marketing darf<br />
nicht dazu führen, dass <strong>die</strong> Inhalte einer politischen<br />
Partei dem Marketingkonzept untergeordnet werden.<br />
Es ist aber nur konsequent, nach der Entscheidung<br />
über <strong>die</strong> politischen Inhalte das Produkt „politisches<br />
Programm“ wie eine Marke zu präsentieren<br />
und zu bewerben.<br />
Matthias Machnig (ehem. BBDO Consulting<br />
GmbH): Es gibt Überschneidungen, aber auch tiefgreifende<br />
Unterschiede.<br />
2. Gibt es Unterschiede bzw. wo sind Überschneidungen?<br />
Olaf Scholz (SPD): Politische Kommunikationsstrategien<br />
haben organisatorische und programmatische<br />
Voraussetzungen, <strong>die</strong> jeweils über <strong>die</strong> Formulierung<br />
programmatischer Grundsätze als auch über<br />
<strong>die</strong> Grundregeln guten Marketings hinausgehen.<br />
Eine Partei muss etwa bestimmte programmatische<br />
und organisatorische Voraussetzungen erfüllen,<br />
bevor sie kommunikationsfähig wird. Eine gute<br />
mediale Präsentation setzt ausführliche Programmarbeit,<br />
klare Strukturen, eindeutige Aufgabenverteilung<br />
und passende personelle Strukturen voraus. Sie<br />
erfordert <strong>die</strong> Koordination der Akteure und Handlungsebenen,<br />
<strong>die</strong> Konzentration auf wenige Gewinnerthemen<br />
und einen Instinkt für Kontroversen.<br />
Politikmanagement steht heute vor der Aufgabe,<br />
sowohl me<strong>die</strong>ngerechte und als auch politisch angemessen<br />
organisierte Parteien zu formen. <strong>Die</strong>se Aufgabe<br />
unterscheidet Politik grundlegend von Produkt-Marken.<br />
Laurenz Meyer (CDU): Als föderalistisch aufgebaute<br />
Partei kann <strong>die</strong> CDU ihren Untergliederungen<br />
beispielsweise – übrigens anders als <strong>die</strong> SPD – nicht<br />
„vorschreiben“, dass <strong>die</strong> Gestaltungsvorgaben der<br />
Bundesgeschäftsstelle immer 1:1 ungesetzt werden<br />
müssen. Das „Produkt“ – politische Konzepte und<br />
Überzeugungen, bei Wahlen auch der Spitzenkandidat<br />
– ist äußerst vielschichtig und darum schwieriger<br />
zu kommunizieren als z.B. ein Schokoriegel.<br />
Dr. Thomas Goppel (CSU): Eine Partei definiert<br />
sich nicht nur über Eigenschaften, sondern auch<br />
über ihre Grundwerte und -Überzeugungen sowie<br />
über <strong>die</strong> Personen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Partei in der Öffentlichkeit<br />
repräsentieren.<br />
Steffi Lemke /Bündnis 90/<strong>Die</strong> Grünen): <strong>Die</strong><br />
Unterschiede liegen vor allem in der Dynamik der<br />
„Produkte“. Tagespolitik, Gesetzesvorhaben etc.<br />
beeinflussen <strong>die</strong> öffentliche Wahrnehmung und <strong>die</strong><br />
Sympathiewerte von Parteien auch sehr kurzfristig.<br />
Politik muss also in der Lage sein, <strong>die</strong> Kommunikation<br />
sehr kurzfristig an aktuelle Situationen anzupassen.<br />
In der Führung von Produkt-Marken werden<br />
Kommunikationsänderungen meist als<br />
„Relaunch“ sehr langfristig vorbereitet. Eine Partei<br />
hat auch einen viel größeren und umfangreicheren<br />
Bedarf an interner Kommunikation.<br />
Cornelia Pieper (FDP): Ein entscheidender Unterschied<br />
ist <strong>die</strong> inner Konsistenz eines Produktes. Parteien<br />
passen ihr Programm nicht wie ein Produkt an<br />
geändertes Käuferverhalten an, sondern entscheiden<br />
hierüber aus demokratischem Weg.<br />
Matthias Machnig (ehm. BBDO Consulting<br />
GmbH): Politische Kommunikation muss den<br />
ästhetischen Regeln der Me<strong>die</strong>n Rechnung tragen,<br />
wenn sie das Ziel erreichen will, Sicherheit, Verlässlichkeit<br />
und Hoffnung zu vermitteln. <strong>Die</strong> Me<strong>die</strong>n<br />
behandeln Parteien dabei in ähnlicher Weise wie<br />
Markenprodukte. Bei politischen Parteien sind aber<br />
<strong>die</strong> Wertzusammenhänge zu beachten in denen sich<br />
<strong>die</strong>se befinden.<br />
Parteien und wirtschaftliche Marken greifen auf<br />
unterschiedliche Produkte zurück, <strong>die</strong> wieder unterschiedliche<br />
Themen betreffen. Aus <strong>die</strong>sem Grund<br />
müssen auch Antworten unterschiedlich besetzt<br />
werden. Ziel der politischen Kommunikation ist es,<br />
<strong>die</strong> Deutungshoheit zu <strong>die</strong>sen Themen zu erlangen.<br />
Dazu ist auch für Parteien modernes Marketing notwendig.<br />
<strong>Die</strong> kommunizierten Grundimages der<br />
Parteien sind Orientierungspunkte für Menschen.<br />
Grundsätzlich ist politische Kommunikation<br />
schneller und steht einer weitaus kritischeren<br />
Öffentlichkeit gegenüber als Produkt-Kommunikation.<br />
Ziel moderner politischer Kommunikation muss<br />
es sein, <strong>die</strong> Instrumente weiter zu schärfen und<br />
Wahlkämpfe als Teil der Demokratie besser zu<br />
sehen. Kommunikationsarbeit in <strong>die</strong>sen sollte nicht<br />
kulturkritizistisch reduziert werden, sondern als<br />
Mittel <strong>die</strong>s auf moderne Weise anschaulich zu<br />
machen. Ohne Kommunikation ist Politik nicht zu<br />
vermitteln – aber Politik ist mehr als das. Vermittlung<br />
politischer Entscheidungen ist in einer Demokratie<br />
notwendig.<br />
3. Wo sind generell Unterschiede zur wirtschaftlichen<br />
Kommunikation? Wo Überschneidungen?<br />
Olaf Scholz (SPD): Das ist ein Thema für Kommunikationsspezialisten<br />
und Marketing-Fachleute,<br />
nicht für einen Politiker.<br />
Laurenz Meyer (CDU): Parteien haben weitaus<br />
geringere finanzielle Spielräume für sämtliche „paid<br />
media“-Aktivitäten. Dafür erhalten Parteien weitaus<br />
mehr „free media“, d.h. ihre Positionen und ihr<br />
Spitzenpersonal werden im redaktionellen Teil der<br />
Me<strong>die</strong>n ungleich stärker berücksichtigt.<br />
Dr. Thomas Goppel (CSU): Siehe vorherige Frage<br />
Steffi Lemke (Bündnis 90/<strong>Die</strong> Grünen): Wirtschaftliche<br />
Kommunikation ist auf den Verkauf von<br />
Produkten ausgerichtet. Politische Kommunikation<br />
hingegen ist zweiteilig: zum einen ist sie auf <strong>die</strong> Legitimation<br />
des politischen Handelns ausgerichtet,<br />
d.h. sie muss für Verständnis und Unterstützung für<br />
konkrete Veränderungen z. B. im Gesetzgebungsverfahren<br />
werben.<br />
Überschneidungen mit wirtschaftlicher „Produkt-<br />
Werbung gibt es allerdings in den turnusmäßig wiederkehrenden<br />
Wahlkämpfen. Hier geht es natürlich<br />
um den größten „Marktanteil“ am Wählermarkt.<br />
Jede Partei strebt nach soviel Wählerstimmen wie<br />
möglich. Grundsätzlich zielt Parteienkommunika-
tion vielmehr auf einen Dialog mit den „Kunden“,<br />
also den Wählerinnen und Wählern. Ziel ist also eine<br />
zweiseitige, annähernd symmetrisch Kommunikation<br />
sowohl bei interner, als auch externer Kommunikation.<br />
Hier liegt der größte Unterschied zur, leider<br />
noch allzu oft anzutreffenden TOP-DOWN<br />
(einseitig asymmetrischen) Kommunikation in der<br />
wirtschaftlichen Kommunikation.<br />
Cornelia Pieper (FDP): Politische Kommunikation<br />
kann für sich kein exklusives Wahrnehmbarkeitsfenster<br />
bei den Bürgerinnen und Bürgern beanspruchen.<br />
Politische Kommunikation steht deshalb<br />
mit wirtschaftlicher Kommunikation im Wettbewerb<br />
um das Interesse der Menschen. Klar ist aber,<br />
dass politische Kommunikation erheblich weniger<br />
finanzielle Mittel zur Verfügung hat.<br />
Matthias Machnig (ehm. BBDO Consulting<br />
GmbH): <strong>Die</strong> Budgets für politisches Marketing<br />
sind vergleichsweise niedrig und das Produkt „Politik“<br />
sowie seine Macher sind schwer im Zaum zu<br />
halten. <strong>Die</strong> Herausforderung, täglich schnell und<br />
flexibel in einer heterogenen Me<strong>die</strong>nlandschaft zu<br />
reagieren, unterscheidet politische Kommunikation<br />
von der Marken-Kommunikation. <strong>Die</strong><br />
schnelle Abfolge von Ereignissen und handelnden<br />
Personen schafft eine wahrscheinlich einzigartige<br />
Wettbewerbssituation. Parteien können in <strong>die</strong>sem<br />
Umfeld finanziell und organisatorisch in keiner<br />
Weise mit der wirtschaftlichen Kommunikation<br />
mithalten.<br />
Wir sind schon da<br />
Privatarmeen<br />
Das US-Verteidigungsministerium hat der privaten<br />
Sicherheitsfirma Blackwater Personenschutz-Aufträ -<br />
ge im Irak und in Afghanistan übertragen (Kosten<br />
insgesamt: etwa eine Milliarde US-Dollar). Nach der<br />
Erschießung von 17 Zivilisten durch Blackwater-<br />
Angestellte verlangte der Irak Ende Oktober, <strong>die</strong><br />
Firma solle das Land verlassen. Der Journalist Jeremy<br />
Scahill nennt Blackwater „<strong>die</strong> mächstigste Söldner-<br />
Ar mee der Welt“. Der Blackwater-Gründer Erik<br />
Prince hält dagegen: „Ich bin Amerikaner und arbeite<br />
für Amerika“ (und gern sagte er auch noch „Unser<br />
Blut ist rot, weiß und blau“, in den Farben der amerikanischen<br />
Flagge). Auch beim Hurrikan Katrina<br />
über New Orleans 2005 war Blackwater aktiv.<br />
Jeremy Sca hill erklärt in einem Interview mit Bill<br />
Moyers, wie das abging (http://www.pbs.org/moyers):<br />
Jeremy Scahill: Also, ich war in New Orleans kurz<br />
nach dem Hurrikan Katrina. Und ich schaute<br />
sozusagen durch ein Fenster in eine mögliche<br />
Zukunft. Sehen Sie, ich stand da an einer Stra -<br />
ßenecke an der Bourbon Street, im Französischen<br />
Viertel. Und ich redete gerade mit zwei Polizisten,<br />
<strong>die</strong> aus New York gekommen waren, um zu helfen.<br />
Und das war nur einige Tage nachdem der Hurrikan<br />
zugeschlagen hatte. Und da rast <strong>die</strong>ser Wagen neben<br />
uns daher. Kein Nummernschild dran, ein<br />
Kleinwagen. Und dann steigen da drei mas sige Kerle<br />
aus. Und sie haben M-4-Sturm gewehre, kugel -<br />
sichere Westen und Khaki-Hosen, Wrap-around-<br />
Sonnenbrillen, Baseball mützen. Und sie kommen<br />
zu uns her und fragen <strong>die</strong> Poli zisten: „Wo sind <strong>die</strong><br />
übrigen Blackwater-Leute?“ Ich drehe mich er -<br />
schrocken zu ihnen um, ich hörte nicht mal <strong>die</strong><br />
Antwort, ich konnte einfach nicht glauben, was ich<br />
da hörte: „Wo sind <strong>die</strong> übrigen Blackwater-Leute“<br />
Dann steigen sie wieder ein und rasen davon. Und<br />
ich fragte den Polizisten: „Wieso Blackwater? Sind<br />
das nicht Kerle im Irak und in Afghanistan?“ Und sie<br />
sagten: „Klar, <strong>die</strong> sind hier auf Schritt und Tritt.“<br />
Also sagte ich: „Ich würde gern mit ihnen reden. Wo<br />
sind sie?“ Und sie sagten: „Gehen Sie einfach <strong>die</strong><br />
Straße entlang, rauf oder runter“, was so viel hieß<br />
wie überall. Also ging ich etwas weiter ins<br />
Französische Viertel hinein, und tatsächlich traf ich<br />
auf weitere Blackwater-Leute. Ich redete mit ihnen,<br />
und sie sagten mir, sie wären hier, um Verbrechen<br />
und Plünderungen zu ver hindern.<br />
Bill Moyers: Wer hatte sie angefordert?<br />
Jeremy Scahill: Ja, das ist der interessante Teil. Erik<br />
Prince schickte sie da hin, ohne dass er schon einen<br />
Auftrag hatte. Ungefähr 180 Blackwater-Leute wur -<br />
den hingeschickt. Sie waren noch vor der<br />
(Katastrophenschutzbehörde) FEMA da. Sie waren<br />
auf jeden Fall vor der FEMA da, also bevor es über -<br />
haupt irgendeine wirkliche Rettungs maß nah me<br />
gab.<br />
Bill Moyers: Hatte das Prince das so entschieden?<br />
Jeremy Scahill: Prince schickt sie erst einmal hin.<br />
Innerhalb einer Woche hatte Blackwater dann vom<br />
Heimatschutz-Ministerium einen Vertrag über <strong>die</strong><br />
Erbringung von Sicherheitsmaßnahmen innerhalb<br />
New Orleans. Irgendwann hatte Blackwater dann<br />
sechshundert Leute im Einsatz da unten, von Texas<br />
über Mississippi bis ans Meer. Sie nahmen 420000<br />
Dollar pro Tag ein. Ein paar von den Leuten waren<br />
zwei Wochen vorher noch im Irak gewesen, zum<br />
Schutz des amerikanischen Botschafters. Und jetzt<br />
sind sie plötzlich in New Orleans. Sie sagen mir, sie<br />
sehen das als ein Urlaub an. Einer beschwerte sich<br />
bei mir sogar darüber, dass da überhaupt nichts los<br />
sei. Und dann sagten sie mir auch noch, sie bekämen<br />
350 Dollar pro Tag und dazu eine Tagespauschale.<br />
Bill Moyers: Vom Heimatschutz-Ministerium?<br />
Jeremy Scahill: Sie wurden von Blackwater bezahlt.<br />
Als ich dann den Vertrag von Blackwater und dem<br />
Heimatschutz-Ministerium bekam, stellte sich<br />
heraus, dass Blackwater dem amerikanischen<br />
Steuerzahler 950 Dollar pro Mann im Hurrikan-<br />
Gebiet in Rechnung stellte.<br />
Bill Moyers: Ein Gewinn von 600 Dollar.<br />
11
12<br />
Jeremy Scahill: Also, <strong>die</strong> Rechnungsstellung bei<br />
solchen Sachen ist immer kompliziert. Und Erik<br />
prince und seite Leute sind richtig toll, wenn sie ihre<br />
Grafiken da aufmalen, verstehen Sie, und sagen: Da<br />
gibt es aber noch <strong>die</strong>ses Detail und <strong>die</strong>se Kleinigkeit.<br />
Dann veranlasste das Heimatschutz-Ministerium<br />
eine interne Überprüfung mit dem Ergebnis, dass<br />
das <strong>die</strong> kostengünstigste Lösung war für den<br />
Steuerzahler, und das zu einem Zeitpunkt, wo <strong>die</strong><br />
ärmeren Bewohner von New Orleans beschimpft<br />
wurden dafür, wie sie <strong>die</strong> 2000-Dollar-Gutscheine<br />
benützten, <strong>die</strong> <strong>die</strong> FEMA ausgegeben hatte (und <strong>die</strong><br />
nicht einmal immer akzeptiert wurden).<br />
Unsere Autobahnen<br />
Es war nicht alles schlecht unter Hitler<br />
Noch ein Argument für <strong>die</strong> Apologeten des NS-Re -<br />
gimes: Alwin Seifert (1890 - 1972), Professor und<br />
Natur-Architekt (bevor es <strong>die</strong>sen Beruf gab), setzte<br />
sich im Dritten Reich für eine „landschaftsgerechte“<br />
Autobahn mit „deutscher“ Begrünung ein und wurde<br />
dafür vom Generalinspekteur für das Autobahnwesen,<br />
Fritz A. Todt, 1940 zum „Reichslandschaftsanwalt“<br />
ernannt. Nach 1945 plä<strong>die</strong>rte er – u.a. als Professor<br />
an der TH München – für eine giftfreie und<br />
ökologische Landwirtschaft und weiterhin für naturnahe<br />
Landschaftsgestaltung. Hier der bisher unveröffentlichte<br />
Ernennungsbrief von Fritz A. Todt:<br />
Mein lieber Herr Seifert!<br />
Zu Ihrem heutigen 50. Geburtstag [am 31. Mai<br />
1940] übersende ich Ihnen sowohl als<br />
Generalinspekteur für das deutsche Straßenwesen<br />
als auch persönlich meinen herzlichsten<br />
Glückwunsch.<br />
Ich erinnern mich dabei des Tages kurz nach meiner<br />
Ernennung zum Generalinspektor, als ich, von<br />
einem guten Rat geleitet, in der Technischen<br />
Hochschule München als Schwarzhörer in Ihrer<br />
Vorlesung saß und im Verlauf <strong>die</strong>ser Stunde <strong>die</strong><br />
Überzeugung gewann, daß Sie der Mann sind, der<br />
mir bei der Durchführung der nicht ganz leichten<br />
Ausgabe, beim Bau der Reichsautobahnen, helfen<br />
wird.<br />
Wir haben in der seither vergangenen Zeit in der<br />
Art, wie es zwischen offenen und aufrichtigen<br />
Männern üblich ist, zusammengearbeitet. Keiner<br />
von uns Beiden hat immer zu allem, was der Andere<br />
dachte, „ja“ gesagt, – aber gerade dadurch war Ihre<br />
Mitarbeit so besonders wertvoll.<br />
Wenn heute das deutsche Volk s e i n e<br />
Reichsautobahnen als etwas besonders Schönes<br />
preist, wenn das Ausland immer wieder anerkennt,<br />
daß <strong>die</strong>se Straßen nicht nur schnell und sicher,<br />
sondern auch landschaftlich so wunderbar schön<br />
geworden sind, wenn, von den Autobahnen<br />
ausgehend, auf das Gesamtgebiet der Bautechnik<br />
sich <strong>die</strong> Überzeugung durchgesetzt hat, daß über<br />
dem rein materiell technischen Zweck der höhere<br />
kulturelle Wert der Anlage steht, so gebührt Ihnen<br />
an <strong>die</strong>sem großen Erfolg der Hauptanteil. Sie haben<br />
als richtiger Anwalt der Deutschen Landschaft Ihre<br />
Ansicht immer mutig und ohne den Kampf zu<br />
scheuen vertreten. Sie haben sich in den<br />
Landschaftsanwälten eine treue Schar Mitarbeiter<br />
erzogen, deren Anteil zuletzt auch beim<br />
Festungsbau sich außerordentlich bewährt.<br />
Wenn ich Ihnen heute meinen Dank als<br />
Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen<br />
für Ihre Mitarbeit an den Straßen des Führers<br />
ausspreche, so nehme ich damit einen Teil des<br />
Dankes vorweg, den später einmal das deutsche<br />
Volk dem Manne gegenüber empfinden wird, der in<br />
der Zeit gewaltigen technischen Bauschaffens als<br />
Anwalt darüber gewacht hat, daß der Ingenieur<br />
beim Schaffen seiner Werke ehrfurchtsvoll <strong>die</strong><br />
Landschaft berücksichtigt. In Anerkennung <strong>die</strong>ser<br />
treuen Mitarbeit ernenne ich Sie zum<br />
Reichslandschaftanwalt des Generalinspektors für<br />
das deutsche Straßenwesen.<br />
Wir alle wünschen, daß Ihre kämpferische<br />
Arbeitskraft weiter erhalten bleibt zum Nutzen<br />
unseres herrlichen deutschen Vaterlandes.<br />
Heil Hitler!<br />
gez. Ihr F. Todt.<br />
<strong>Die</strong> Folter im Liedgut<br />
Wo man singt<br />
1902, im Krieg der USA gegen <strong>die</strong> Philippinen, komponierte<br />
Albert Gardner, der damals in Truppe B der<br />
1st U.S. Cavalry <strong>Die</strong>nst tat, <strong>die</strong>ses Lied zur Melo<strong>die</strong> der<br />
Battle Hymn of the Republic (oder auch zu deren Persiflage-Version<br />
„John Brown’s body lies a-mouldering in<br />
the grave“). Es ist der einzige Fall, dass <strong>die</strong> sonst eher<br />
verschwiegene militärische Folter in einem Lied festgehalten<br />
wurde (es handelt sich hier um <strong>die</strong> sogenannte<br />
„Wasserkur“, bei der dem Opfer durch einen Schlauch<br />
schmutziges Wasser geschüttet wird):<br />
Get the good old syringe boys and fill it to the brim.<br />
We’ve caught another nigger and we’ll operate<br />
on him.<br />
Let someone take the handle who can work it<br />
with a vim,<br />
Shouting the battle cry of freedom.<br />
Chorus:<br />
Hurrah Hurrah We bring the Jubilee<br />
Hurrah Hurrah The flag that makes him free<br />
Shove in the nozzel [sic] deep and let him taste<br />
of liberty<br />
Shouting the battle cry of freedom.<br />
Gute Vorsätze<br />
Der Weg in <strong>die</strong> Katastrophe<br />
<strong>Die</strong> Beschlüsse der Bundesregierung und anderer Gremien<br />
zum Klimawandel von 1989 bis heute (zitiert<br />
nach aktuell, Das Lexikon der Gegenwart, verschie-
dene Jahrgänge):<br />
Jahrbuch 1990: <strong>Die</strong> Durchschnittstemperatur auf<br />
der Erde wird bis Mitte des nächsten Jh. um 1,5 - 4,5<br />
Grad C steigen. (...) Im Mai 1989 beschlossen in<br />
Helsinki/ Finnland rd. 90 Staaten einen Stopp der<br />
FCKW-Produktion bis zum Jahr 2000. (...)<br />
Am wirksamsten wäre eine Einschränkung der<br />
CO 2 -Emissionen. (...) Politiker forderten Anfang<br />
1989, Tropenwälder, <strong>die</strong> CO 2 binden, nicht mehr<br />
durch Brandrodung zu zerstören und wiederaufzuforsten.<br />
1991: <strong>Die</strong> CDU/CSU/FDP-Regierung beschloß<br />
im Juni 1990 eine Verminderung des CO 2 -Ausstoßes<br />
in der BRD um 25 % bis 2005.Neue Techniken<br />
und Maßnahmen sowie <strong>die</strong> Förderung Erneuerbarer<br />
Energien sollen <strong>die</strong>s ermöglichen. (...)<br />
1992: Zur Eindämmung der Klimaveränderung<br />
muß laut Enquete-Kommission [des Deutschen<br />
Bundestages] der Ausstoß von Kohlendioxid (CO 2 ),<br />
insbes. im Energie- und Verkehrsbereich bis 2050<br />
weltweit halbiert werden (Verringerung gegenüber<br />
1987; 10,25 Mrd. t). <strong>Die</strong> BRD solle <strong>die</strong> Kohlendioxid-Emissionen<br />
bis 2005 um 30% vermindern.<br />
(...)<br />
Anfang 1991 plante <strong>die</strong> Bundesregierung, den<br />
Ausstoß von CO 2 mit Hilfe einer neu einzuführenden<br />
Abgabe um 25% bis 2005 zu vermindern.<br />
1993: Nach Modellrechnungen der Enquete-Kom -<br />
mission zum Schutz der Erdatmosphäre des Deutschen<br />
Bundestages müßte der weltweite CO 2 -Ausstoß<br />
bis 2005 um 25% gegenüber 1987 verringert<br />
werden, damit eine Temperaturveränderung verhindert<br />
wird. Um lediglich eine globale Redizierung von<br />
5 - 6% zu bewirken, müßten <strong>die</strong> USA und Japan 30%<br />
ihrer Emissionen einsparen, <strong>die</strong> EG 25% und <strong>die</strong><br />
Staaten Osteuropas 20%. (...) <strong>Die</strong> EG hatte bereits<br />
1991 beschlossen, <strong>die</strong> Kohlendioxidemissionen bis<br />
2000 auf den Stand von 1990 zu stabilisieren (...)<br />
1994: <strong>Die</strong> CDU/CSU/FDP-Regierung strebte bis<br />
2005 eine weitere Verminderung um bis zu 30% an.<br />
Das Bundeswirtschaftsministerium hielt <strong>die</strong>ses Ziel<br />
1993 (...) für unrealisierbar.<br />
1995: [keine neuen Reduzierungspläne]<br />
Ein CO 2 -Emittent am arktischenTatort (Automobilwerbung 2007)<br />
1996: Industrieländer blockieren Fortschritte: <strong>Die</strong><br />
Teilnehmerstaaten der UNO-Konferenz (Berlin,<br />
März/April 1995) faßten keine verbindlichen<br />
Beschlüsse für den Klimaschutz ab dem Jahr 2000.<br />
(...) Ein Entwurf für <strong>die</strong> Minderung weltweiter<br />
CO 2 -Emissionen wurde auf <strong>die</strong> Konferenz 1997 in<br />
Kyoto/Japan verschoben. Bis 2000 ist eine Senkung<br />
der Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre<br />
auf dem Niveau von 1990 angestrebt, was bereits auf<br />
der <strong>ersten</strong> Klima-Konferenz in Rio de Janeiro/Brasilien<br />
beschlossen wurde.<br />
1997: Bei weiterer Untätigkeit der verantwortlichen<br />
Industrieländer könnte es nach einem im<br />
Dezember 1995 vorgelegten Bericht des Intergovernmental<br />
Panel on Climate Change (IPCC; Zwischenstaatlicher<br />
Ausschuß über Klimawandel) im<br />
Jahr 2100 wie folgt aussehen: <strong>Die</strong> Temperatur wird<br />
um bis zu 3,5 Grad C gestiegen sein, der Meeresspiegel<br />
um bis zu 1 m. (...)<br />
In einer 1995 vorgelegten Untersuchung für das<br />
Bonner Wissenschaftsministerium kam das Prognos-Institut<br />
in Basel zu dem Ergebnis, daß auch<br />
Deutschland seine (1992 auf der UNO-Umweltkonferenz<br />
in Rio da Janeiro/Brasilien zugesagte)<br />
Verpflichtung, <strong>die</strong> Kohlendioxid-Emissionen bis<br />
zum Jahr 2005 um 25% zu mindern, nicht werde<br />
erfüllen können. (...) <strong>Die</strong> Kohlendioxid-Emissionen<br />
sänken lediglich um 4%.<br />
1998: Während der Konferenz des UN-Klimasekretariats<br />
im März 1997 in Bonn erreichten <strong>die</strong> Teil-<br />
13
14<br />
nehmer aus 150 Industrie- und Entwicklungsländern<br />
keine konkreten Beschlüsse, doch vertraten <strong>die</strong><br />
Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) eine<br />
gemeinsame Position: Bis zum Jahr 2015 sollen in<br />
der EU 15% weniger Treibhausgase produziert werden<br />
als 1990.<br />
1999: <strong>Die</strong> CDU/CSU/FDP-Bundesregierung hält<br />
an ihrem Ziel fest, den Kohlendioxid-Ausstoß in<br />
Deutschland bis 2005 gegenüber 1990 um 25% zu<br />
reduzieren.<br />
2000: <strong>Die</strong> rot-grüne Bundesregierung bekräftigte<br />
Ende 1998, dass sie wie das CDU/CSU/FDP-Kabinett<br />
den Kohlendioxid-Ausstoß in Deutschland bis<br />
2005 gegenüber 1990 um 25% reduzieren will. (...)<br />
Ohne Einbußen in der Lebensqualität wird<br />
Deutschland seinen Kohlendioxid-Ausstoß 1990-<br />
2005 nur um 13-15% statt der geplanten 25% reduzieren<br />
können. Das ergaben im November 1998<br />
vorgelegte Stu<strong>die</strong>n des Ölkonzerns Esso, der Baseler<br />
Prognos und des Energiewirtschaftlichen Instituts<br />
der Universität Köln.<br />
2001: Bundesumweltminister Jürgen Trittin<br />
(Bündnis 90/<strong>Die</strong> Grünen) (...) geht von Schätzungen<br />
aus, nach denen ohne weitere Maßnahmen<br />
Deutschland sein selbstgestecktes Klimaschutz-Ziel<br />
für 2005, <strong>die</strong> Reduktion des CO 2 -Ausstoßes um<br />
25% gegenüber 1990, um rund 100 Mio t verfehlen<br />
wird. (...)<br />
2002: <strong>Die</strong> rot-grüne Bundesregierung verabschiedete<br />
im Oktober ein umfangreiches Klimaschutz-<br />
Programm. Es soll gewährleisten, dass Deutschland,<br />
wie 1995 versprochen, seinen CO 2 -Ausstoß bis<br />
2005 um 25% gegenüber und seiner 1997 übernommenen<br />
Verpflichtung gerecht wird, den Ausstoß<br />
der sechs relevanten Treibhausgase bis<br />
2008/2012 um 21% zu senken.<br />
2003:<strong>Die</strong> konservativ-liberale Bundesregierung<br />
hatte 1995 das Ziel verkündet, den deutschen Kohlendioxid-Ausstoß<br />
bis 2005 gegenüber dem Vergleichsjahr<br />
1990 um 25% auf 760 Mio t zu reduzieren.<br />
<strong>Die</strong> rot-grüne Bundesregierung sprach Ende<br />
2001 nur noch davon, <strong>die</strong> Verpflichtung aus dem<br />
Kyoto-Protokoll erfüllen zu wollen, bis 2008/2012<br />
den Ausstoß von Treibhausgasen um 21% zu senken.<br />
2004: [keine neuen Reduzierungspläne]<br />
2005: Da der Kohlendioxid-Ausstoß seit 2000<br />
etwa stagnierte, musste <strong>die</strong> rot-grüne Bundesregierung<br />
im Oktober 2003 einräumen, dass das 1995<br />
von damaligen Bundeskanzler Kohl (CDU) verkündete<br />
Ziel, den Kohlendioxid-Ausstoß bis 2005<br />
gegenüber 1990 um 25% zu senken, nicht mehr zu<br />
schaffen sei.<br />
2006: <strong>Die</strong> rot-grüne Bundesregierung formulierte<br />
im Oktober 2003 vor dem Bundestag das Ziel, <strong>die</strong><br />
dt. Treibhausgasemissionen bis 2020 um 40% zu<br />
senken, wenn sich <strong>die</strong> gesamte EU zu einer Senkung<br />
um 30% verpflichte.<br />
2007: [keine neuen Reduzierungspläne]<br />
2008: In einer Regierungserklärung vor dem Bundestag<br />
verkündete <strong>die</strong> Bundesregierung im April<br />
2007 einen Achtpunkteplan, wonach der dt. Treibhausgasausstoß<br />
bis 2020 um 40% gegenüber 1990<br />
reduziert werden soll. Trotz der weltweiten Bemühungen,<br />
<strong>die</strong> Verbrennung fossiler Brennstoffe und<br />
den damit verbundenen Kohlendioxid-Ausstoß zu<br />
begrenzen, wuchs er auch 2005 (letztverfügbarer<br />
Stand) weiter an, und zwar weltweit um ca. 2,5%<br />
gegenüber 2004 auf 29,2 Gigatonnen (Gt). <strong>Die</strong><br />
Emissionen lagen damit um fast 27% über dem<br />
Stand von 1990.<br />
Zum Vergleich: In den fünf Jahren zwischen 1990<br />
und 1995 sank der deutsche CO 2 -Ausstoß aus der<br />
Verbrennung fossiler Brennstoffe – vor allem durch<br />
<strong>die</strong> Stilllegung der ostdeutschen Industrie – um 10,5<br />
Prozent, im den fünf Jahren danach noch um 3,3<br />
und in den darauffolgenden fünf Jahren 2001 bis<br />
2005 nur noch um 0,3 Prozent.<br />
Kunst-Protest<br />
Terrakotta-Soldat mit Maske<br />
In der Ausstellung der chinesischen Terrakotta-Armee<br />
im Oktober 2007 im Britischen Museum sprang Martin<br />
Wyness, 49, über <strong>die</strong> Barriere und hängte mehreren<br />
Figuren eine Atemmaske vor das Gesicht (Foto unten),<br />
bevor er von Sicherheitskräften überwältigt wurde.<br />
„Ich habe es getan, weil ich zwei Töchter habe und sehr,<br />
sehr besorgt bin über den Klimawandel, speziell wegen<br />
China.” Er bekam ein le benslanges Hausverbot für das<br />
Museum.
Thema Klimawandel<br />
<strong>Die</strong> Erde hat Fieber. Der Klimawandel<br />
ist das stärkste Virus, das <strong>die</strong> Menschheit in <strong>die</strong><br />
öko logische Selbstzerstörung treibt. Damit stehen<br />
wir an einem Wendepunkt. Zwar hat im letzten<br />
Jahrhundert ein gewaltiges Wachstum einem Teil<br />
der Welt großen Wohlstand, hohe Lebensqualität<br />
und mehr Demokratie gebracht. Das ging jedoch<br />
zu Lasten der Natur, plünderte <strong>die</strong> Ressourcen aus<br />
und führte zu einer stetigen Erwärmung der Atmo -<br />
sphäre, <strong>die</strong> sich in den letzten Jahr zehnten drama -<br />
tisch beschleunigt hat. <strong>Die</strong>ser Weg kann nicht<br />
weitergegangen werden. <strong>Die</strong> Party auf Kos ten der<br />
Dritten Welt, der Natur und künftiger Genera -<br />
tionen ist vorbei. <strong>Die</strong>ses Zeitalter der Ex pansion<br />
muss beendet werden, künftig geht es um Qualität.<br />
Damit rückt in unserer endlichen und schnell<br />
zusammenwachsenden Welt <strong>die</strong> ökologische<br />
Modernisierung ins Zentrum der nationalen,<br />
europäischen und internationalen Politik. Drei<br />
Gründe sind besonders hervorzuheben:<br />
Erstens: Wir nähern uns einer Naturschranke, <strong>die</strong><br />
nur um den Preis einer Katastrophe überschritten<br />
werden kann. Das ist der Kern der<br />
Herausforderung aus dem vom Menschen<br />
verursachten Klimawandel, der schneller und<br />
härter kommt als erwartet. In den nächsten 100<br />
Jahren werden <strong>die</strong> globalen Temperaturen<br />
wahrscheinlich um drei Grad Celsius steigen. Was<br />
das heißt, macht der geschichtliche Vergleich klar:<br />
In den letzten 200000 Jahren schwankten <strong>die</strong><br />
Temperaturen zwischen den Tiefstwerten einer<br />
Eiszeit, <strong>die</strong> bei rund 10 Grad Celsius lagen und<br />
unser Land zu einer einzigen Eistundra machten,<br />
und den Warmzeiten von rund 16 Grad, wahrlich<br />
blühende Landschaften, <strong>die</strong> mit dem Para<strong>die</strong>s oder<br />
Garten Eden beschrieben wurden, lediglich in<br />
einer Bandbreite von 6 Grad. Ein Plus von 3 Grad,<br />
aus dem nach pessimistischen Szenarios des<br />
Weltklimarates sogar 6 Grad werden könnten,<br />
packt auf eine Warmzeit gleichsam eine zweite<br />
Warmzeit drauf. Das ist in Geschwindigkeit und<br />
Eine Party auf Kosten der Zukunft<br />
<strong>Die</strong> aufhaltsame Katastrophe<br />
Der Autor, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit in Berlin,<br />
wendet sich hier gegen <strong>die</strong> Illusion eines bloß noch quantitativen Wirtschaftswachstums. Er plä<strong>die</strong>rt angesichts verschärfter<br />
weltweiter Ungerech tigkeiten für einen europäischen „New Deal“, eine auch sozialverträgliche Entwicklung.<br />
Von Michael Müller<br />
Höhe ein gefährliches Experiment mit der<br />
Zerbrechlichkeit der Erde.<br />
Beschleunigt durch <strong>die</strong> Globalisierungsprozesse<br />
und <strong>die</strong> nachholende Industrialisierung großer<br />
Teile der Welt werden <strong>die</strong> Grenzen des quanti -<br />
tativen Wachstums erreicht. Dabei stehen große<br />
und bevölkerungsreiche Staaten erst am Beginn<br />
der industriellen Entwicklung. Bald werden statt<br />
der 6,7 Milliarden Menschen rund neun<br />
Milliarden auf unserer ungleichen, überbevöl -<br />
kerten und verschmutzten Erde leben. Jährlich<br />
kommen rund 75 Millionen dazu. <strong>Die</strong>ses<br />
Bevölkerungswachstum entfällt nahezu<br />
ausschließlich auf <strong>die</strong> Entwick lungs- und<br />
Schwellenländer. Dort brauchen <strong>die</strong> Menschen<br />
mehr Energie und Rohstoffe, um ein menschen -<br />
würdiges Leben führen zu können. Kurz: Der<br />
Handlungsbedarf wächst rasant, denn mit der<br />
Teilung der Welt in Arm und Reich werden soziale<br />
Ungleichheiten explosiv, zugleich erreicht <strong>die</strong><br />
Umweltzerstörung eine neue Qualität.<br />
<strong>Die</strong> Überlastung der Stoffkreisläufe betrifft zwar<br />
<strong>die</strong> ganze Welt, doch <strong>die</strong> armen Regionen können<br />
sich gegen <strong>die</strong> Öko-Krise viel weniger schützen als<br />
<strong>die</strong> Hauptverursacher, <strong>die</strong> Industriestaaten auf der<br />
nördlichen Erdhalbkugel. Der Klimawandel<br />
erhöht vor allem in der Dritten Welt, insbesondere<br />
in Afrika, den Druck zur Migration, was aber auch<br />
dazu führt, dass <strong>die</strong> wohlhabenden Länder, in<br />
denen <strong>die</strong> Angst vor den Fremden und das<br />
Misstrauen gegen <strong>die</strong> Armen wachsen, ihre<br />
Grenzen schärfer kontrollieren und sich<br />
abschotten.<br />
Zweitens: <strong>Die</strong> Endlichkeit in der Nutzung der<br />
erschöpflichen Rohstoffe wird deutlich. Vieles<br />
spricht dafür, dass wir uns dem Scheitelpunkt der<br />
Ölförderung nähern. Der „Peak Oil“ bezeichnet<br />
den Zeitpunkt, an dem <strong>die</strong> Ölförderung ihren<br />
höchsten Stand erreicht und – erst langsam, aber<br />
unaufhaltsam – zurückgeht. <strong>Die</strong> Bundesanstalt für<br />
Geowissenschaften geht davon aus, dass <strong>die</strong><br />
15
16<br />
Spitzenförderung zwischen 2010 und 2030<br />
erreicht wird. Das Ende des Ölzeitalters wird<br />
sichtbar: eine Herausforderung an <strong>die</strong><br />
Weltgemeinschaft. Wenn nicht frühzeitig<br />
Konsequenzen aus der Endlichkeit gezogen<br />
werden, drohen massive Verteilungskonflikte, aus<br />
denen sogar Ressourcenkriege werden können.<br />
Nicht nur Gas und Öl werden knapp und teuer,<br />
auch Rohstoffe wie Platin, Beryllium, Naobium<br />
oder seltene Erden, <strong>die</strong> eine hohe Bedeutung für<br />
<strong>die</strong> High-Tech-Produktion haben, werden rasant<br />
aufgezehrt. <strong>Die</strong> massenhafte Bereitstellung billiger<br />
Ressourcen ist nicht länger das Schmiermittel des<br />
Industriezeitalters, das einem Teil der Welt<br />
Wohlstand und wirtschaftlichen Erfolg gebracht<br />
hat, oftmals durch einen ökologischen<br />
Kolonialismus, der <strong>die</strong> Abhängigkeiten verstärkt<br />
und <strong>die</strong> Unterschiede verfestigt hat. Mit der<br />
zunehmenden Knappheit nehmen <strong>die</strong><br />
Auseinandersetzungen zu, schnellen <strong>die</strong> Preise in<br />
<strong>die</strong> Höhe, brechen massive Verteilungskonflikte<br />
auf, können <strong>die</strong> Kosten bei Öl schon bald <strong>die</strong> 100<br />
US-Dollar erreichen.<br />
Drittens: <strong>Die</strong> Welt dreht sich. Erstmals beginnt<br />
der Süden <strong>die</strong> Entwicklung der Erde zu prägen –<br />
sowohl durch <strong>die</strong> wachsenden Folgeprobleme bei<br />
der Ernährung und Wasserversorgung, <strong>die</strong> in einer<br />
neuen Dimension von Migration münden<br />
können, als auch durch <strong>die</strong> explosive<br />
wirtschaftliche Dynamik der großen und<br />
bevölkerungsreichen Schwellenländer. Zu beiden<br />
Trends ein Beispiel: Nach den Aussagen des<br />
Weltklimarates droht in Afrika mit verschiedenen<br />
Ursachen eine Halbierung der Ernteerträge, wenn<br />
dort <strong>die</strong> Temperatur um mehr als 2 Grad Celsius<br />
gegenüber 1990 an steigt. Derzeit erhöhen sich in<br />
weiten Teilen Afrikas <strong>die</strong> Temperaturen bereits um<br />
0,3 Grad Celsius pro Dekade. 18 Prozent der<br />
dortigen Bevölkerung leiden an Hunger und<br />
Unterernährung. Und in China wurden allein<br />
2005 so viele Stromerzeugungskapazitäten neu<br />
errichtet, wie in unserem Land insgesamt<br />
vorhanden sind. Daraus erwächst eine neue<br />
Qualität der Umweltzerstörung.<br />
China ist mit seinen 1,3 Milliarden Menschen<br />
nicht nur <strong>die</strong> Werkbank der Welt, sondern wird<br />
wahrscheinlich 2009 zum weltweit größten<br />
Emittenten von Kohlendioxid werden. Allerdings<br />
entfällt heute auf einen Chinesen nicht einmal ein<br />
Fünftel des CO 2-Ausstoßes, für den ein Bürger der<br />
USA verantwortlich ist: 3,66 im Vergleich zu<br />
19,47 Tonnen Kohlendioxid (2004). In<strong>die</strong>n, das in<br />
<strong>die</strong> Rolle des globalen <strong>Die</strong>nstleisters rückt, hatte in<br />
den letzten 15 Jahren ein Energiewachstum von<br />
fast 100 Prozent. Dadurch ist das Land zu einem<br />
der stärksten Emittenten von Treibhausgasen<br />
aufgestiegen. Aber noch immer leben rund 70<br />
Prozent der Inder in großer Armut, mit weniger als<br />
zwei Dollar pro Tag.<br />
Thema<br />
<strong>Die</strong>se Gefahren haben viel mit der Einrichtung<br />
der Welt zu tun, der Verteilung von Macht und<br />
Herrschaft, dem Verständnis von Freiheit und<br />
Fortschritt, der Verteilung von Reichtum und<br />
Vermögen. Vor allem aber ist <strong>die</strong> Moderne von<br />
Naturvergessenheit geprägt. <strong>Die</strong> bedingungslose<br />
Entfaltung der Produktivkräfte wurde lange Zeit<br />
als Voraussetzung für <strong>die</strong> Vorwärtsbewegung der<br />
Gesellschaft gesehen. <strong>Die</strong>ser Weg gerät an<br />
Grenzen. <strong>Die</strong> Fakten sind eindeutig:<br />
Heute entfallen allein auf <strong>die</strong> 1,4 Milliarden<br />
Menschen, <strong>die</strong> in den entwickelten<br />
Industriegesellschaften leben, rund 70 Prozent der<br />
kommerziellen Nutzung von Energie und<br />
Rohstoffen. Rund 80 Prozent der bisherigen<br />
Belastungen mit anthropogen verursachten<br />
Treibhausgasen gehen auf ihr Konto. So haben sich<br />
allein <strong>die</strong> Kohlendioxid-Emissionen von 1900 bis<br />
heute von rund 250 Mio. Tonnen auf über 30<br />
Milliarden Tonnen verhundertfacht. Nun<br />
verschieben sich <strong>die</strong> Verhältnisse. Auf <strong>die</strong> OECD-<br />
Staaten entfallen 52 Prozent der Kohlendioxid-<br />
Emissionen. Vor allem in Asien sind <strong>die</strong><br />
Zuwachsraten enorm. Dagegen entfallen auf <strong>die</strong><br />
fast 1 Milliarde Afrikaner nur vier Prozent der<br />
energiebedingten CO 2 -Freisetzungen.<br />
Bei einem kleiner werdenden Kuchen<br />
an Ressourcen wird sich mit der nachholenden<br />
Industrialisierung <strong>die</strong> Nachfrage schnell<br />
verdoppeln und verdreifachen. Um ihren<br />
Wohlstand zu steigern, greifen <strong>die</strong><br />
Schwellenländer massiv auf <strong>die</strong> begrenzten<br />
Rohstoffe und Energiereserven zu, wie das der<br />
Norden der Erde seit langem vormacht. In der<br />
Schere zwischen der Verteidigung des Status quo<br />
und dem Bemühen um ein schnelles Aufholen<br />
wird es schwer, den Klimawandel zu stoppen und<br />
Ressourcen zu schonen.<br />
Das zeigt, wie eng ökonomische, soziale und<br />
ökologische Fragen miteinander verwoben sind.<br />
<strong>Die</strong> Interdependenzen der zusammenwachsenden<br />
Welt machen wie nie zuvor <strong>die</strong> Verwundbarkeit<br />
der menschlichen Sicherheit deutlich. Was ist zu<br />
tun, damit <strong>die</strong> Menschheit sich einer<br />
zukunftsweisenden Form unserer Zivilisation<br />
zuwendet? Sie muss illusorische<br />
Wachstumsträume aufgeben, einen sozial- und<br />
umweltverträglichen Pfad einleiten und mehr<br />
Wirtschafts- und Lebensqualität auf einem sozialund<br />
naturverträglichen Weg erreichen. Das<br />
bisherige Modell von Wachstum kann keine<br />
Zukunft haben:<br />
- Es zehrt <strong>die</strong> natürlichen Grundlagen der<br />
Wirtschaft immer schneller auf. <strong>Die</strong> Schäden<br />
steigen exponentiell. Durch <strong>die</strong>sen<br />
Substanzverlust verliert auch <strong>die</strong> Wirtschaft ihre<br />
Zukunftsfähigkeit. <strong>Die</strong> externen Kosten steigen zu<br />
Lasten der Gesellschaft und der Zukunft.
Klimawandel<br />
- <strong>Die</strong> zunehmenden Knappheiten belasten <strong>die</strong><br />
Lebenschancen künftiger Generationen und<br />
engen deren Gestaltungs- und Freiheitsraum<br />
massiv ein.<br />
- Schließlich baut sich immer komplexer und mit<br />
weitreichenden Folgen eine Katastrophe auf, <strong>die</strong><br />
immer schwieriger abzuwenden wird.<br />
An <strong>die</strong>sem Limes stellt sich <strong>die</strong> Frage, ob <strong>die</strong><br />
Menschheit bei <strong>die</strong>sen Herausforderungen<br />
handelt, bevor uns <strong>die</strong> verheerenden Folgen der<br />
noch aufhaltbaren Katastrophe einholen. Erneut<br />
geht es, wie Norbert Elias <strong>die</strong> wichtigste Aufgabe<br />
für eine humane Zivilisation beschrieben hat, um<br />
<strong>die</strong> soziale Bändigung von Gewalt. „Make poverty<br />
history, make conflicts and wars history, make<br />
environment destruction history, make human<br />
abuse history“, definierten 1945 <strong>die</strong> Vereinten<br />
Nationen <strong>die</strong> Aufgaben der Menschheit, <strong>die</strong><br />
unverändert aktuell sind. Aber viel Zeit bleibt<br />
nicht mehr.<br />
<strong>Die</strong> bisherigen Formen von Wachstum und<br />
Wohlstand können keine Zukunft haben. Das<br />
Doppelgesicht der Moderne wird deutlich: Das<br />
quantitative Wachstum war zwar der Treiber einer<br />
gewaltigen wirtschaftlichen Dynamik und ein<br />
Motor von Internationalisierung und Globa -<br />
lisierung, aber es ist nicht vereinbar mit der<br />
Endlichkeit der Erde und den Regenerations -<br />
fristen der Natur. Mit ihnen wird der ökologische<br />
Raubbau zur Achillesferse der modernen Welt.<br />
Wie in einem Brennglas zeigt sich das in dem vom<br />
Menschen verursachten Klimawandel. <strong>Die</strong><br />
Ergebnisse des Intergovernmental Panel of<br />
Climate Change (IPCC) sind eindeutig: <strong>Die</strong><br />
Erwärmung steigt auf bald 0,2 Grad Celsius pro<br />
Jahrzehnt und wird schon bald <strong>die</strong> kritische 2-<br />
Grad-Grenze erreichen.<br />
Doch ohne Gegenmaßnahmen wird der globale<br />
Temperaturanstieg mit einer sehr hohen<br />
Wahrscheinlichkeit um 3 Grad Celsius in <strong>die</strong>sem<br />
Jahrhundert gegenüber 1850 ansteigen. Schon<br />
heute ist eine Erwärmung um mindestens 1,3<br />
Grad Celsius nicht mehr zu verhindern <strong>Die</strong><br />
Wetterextreme werden in den nächsten drei bis<br />
vier Jahrzehnten weiter zunehmen. Sprunghaft<br />
kann sogar eine noch sehr viel größere<br />
Schadensdimension eintreten, wenn<br />
beispielsweise <strong>die</strong> massenhafte Freisetzung von<br />
Methan aus den auftauenden Permafrostgebieten<br />
den Klimawandel rasant beschleunigt. Ein anderes<br />
Beispiel ist das denkbare Wegrutschen der heute an<br />
Land gebundenen Eisschichten in den nördlichen<br />
und südlichen Polarzonen durch <strong>die</strong> Fließgewässer<br />
aus dem schmelzenden Gletschereis. Al Gore<br />
spricht von „tipping points“. Auf jeden Fall sind<br />
<strong>die</strong> Wechselwirkungen einer Vielzahl von<br />
Prozessen bisher nicht ausreichend bekannt und<br />
erforscht.<br />
Wenn nicht gegengesteuert wird, beziffert der<br />
Stern-Report, der <strong>die</strong> ökonomischen Folgen<br />
erforscht hat, <strong>die</strong> künftigen Einbußen durch <strong>die</strong><br />
Klimafolgen auf mindestens 5 Prozent des<br />
globalen Bruttoinlandsprodukts. Der frühere<br />
Chefökonom der Weltbank kann sogar einen<br />
Verlust bis zu 20 Prozent nicht ausschließen, wenn<br />
für Millionen von Menschen Hunger, Wasser -<br />
mangel, Unbewohnbarkeit und Überschwem -<br />
mungen eintreten. Auch der Weltklimarat zeigt<br />
auf: <strong>Die</strong> Kosten einer Stabilisierung des Klimas<br />
sind beträchtlich, aber sie sind tragbar. Verzö -<br />
gerungen sind nicht zu verantworten, denn sie<br />
kommen uns künftig sehr viel teurer. <strong>Die</strong><br />
Endlichkeit der Rohstoffe und <strong>die</strong> Überlastung der<br />
Stoffkreisläufe limitieren wirtschaftliches<br />
Wachstum. Damit kehren sich <strong>die</strong> Vorteile des<br />
quantitativen Wachstums um.<br />
Dabei ist <strong>die</strong> knappste Ressource nicht einmal<br />
Gas oder Öl. Knapp wird vor allem <strong>die</strong> Zeit, <strong>die</strong> ein<br />
Umbau braucht.<br />
Der innovative und effiziente Umgang<br />
mit den natürlichen Ressourcen wird zur<br />
Schlüsselfrage der nächsten Jahrzehnte. Im<br />
Jahrhundert der Ökologie wird er zum<br />
Überlebensgebot. Vor allem <strong>die</strong> Energiepolitik<br />
rückt ins Zentrum der Wirtschafts- und<br />
Gesellschaftspolitik. Notwendig ist ein neues<br />
Denken und Handeln im Umgang mit Energie<br />
Noch immer aktuell: ein Buch von 1972<br />
17
18<br />
und Rohstoffen – eine Frage der ökonomischen<br />
und ökologischen Vernunft und ein Gebot der<br />
Fairness gegenüber kommenden Generationen.<br />
<strong>Die</strong> drei großen Herausforderungen – der<br />
Klimawandel, <strong>die</strong> Knappheit der natürlichen<br />
Ressourcen und <strong>die</strong> nachholende<br />
Industrialisierung – machen eine<br />
Effizienzrevolution und den Übergang in eine<br />
solare Zivilisation zu zentralen Handlungsfeldern.<br />
<strong>Die</strong> Zeit billiger Ressourcen ist vorbei. Sie werden<br />
knapp und teuer. So schnell wie möglich muss mit<br />
ihnen effizient und schonend umgegangen<br />
werden. <strong>Die</strong>se Aufgabe geht weit über<br />
ökonomische und technische Fragen hinaus. Sie<br />
betrifft auch <strong>die</strong> soziale Sicherheit und unser<br />
Verständnis von Freiheit und Verantwortung.<br />
Deshalb ist ein „New Deal” notwendig.<br />
Nur mit einer „Neuausteilung der Karten“<br />
kommen wir aus den heutigen Sackgassen heraus,<br />
Teilkorrekturen reichen nicht mehr. <strong>Die</strong> Leitidee<br />
für Umbau und Erneuerung ist <strong>die</strong> nachhaltige<br />
Entwicklung, <strong>die</strong> vom Erdgipfel 1992<br />
vorgeschlagen wurde. Sie verbindet kulturelle<br />
Neuausrichtung, ökonomische Innovationskraft,<br />
eine ökologische Revolution und <strong>die</strong> Bekämpfung<br />
von Armut und Ungerechtigkeit miteinander, <strong>die</strong><br />
Wirtschafts- und Lebensqualität heute zu<br />
verbessern und <strong>die</strong> Lebenschancen künftiger<br />
Generationen zu bewahren. In der Dimension ist<br />
<strong>die</strong>ses Projekt vergleichbar mit der Idee des<br />
Wohlfahrtsstaates, <strong>die</strong> von Franklin Roosevelt<br />
1933 konkretisiert und umgesetzt wurde. Auch<br />
heute ist eine solch große Antwort notwendig. So<br />
wie <strong>die</strong> soziale Demokratie im letzten Jahrhundert<br />
den Menschen Stabilität, Sicherheit und Chancen<br />
gebracht hat, kann <strong>die</strong>s heute der ökologische New<br />
Deal.<br />
<strong>Die</strong> Nachhaltigkeit verbindet <strong>die</strong> sozialen,<br />
wirtschaftlichen und ökologischen Fragen des<br />
Umbaus und der Erneuerung miteinander<br />
verbinden. Heute ringen wir um <strong>die</strong>sen neuen<br />
Weg. Dabei ist der Übergang <strong>die</strong> schwierigste<br />
Aufgabe, denn wir erleben, dass <strong>die</strong> alte Ordnung<br />
nicht mehr funktioniert, <strong>die</strong> neue aber erst<br />
geschaffen wird. Das sind <strong>die</strong> Geburtsschmerzen<br />
einer neuen Epoche. Damit <strong>die</strong> Menschen den<br />
neuen Weg mitgehen, brauchen sie Sicherheit und<br />
Perspektive. Das erfordert eine Konkretisierung<br />
der Nachhaltigkeit. Vor allem Europa muss einen<br />
eigenständigen Weg gehen, der <strong>die</strong> großen Ideen<br />
der sozialen Demokratie nicht aufgibt, sondern<br />
weiterentwickelt. Mit einer Ökonomie, <strong>die</strong> vor<br />
allem auf kurzfristige Renditeziele setzt, aber <strong>die</strong><br />
Zukunftsaufgaben verdrängt, wird es keine gute<br />
Zukunft geben – auch nicht für <strong>die</strong> Wirtschaft,<br />
deren Substanz ausgezehrt wird.<br />
In der Globalisierung findet eine<br />
Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen<br />
wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Modellen<br />
statt. Während Nordamerika vor allem auf eine<br />
Thema<br />
liberale Marktwirtschaft setzt, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Gesellschaft<br />
zu einer Marktgesellschaft macht, versucht China<br />
mit einer staatlich gesteuerten Wachstumsstrategie<br />
den Wohlstand der traditionellen Industriestaaten<br />
auf- und einzuholen. Beide Systeme sind<br />
ökologisch und sozial nicht verträglich. Von daher<br />
verwundert es nicht, dass von China und USA ein<br />
starker Widerstand gegen ehrgeizige, aber<br />
notwendige Klimaschutzziele ausgeht.<br />
Westeuropa ist in den vergangenen<br />
Jahrzehnten mit dem Konzept der fairen und<br />
solidarischen Gesellschaft gut gefahren. <strong>Die</strong> soziale<br />
Marktwirtschaft verband ökonomische<br />
Leistungskraft mit einem sozialen<br />
Interessenausgleich. Auch Klimaschutz und<br />
Gerechtigkeit gehören zusammen. <strong>Die</strong><br />
Bewältigung der ökologischen Herausforderungen<br />
setzt ein weitergehendes Verständnis von<br />
Gerechtigkeit und Verantwortung voraus. Eu ro pa<br />
kann, wenn <strong>die</strong> EU den Weg des neuen New Deal<br />
geht, eine gestaltende Rolle in der Globalisierung<br />
einnehmen, <strong>die</strong> überall in der Welt geachtet wird.<br />
Große Teile der Welt richten hierbei <strong>die</strong> Hoffnung<br />
vor allem auf unser Land. Wir brauchen eine neue<br />
industrielle Revolution hin zu einer nachhaltigen<br />
Entwicklung: Energien ohne Treibhausgase.<br />
Heizung, Strom und Mobilität mit Hilfe der<br />
Sonnenenergie. Weg von Gas, Öl und Kohle. Eine<br />
Effizienzrevolution für Gebäude, <strong>die</strong> keine Energie<br />
verbrauchen. Saubere Autos. Deutschland kann<br />
und muss zur energie- und rohstoffeffizientesten<br />
Volkswirtschaft der Welt werden.<br />
Beim ökologischen New Deal müssen alle<br />
mitmachen – Wirtschaft, Gewerkschaften,<br />
Wissenschaft und Zivilgesellschaft. <strong>Die</strong> effiziente<br />
und integrierte Energieversorgung, eine<br />
umweltverträgliche Mo bilität und dauerhafter<br />
Klimaschutz sind mit sektoralen, internationalen<br />
und intergenerativen Verteilungskonflikten<br />
verbunden. Von daher bekommt der<br />
Umweltschutz heute nicht nur eine zentrale<br />
Bedeutung, er muss auch selbst neu geordnet<br />
werden. Entscheidend für <strong>die</strong> ökologische<br />
Modernisierung werden Sozialverträglichkeit und<br />
Innovationskraft werden:<br />
1. <strong>Die</strong> sozialen Auswirkungen der Umweltpolitik<br />
sind bis heute zu wenig thematisiert. Tatsache ist:<br />
Sozial schwächere Gruppen sind deutlich stärker<br />
von den Umweltbelastungen betroffen. Und sie<br />
tragen bisher auch den höchsten Anteil an der<br />
Finanzierung von Umweltschutzmaßnahmen.<br />
Von daher wird in Teilen der Bevölkerung der<br />
Umweltschutz häufig als Bedrohung ihrer<br />
Interessen empfunden. Je stärker <strong>die</strong><br />
Umweltgefahren werden, desto stärker wird seine<br />
Notwendigkeit akzeptiert, aber zugleich werden<br />
Einschnitte und Belastungen befürchtet. Der
Klimawandel<br />
Umbau kostet Geld und <strong>die</strong>se Kosten müssen<br />
aufgebracht werden. Von daher müssen <strong>die</strong> Lasten<br />
fair verteilt werden. <strong>Die</strong> ökologische Modernisie -<br />
rung ist eine soziale Aufgabe. <strong>Die</strong> Menschen<br />
werden sich darauf nur einlassen, wenn<br />
- das Verursacherprinzip gilt, es weg geht von den<br />
End-of-the-pipe-Technologien hin zu einem<br />
produktionsintegrierten Umweltschutz;<br />
- beispielsweise <strong>die</strong> Angebote der öffentlichen<br />
Verkehrssysteme flächendeckend und<br />
kostengünstig sind;<br />
- Arbeit und Umwelt miteinander verbunden<br />
werden, um <strong>die</strong> Beschäftigungsfrage offensiv<br />
aufzugreifen;<br />
- der öffentliche Sektor für <strong>die</strong> Daseinsvorsorge<br />
modernisiert wird und<br />
- an den Chancen der ökologischen<br />
Modernisierung alle Menschen teilhaben.<br />
2. <strong>Die</strong> ökologische Modernisierung braucht eine<br />
positive Neubestimmung der Idee des technischen<br />
Fortschritts. Wurde in den letzten Jahren <strong>die</strong><br />
Technik häufig als Feind der Natur gesehen, muss<br />
sie heute zum Verbündeten beim Schutz der<br />
natürlichen Lebensgrundlagen werden. <strong>Die</strong><br />
Ressourcen müssen gezielt auf <strong>die</strong> ökologischen<br />
Zukunftsfelder wie zum Beispiel<br />
Kreislaufwirtschaft, nachhaltige Mobilität,<br />
Effizienzrevolution oder Erneuerbare Energien<br />
einschließlich der Speicherung gelenkt werden.<br />
Auch bei den Akteuren und Trägern der<br />
Umweltpolitik werden <strong>die</strong> Karten neu gemischt.<br />
<strong>Die</strong> „Vertreter der Anklage“ verlieren an Bedeu -<br />
tung, weit wichtiger werden Konzepte der<br />
Innovationsbeschleunigung und der gerechten<br />
Verteilung von Chancen wie Lasten im Umbau -<br />
prozess. Selbst <strong>die</strong> Grünen werden an Bedeutung<br />
verlieren, wenn sie <strong>die</strong>se Neuorientierung nicht<br />
Generation Klimawandel: Textilwerbung<br />
hinbekommen. Um es mit Willy Brandt zu sagen:<br />
„Nichts kommt von selbst. Nur wenig ist von<br />
Dauer. Darum: Besinnt Euch auf Eure Kraft und<br />
darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und<br />
man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes<br />
bewirkt werden soll“. Nachhaltigkeit verbindet<br />
ökonomische Innovationskraft mit sozialer<br />
Gerechtigkeit und ökologischer Verträglichkeit.<br />
Sie gestaltet <strong>die</strong> Globalisierung, statt nur auf ihre<br />
Zwänge zu reagieren.<br />
Nachhaltigkeit ist ein regulatives Konzept mit<br />
klaren Prinzipien. <strong>Die</strong> zeitliche und sektorale<br />
Vernetzung ermöglicht eine dauerhafte und<br />
gleichzeitig vielfältige Entwicklung. <strong>Die</strong>se Vision<br />
bekommt durch <strong>die</strong> Herausbildung der Wissens -<br />
ökonomie einen konkreten Hintergrund. <strong>Die</strong><br />
Informations- und Kommunikations technologien<br />
ermöglichen neue Produktivität. Sie rücken <strong>die</strong><br />
kreativen Fähigkeiten des Menschen ins Zentrum.<br />
<strong>Die</strong> Neuordnung der Energie- und Ressourcen -<br />
wirtschaft wird möglich.<br />
In ein Bild gefasst: Bei der nachhaltigen<br />
Entwicklung geht es um ein neues Haus der<br />
Zivilisation. <strong>Die</strong> Ökologie ist das Fundament, <strong>die</strong><br />
soziale Gerechtigkeit gewährleistet <strong>die</strong> stabile<br />
Statik. Wie groß das Haus dann gebaut wird, liegt<br />
an den schöpferischen Kräften und am wissen -<br />
schaftlich-technischen Fortschritt. Nachhaltigkeit<br />
richtet sich nicht gegen Wachstum, sondern<br />
überführt es in eine neue Entwicklungsdynamik,<br />
in ein gezieltes Wachsen und Schrumpfen, das den<br />
Überlastungen, Begrenzungen und Ungleich -<br />
heiten unserer Welt gerecht wird. Der Schlüssel<br />
liegt in der Aufwertung der Zukunft. Mit <strong>die</strong>ser<br />
Orientierung verbindet Nachhaltigkeit soziale,<br />
ökologische und wirtschaftliche Ziele, Gegenwart<br />
und Zukunft, Nord und Süd<br />
miteinander. Sie braucht keine<br />
übergeordneten<br />
zentralisierten Institutionen,<br />
sondern lässt sich auf allen<br />
Ebenen und in allen Bereichen<br />
unmittelbar umsetzen.<br />
Nachhaltigkeit ist Weltinnen -<br />
politik, ein wichtiger Aus -<br />
gangs punkt für ein „region<br />
building“ zur Stärkung der<br />
Europäischen Union, wenn sie<br />
<strong>die</strong>ses Leitprinzip mit dem<br />
Lissabon-Prozess verbindet.<br />
Nachhaltigkeit ist von daher<br />
nicht nur Umweltschutz,<br />
sondern gehört ins Zentrum.<br />
Sie ist auch Wirtschafts-,<br />
Beschäftigungs-, Sozial- und<br />
Friedenspolitik. Nachhaltig -<br />
keit darf kein belie biges<br />
Plastikwort sein.<br />
19
20<br />
Alexander von Humboldt<br />
Wie der Klimawandel entdeckt wurde<br />
Vor mehr als 200 Jahren entwickelte der Südamerika-Reisende Alexander von Humboldt als erster <strong>die</strong> Idee des Klimawandels.<br />
Der schrumpfende Valencia-See, erklärte er den beunruhigten Anrainern, verliere deshalb sein Wasser, weil ringsumher <strong>die</strong> Wälder<br />
abgeholzt worden seien und sich dadurch das Klima verändert habe. Frank Holl bereitet derzeit für das Deutsche Museum in<br />
München eine große Ausstellung über Alexander von Humboldt vor.<br />
Er ist sicher eine der merkwürdigsten Na -<br />
turen, <strong>die</strong> es jemals gegeben hat“, schrieb Wilhelm<br />
von Humboldt im Jahr 1817 über seinen Bruder.<br />
Ei ne schillernde, aber auch unergründliche Gestalt<br />
war Alexander von Humboldt – ein Impulsgeber für<br />
Wissenschaft, Kunst und Politik. Auch war er wohl<br />
der erste, der sich – grundlegend und visionär – mit<br />
dem Einfluss des Menschen auf das Klima befasste.<br />
Nach seinem Tod 1859 allerdings geriet Hum -<br />
boldt in Deutschland erstaunlich schnell in<br />
Vergessenheit. Um <strong>die</strong> <strong>ersten</strong> Exemplare des<br />
zweiten Bandes seines Kosmos hatten sich im Jahr<br />
1847, wie sein Verleger Cotta schrieb, <strong>die</strong> Käufer<br />
noch „wirkliche Schlachten“ geliefert. Doch in der<br />
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde es rasch<br />
still um den Forscher und seine Ideen. Woran lag es?<br />
Gleich zweifach trug ihn Deutschland damals zu<br />
Grabe: der aufkeimende Nationalismus begrub den<br />
Kosmopoliten, und <strong>die</strong> sich in immer weitere<br />
Disziplinen ausdifferenzierende Wissenschaftswelt<br />
beerdigte den kosmovisionären, transdisziplinären<br />
Denker.<br />
Während Humboldt in Hispano-Amerika als<br />
Vordenker der Unabhängigkeit und „wahrer<br />
Entdecker der Neuen Welt“, wie ihn Simón Bolívar<br />
bezeichnete, bis zum heutigen Tag unvermindert<br />
präsent ist, beginnt in Deutschland erst jetzt<br />
allmählich eine Rückbesinnung auf seine Weltsicht.<br />
Sein in Enzensbergers Anderer Bibliothek“ von<br />
Ottmar Ette und Oliver Lubrich neu heraus -<br />
gegebener Kosmos wurde 2004 – 160 Jahre nach<br />
Erscheinen – erneut zum Verkaufsschlager. Daniel<br />
Kehlmanns gut geschriebener, wenn auch schlecht<br />
recherchierter pseudo-historischer Hum boldt-<br />
Roman <strong>Die</strong> Vermessung der Welt aus dem Jahr 2005<br />
hat sich mittlerweile mehr als eine Million mal<br />
verkauft.<br />
Was fasziniert uns heute an Alexander von<br />
Humboldt? Es ist ein Facettenreichtum ohne -<br />
gleichen, der ihn einerseits als schräge Romanfigur<br />
zur Attraktion macht, andererseits aber auch als<br />
Vor- und Querdenker auf nahezu unzähligen<br />
Von Frank Holl<br />
Thema<br />
Gebieten zu einer unerschöpflichen Inspirations -<br />
quelle. <strong>Die</strong> Wieder-Entdeckung des Entdeckers hat<br />
begonnen.<br />
Mitten in einem relativ wenig<br />
gelesenen Werk, und dort auch noch an einer<br />
ziemlich versteckten Stelle, kommt Alexander von<br />
Humboldt zu einer verblüffenden Erkenntnis. Der<br />
Mensch verändere das Klima „durch Fällen der<br />
Wälder, durch Veränderung in der Vertheilung der<br />
Gewässer und durch <strong>die</strong> Entwicklung großer<br />
Dampf- und Gasmassen an den Mittelpunkten der<br />
Industrie“. <strong>Die</strong>se Feststellung findet sich in seinem<br />
1843 auf Französisch, und ein Jahr später auf<br />
Deutsch erschienenen Buch Central-Asien.<br />
Untersuchungen über <strong>die</strong> Gebirgsketten und <strong>die</strong><br />
vergleichende Klimatologie (S. 214). Wohl erst -<br />
malig in der Geschichte werden hier <strong>die</strong> anthropo -<br />
genen Einflüsse auf das Klima korrekt und zudem<br />
vollständig beschrieben. Zum <strong>ersten</strong> Mal nennt<br />
hier, soweit ich <strong>die</strong>s derzeit sehe, ein Mensch den<br />
anthropogenen Klimafaktor „Entwicklung großer<br />
Dampf- und Gasmassen“. Zwei Jahre später, im<br />
<strong>ersten</strong> Band seines Kosmos macht Humboldt erneut<br />
auf <strong>die</strong>ses Phänomen aufmerksam, in dem er von<br />
der „Vermengung [der Atmosphäre] mit mehr oder<br />
minder schädlichen gasförmigen Exhalationen“ als<br />
Klimafaktor spricht.<br />
Humboldt selbst misst seiner eigenen Analyse<br />
erstaunlicherweise relativ wenig Bedeutung bei. In<br />
seinem Werk Central-Asien schreibt er: „<strong>Die</strong>se<br />
Veränderungen [durch den Menschen] sind ohne<br />
Zweifel wichtiger als man allgemein annimmt; aber<br />
unter den zahllos verschiedenen, zugleich wirk -<br />
samen Ur sachen, von denen der Typus der Klimate<br />
abhängt, sind <strong>die</strong> bedeutsamsten nicht auf kleine<br />
Localitäten beschränkt, sondern von Verhältnissen<br />
der Stellung, Configuration und Höhe des Bodens<br />
und von den vorherrschenden Winden abhängig,<br />
auf welche <strong>die</strong> Civilisation keinen merklichen<br />
Einfluss ausübt.“
Klimawandel<br />
Damit hatte Humboldt zu seiner Zeit zweifellos<br />
vollkommen recht: Im Jahr 1843 beeinflusste <strong>die</strong><br />
Zivilisation in der Tat den „Typus der Klimate“<br />
noch nicht merklich. Seither jedoch ist <strong>die</strong> Welt -<br />
bevölkerung von 1,262 Milliarden auf 6,641<br />
Milliarden um mehr als das Fünffache angewach -<br />
sen. <strong>Die</strong> Industria li sierung, und vor allem <strong>die</strong><br />
Emission der Ausstoß an CO 2 – dessen Wirkung<br />
Humboldt noch nicht kennen konnte – hat sich<br />
inzwischen als bedrohlicher Klimafaktor erwiesen.<br />
Sein weltweiter durch Menschen verursachter<br />
Ausstoß ist seit Humboldts Be ob achtung um 1840<br />
bis heute auf das Mehrtausendfache angewachsen.<br />
<strong>Die</strong> Gesamtkonzentration von CO 2 in der Atmo -<br />
sphäre stieg seither von etwa 280 ppm auf etwa<br />
385 ppm an.<br />
Vermutlich hat kein anderer Wissenschaftler<br />
zuvor bis zu <strong>die</strong>sem Zeitpunkt eine derartig<br />
scharfsinnige Analyse des anthropogenen Einflusses<br />
auf das Klima geliefert. Sie ist Bestandteil einer<br />
umfassenden Wissenschaftskonzeption Alexander<br />
von Humboldts, <strong>die</strong> im Folgenden kurz erläutert<br />
werden soll.<br />
Alexander von Humboldt gilt heute als<br />
Vordenker der modernen Ökologie. Zwar kannte er<br />
den Begriff, den Ernst Haeckel erst 1866, kurz nach<br />
Humboldts Tod, geprägt hatte, noch nicht, aber er<br />
lieferte bereits 1799 hierfür eine korrekte Defini -<br />
tion: „Mein eigentlicher, einziger Zweck“, schrieb<br />
er damals, „ist das Zusammen- und Ineinander-<br />
Weben aller Naturkräfte zu untersuchen, den<br />
Einfluss der to ten Natur auf <strong>die</strong> belebte Tier- und<br />
Pflanzenschöpfung.“ Später, im Kosmos spricht er<br />
vom „ewigen Haushalte der Natur“. Er betrachtet<br />
sie als „eine allgemeine Verkettung nicht in einfach<br />
linearer Richtung, sondern in netzartig verschlun -<br />
genem Ge webe.“<br />
Heute bezeichnet man als Ökologie „ein Teilgebiet<br />
der Biologie, welches sich mit den Wechsel -<br />
beziehungen der Organismen untereinander und<br />
mit ihrer abiotischen Umwelt beschäftigt“<br />
(Wikipedia). Allerdings ging Humboldt bereits<br />
damals über <strong>die</strong>se enge Definition hinaus: zum<br />
einen, weil sich sein wissenschaftlicher Ansatz nicht<br />
auf eine einzige Disziplin wie <strong>die</strong> Biologie<br />
reduzieren lässt, zum anderen, weil der Mensch in<br />
Humboldts Wissenschaftskonzeption als ein<br />
politisch handelndes und mit der Umwelt inter -<br />
agierendes Wesen immer eine zentrale Rolle spielt.<br />
In einem weiteren Sinn allerdings wird der Begriff<br />
Ökologie oder „ökologisch“ heute in um welt poli -<br />
tischen Zusammenhängen verwendet. In <strong>die</strong>sem<br />
Kontext ist es durchaus sinnvoll, Humboldt als<br />
Ökologen oder Vordenker der Nachhaltigkeit zu<br />
bezeichnen. Auf eine bestimmte Disziplin jedoch<br />
kann man Humboldts Ansatz nicht reduzieren. Wie<br />
der Potsdamer Literaturwissenschaftler Ottmar<br />
Ette kürzlich festgestellt hat, ist Humboldts Ansatz<br />
<strong>Die</strong> Gartenlaube, September 1869. Privatsammlung München.<br />
nicht interdisziplinär, sondern vielmehr trans -<br />
disziplinär: Humboldt sucht den Dialog mit<br />
anderen Disziplinen nicht vom Standpunkt einer<br />
einzigen, eigenen Disziplin aus, sondern er<br />
verbindet <strong>die</strong> unterschiedlichsten Bereiche der<br />
Wissenschaft mit einander. Man könnte sein<br />
Konzept deshalb auch als transdisziplinäre Welt -<br />
wissenschaft beschreiben. Im Untertitel seines<br />
„Kosmos“ be zeichnet Humboldt selbst seine<br />
Konzeption als „Physische Weltbeschreibung“.<br />
In Humboldts Wissenschaftskonzeption<br />
nimmt das Klima eine zentrale Stellung ein. <strong>Die</strong><br />
Atmosphäre sah er als einen „Luft-Ocean“, auf<br />
dessen Grund <strong>die</strong> Menschen und alle anderen<br />
Landbewohner leben. Bereits 1831 lieferte Hum -<br />
boldt in seinen Fragmenten einer Geologie und<br />
Klimatologie Asiens, und später 1845, in seinem<br />
weitaus prominenteren Kosmos. Darin lieferte er<br />
1845 eine bis heute immer noch weitgehend<br />
akzeptierte Definition des Begriffs Klima: „Das<br />
Wort Klima bezeichnet [...] zuerst eine specifische<br />
Beschaffenheit des Luftkreises; aber <strong>die</strong>se Beschaf -<br />
fenheit ist abhängig von dem perpe tuir lichen<br />
Zusammenwirken einer all- und tiefbewegten,<br />
durch Strömungen von ganz entgegen gesetzter<br />
Temperatur durchfurchten Meeresfläche mit der<br />
wärmestrahlenden trockenen Erde: <strong>die</strong> mannig -<br />
faltig gegliedert, erhöht, gefärbt, nackt oder mit<br />
Wald und Kräutern bedeckt ist.”<br />
An anderer Stelle, ebenfalls in <strong>ersten</strong> Band des<br />
Kosmos, findet sich folgende Erklärung: „Der<br />
Ausdruck Klima bezeichnet in seinem allgemeins -<br />
ten Sinne alle Veränderungen in der Atmosphäre,<br />
<strong>die</strong> unsre Or gane merklich afficiren: <strong>die</strong> Tempera -<br />
Abschied vom Kosmos, Holzstich von Johann Carl Wilhelm Aarland<br />
nach einer Zeichnung von Wilhelm von Kaulbach<br />
21
22<br />
tur, <strong>die</strong> Feuchtigkeit, <strong>die</strong> Verändrungen des<br />
barome trischen Druckes, den ruhigen Luftzustand<br />
oder <strong>die</strong> Wirkungen ungleichnamiger Winde, <strong>die</strong><br />
Größe der electrischen Spannung, <strong>die</strong> Reinheit der<br />
Atmosphäre oder ihre Vermengung mit mehr oder<br />
minder schädlichen gas förmigen Exhalationen,<br />
endlich den Grad habitueller Durchsichtigkeit und<br />
Heiterkeit des Himmels; welcher nicht bloß wichtig<br />
ist für <strong>die</strong> vermehrte Wärmestrahlung des Bodens,<br />
<strong>die</strong> organische Ent wick lung der Gewächse und <strong>die</strong><br />
Reifung der Früchte, sondern auch für <strong>die</strong> Gefühle<br />
und ganze See len stimmung des Menschen.“<br />
Deutlich zeigt sich in <strong>die</strong>ser Definition <strong>die</strong><br />
Wechselwirkung zwischen Mensch und Umwelt.<br />
Verblüffenderweise kommt Humboldts Klima -<br />
begriff der modernen „systemanalytischen<br />
Klimadefinition“ sehr nahe. Für heutige Klima -<br />
forscher, wie beispielsweise für Martin Claussen,<br />
den Direktor des Potsdam-Instituts für Klima -<br />
folgenforschung, reicht <strong>die</strong> ältere, rein „meteoro -<br />
logische Klimadefinition“ nicht mehr aus. Er<br />
definiert Klima inzwischen über „den Zustand und<br />
das statistische Verhalten des Klimasystems“. <strong>Die</strong>ses<br />
System besteht aus verschiedenen Untersystemen,<br />
<strong>die</strong> miteinander in Wechselwirkung stehen: der<br />
Atmosphäre, der Hydrosphäre (Ozean, Flüsse,<br />
Seen, Regen, Grundwasser), der Kryosphäre<br />
(Eismassen, Schnee, Permafrost), der maritimen<br />
und terrestrischen Biosphäre und der Erdkruste.<br />
Humboldt sprach seinerzeit bereits von „der gegen -<br />
seitigen Einwirkung von Luft, Meer und Land“,<br />
und dass Fortschritte in deren Erforschung erst<br />
möglich seien, wenn „man sich von der gegen sei -<br />
tigen Abhängigkeit der zu ergründenden Er schei -<br />
nungen überzeugt hat“. (Kosmos Bd. 1, S. 304).<br />
Wichtigstes methodisches Instrument der<br />
Klimaforschung – sowohl der meteorologisch wie<br />
auch der systemanalytisch orientierten – war und ist<br />
<strong>die</strong> „statistische Methodik“, für <strong>die</strong> sich Humboldt<br />
zeitlebens eingesetzt hat. Auf Grund seiner<br />
Forderung nach der „mathematischen Betrachtung<br />
der Klimate“ (Kosmos Bd. 1, S. 341), nach dem<br />
Der Valencia-See in Venezuela, Lithographie, 1873,<br />
nach einem Aquarell von Anton Goering, Privatsammlung München.<br />
Thema<br />
globalen systematischen Sammeln und Auswerten<br />
von Messdaten, wurden, noch zu seinen Lebzeiten,<br />
in vielen Teilen der Welt meteorologische und erd -<br />
magnetische Messstationen eingeführt.<br />
Im Jahr 1817 erfand Humboldt zur Darstellung<br />
von Orten gleicher mittlerer Jahrestemperatur <strong>die</strong><br />
Isothermen, also Linien gleicher Temperatur. Er<br />
hielt sie für einen seiner wichtigsten wissenschaft -<br />
lichen Beiträge überhaupt und schrieb darüber,<br />
<strong>die</strong>ses System könne „vielleicht, wenn es durch<br />
vereinte Bemühungen der Physiker allmählich<br />
vervollkommnet wird, eine der Hauptgrundlagen<br />
der vergleichenden Klimatologie abgeben.“<br />
(Kosmos Bd. 1, S. 340). In der Tat sind <strong>die</strong> Isother -<br />
men bis heute <strong>die</strong> gängige kartographische Dar -<br />
stellung in der Klimageographie geblieben. Mit<br />
seinem Klimabegriff zeigt uns Humboldt heute<br />
einmal mehr, wie weit er mit seiner Sicht der Welt<br />
seiner Zeit bisweilen voraus war.<br />
Während seiner amerikanischen<br />
Forschungsreise (1799 bis 1804) waren es von den<br />
drei von ihm 1843 konstatierten anthropogenen<br />
Klimafaktoren notwendigerweise <strong>die</strong> <strong>ersten</strong> beiden,<br />
mit de nen sich Humboldt befasste: „Veränderung<br />
der Verteilung der Gewässer“ und „Fällen der<br />
Wälder“. Der dritte, nämlich „<strong>die</strong> Entwicklung<br />
großer Dampf- und Gasmassen an den Mittel -<br />
punkten der Industrie“, existierte zu <strong>die</strong>ser Zeit -<br />
mangels Industrialisierung - schlichtweg noch<br />
nicht.<br />
Über <strong>die</strong> Entwässerungskanäle, <strong>die</strong> <strong>die</strong> spanischen<br />
Kolonialisten im Hochtal von Mexiko gezogen<br />
hatten, schreibt Humboldt 1803 in sein Tagebuch:<br />
„<strong>Die</strong> Spanier haben das Wasser als Feind behandelt.<br />
Sie wollen anscheinend, dass <strong>die</strong>ses Neu-Spanien<br />
genauso trocken wie <strong>die</strong> Innenbezirke ihres alten<br />
Spaniens ist. Sie wollen, dass <strong>die</strong> Natur ihrer Moral<br />
ähnlich wird, und das gelingt ihnen nicht schlecht.<br />
(…) Man hat nicht verstanden, <strong>die</strong> beiden Ziele zu<br />
vereinen: <strong>die</strong> Sicherheit von Mexiko-Stadt und <strong>die</strong><br />
Bewässerung der Ländereien. Der Wassermangel<br />
macht das Tal unfruchtbar, ungesund, das Salz<br />
nimmt zu, <strong>die</strong> Lufttrockenheit vergrößert sich.“ Es<br />
ist der Wandel des lokalen Klimas, hervorgerufen<br />
durch menschliche Eingriffe in den Wasserhaushalt<br />
der Landschaft, vor dem Humboldt hier warnt.<br />
Mitten in <strong>die</strong>ser Stu<strong>die</strong> findet sich der programma -<br />
tische Satz: „Alles ist Wechselwirkung.“<br />
Vor allem während seiner Reise durch Venezuela<br />
beschäftigte befasste sich Humboldt intensiv mit<br />
dem Zusammenhang zwischen Wald und dem<br />
Wasserhaushalt einer Region. In den dortigen<br />
immensen Waldrodungen sah er im September<br />
1799 „ vielleicht ein[en] Hauptgrund der seit fünf<br />
Jahren so zunehmenden Dürre und des Vertrock -<br />
nens der Quellen in der Provinz Neu-Andalusiens.”<br />
Und er stellte fest: „Je länger (...) ein Land urbar
Klimawandel<br />
gemacht wird, desto baumloser wird es in der<br />
heißen Zone, desto dürrer, desto mehr den Winden<br />
ausgesetzt [...] deshalb gehen <strong>die</strong> Pflanzungen in der<br />
Provinz Caracas ein und häufen sich dafür<br />
westwärts auf unberührtem, erst kürzlich urbar<br />
gemachtem Boden.“<br />
<strong>Die</strong> besorgten Anwohner des im Nordwesten von<br />
Venezuela gelegenen Sees von Valencia wiesen den<br />
Forscher darauf hin, dass dessen Wasserspiegel in<br />
den letzten Jahren merklich abgesunken war.<br />
Humboldt notierte dazu in sein Tagebuch: „[D]ie<br />
Flüsse selbst sind jetzt wasserärmer. <strong>Die</strong> umliegen -<br />
den Gebirge sind abgeholzt. Das Gebüsch (monte)<br />
fehlt, um <strong>die</strong> Wasserdünste anzuziehen und den<br />
Boden, der sich mit Wasser getränkt, vor schneller<br />
Verdam pfung zu schützen. Wie <strong>die</strong> Sonne überall<br />
frei Verdampfung erregt, können sich nicht Quellen<br />
bilden. Unbegreiflich, daß man im heißen, im<br />
Winter wasserarmen Amerika so wüthig als in<br />
Franken abholzt (desmonta) und Holz- und<br />
Wassermangel zugleich erregt.”<br />
„Wälder (Pflanzen)„, stellt er fest, „bringen nicht<br />
nur Wasser hervor, geben eine große, neuerzeugte<br />
Wassermasse durch ihre Ausdünstung in <strong>die</strong> Luft,<br />
sie schlagen nicht nur, da sie Kälte erregen (indem<br />
sie der Atmosphäre Wärmestoff entziehen, den sie<br />
mit Sauerstoff verbunden, zurückgeben [...])<br />
Wasser aus der Luft nieder und vermehren den<br />
Nebel, sondern sie werden vornehmlich wohltätig<br />
dadurch, dass sie schattengebend <strong>die</strong> Verdünstung<br />
der durch periodische Regenschauer gefallenen<br />
Wassermasse verhindern. <strong>Die</strong> Verdünstung ist hier,<br />
wo <strong>die</strong> Sonne hoch steht, unbegreiflich schnell.“<br />
Vier elementare klimatische Funktionen des<br />
Waldes sind es, <strong>die</strong> Humboldt erkennt und<br />
analysiert:<br />
1. seine positive Wirkung auf <strong>die</strong><br />
Niederschlagsmenge durch Verdunstung von<br />
Wasser<br />
2. seine thermische Wirkung<br />
3. seine Funktion als Wasserspeicher und<br />
4. seine Pufferwirkung gegen durch<br />
Sonneneinstrahlung verursachte<br />
Bodenverdunstung, also Austrocknung des Bodens.<br />
Moderne Forschungen, z. B. <strong>die</strong>jenigen Peter<br />
Fabians, bestätigen <strong>die</strong>se Erkenntnisse. So weiß<br />
man heu te beispielsweise, dass <strong>die</strong> Wälder <strong>die</strong><br />
Atmosphäre mit mehr Wasserdampf anreichern als<br />
alle an deren Landflächen.<br />
Humboldt beließ es allerdings nicht bei <strong>die</strong>ser<br />
Analyse, sondern er warnte einige Jahre später in der<br />
publizierten Version <strong>die</strong>ser Stu<strong>die</strong>: in seiner<br />
Publikation: „Zerstört man <strong>die</strong> Wälder, wie <strong>die</strong><br />
europäischen Ansiedler aller Orten in Amerika mit<br />
unvorsichtiger Hast tun, so versiegen <strong>die</strong> Quellen<br />
oder nehmen doch stark ab. <strong>Die</strong> Flussbetten liegen<br />
einen Teil des Jahres über trocken und werden zu<br />
reißenden Strömen, sooft im Gebirge starker Regen<br />
fällt. Da mit dem Holzwuchs auch Rasen und Moos<br />
auf den Bergkuppen verschwinden, wird das<br />
Regenwasser in seinem Lauf nicht mehr auf -<br />
gehalten; statt langsam durch allmähliches<br />
Einsickern <strong>die</strong> Bäche zu speisen, zerfurcht es in der<br />
Jahreszeit der starken Regenniederschläge <strong>die</strong> Berg -<br />
hänge, schwemmt das losgerissene Erdreich fort<br />
und verursacht plötzliche Hochwässer, welche <strong>die</strong><br />
Felder verwüsten. Daraus geht hervor, dass <strong>die</strong> Zer -<br />
störung der Wälder, der Mangel an fortwährend<br />
flie ßenden Quellen und <strong>die</strong> Existenz von Torrenten<br />
[Sturzbäche] drei Erscheinungen sind, <strong>die</strong> in ur -<br />
säch lichem Zusammenhang stehen.”<br />
Als Folge des menschlichen Eingriffs in <strong>die</strong><br />
Landschaft nennt Humboldt in <strong>die</strong>sem Zu -<br />
sammen hang <strong>die</strong> Bodenerosion. Vor allem<br />
aber warnt er auch vor weiteren, gravierenden<br />
Auswirkungen auf spätere Generationen: „Fällt<br />
man <strong>die</strong> Bäume, welche Gipfel und Abhänge der<br />
Gebirge bedecken, so schafft man in allen Klima -<br />
zonen kommenden Geschlechtern ein zwiefaches<br />
Ungemach: Mangel an Brennholz und Wasser.“<br />
<strong>Die</strong>se Analyse, und vor allem deren damit ver -<br />
bundene Warnung, entfaltete rasch eine enorme<br />
Wirkung.<br />
Mit seinen Erkenntnissen zur<br />
Bedeutung des Waldes für den Wasserhaushalt, den<br />
Boden und das Klima stand Alexander von<br />
Humboldt nicht allein. Erste Gedanken dazu sind<br />
bereits von Theophrastos (372-288 v. Chr.), einem<br />
Schüler von Aristoteles, überliefert. Christoph<br />
Kolumbus war es, der während seiner vierten<br />
Amerika-Reise (9. Mai 1502 bis 7. November 1504)<br />
eine erstaunlich scharf sinnige Beobachtung machte.<br />
Überliefert wurde sie von dessen Sohn Fernando,<br />
und Humboldt war von ihr so beeindruckt, dass er<br />
sie in seinem Werk Central-Asien zitiert: „Der<br />
Admiral [Christoph Kolumbus] glaubte, der<br />
Ausdehnung und Dichtigkeit der Wälder auf den<br />
Gebirgen Jamaikas <strong>die</strong> Regen zuschreiben zu<br />
müssen, welche <strong>die</strong> Luft solange erfrischte, als er an<br />
den Küsten <strong>die</strong>ser Insel hinsegelte. Er bemerkt [...],<br />
dass ehemals auch auf den Canaren, auf Madeira und<br />
den Azoren <strong>die</strong> Wasserfülle so gross gewesen sei; aber<br />
dass seit der Zeit, wo man <strong>die</strong> Schatten gebenden<br />
Bäume abgehauen habe, <strong>die</strong> Regen daselbst viel<br />
weniger häufig geworden seien.“<br />
Bereits wenige Jahre vor Humboldts ameri ka ni -<br />
scher Reise, im Jahr 1797, führte der französische In -<br />
genieur Fabre <strong>die</strong> plötzlichen Fluten in den Alpen<br />
nach starken Regenfällen und das Versiegen von<br />
Quel len, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Flüsse speisen, auf <strong>die</strong> Rodungen<br />
und Entwaldungen der Hochalpen zurück. Auch<br />
der bedeutende Schweizer Forscher Horace-<br />
Bénédict de Saussure, dessen Arbeiten Humboldt<br />
kannte, be schrieb <strong>die</strong>ses Phänomen. Im Jahr 1827<br />
verwendete der französische Mathema tiker und<br />
Physiker Jean Baptiste Joseph Fourier in seiner<br />
23
24<br />
Analytischen Theorie der Wärme erstmals in der<br />
Geschichte den Begriff „Treibhauseffekt“ (l’effet de<br />
serre, wörtlich Glashauseffekt). Er beschrieb damit<br />
den temperaturerhaltenden Effekt der<br />
Erdatmosphäre, ohne allerdings, wie Humboldt<br />
einige Jahre später, den Menschen innerhalb <strong>die</strong>ser<br />
Atmosphäre als einen klimaverändernden Faktor zu<br />
erkennen.<br />
Humboldts Stu<strong>die</strong> zum Valencia-See<br />
erschien als Lieferung der Relation Historique<br />
(deutscher Titel: Reise in <strong>die</strong> Äquinoktialgegenden<br />
des Neuen Kontinents) im August 1819. Rasch<br />
wurden seine Erkenntnisse von anderen Forschern<br />
aufgegriffen. Sie beeindruckten, wie der deutschaustra<br />
lische Historiker Engelhard Weigl kürzlich in<br />
einer bemerkenswerten Rezeptionsstu<strong>die</strong> zu <strong>die</strong>sem<br />
Text nachwies, zunächst vor allem den jungen<br />
französischen Wissenschaftler Jean-Baptiste<br />
Boussingault. Sofort nahm er mit Humboldt<br />
Kontakt auf und reiste bald darauf, im Jahr 1821,<br />
auf dessen Empfehlung, als Bergbauingenieur nach<br />
Südamerika.<br />
Während ausgedehnter Forschungsreisen<br />
untersuchte Boussingault auch den See von<br />
Valencia. Wie Humboldt, scheiterte auch er beim<br />
Versuch, den Chimborazo zu besteigen. 1832<br />
kehrte er nach Frankreich zurück. 1837 publizierte<br />
er den vielbeachteten Aufsatz „Über den Einfluss<br />
der Urbarmachung auf <strong>die</strong> Ergiebigkeit der<br />
Quellen“: Darin heißt es: „<strong>Die</strong> Frage, ob der Acker -<br />
bau das Klima einer Gegend modificiren könne, ist<br />
sehr wichtig, und gegenwärtig häufig zur Sprache<br />
gebracht worden”. Was Humboldt als These<br />
formuliert hatte, konnte Boussingault nun<br />
beweisen: „Für mich steht fest, dass das Ausroden<br />
der Wälder in großem Um fange <strong>die</strong> jährliche<br />
Regenmenge <strong>die</strong>ser Gegend verringert.” Als Beleg<br />
nennt er zunächst Humboldts Stu<strong>die</strong> zum Lago de<br />
Valencia, aber er erweitert dessen Erkenntnisse<br />
durch dortige eigene Beobachtungen und<br />
Untersuchungen an anderen Seen in Südamerika.<br />
Seine Argumentation ergänzt er durch Was ser -<br />
stands messungen der Seen von Neuchâtel, Bienne<br />
und Morat, <strong>die</strong> Horace-Bénédict de Saussure<br />
vorgenommen hat, und durch Humboldts<br />
Beobachtungen im Aralo-Kaspischen Becken.<br />
Am Valencia-See allerdings war mittlerweile, wie<br />
Boussingault beobachtete, infolge der Unabhängig -<br />
keitskriege <strong>die</strong> Landwirtschaft zum Erliegen<br />
gekommen und der Wasserspiegel wieder deutlich<br />
angestiegen: „<strong>Die</strong> großen Anpflanzun gen“, schreibt<br />
er, „wurden verlassen, und der unter den Tropen so<br />
unaufhaltsam vordringende Wald hatte in kürzester<br />
Zeit einen großen Teil des Landes (...) wieder an<br />
sich gerissen.” Daraus schloss er, dass sich <strong>die</strong><br />
Nieder schlagsmenge einer regenarmen Region mit<br />
Hilfe von Wieder aufforstung beeinflussen lasse.<br />
Kurz darauf griffen der deutsche Agrarwissen -<br />
Thema<br />
schaftler und Botaniker Karl Fraas und der USamerikanische<br />
Staatsmann und Schrift steller<br />
George Perkins Marsh <strong>die</strong> Thesen von Humboldt<br />
und Boussingault auf: Ihre Stu<strong>die</strong>n im Mittel -<br />
meerraum führten zur Erkenntnis, dass durch <strong>die</strong><br />
Ausbreitung der Zivilisation von Persien, Meso -<br />
potamien, Palästina, Ägypten, Griechenland bis<br />
Italien ein landschaftszerstörerisches Potenzial<br />
entfaltet worden war. Sie stellten fest, dass <strong>die</strong><br />
„Entholzung” des Landes zu Bodenerosion, Anstieg<br />
der bodennahen Wärme und zu Verringerung der<br />
Niederschläge geführt hatte. Folge war eine<br />
zunehmende Desertifikation. Der wachsende<br />
Bedarf an landwirtschaftlich nutzbarem Boden<br />
gefährde, so warnte Fraas, <strong>die</strong> Zukunft Europas.<br />
<strong>Die</strong> Arbeiten <strong>die</strong>ser beiden Forscher, schreibt<br />
Engelhard Weigl, „signalisierten einen Wende -<br />
punkt in der Wahrnehmung des Kräfteverhältnisses<br />
zwischen Mensch und Natur.“ Zum <strong>ersten</strong>mal<br />
wurde man sich bewusst, dass nicht mehr der<br />
Mensch der Natur, sondern <strong>die</strong> Natur dem<br />
Menschen ausgeliefert war. Nachrichten von<br />
Dürre<strong>katastrophe</strong>n in Südafrika, In<strong>die</strong>n, Ägypten<br />
und Australien bestätigten <strong>die</strong> Warnungen von<br />
Fraas und Marsh. In Südaustralien initiierte, fünf<br />
Jahre nach der fürchterlichen Dürre von 1865, der<br />
Direktor des Botanischen Gartens von Adelaide,<br />
Richard Schomburgk, ein Freund Alexander von<br />
Humboldts, ein groß angelegtes Wiederauffors -<br />
tungs programm.<br />
Auch in den USA bezog man sich bei der<br />
Besiedlung und dem Versuch der Bewaldung der<br />
Great Plains auf Humboldt und Boussingault. So<br />
schrieb ein Regierungsbeauftragter 1849:<br />
„Das übermäßige Abholzen in einigen Teilen des<br />
Landes hat bis zu einem gewissen Grad zu einem<br />
Klimawandel und in großen Gebieten auch zu einer<br />
Änderung der Dürre- und Regenperioden geführt.<br />
Im Sommer, wenn dringend gelegentliche und<br />
leichte Regengüsse benötigt werden, ist <strong>die</strong> Luft zu<br />
trocken und enthält wochenlang nicht mehr als ein<br />
wenig Tau. In Bezug auf ausführliche und gut<br />
belegte Stu<strong>die</strong>n zur Waldrodung, zum Austrocknen<br />
von natürlichen Quellen, zum Klimawandel und<br />
zur Regelmäßigkeit von Niederschlägen werden<br />
dem Leser <strong>die</strong> Schriften von Humboldt, Kaemtz,<br />
Forbes, Boussingault und anderen Meteorologen<br />
empfohlen.“<br />
Auf Initiative des Journalisten Julius Sterling<br />
Morton wurde im Jahr 1872 in Nebraska der<br />
„Arbor Day“ verkündet. Morton hatte seit 1854 im<br />
baumarmen Nebraska eine kleine Farm bewirt -<br />
schaftet, wo er, vor allem als Erosionsschutz, Büsche<br />
und Bäume pflanzte. Anfang 1872 fasste er seine<br />
Erkenntnisse in seiner „Arbor Day-Resolution“<br />
zusammen. Noch im selben Jahr, am 10. April,<br />
setzten erstmals Bürger und Farmer in Nebraska<br />
mehr als eine Million junge Bäume. <strong>Die</strong> Idee wurde
Dr. Heinrich Berghaus' Physikalischer Atlas [...]<br />
zu Alexander von Humboldts Kosmos [...]. Gotha: Justus Perthes, 2. Auflage1852. Privatsammlung München.<br />
Klimawandel<br />
in vielen Ländern der Welt begeistert aufgegriffen.<br />
Auch in Deutschland werden heute jedes Jahr,<br />
zurückgehend auf <strong>die</strong> Initiative Mortons, am „Tag<br />
des Baumes“ mehrere Millionen Bäume gepflanzt.<br />
Trotz <strong>die</strong>ser Maßnahmen in den USA in der zwei -<br />
ten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen Zweifel an<br />
der Theorie des Zusammenhangs zwischen Wald<br />
und Klima auf. Grund dafür waren extreme<br />
Trocken heiten Mitte der 70er Jahre und um 1885.<br />
Im Jahr 1893 wurden <strong>die</strong> Bedingungen in manchen<br />
Regionen so schlecht, dass eine regel rechte Panik<br />
ausbrach und Tausende von Farmern ihr Land<br />
flucht artig verließen. Mit den geschei terten Ver -<br />
suchen der Wieder auffors tung geriet Anfang des 20.<br />
Jahrhunderts <strong>die</strong> Frage nach den Folgen mensch -<br />
lichen Handelns auf das Klima in Vergessenheit.<br />
Auch <strong>die</strong> Erkenntnisse des schwedischen Wissen -<br />
schaftlers Svante Arrhenius, dem „Vater“ der<br />
Theorie der globalen Erwärmung erfuhren erst in<br />
den letzten Jahren eine angemessene Bewertung. Im<br />
Jahr 1896 hatte er <strong>die</strong> Theorie veröffentlicht, dass<br />
<strong>die</strong> Anreicherung von CO 2 in der Atmosphäre <strong>die</strong><br />
Temperatur auf der Erde erhöhen könnte. Für ihn<br />
war <strong>die</strong> Zeitskala, auf der sich solche Veränderun -<br />
gen abspielen konnten, allerdings auf Zehn tau -<br />
sende von Jahren gestreckt. Eine Gefahr sah er in<br />
<strong>die</strong>sem Phänomen damals nicht.<br />
Erst in den 30er Jahren des vergangenen<br />
Jahrhunderts begannen Fach wissen schaftler erst -<br />
mals einen Zusammenhang zwischen dem Anstieg<br />
des CO 2 und der damals beobacheten Klima erwär -<br />
mung zu diskutieren. Und erst seit den 1950er<br />
Jahren wird <strong>die</strong> Gefahr einer anthropogenen Erwär -<br />
mung weltweit ernst genommen.<br />
Alexander von Humboldt war vermutlich der<br />
erste, der bereits vom Einfluss der durch <strong>die</strong><br />
Menschen verursachten „Gasmassen“ auf das Klima<br />
sprach. Dass das CO 2 – von ihm fälsch lich als<br />
„Kohlensäure“ bezeichnet – später als Hauptfaktor<br />
des anthropogenen Klimawandels identifiziert<br />
werden sollte, ahnte er allerdings nicht. Auch dass<br />
<strong>die</strong> Wälder, <strong>die</strong> mehr als 90 Prozent der lebenden<br />
Biomasse ausmachen, als Speicher für das CO 2<br />
wichtig sind, das sie bei der Photosynthese aus der<br />
Atmosphäre entnehmen, wusste Humboldt noch<br />
nicht. <strong>Die</strong> Bedeutung des Waldes für das Klima und<br />
für <strong>die</strong> künftigen Generationen allerdings hat er<br />
erkannt. Er war der erste, der <strong>die</strong> drei<br />
anthropogenen Klimafaktoren „Fällen der Wälder,<br />
Veränderung der Verteilung der Gewässer und (...)<br />
<strong>die</strong> Entwicklung großer Dampf- und Gasmassen“<br />
in ihrem Zusammenhang und in ihrer Wirkung<br />
richtig beschrieben hat. Andere Wissen schaftler,<br />
vor allem Boussingault, Fraas, Marsh, Schomburgk,<br />
und auch der anonyme Beauftragte der US-<br />
Regierung, haben <strong>die</strong> grund legende Bedeutung von<br />
Humboldts Erkenntnissen erfasst.<br />
Erst vor wenigen Jahren begann eine Würdigung<br />
der frühen Klimaforschung, für <strong>die</strong> Alexander von<br />
Humboldt das Fundament gelegt hatte. Er hat mit<br />
seinen Arbeiten „zum <strong>ersten</strong> Mal in der Geschichte<br />
eine weltweite Diskussion über <strong>die</strong> Gefährdung des<br />
Planeten Erde durch <strong>die</strong> Eingriffe des Menschen“<br />
(E. Weigel) entfacht.<br />
Es bleibt zu hoffen, dass <strong>die</strong>s nicht <strong>die</strong> letzte<br />
Diskussion war, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> Ideen Humboldts<br />
angestoßen wurde. In Deutschland hat <strong>die</strong> Wieder-<br />
Entdeckung des Entdeckers gerade erst begonnen.<br />
Für eine Überraschung ist er immer gut.<br />
„<strong>Die</strong> Isothermkurven der Nördlichen Halbkugel“ (Alexander von Humboldt)<br />
25
26<br />
Internationale Unordnung<br />
Sagten Sie „Verhandlungen“?<br />
Im Jahrhundert der Erderwärmung kommt <strong>die</strong> aus lauter souveränen Staaten zusammengesetzte Welt in eine bedrohliche Schieflage.<br />
<strong>Die</strong>se Staaten – insbesondere imperiale Großmächte – kennen seit jeher nichts außer ihrem Eigeninteresse. Wie können sie da,<br />
unter den aktuellen Bedingungen, notwendige globale Regelungen überhaupt vereinbaren?<br />
Das Klima auf dem Planeten Erde<br />
verändert sich ständig. Als es vom 15. Jahrhundert<br />
an in Europa kälter wurde, konnte man sich darauf<br />
einstellen. Mehr Holz zum Feuern, dickere Mäntel,<br />
Schlittschuhlaufen auf der Themse. Schon damals<br />
freilich trafen <strong>die</strong> Veränderungen <strong>die</strong> Armen härter<br />
als <strong>die</strong> Reichen. Auf dem Winterbild <strong>Die</strong> Heimkehr<br />
der Jäger von Pieter Brueghel dem Älteren, einem<br />
der <strong>ersten</strong> Winter-Bilder in der europäischen<br />
Malerei, kommen <strong>die</strong> Jäger mit leeren Händen<br />
zurück ins verschneite Dorf, entsprechend trist <strong>die</strong><br />
Stimmung. Aber der Vergleich trügt. Der Umwelt -<br />
wandel, der sich heute abzeichnet, erfasst den<br />
Planeten insgesamt, und er trifft auf eine andere,<br />
eine unumkehrbar vernetzte Menschen welt. Zwei<br />
Prozesse, Naturentwicklung und Geschichte,<br />
fusionieren in einer gemeinsamen Tendenz, der<br />
Globalisierung. <strong>Die</strong> Entscheidungen, <strong>die</strong> zu treffen<br />
sind, werden alle be treffen, der notwendige<br />
Einigungsprozess, <strong>die</strong> dabei fälligen Verhand -<br />
lungen, werden <strong>die</strong> Menschheit vor neuartige<br />
Probleme stellen.<br />
Das zentrale Ereignis im Klimawandel, der sich<br />
selbst verstärkende Vorgang der Temperatur -<br />
zunahme, wird sich nicht überall gleich auswirken<br />
sondern höchst variant. Wo genau es kühler, wo es<br />
wärmer werden wird und um wieviel, wo genau <strong>die</strong><br />
Niederschläge stärker, wo sie geringer sein werden,<br />
ist noch nicht genau vorhersagbar. Vage auch <strong>die</strong><br />
Prognose, dass <strong>die</strong> kastrophalen Ereignisse im<br />
Wettergeschehen, extrem starke Taifune und<br />
Hurrikans, exzessive Monsunregen, zunehmen<br />
werden, dass Meeresströmungen, zumal der<br />
Golfstrom, sich ändern können. Völlig ungewiss ist<br />
immer noch, ob, wann und in welcher Beschleu -<br />
nigung es zu einem Auftauen des Permafrostes<br />
kommen wird, wieviel CO 2 und Methan dabei<br />
freigesetzt werden, welche Funktion der<br />
Wolkenbildung zukommt und was passiert, wenn<br />
das in der Tiefsee gebundenen Methan frei wird.<br />
Etwas anderes dagegen steht fest. Unser Verhältnis<br />
zu unserer Welt wird ins Schaukeln geraten. <strong>Die</strong><br />
Routinen im Umgang mit Wetter und Jahreszeit,<br />
Von <strong>Die</strong>trich Krusche<br />
Thema<br />
damit auch großer Bereiche der Nahrungs mittel -<br />
gewinnung, werden an Stabilität verlieren, und das<br />
bisher selbstverständliche, gar nicht ins Bewusstsein<br />
genommene In-der-Welt-Gefühl wird zu krümeln<br />
beginnen. <strong>Die</strong> Einsicht, dass wir dabei sind, unseren<br />
blauen Planeten nicht nur als Lebensraum für<br />
zahllose andere Lebewesen sondern auch als unsere<br />
eigene Heimat zu ruinieren, wird unabweislich<br />
werden. Keine geschichtliche Erfahrung ist hier<br />
heranzuziehen. Auch <strong>die</strong> These Francis Fukuyamas<br />
von 1992, dass mit dem Sieg des Kapitalismus <strong>die</strong><br />
Geschichte zu einem Ende gekommen ist, hat sich<br />
überlebt. Der Begriff der Geschichte selbst muss<br />
geöffnet werden, damit ihm der Faktor der<br />
Umweltgeschichte hinzugefügt werden kann.<br />
Und noch etwas, das fest steht: <strong>Die</strong> Notwen -<br />
digkeit, schnell, allzu schnell, handeln zu müssen,<br />
sitzt uns im Nacken. <strong>Die</strong> Zeit, <strong>die</strong> für <strong>die</strong> kom -<br />
plexen Absprachen und Entscheidungen zwischen<br />
den Betroffenen des Klimawandels – uns allen –<br />
nötig ist, wenn das Chaos unzähliger Teilkonflikte<br />
nicht überhandnehmen soll, wird uns fehlen.<br />
Nein, <strong>die</strong> Katastrophe, <strong>die</strong> es zu vermeiden gilt, ist<br />
nicht der Untergang der Menschheit in einer neuen<br />
Sintflut, sondern <strong>die</strong>, dass auch im Klimawandel<br />
alles so weitergeht wie bisher. Denn verlängert man<br />
den bisherigen Verlauf der Geschichte in <strong>die</strong><br />
Zukunft, so fällt <strong>die</strong> Prognose leicht: An den<br />
bewohnbaren, den gesunden Orten der Erde, den<br />
„Bio-Orten“ heutiger Ausdrucksweise nach,<br />
werden dann <strong>die</strong>jenigen sitzen, <strong>die</strong> das meiste Geld<br />
haben, während der Rest der Menschheit mehr oder<br />
weniger erfolgreich ums Überleben kämpft, von<br />
den Trutzburgen des Überlebens im Luxus<br />
gewaltsam ferngehalten.<br />
<strong>Die</strong> Komplexität dessen, was zu<br />
verhandeln sein wird, hat mit der Überfülle der<br />
Veränderungen zu tun. <strong>Die</strong> fälligen Umsteu erun -<br />
gen, Umverteilungen, Umsiedlungen, Kompen -<br />
sationen und Ausgleichszahlungen werden <strong>die</strong><br />
jeweils Betroffenen in verschiedener Weise belasten.
Klimawandel<br />
Lassen wir <strong>die</strong> Unterschiede zwischen Arm und<br />
Reich innerhalb einer Gesellschaft einmal beiseite<br />
und konzentrieren uns auf das intergesellschaftliche<br />
Gefälle zwischen Arm und Reich.<br />
Offenbar überlagern sich hier zwei Aspekte<br />
menschlicher Evolution: der anthropologische und<br />
der machtgeschichtliche. Zum <strong>ersten</strong> Problem -<br />
komplex hat <strong>die</strong> Kulturanthropologie in den letzten<br />
Jahrzehnten Erhellendes gesagt. Jared Diamond hat<br />
in seinem Buch Arm und Rich. <strong>Die</strong> Schicksale<br />
menschlicher Gesellschaften (deutsch 2004) und in<br />
seinem neuesten Werk Kollaps (deutsch 2005) den<br />
Zusammenhang zwischen naturgegebenen Lebens -<br />
bedingungen und vor- bzw. früh geschicht lichen<br />
Schicksalen der verschiedenen Gruppen und<br />
Gesellschaften durchschaubar gemacht.<br />
Auf eben <strong>die</strong>se – ungleichen – Ausgangsbedin -<br />
gungen hat sich Weltgeschichte gleichsam drauf -<br />
gesetzt. Der Anstoß zur Globalisierung ging von<br />
Europa aus. <strong>Die</strong> Epoche, <strong>die</strong> euphemistisch als<br />
„Zeitalter der Entdeckungen“ bezeichnet wird,<br />
begann in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts<br />
und war durch Eroberung, Missionierung und<br />
Ausbeutung bestimmt. <strong>Die</strong> Folgen <strong>die</strong>ser Über -<br />
wälti gung werden aus der Entwicklung der betrof -<br />
fenen Gesellschaften niemals heraus zurechnen sein.<br />
Wo sie plötzlich hervorbrechen wie im islamis -<br />
tischen Terror heute, stiften sie Verwirrung und<br />
Entsetzen. Es ist im kollektiven Bewusstsein<br />
Europas/Nordamerikas nicht ausreichend präsent,<br />
dass mit dem faktischen Ende der Kolonial -<br />
herrschaft <strong>die</strong> Verstrickung des Abendlandes in <strong>die</strong><br />
Entwicklung der außer europäischen Kulturen<br />
nicht beendet ist.<br />
Auf eine Spätfolge <strong>die</strong>ser Verstrickung haben Ian<br />
Buruma und Avishai Margalit in ihrem Buch<br />
Occidentalism (2004) hingewiesen. Der Titelbegriff<br />
„Okzidentalismus“ steht dabei für Das Ressenti -<br />
ment der kolonial Überwältigten gegen all das, was<br />
ihnen von seiten ihrer Überwältiger zugefügt<br />
worden ist und was sie noch heute in der Ein -<br />
stellung „des Westens“ ihnen gegenüber zu<br />
erkennen meinen. Das bezieht sich nicht nur auf <strong>die</strong><br />
Anwendung militärischer und wirtschaftlicher<br />
Gewalt, sondern auch <strong>die</strong> kulturelle Dominanz.<br />
Dass <strong>die</strong>ses Ressentiment durchaus zwiespältig ist,<br />
sieht man an all dem, was vom Abendland<br />
zustimmend übernommen wurde: Naturwisssen -<br />
schaft, Technologie und vor allem <strong>die</strong> Errungen -<br />
schaften der modernen westlichen Medizin.<br />
Aus der Überwältigung durch „den Westen“, <strong>die</strong><br />
zu einer Entgleisung der eigenen Kultur entwick -<br />
lung führte, leitet sich heute der Anspruch auf<br />
„nachholende Entwicklung“ ab. Global wird <strong>die</strong>ses<br />
Problem dann, wenn es darum geht, wieviel<br />
Nachholung <strong>die</strong>se Gesellschaften sich angesichts<br />
des Klimawandels werden leisten können. Das<br />
Paradebeispiel dafür ist China – auch wenn China<br />
in seinen kulturellen Ausgangsbedingungen nicht<br />
Pieter Brueghel d. Ä., <strong>Die</strong> Heimkehr der Jäger (1565)<br />
benachteiligt und niemals als Ganzes kolonial<br />
geknebelt war. China will und kann „aufholen“, es<br />
hat <strong>die</strong> Menschen und <strong>die</strong> kulturelle Befähigung<br />
dazu, große Teile der Welt mit konkurrenzlos<br />
billigen Produkten zu versorgen. Aber um welchen<br />
Preis? Dass es sich mit seiner restriktiven Sozial -<br />
politik selbst gefährdet, mag Sache der Chinesen<br />
sein. Aber <strong>die</strong> Umweltbelastungen, <strong>die</strong> von Chinas<br />
technologisch rückständiger Industrie produziert<br />
werden, gehen nicht nur den Bürgern Chinas an <strong>die</strong><br />
Atemluft.<br />
Ganz neue Fragen stellen sich uns:<br />
Welche Bilder von der Gleichheit aller Menschen<br />
lassen sich mobilisieren? Welche Konzepte<br />
kultureller Differenz und Gleichwertigkeit sind<br />
bisher entwickelt worden? Welche Begründungen<br />
universaler Menschenrechte sind geeignet,<br />
kulturelle, religiöse Differenzen akzeptabel zu<br />
machen? Welche Rahmenbedingungen eignen sich<br />
für <strong>die</strong> Verhandlung <strong>die</strong>ser allseitigen<br />
Zusammenhänge?<br />
Jeder menschliche Verband handelt in seinem<br />
eigenen Interesse, aber <strong>die</strong> Unterschiede darin, wie<br />
es vertreten wird, sind erheblich. Sie ergeben sich<br />
aus den Erfahrungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> verschiedenen<br />
Gesellschaften im Umgang mit anderen<br />
Gesellschaften gemacht haben. Der erste Faktor, der<br />
ins Auge fällt, ist der Umfang bzw. <strong>die</strong> Häufigkeit<br />
von Außenkontakten.<br />
Japan zum Beispiel hat auf Grund seiner Inselund<br />
Randlage eine Geschichte relativ kurzer<br />
Episoden intensiver Außenkontakte und langer<br />
Perioden strikter Abgeschlossenheit. So hatte das<br />
Land bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wenig<br />
Anlass, sein eigenes Fremdheitsprofil gegenüber<br />
anderen Kulturen zu reflektieren, sich selbst als eine<br />
Kultur unter anderen zu verstehen und zu<br />
modellieren.<br />
Ähnliches gilt – erstaunlicherweise – für China,<br />
das „Reich der Mitte“. Hier haben ganz andere<br />
Gründe zu einem Selbstverständnis geführt, das<br />
Gedanken darüber, wie man auf andere wirkt,<br />
unnötig und daher unwahrscheinlich gemacht. <strong>Die</strong><br />
Unbefangenheit, ja Naivität, in der auch das<br />
gegenwärtige Regime seine imperialen<br />
Machtansprüche auslebt, sind verblüffend. <strong>Die</strong><br />
27
28<br />
ungebremste und nahezu unverhüllte Gewalt -<br />
anwendung gegen Minderheiten (z. B. <strong>die</strong> Falun-<br />
Gong), politischen Dissidenten im Inneren und<br />
benachbarten Kulturen (z. B. Tibet) gegenüber, <strong>die</strong><br />
Zensur des Internet, <strong>die</strong> weltweite Spionage (bis<br />
hinein in <strong>die</strong> Computer der Bundesrepublik und<br />
des amerikanischen Regierungsapparats), <strong>die</strong><br />
Unterstützung von skrupellos gewalttätigen<br />
Regimen (Sudan, Myanmar) aus energiepolitischen<br />
Gründen, das geradezu kindisch wirkende „Belei -<br />
digtsein“, wenn der Dalai Lama wieder einmal<br />
irgendwo in der Welt geehrt wird – all das konter -<br />
kariert den Anspruch, künftig eine, wenn nicht gar<br />
<strong>die</strong> Weltmacht sein zu wollen.<br />
Sicher, da sind <strong>die</strong> Wachstumswerte der<br />
Wirtschaft, an denen besonders westliche Experten<br />
sich berauschen. Aber ist eine „Weltmacht“ denkbar<br />
ohne Werte, <strong>die</strong> auch für andere attraktiv sind, ohne<br />
Programm für ein auch für den Rest der Welt<br />
gedeihliches Zusammenleben? Man vergleiche <strong>die</strong><br />
pax romana, <strong>die</strong> freiheitlichen Ideale Frankreichs,<br />
<strong>die</strong> liberalen und rechtsstaatlichen Prinzipien<br />
Englands. Dass <strong>die</strong>se Programme oft vorwandhaft<br />
eingesetzt wurden, sei eingeräumt. Aber eine<br />
„Weltmacht“, <strong>die</strong> nichts anderes vor sich herträgt<br />
als den Anspruch auf Herrschaft? Immerhin spricht<br />
einiges dafür, dass China das Problem erkannt hat.<br />
So hat es damit begonnen, im Ausland „Konfuzius-<br />
Institute“ zu eröffnen, und sich <strong>die</strong> Ausrichtung<br />
einer Olympiade gesichert. <strong>Die</strong> Sommerspiele 2008<br />
in Peking werden Aufschluss darüber geben, wie<br />
China sich künftig dem Rest der Welt präsentieren<br />
will.<br />
In dem Buch von Buru ma/Margalit wird<br />
auf einen Zusammenhang zwischen praktiziertem<br />
Kolonialismus und der Herausarbeitung universel -<br />
ler Menschenrechte hin gewiesen. Beides geschah<br />
gleichzeitig. Europa handelte imperial und<br />
kritisierte eben <strong>die</strong>s an sich selbst. Es setzte sich<br />
selbst absolut – und lernte dabei, sich selbst zu<br />
relativieren. Eben <strong>die</strong>se These belegt Walter Veit,<br />
ein in Melbourne lehrender Kulturwissenschaftler,<br />
in seiner Arbeit Topik einer besseren Welt (Georg-<br />
Forster-Stu<strong>die</strong>n XI, 2006). Er zitiert darin all <strong>die</strong><br />
Europäer, Missionare, Forschungsreisenden,<br />
Philosophen, <strong>die</strong> sich der Vereinnahmung der<br />
anderen Kulturen durch Europa widersetzt haben:<br />
Las Casas, Joseph Banks, Georg Forster, Diderot,<br />
um nur einige zu nennen. Von Georg-Christoph<br />
Lichtenberg (1742-1799) stammt der Aphorismus:<br />
„Der Amerikaner, den Kolumbus zuerst entdeckte,<br />
machte eine böse Entdeckung.“<br />
Folgt man <strong>die</strong>ser Spur, wird erkennbar, dass <strong>die</strong><br />
Herausarbeitung der Begriffe des „Naturrechts“<br />
(Grotius, Hobbes, Pufendorf, Thomasius, Wolff,<br />
Rousseau, Fichte, Schelling), des säkularen Staates<br />
als Ergebnis eines „gesellschaftlichen Vertrags“<br />
(Wilhelm von Occam, Marsilius von Padua,<br />
Thema<br />
Hobbes, Kant, Fichte), der „individuellen Freiheits -<br />
rechte“ (Kant, Schelling), aus zwei Traditions -<br />
strängen heraus erfolgte: der Binnengeschichte<br />
Europas und seiner selbstkritischen Verarbeitung<br />
der Begegnung mit anderen Kulturen. Eben <strong>die</strong>se<br />
Begriffe konnten von Freiheitskämpfern wie<br />
Mahatma Ghandi und Nelson Mandela, <strong>die</strong> beide<br />
Kulturen kannten, ihre eigene und <strong>die</strong> europäische,<br />
gegen Europa selbst ins Feld geführt werden.<br />
Begriffe wie „Terre des Hommes“, Organisationen<br />
wie „Cap Anamur“, „Médecins sans frontières“,<br />
„Ärzte für <strong>die</strong> Dritte Welt“ und politische<br />
Gruppierungen wie Attac gehen auf <strong>die</strong>selbe<br />
Tradition zurück.<br />
Das anthropologisch-ethische Postulat, dass <strong>die</strong><br />
Menschen sich untereinander – sei es in der<br />
gemeinsamen Gotteskindschaft, sei es in der<br />
Teilhabe an menschlicher Vernunft – als<br />
gleichwertig anerkennen müssten, hat in der<br />
Philosophie der Gegenwart eine pragmatische<br />
Wende genommen: hin zur Be schreibung eines<br />
angemessenen zwischenmenschlichen Handelns.<br />
Sie ergab sich aus der Sprech akttheorie, deren<br />
Entwicklung vor allem mit den Namen John L.<br />
Austin und John Searle verbunden ist. Ihre Anwen -<br />
dung auf eine allgemeine Theorie des kommuni -<br />
kativen Handelns (1980) hat Jürgen Ha bermas<br />
vollzogen. Für den komplexen Zusammenhang der<br />
Verhandlung des Klimawandels lassen sich daraus<br />
wenigstens zwei Fragestellungen übernehmen: (1)<br />
Worauf lässt sich der Konsens darüber gründen, in<br />
welchem Rahmen <strong>die</strong> Verhandlungen stattfinden<br />
sollen, und (2) welche Funktion kommt der global<br />
gewordenen Öffentlichkeit dabei zu?<br />
(1) Soweit ich sehe, gibt es einen weitgehenden<br />
Konsens darüber, dass nur <strong>die</strong> Vereinten Nationen<br />
den Verhandlungsrahmen abgeben können. Er<br />
gründet sich auf <strong>die</strong> seit 1945 erprobte<br />
Integrationskaft der UN und <strong>die</strong> rational<br />
unabweisliche Einsicht, dass alle Nationen und<br />
Gesellschaften vom Klimawandel betroffen sein<br />
werden. Wie wichtig <strong>die</strong>se Rahmengebung ist, lässt<br />
sich an den Widerständen dagegen ablesen. So<br />
haben <strong>die</strong> USA im Vorfeld der Versammlung aller<br />
Regierungschefs im September 2007, in der von<br />
172 Mitgliedern eine Fortsetzung des Kyoto-<br />
Prozesses beschlossen wurde, eine Konkurrrenz -<br />
versammlung etabliert, in der <strong>die</strong> Reduzierung des<br />
CO 2 -Ausstoßes von den größten Schadstoff -<br />
emittenten verhandelt werden soll – auf der Basis<br />
völliger Freiwilligkeit, in exklusiver Runde, dem<br />
Druck der Weltmeinung entzogen. <strong>Die</strong>se Taktik ist<br />
nur allzu gut verständlich. Da alle Staaten, alle<br />
Länder, Regionen, Kommunen, ja <strong>die</strong> allermeisten<br />
Privathaushalte von den Veränderungen betroffen<br />
sind, werden extrem multilaterale Verhandlungen<br />
zu führen sein und der Druck der globalen<br />
Mehrheit auf <strong>die</strong> einzige Weltmacht könnte extrem<br />
groß werden.
Klimawandel<br />
(2) In eben <strong>die</strong>sem Zusammenhang wird <strong>die</strong><br />
Bedeutung des Weltöffentlichkeit sichtbar. Ihre<br />
Einbeziehung ist das einzige gewalt- und<br />
repressionsfreie Druckmittel, das gegen jede Art<br />
von Einzelinteressen mobilisiert werden kann.<br />
Denn <strong>die</strong> Chance auf eine Lösung von Streitfragen<br />
durch „sachliche Argumente“ ist umso geringer, je<br />
willkürlicher, gewalttätiger und damit irrationaler<br />
eine Ausgangslage ist, <strong>die</strong> durch den Klimawandel<br />
verschärft wird.<br />
Dazu zwei Szenarien: (a) Ein „sich entwickelnder“<br />
Staat, der von einem korrupten (möglicherweise<br />
paranoiden) Herrscher geknebelt ist, verstreut seine<br />
flüchtenden Bürger über <strong>die</strong> – ihrerseits umwelt -<br />
geplagten – Nachbarländer. (b) Ein multiethnisches<br />
Land wird von einer korrupten Clique<br />
(sagen wir: einer Militärjunta) beherrscht, <strong>die</strong> sich<br />
zur Ausbeutung der Bodenschätze der Komplicen -<br />
schaft internationaler Konzerne versichert hat; <strong>die</strong><br />
rebellierende Minderheiten werden aus dem<br />
eigenen Staatsgebiet in Nachbarländer vertrieben,<br />
<strong>die</strong> dadurch (siehe Szenario a) ihrerseits unter<br />
Druck geraten. <strong>Die</strong> jeweiligen Verhandlungen<br />
können – wenigstens das – von den Repräsentanten<br />
der UN protokolliert und über das Internet der<br />
global gewordenen Öffentlichkeit präsentiert<br />
werden.<br />
Deutlich wird im Blick auf solche Szenarien auch,<br />
dass <strong>die</strong> Funktion des Sicherheitsrates in seiner<br />
bisherigen Zusammensetzung und unter<br />
Beibehaltung von „Vetomächten“ unbrauchbar, ja<br />
destruktiv geworden ist.<br />
Wesentlich konkreter, wenn auch nicht<br />
notwendig optimistischer, fällt eine Überschau aus,<br />
welche aktuell wirksamen Kulturfaktoren<br />
angesichts des Klimawandels als Blockaden, welche<br />
als Öffnungen zu begreifen sind.<br />
2001 zum epochemachenden Eklat geworden. Aber<br />
was geschah danach? <strong>Die</strong> Weltmacht, <strong>die</strong> bis dahin<br />
als Garant der Freiheitsrechte und Liberalität<br />
gegolten hatte, handelte ihrerseits manichäistisch.<br />
Auch hier brach lange Vorbereitetes durch, vor<br />
allem <strong>die</strong> latente Neigung bestimmter Gesell -<br />
schaftsteile der USA, sich als Nachfolger des Messias<br />
zu begreifen (in der „Battle Hymn of the Republic“<br />
heißt es: „As he <strong>die</strong>d to make men holy, let us <strong>die</strong> to<br />
make men free“). <strong>Die</strong> Regierung von George W.<br />
Bush be<strong>die</strong>nte sich des religiösen Fundamen ta -<br />
lismus, um einen Krieg beginnen zu können, für<br />
den es ganz andere Gründe gab – ein Täuschungs -<br />
manöver, das spektakulär misslungen ist.<br />
Guantánamo, Abu Ghraib, das Entgleisen der<br />
gesellschaftlichen Prozesse im Irak: Der katastro -<br />
phale Geltungsverlust der USA betrifft uns alle. Im<br />
Klimawandel brauchen wir einen Hegemon, der<br />
mit kulturellen Unterschieden umzugehen vermag.<br />
<strong>Die</strong> kulturelle Überhöhung der Gier. Auch <strong>die</strong><br />
zweite der hier angesprochenen Blockaden kann<br />
nicht ohne Bezugnahme auf <strong>die</strong> USA erörtert<br />
werden. Das ist kein Zufall (aber auch kein<br />
Ausdruck einer Amerikafeindlichkeit bei mir),<br />
sondern unvermeidlich: <strong>Die</strong> Möglichkeiten der<br />
Zukunft können nicht an den Werten der einzigen<br />
Weltmacht vorbei gedacht werden, sondern nur<br />
durch <strong>die</strong>se hindurch.<br />
Um Missverständnisse zu vermeiden: Immer<br />
schon, seit es Menschen gibt, waren <strong>die</strong><br />
Unterschiede zwischen den menschlichen<br />
Individuen größer als bei allen anderen Gattungen<br />
des Tierreichs, und Unterschiede zwischen arm und<br />
reich sind unvermeidlich. Aber seit dem „Sieg des<br />
Kapitalismus“ ist der Dynamismus der Geld -<br />
vermehrung außer Rand und Band geraten. Man<br />
vergleiche <strong>die</strong> Liste der Reichsten in der Welt von<br />
2006 mit denen davor und beachte <strong>die</strong> steigende<br />
Zahl derer, <strong>die</strong> im reinen Geldgewerbe tätig sind.<br />
Exzessive Unternehmer-Gewinne (wie bei Bill<br />
<strong>Die</strong> Unterteilung der Welt in gut und<br />
böse, gottgewollt und widergöttlich geht auf eine<br />
frühchristliche Sekte zurück, <strong>die</strong> Manichäer . Dass<br />
der Manichäismus in <strong>die</strong> Gegenwart ein brechen<br />
konnte, hat mit der Radikali sierung einer<br />
islamistischen Minderheit zu tun. Wie es dazu kam,<br />
hat Dan Diner in seinem Buch Versiegelte Zeit<br />
(2005) beschrieben. „Versiegelt“ bedeutet hier<br />
soviel wie „angehalten“ und bezieht sich auf <strong>die</strong><br />
Geschichtszeit. Gesellschaften, <strong>die</strong> sich so<br />
verhalten, als könnten sie den weltgeschichtlichen<br />
Wandel an sich vorbeiziehen lassen, bringen sich<br />
selbst in eine defensive und schließlich verzweifelte<br />
Lage. <strong>Die</strong> eigene Position wird absolut gesetzt, <strong>die</strong><br />
menschliche Solidarität mit „Ungläubigen“ negiert<br />
– bis hin zum Terror gegen <strong>die</strong> derzeitige Leitkultur<br />
und Weltmacht. Was sich in mehr oder weniger<br />
spektakulären Aktionen bereits seit den 90er Jahren<br />
des letzten Jahrhunderts andeutete, ist am 11. 9. Im Verhandlungsprozess: IPCC, Arbeitsgruppe II, Brüssel, April 2007:<br />
www.iisd.ca/climate/ipwg2/<br />
29
30<br />
Gates) sind eher Ausnahmen, <strong>die</strong> mit Ausnahme -<br />
produkten erklärbar sind. Geldvermehrung<br />
geschieht immer weniger durch gesellschaftlich<br />
relevantes Handeln (etwa durch Innovation oder<br />
Produktion) und immer mehr durch den Handel<br />
mit Geld. Grenzziehungen von seiten des Staates<br />
werden hier kaum vermeidbar sein, zum Beispiel<br />
durch andere rechtliche Rahmenbedingungen für<br />
Aktiengesellschaften und eine stärkere Kontrolle<br />
börsennotierter Fonds. Der deutsche Bundes -<br />
präsident, selbst ein Wirtschaftsmann, engagiert<br />
sich eben jetzt in <strong>die</strong>ser Sache.<br />
Aber wie soll das bisher Unmögliche möglich<br />
werden – zumal in den USA, der Geld-Kultur par<br />
excellence mit der symbolischen Camouflage durch<br />
das Bibelwort „An ihren Früchten sollt ihr sie<br />
erkennen“ und <strong>die</strong> Gleichsetzung der „guten<br />
Früchte“ mit einem bloßen Mehr an Kapital?<br />
In einer solchen Situation sind <strong>die</strong><br />
Möglichkeiten nicht offenen Türen oder gar<br />
Scheunen tore, sondern allenfalls Öffnungen, <strong>die</strong><br />
man daran bemerkt, dass ein Luftstrom spürbar<br />
wird.<br />
Wie Umfragen zeigen, gibt es Deutschland immer<br />
noch keine Mehrheit für einen kollektiv-einseitigen<br />
Verzicht. „Eine Umweltsteuer nur in Deutschland?!“<br />
„Und wenn <strong>die</strong> anderen dann nicht nachziehen?“<br />
„Wir, uns selber schwächen?!“ „Verzichten auf<br />
unsere Geltung in der Welt?!“ So gibt es bisher auch<br />
keine Mehrheit für Maßnahmen, <strong>die</strong> unsere<br />
Schlüsselindustrie, <strong>die</strong> Automobilbranche,<br />
benachteiligen könnten, <strong>die</strong> eben wieder ab gelehnte<br />
Geschwindigkeitsbeschränkung auf Autobahnen<br />
gehört dazu. Andererseits gibt es, wie z. B. <strong>die</strong> letzte<br />
Internationale Automobil-Ausstel lung gezeigt hat,<br />
einen deutlichen Trend zu umweltfreundlichen<br />
Autos hin, was ja den Verzicht des Einzelnen auf<br />
größere Motorenkraft, Schnelligkeit, spektakuläre<br />
Ausstattung und Ähnliches einschließt. Eine<br />
bemerkenswerte Um zeichnung des Selbstprofils:<br />
von „Ich bin stärker“ zu „Ich bin umweltbewusst“.<br />
Gut belegt ist auch, dass Energiesparprogramme, sei<br />
es beim Wohnungsbau, sei es bei der Hinwendung<br />
zu erneuerbaren Energien bereitwilliger angenom -<br />
men werden. Selbst <strong>die</strong> Bereitschaft, Preisaufschläge<br />
bei Fern-Flugreisen hinzunehmen, scheint zu<br />
wachsen. Als wollte man sich beim Flug in den<br />
exotischen Urlaub eines Begleiters entledigen: des<br />
schlechten Gewissens, das incognito mitreist. All das<br />
deutet auf Umschichtungen im Wertegefüge vieler<br />
Einzelner hin.<br />
Nach dem Tsunami im Dezember 2005<br />
war das Spendenaufkommen in den entwickelten<br />
Ländern enorm, größer als bei allen vergleichbaren<br />
Anlässen davor. War es einfach nur das Spektakuläre<br />
des Ereignisses, das <strong>die</strong>se Reaktion auslöste? Ich<br />
Thema<br />
glaube nicht. <strong>Die</strong> mediale Berichterstattung, zumal<br />
durch Bilder, <strong>die</strong> live zustandekamen, haben eine<br />
Art praktischer Beteiligung (ich meine gerade nicht:<br />
abstrakte Betroffenheit) ausgelöst, <strong>die</strong> der Wirkung<br />
einer Katastrophe in geographisch nächster Nähe<br />
ähnlich war. <strong>Die</strong>ser Nahholeffekt des Mediums<br />
Fernsehen könnte bei der Organisation des Klima -<br />
wandels eine konstruktive Rolle spielen: im Sinne<br />
einer globalen Dokumentation. Noch stärker, wenn<br />
auch anders, geschieht <strong>die</strong> Nahholung der Ferne<br />
durch das Internet. Fast sieht es so aus, als sei es in<br />
Reaktion auf <strong>die</strong> Umweltkrise entwickelt worden.<br />
Es ist nicht zentrisch, ja nicht einmal knotenhaft<br />
organisiert (vom technischen Aspekt der Knoten -<br />
bildung einmal abgesehen), sondern fraktal. Jeder<br />
einzelne Partizipant ist Sender und Empfänger,<br />
Ausgangspunkt und Zielpunkt der globalen<br />
Kommunikation zugleich. Alle Prozesse können<br />
allseitig-gleichzeitig aktiviert werden: Netze der<br />
Meinungsbildung und Entscheidungsketten,<br />
Linien der Expertise und Tableaus der Information.<br />
Wenn es etwas gibt, das sich heute in<br />
allen Kulturen gleichzeitig und in vergleichbarer<br />
Weise vollzieht, dann ist es <strong>die</strong> Zunahme des<br />
Anspruchs, über sich selbst verfügen zu können.<br />
Der Bereich, wo man das am besten beobachten<br />
kann, ist <strong>die</strong> Emanzipation der Frauen. Alle<br />
bedeutsamen Tendenzen der Kulturentwicklung<br />
der letzten Jahrhunderte konvergieren hier: <strong>die</strong><br />
Postulate der Gleichheit und Freiheit aller<br />
Menschen, <strong>die</strong> Differenzierung des individuellen<br />
Bewusstseins, <strong>die</strong> Möglichkeit der Geburten -<br />
kontrolle und <strong>die</strong> Teilnahme der Frauen an allen<br />
gesellschaftlichen Tätigkeiten. Aktuell wird <strong>die</strong>ser<br />
Prozess bei der Frage, wie der Kampf gegen <strong>die</strong><br />
Armut zu organisieren ist, brisant angesichts der<br />
Herausforderungen durch den Klimawandel.<br />
Entscheidend ist <strong>die</strong> Frage nach der Verteilung von<br />
Geldern an <strong>die</strong> Bedürftigsten, genauer: nach der<br />
Verteilungsstruktur. Dabei scheint mir ein Modell<br />
besonders einleuchtend und gut erprobt zu sein, das<br />
der sogenannten „Mikrokredite“, ein System, das .<br />
Muhammad Yunus entwickelt und dafür 2006 den<br />
Friedensnobelpreis bekommen hat. Sein Credo: Es<br />
komme darauf an, aus Menschen Unternehmer zu<br />
machen, Unternehmer ihres eigenen Lebens. Und<br />
wer für sein eigenes Leben Verantwortung<br />
übernehmen könne, könne es auch für <strong>die</strong><br />
Lebenswelt. Das Hoffnungspotenzial <strong>die</strong>ser<br />
pragmatischen Anthropologie: Da <strong>die</strong> Umwelt im<br />
Wandel ist, wandeln sich auch <strong>die</strong> Selbstentwürfe<br />
der einzelnen Menschen und, davon angestoßen,<br />
<strong>die</strong> Vorstellungen, wie sich Menschen aufeinander<br />
beziehen können.<br />
Falls <strong>die</strong> Beobachtung von Muhammad Yunus<br />
zutrifft, dass gegenwärtig besonders Frauen der<br />
Dritten Welt zu <strong>die</strong>ser Selbst- und Weltverantwort -<br />
lichkeit hinfinden, umso schöner.
Klimawandel<br />
Von der Befangenheit der Naturwissenschaften<br />
<strong>Die</strong> alltägliche Hybris<br />
Sind <strong>die</strong> Folgen des Klimawandels wirklich nur ein wissenschaftlich-technisches Problem? Oder ist das für <strong>die</strong>se Wissenschaft<br />
kennzeichnende lineare Denken, <strong>die</strong> „zwingende Lösung“, nicht eher der Irrweg, der eine soziale Gerechtigkeit verhindert?<br />
Antworten auf den ins Haus stehenden Klima -<br />
wandel müssen sich mit einer Reihe gegenwärtiger<br />
und auch in Zukunft relevanter gesellschaftlicher<br />
nationaler und globaler Herausforderungen stellen.<br />
Dazu gehören beispielsweise <strong>die</strong> Asymmetrien im<br />
Lebensstandard in und zwischen den Gesell schaften,<br />
den ökonomischen Aspirationen von Nord und Süd,<br />
von an Naturschätzen reichen und armen Ländern,<br />
demokratischen und autokrati schen politischen<br />
Regimen, sowie von Staaten mit völlig unter -<br />
schiedlicher demographischer Dyna mik, und nicht<br />
zuletzt von unterschiedlichen Überzeugungen von<br />
dem, was den Menschen heilig ist.<br />
Wir bezweifeln, dass im Kontext <strong>die</strong>ser Gemenge -<br />
lage, sowie angesichts nicht antizipierbaren<br />
Ereignisse und Entwicklungen in den Jahren nach<br />
der Kyoto-Vereinbarung eine konsensuelle, global<br />
wirksame Strategie zur nachhaltigen Begrenzung<br />
des Ausstoßes von Treibhausgasen entstehen wird.<br />
Ein sicherer Hinweis, der <strong>die</strong>se skeptische Fol ge -<br />
rung stützt, sind vergangene, fehlgeschlagene<br />
politische Bemühungen, das globale Klima<br />
nachhaltig vor den Folgen menschlichen Handels<br />
zu schützen.<br />
<strong>Die</strong> Implementation globaler Abkommen muss<br />
immer noch durch den Flaschenhals nationaler,<br />
regionaler und sogar kommunaler Kontingenzen.<br />
Es gibt keine globale politische Ordnung, <strong>die</strong> eine<br />
Umsetzung globaler Abkommen stützt und sogar<br />
mit entsprechenden Sanktionen ausgestattet<br />
erzwingen kann. Jedes politische System wird seine<br />
eigenen Reaktionen auf <strong>die</strong> Herausforderung des<br />
Klimawandels produzieren. <strong>Die</strong> damit verbundene<br />
unausweichliche Widersprüchlichkeit und<br />
Zerbrechlichkeit jedweden (aggregierten)<br />
Handelns ist unvermeidbar, und bildet <strong>die</strong><br />
fundamentalen Rahmenbedingungen für eine<br />
Antwort, auf Forderungen in bestimmter Weise<br />
und in einem gewissen Zeitraum auf den<br />
Klimawandel zu reagieren.<br />
<strong>Die</strong>se elementaren und ganz offensichtlich von<br />
vielen Widersprüchen gekennzeichneten<br />
Von Nico Stehr und Hans von Storch<br />
Handlungsbedingungen werden in der öffentlichen<br />
Klimadebatte immer noch nur unvollständig zur<br />
Kenntnis genommen. Teile werden sogar<br />
weitgehend tabuisiert.<br />
Welche Erkenntnisse kann man in <strong>die</strong>se politi -<br />
schen Debatten, Fehlentwicklungen und Sack -<br />
gassen einbringen, <strong>die</strong> eine Erforschung und Politik<br />
des Machbaren befördern und helfen welt anschau -<br />
lich gestütztes Wunschdenken, gerade auch in<br />
Kreisen der politisch wirksamen Klimaforschung,<br />
auf den Boden der Realität zu zwingen?<br />
<strong>Die</strong> Bundeskanzlerin Angela Merkel hat jüngst auf<br />
einer Tagung zur Klimapolitik gefordert, dass <strong>die</strong><br />
Menschen <strong>die</strong>ser Welt Mitte <strong>die</strong>ses Jahrhunderts<br />
pro Person im Durchschnitt nur noch zwei Tonnen<br />
Kohlendioxyd pro Jahr emittieren dürfen, um<br />
sicherzustellen, dass <strong>die</strong> katastrophalen Folgen des<br />
Klimawandels und Kriege um Ressourcen vermie -<br />
den werden. Andernfalls drohe eine Erderwärmung<br />
über den „kritischen Schwellenwert” von zwei Grad<br />
Celsius in 2050. Da der Durchschnittsbürger der<br />
Vereinigten Staaten gegenwärtig zwanzig Tonnen<br />
Kohlendioxid verursacht, während es in Deutschl -<br />
and elf Tonnen sind und in einem typischen Land<br />
der sich entwickelnden Welt natürlich sehr viel<br />
geringere Mengen, ist <strong>die</strong>ser Vorschlag zumindest<br />
eine Antwort auf <strong>die</strong> Frage nach einem gerechten<br />
Verschmutzungsanteil jedes Individuums der<br />
weiter wachsenden Menschheit. Für Deutschland<br />
bedeutet das von Merkel bis 2050 gesetzte Ziel<br />
beispielsweise eine Minderung von 82 Prozent und<br />
für <strong>die</strong> USA von 90 Prozent.<br />
<strong>Die</strong> Zahlen über <strong>die</strong> durchschnittliche Emission<br />
von Kohlendioxyd sind strittig. Wahrscheinlich<br />
liegen sie zur Zeit für Deutschland sogar über den<br />
genannten Wert von elf Tonnen pro Jahr und<br />
Person. Darüberhinaus sind <strong>die</strong> globalen Wert<br />
allen falls Aussagen über eine Kohlendioxyd<br />
Gerechtigkeitsquotienten. Aber selbst wenn sie<br />
stimmen würden, sind sie inkonsistent mit realis -<br />
tischen Erwartungen in der Zukunft. In 2050 wird<br />
es wahrscheinlich neun Milliarden Menschen<br />
31
32<br />
geben; heute sind es 6500000 Milliarden. Bei einer<br />
Emission von zwei Tonnen pro Person ergibt <strong>die</strong>s<br />
eine globalen Ausstoß von 18 Milliarden Tonnen.<br />
<strong>Die</strong>se Zahl wäre unzureichend, um das Klima zu<br />
stabilisieren.<br />
Demgegenüber steigen <strong>die</strong> tatsächlichen Emission<br />
von Kohlendioxyd weiter. Der Ausstoß wächst<br />
gegenwärtig auch in der Bundesrepublik. Wir sind<br />
derzeit eher auf dem weg zu 15 Tonnen als zu 2<br />
Tonnen pro Jahr und Person.<br />
Kurz, <strong>die</strong> globalen Bemühungen, den Ausstoß der<br />
Treibhausgase zu begrenzen, werden<br />
wahrscheinlich nur mäßigen Erfolg haben.<br />
Angesichts <strong>die</strong>ser Risiken wird unter Technik-<br />
Optimisten als Alter native zum herkömmlichen<br />
„Klimaschutz“ (Reduktion) an großflächige,<br />
technischen Möglichkeiten der Abmilderung des<br />
Klimawandels (etwa indem man <strong>die</strong><br />
Sonneneinstrahlung abmil dert oder Kohlendioxyd<br />
verstärkt im Meer ablagert) gedacht. Da <strong>die</strong>se<br />
Option, soweit man <strong>die</strong>s zur Zeit einschätzen kann,<br />
wohl kaum <strong>die</strong> erforderliche politische<br />
Unterstützung finden wird, kann eine in den<br />
kommenden Jahrzehnten tragfähige Klima politik<br />
nur heißen, dass man den Bemühungen um den<br />
„Klimaschutz“ in Forschung und in der Politik <strong>die</strong><br />
Komponenten Vorsorge und Anpassung als<br />
gewichtige Maßnahmen Hinzufügen muss.<br />
Aber warum wird <strong>die</strong> Strategie der Vorsorge in der<br />
Klimapolitik und in der Klimaforschung, d.h. das<br />
Nachdenken über eine Verminderung der Verletz -<br />
lichkeit der Gesellschaft, sowie ihrer Infrastruktur<br />
gegenüber den Folgen der Klima veränderung, in<br />
der Öffentlichkeit, aber auch in den Me<strong>die</strong>n und in<br />
der Politik weitgehend tabuisiert?<br />
Der amerikanische Oscar-Preisträger, ehemalige<br />
Vizepräsident und jetzt Friedensnobelpreisträger Al<br />
Gore machte schon vor fünfzehn Jahren kein Hehl<br />
aus seiner kompromisslosen Ablehnung einer<br />
Klimapolitik, <strong>die</strong> auf Anpassungsstrategien<br />
ausgerichtet ist. Eine solche Einstellung ist für Gore<br />
allenfalls Ausdruck einer intellektuellen und<br />
politischen Faulheit, schlimmer noch, eines<br />
„arroganten Glaubens an unsere Fähigkeit, unsere<br />
Haut doch noch zum richtigen Zeitpunkt zu<br />
retten”. <strong>Die</strong>se Überzeugung hat Gore erst jüngst in<br />
einer Diskussion seines Films „Eine unbequeme<br />
Wahrheit“ an der Columbia University in New York<br />
wiederholt. Wir müssen uns auf Minderung<br />
konzentrieren, so seine knallharte Forderung an <strong>die</strong><br />
Wissenschaft, <strong>die</strong> Politik und <strong>die</strong> Gesellschaft.<br />
Al Gores Überzeugung ist ein mehr oder weniger<br />
deutliches Echo einer einst sowohl im Alltag als<br />
auch in der Wissenschaft verbreiten klima determi -<br />
nistischen Anschauung. <strong>Die</strong> Natur - und hier<br />
insbesondere das Klima - seien auf Grund ihrer<br />
Thema<br />
einmaligen Macht und Einfluss auf das mensch -<br />
liche Leben für eine Unzahl von gesellschaftlichen<br />
Prozessen und regionalen Besonderheiten der<br />
Menschen verantwortlich. Das Klima sei eine<br />
Schicksalsmacht, Erfolge und vergebliches<br />
Bemühen ganzer Zivilisationen daher klima -<br />
gesteuert. Mit anderen Worten, man könne dem<br />
Einfluss des Klimas nicht entrinnen. Wenn man<br />
sich <strong>die</strong>se Sichtweise zu eigen macht, dann ist jeder<br />
Klimawandel, ob menschengemacht oder<br />
natürlich, ein Angriff auf <strong>die</strong> Grundlagen jeder<br />
Gesellschaft.<br />
Wissenschaftler und Philosophen haben bis vor<br />
nicht allzu langer Zeit <strong>die</strong>se nachhaltigen<br />
Wirkungen des Klimas auf <strong>die</strong> Entwicklung der<br />
Menschheit unterstrichen. Zwar ist der krude<br />
Klimadeterminismus in der Wissenschaft in<br />
Ungnade gefallen, was aber nicht heißen muss, dass<br />
<strong>die</strong>se Weltanschauung in der gegenwärtigen<br />
Diskussion abhanden gekommen ist. Insofern Gore<br />
und viele andere Beobachter des Klimawandels<br />
gegen Vorsorgemaßnahmen polemisieren, sind sie<br />
zumindest teilweise Opfer einer als überholt<br />
erkannten Denkschule, einer Ideologie.<br />
In <strong>die</strong>ser Denkschule grenzt es geradezu an Hybris,<br />
sich auszumalen, dass man dem Klima ein<br />
Schnippchen schlagen könne etwa durch technische<br />
Tricks, durch Vorsorgemassnahmen; Strategien<br />
<strong>die</strong>ser Art vermitteln also ein falsches Gefühl der<br />
Sicherheit. <strong>Die</strong> Anpassung an veränder liche<br />
klimatische Verhältnisse repräsentiert demnach <strong>die</strong><br />
alltägliche menschliche Hybris gegenüber der<br />
Macht der Natur. Wir denken, dass <strong>die</strong>se<br />
weltanschauliche Prämisse hinter der<br />
Bagatellisierung der Strategie der Anpassung und<br />
Vorsorge in der öffentlichen Diskussion um den<br />
Klimaschutz in der Wissenschaft, Politik und<br />
Gesellschaft steht. Es gibt aber weitere signifikante<br />
Gründe:<br />
Beginnen wir mit den Gründen, <strong>die</strong> sich der<br />
wissenschaftlichen Erforschung der Klima -<br />
veränderungen zurechnen lassen: <strong>Die</strong> bisherigen<br />
Bemühungen der Wissenschaft haben sich, auch<br />
angesichts der immer wiederkehrenden Zweifel, auf<br />
zwei Themen konzentriert: Erstens, es sollte<br />
bewiesen werden, dass es gegenwärtig – in<br />
historischen Dimensionen betrachtete – einmalige<br />
rapide globale Klimaveränderung gibt. Zweitens<br />
sollten Erkenntnisse gesammelt werden, <strong>die</strong><br />
unzweifelhaft beweisen, dass <strong>die</strong> beobachtete<br />
Veränderung des Klimas eine vom Menschen selbst<br />
verursachte Entwicklung ist. <strong>Die</strong>se Ziele hat <strong>die</strong><br />
junge Klimawissenschaft in wenigen Jahren<br />
realisiert, so dass man heute, wie <strong>die</strong> Berichte der<br />
IPCC zeigen, von einem umfassenden Konsens in<br />
der Klimawissenschaft sprechen kann. <strong>Die</strong> Klima -<br />
wissenschaft hat damit eine in ihrem eigenen<br />
Verständnis nach zentrale Funktion erfüllt: Es
Klimawandel<br />
wurde gezeigt, dass es einen menschengemachten<br />
Klimawandel gibt, und dass <strong>die</strong>ser sich derzeit<br />
entwickelt und in zukünftig auf absehbare Zeit<br />
stärker wird.<br />
Aus <strong>die</strong>sem Konsens der Klimawissenschaft<br />
ergeben sich aber keine unabdingbaren, evidenz -<br />
basierten Handlungsanweisungen – sehr zum<br />
Verdruss der Wissenschaft, aber auch der Politik<br />
und ihrem dominanten Verständnis der instru -<br />
mentellen Wirksamkeit ihrer Erkenntnisse. <strong>Die</strong><br />
Dynamik der Gesellschaft ist sehr viel komplexer als<br />
<strong>die</strong> des Klimas. <strong>Die</strong> Schwankungs zeiten und der<br />
Zeithorizonte der Natur korrespon<strong>die</strong>ren einfach<br />
nicht mit der Vielfalt der den Lebensabschnitten<br />
und Planungen der Gesellschaftsmitglieder. Der<br />
verhältnismäßig träge Zeithorizont der Klima -<br />
prozesse korrespon<strong>die</strong>rt zudem nicht mit dem der<br />
sehr viel kurzfristiger gedachten gesellschaftlichen<br />
Möglichkeiten und Randbedingungen.<br />
Daher ist jetzt eigentlich <strong>die</strong> Zeit gekommen für<br />
Fragen, was denn <strong>die</strong>ser Klimawandel in einer sich<br />
ohnehin radikal ändernden Welt bedeutet. Eine<br />
Frage an Wissenschaften jenseits der physikalisch<br />
orientierten Klimaforschung. Eine Frage auch an<br />
Klimawirkungsforscher, insbesondere auch an<br />
Sozialwissenschaftler, wie denn der globale<br />
Wandel, der ja weit mehr als Klimawandel ist, sich<br />
entwickeln kann, wieweit <strong>die</strong>s gesteuert oder<br />
befördert werden kann. <strong>Die</strong> bisherigen Vorschläge,<br />
<strong>die</strong> simplen Modelle der Klimaökonomen<br />
entspringen, versuchen, das Problem auf wenige<br />
existentielle Motive zu reduzieren, aber <strong>die</strong>s ist<br />
sicher zu naiv gedacht. Wir kennen <strong>die</strong> Zukunft<br />
gesellschaftlicher Verhältnisse vielleicht gerade in<br />
Umrissen – und mit den längerfristigen techno -<br />
logischen und politischen Verhältnissen ist es<br />
ähnlich – und aus <strong>die</strong>sen Konturen lassen sich<br />
keine definitiven Handlungsanweisungen ableiten.<br />
Der gesellschaftliche Stellenwert von Natur -<br />
wissen schaften und Technik sind ein wichti ger<br />
Grund, warum <strong>die</strong> Gesellschafts wissen schaften sich<br />
sperren, <strong>die</strong> Herausforderung „Klimawandel in<br />
einer sich wandelnden Welt“ aufzunehmen.<br />
Solange <strong>die</strong> Menschen wissenschaf ten (Norbert<br />
Elias) ihren bisherigen unter geord neten Status in<br />
der Gesellschaft behalten und ihr Einfluss<br />
systematisch unterschätzt wird, wird <strong>die</strong> Kompe -<br />
tenz zur Lösung der Klimaproblematik vor allem als<br />
eine naturwissenschaftlich-technische Antwort<br />
verstanden. Wir müssen uns darauf konzentrieren,<br />
so lautet eine <strong>die</strong>ser häufigen Antworten, über kurz<br />
oder lang radikal neue Energiequellen zu finden.<br />
Wie <strong>die</strong>se Bemühungen unsere existenziellen<br />
Grundlagen jetzt und in den kommenden Jahr -<br />
zehnten vor den sicheren Gefahren des jetzigen<br />
und vermutlich verschärften Gefahren eines<br />
zukünf ti gen Klimas schützen können, wird einfach<br />
verdrängt.<br />
ESA - AOES Medialab<br />
Einer, der alles sehen soll: Cryosat (Zeichnung)<br />
(Fehlstart Oktober 2005, nächster Start geplant für Anfang 2009)<br />
Das mangelnde Ansehen der Menschen wissen -<br />
schaften in der Gesellschaft und das parallel<br />
besonders ausgeprägte Selbstverständnis der Naturund<br />
Technikwissenschaften reduziert <strong>die</strong> Klima -<br />
problematik auf ein rein wissenschaftlichtechnisches<br />
Problem. <strong>Die</strong> Naturwissenschaften<br />
bieten auf dem Markt des öffentlichen Wissens ihre<br />
Diagnose an und sind davon befangen, dass <strong>die</strong>se<br />
Zustandsbeschreibung ganz präzise eine bestimmte<br />
Therapie erzwingt. Der Weg von der Erkenntnis zu<br />
den Handlungsmöglichkeiten ist danach eindeutig,<br />
linear und zwingend. Dass in <strong>die</strong>sem Zusammen -<br />
hang <strong>die</strong> Begrifflichkeit der Medizin, von der<br />
Amnesie direkt zur heilenden Therapie, eine<br />
hervorstechende Rolle spielt, überrascht nicht.<br />
Das besondere Ansehen der Naturwissenschaften<br />
und der Technik hat weiter zur Folge, dass <strong>die</strong><br />
Fehlschläge der von öffentlich sichtbaren Klima -<br />
forschern als zwingend angebotenen Therapie, <strong>die</strong><br />
mangelnde Resonanz des Wilderns in fremden<br />
Erkenntnisfeldern, als bedauerliche Zurück -<br />
gebliebenheit des Verstandes oder als pure<br />
Selbstsucht der Politik und der Gesellschaft<br />
angeprangert werden. Sollte weiter nicht auf den<br />
zwingenden Rat werden, dann ist <strong>die</strong>se<br />
Selbstsucht, so scheint es bisweilen, durch eine<br />
Eskalation der angenommenen Gefahrenmomente<br />
zu therapieren.<br />
Wir brauchen eine Umorientierung vom Vorrang<br />
der Natur- und Technikwissenschaften hin zu einer<br />
gesellschaftlich orientierten sozialen Kli ma wis -<br />
senschaft und der politischen Einsicht in das<br />
Machbare. Das Machbare ist eine gewisse<br />
Beschränkung der Freisetzung klimaschädlicher<br />
Treibhausgase, aber vor allem auch der Schutz der<br />
Gesellschaft vor einem sich rapide verändernden<br />
Klima.<br />
Nächste Doppelseite: Ein Bulldozer verteilt Petrolkoks im Gelände, Texas City, Texas (Foto: Henry Fair)<br />
33
34<br />
Bio-Energie<br />
<strong>Die</strong> Hoffnung ist grün<br />
Biokraftstoffe befinden sich gerade auf einer Achterbahnfahrt: vom vermeintlichen Klimaretter zum Buhmann des Jahres. Sie<br />
binden aber auch Aufmerksamkeit, und das verschleiert uns den Blick, so dass wir <strong>die</strong> Potenziale, <strong>die</strong> der Energie aus nachwachsenden<br />
Rohstoffen insgesamt innewohnen, kaum noch wahrnehmen. Was ist los auf dem Jahrmarkt der Bioenergien? Ein Überblick.<br />
Spätestens seit der Klimaschutz in aller<br />
Munde ist, erfahren nachwachsende Rohstoffe als<br />
Energielieferanten wachsende Aufmerksamkeit. <strong>Die</strong><br />
Idee, mit Pflanzen fossile Brennstoffe zu ersetzen,<br />
wirkt auf den <strong>ersten</strong> Blick bedingungslos überzeu -<br />
gend. Denn sie setzen in den Kraftwerken, Mo to ren<br />
und Heizungen lediglich <strong>die</strong> Menge Koh lendioxid<br />
(CO 2 ) frei, <strong>die</strong> sie der Luft zuvor entnommen haben.<br />
Und sie verringern <strong>die</strong> Abhängigkeit von den<br />
schrumpfenden Erdölreserven. Einen regelrechten<br />
Boom haben daher <strong>die</strong> Biotreibstoffe erfahren,<br />
versprachen sie der Verkehrsbranche ein Weiter-so<br />
mit deutlich weniger Nebenwirkungen als bisher.<br />
Und alle schienen zu profitieren: das Klima, <strong>die</strong><br />
Erdöl importierenden Staaten, <strong>die</strong> Bauern des<br />
Südens und des Nordens. Aber seit einigen Monaten<br />
müssen <strong>die</strong> jüngst noch als Retter begrüßten<br />
Biokraftstoffe als „Der grüne Tod“ oder „Klima -<br />
killer vom Acker“ massiv Prügel einstecken. Eine<br />
derart schnelle Degra<strong>die</strong>rung hat noch kaum ein<br />
ökologischer Hoffnungsträger erfahren.<br />
<strong>Die</strong> teils hysterische Kritik an den Biokraftstoffen<br />
lenkt den Blick auf <strong>die</strong> zahlreichen ökologischen<br />
und sozialen Risiken, <strong>die</strong> mit dem sich auswei -<br />
tenden und intensivierenden Anbau der nachwach -<br />
senden Rohstoffe einhergehen. Es sind alte<br />
Bekannte einer Landnutzung, <strong>die</strong> auf ihrem<br />
ökologischen Auge weitgehend blind ist und das<br />
soziale bewusst verschließt. Kennzeichen <strong>die</strong>ser<br />
Nutzung: <strong>die</strong> Zerstörung natürlicher Wälder,<br />
Moore und Grasländer, <strong>die</strong> Bodenerosion, der<br />
exzessive Wasserverbrauch und ein intensiver<br />
Dünger- und Pestizideinsatz. Nicht selten werden<br />
Ureinwohner oder Kleinbauern vertrieben; von den<br />
Verlusten der Biodiversität ganz zu schweigen.<br />
Dabei könnte <strong>die</strong> Bio-Energie sowohl aus ökolo gi -<br />
scher wie auch sozialer Sicht ein Paradebeispiel der<br />
Nachhaltigkeit sein: Sie setzt auf nachwachsende<br />
Rohstoffe und stärkt <strong>die</strong> regionale Wirtschaft. <strong>Die</strong><br />
katastrophalen Nebenwirkungen der Ölförderung<br />
treten hier gar nicht erst auf, und ausgetretener<br />
Bio<strong>die</strong>sel etwa ist für Gewässer oder Böden ungleich<br />
weniger umweltbelastend als herkömmlicher<br />
Von Torsten Mertz<br />
Thema<br />
<strong>Die</strong>sel. <strong>Die</strong> Energieproduktion aus Pflanzenmasse<br />
kennt zudem keine Abfälle, da alle Nebenprodukte<br />
als Viehfutter, als Dünger oder in der chemischen<br />
Industrie Verwendung finden.<br />
Das aktuelle schlechte Image hat <strong>die</strong><br />
Bioenergie vor allem dem Versagen der Biokraftstoffe in<br />
der Königsdisziplin zu verdanken: ihremBeitrag zum<br />
Klima schutz. <strong>Die</strong> maschinen- und düngeintensive<br />
Landwirt schaft, der Transport und <strong>die</strong> Verarbeitung der<br />
Rohstoffeverbrauchen einen erheblichen Teil der<br />
Energie, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Pflanzen selbst liefern. Hinzu kommt,<br />
dass als Folge der Stickstoffdüngungden Böden und<br />
Gewässern Treib hausgase entweichen. Lachgas (N 2 O)<br />
beispielsweise ist ein sehr starkes Klimagas - rund 300-mal<br />
klimawirksamer als CO 2 . Nach Berechnungen des<br />
Umweltbundesamtes ist daher beispielsweise Raps<strong>die</strong>sel<br />
nicht klimaneutral, sondernallenfalls zwischen 20 bis 80<br />
Prozent weniger klimabelastend. <strong>Die</strong> große Spanne<br />
resultiert einerseits aus unterschiedlichenenergetischen<br />
Nutzungsmöglichkeiten der anfallenden<br />
Nebenprodukte (ohne Betrachtung der Nebenprodukte<br />
wäre <strong>die</strong> Bio<strong>die</strong>sel-Bilanzerheblich schlechter); aber vor<br />
allem auch aus der großen Unsicher heit, wie viel N 2 O als<br />
Folge der Stickstoffdüngung frei wird.Internationale<br />
Wissenschaftler um den Chemie-Nobel preisträger Paul<br />
Crutzen haben sich jüngst getraut zu folgern, dass Biosprit<br />
garklimaschädlicher sei als seine Pendants aus Erdöl.<br />
Demzufolge setze Raps<strong>die</strong>sel 1,7-mal, Ethanol aus Mais<br />
1,5-mal so vieleTreibhausgase frei wie konventionelle<br />
Treibstoffe. Eine wahrlich vernichtende Bilanz!<br />
Aber Bioenergie ist weit mehr als Biotreibstoff – in<br />
ihrer Vielfalt liegt ihre Stärke: Je nach Rohstoff und<br />
Aufbereitung lässt sich aus Biomasse Festbrennstoff,<br />
Pflanzenöl, Biogas oder Biotreibstoff herstellen. Als<br />
Rohstoffe kommen zum einen Rückstände wie<br />
Restholz, Stroh oder organische Abfälle aus Land -<br />
wirt schaft, Industrie und Gewerbe infrage; zum<br />
anderen eigens zu <strong>die</strong>sem Zweck angebaute Energie -<br />
pflanzen, zum Beispiel Raps, Sonnenblumen,<br />
Zuckerrohr und -rüben, Soja und Ölpalmen sowie<br />
Getreide wie Mais oder Weizen.
Klimawandel<br />
Um Biomasse energetisch nutzen zu können,<br />
muss sie aufbereitet werden. Je nach Ausgangs -<br />
material und Endnutzung wird sie gehäckselt,<br />
gepresst, vergärt, vergast oder chemisch umgewan -<br />
delt (veresthert). Dann kann <strong>die</strong> Biomasse ihre<br />
Vorzüge ausspielen: Da sie sowohl als fester,<br />
flüssiger und gasförmiger Energieträger auftritt,<br />
lässt sie im Gegensatz zu anderen regenerativen<br />
Energien für alle Nutzungsformen (Wärme, Strom<br />
und Kraftstoffe) einsetzen. Und – das ist min -<br />
destens so entscheidend – sie ist gut lagerfähig, steht<br />
also zeitlich und räumlich flexibel zur Verfügung.<br />
Unter den heutigen Bedingungen ist das<br />
energetische Potenzial der Biomasse allerdings be -<br />
grenzt, wenngleich sie mit einem Anteil von etwa 70<br />
Prozent in Deutschland zur Zeit alle anderen<br />
regenerativen Energieträger in den Schatten stellt.<br />
Der Sachverständigenrat für Umweltfragen sieht<br />
den Biomasseanteil am Primärenergiebedarf bei<br />
maximal zehn Prozent bis zum Jahre 2030: „<strong>Die</strong> an -<br />
spruchsvollen politischen Ziele sind also allein mit<br />
in der Bundesrepublik Deutschland erzeugter<br />
Biomasse nicht zu erreichen“. Schon heutet zeigt<br />
sich, dass <strong>die</strong> vor allem der Pflanzensprit an seine<br />
Grenzen stößt: <strong>Die</strong> Hersteller leiden weltweit unter<br />
Überkapazitäten ihrer Anlagen und unter den<br />
hohen Rohstoffpreisen. <strong>Die</strong> Europäische Union<br />
reagierte sofort und gestattete den Bauern fortan<br />
wieder, Getreide auf bislang stillgelegten Äckern<br />
anzubauen. Jahrelang gab es für zehn Prozent der<br />
europäischen Ackerfläche eine Stilllegungsprämie,<br />
um das Überangebot an Getreide einzudämmen.<br />
Und plötzlich ist alles anders: von Überschüssen<br />
keine Spur mehr, und das Konjunktur- und Investi -<br />
tionsbarometer Agrar des Deutschen Bauern -<br />
verbandes steht so gut wie schon lange nicht mehr.<br />
Neben den schlechten Ernten in einigen großen<br />
Ländern treibt vor allem <strong>die</strong> Nachfrage <strong>die</strong> Preise:<br />
Der wachsende Appetit der Menschen in den<br />
Schwellenländern nach Fleisch und Milch produk -<br />
ten und der steigende Bedarf an Energie vom Acker.<br />
<strong>Die</strong> steigenden Preise machen bereits heute <strong>die</strong><br />
Konkurrenz deutlich, in <strong>die</strong> <strong>die</strong> Pflanzenenergie mit<br />
der Ernährung tritt. <strong>Die</strong> welt weite Ackerfläche ist<br />
begrenzt, während <strong>die</strong> Menschheit munter weiter<br />
wächst und ihr Konsum verhalten ändert.<br />
Wie am Auslaufen der Flächenstilllegung deutlich<br />
wird, steht <strong>die</strong> Agrarlandschaft unter einem ganz<br />
neuen Intensivierungsdruck: Wo man hinsieht,<br />
verdrängen Raps und Mais weniger umweltgefähr -<br />
dende Arten. Dennoch vermögen <strong>die</strong> beschränkten<br />
Ackerflächen in Deutschland nur einige wenige<br />
Prozent der heimischen <strong>Die</strong>selmenge bereitstellen.<br />
Daher greift Europa bereits heute massiv auf Im por -<br />
te zurück, und trotzdem ist das europäische Ziel,<br />
den Kraftstoffen bis 2010 mindestens 5,75-Prozent<br />
Biosprit beizumischen, noch lange nicht erreicht.<br />
Pflanzenöle sind auf dem Weltmarkt billiger zu<br />
beziehen als aus europäischer Landwirtschaft. Das<br />
Gleiche gilt für <strong>die</strong> Benzin-Alternative Ethanol,<br />
deren einheimische Produktion aus Zuckerrüben<br />
sich mit der aus südamerikanischem Zuckerrohr<br />
messen muss. Auf <strong>die</strong>se Weise dehnen wir unseren<br />
ökologischen Fußabdruck weiter auf <strong>die</strong> Länder des<br />
Südens aus: Für Palmöl, Sojabohnen, Mais und<br />
Zuckerrohr verschwinden Jahr für Jahr Millionen<br />
Hektar Urwälder, Savannen und Moore. Das<br />
Kohlendioxid, das durch <strong>die</strong> (Brand-)Rodungen<br />
und <strong>die</strong> Landnutzungsänderungen aus der<br />
Vegetation und den Böden in <strong>die</strong> Atmosphäre<br />
gelangt, wiegt <strong>die</strong> CO 2 -Einsparungen in den<br />
Motoren und Kraftwerken zumeist wieder auf.<br />
Besonders katastrophal ist <strong>die</strong> Klimabilanz bei den<br />
Palmölplantagen Südostasiens, <strong>die</strong> dort entstehen,<br />
wo zuvor tropische Moorwälder standen: Während<br />
eine Tonne Bioöl rund 2,2 Tonnen CO 2 aus Erdöl<br />
einspart, ist sie zugleich für 10 bis 30 Tonnen des<br />
Klimagases aus der Moorvernichtung<br />
verantwortlich.<br />
In seltener Einmütigkeit haben der<br />
deutsche Umwelt minister Sigmar Gabriel und<br />
Landwirtschafts minister Horst Seehofer <strong>die</strong><br />
Gefahren erkannt: „<strong>Die</strong> Vorteile der Bioenergie<br />
wie etwa der Beitrag zum Klima schutz dürfen<br />
nicht mit dem Preis von Umweltschäden bei der<br />
Erzeugung erkauft werden“, sagte Seehofer. Und<br />
Sigmar Gabriel unterstrich: „Es ist völlig in -<br />
akzeptabel, dass der tropische Regenwald<br />
großflächig gerodet wird, um billiges Palmöl zu<br />
erzeugen, das dann bei uns genutzt wird. So<br />
können wir unsere Klimabilanz zwar um ein paar<br />
Punkte verbessern, der Schaden für das Klima<br />
insgesamt ist aber im mens.“ <strong>Die</strong> Bundesregierung<br />
plant daher, <strong>die</strong> Steuervorteile für Biokraftstoffe<br />
an den Nachweis zu koppeln, dass <strong>die</strong>se durch<br />
nachhaltige Bewirtschaftung erzeugt werden. Ein<br />
Vorschlag für ein Zertifizierungssystem wollte sie<br />
bereits im Frühjahr 2007 vorstellen.<br />
Entwicklungshilfeorganisationen führen vor<br />
allem <strong>die</strong> Flächenkonkurrenz mit der Nahrungs -<br />
mittel pro duktion als Warnung an. Nicht erst seit<br />
<strong>die</strong> Getreide preise stei gen, lösen Slogans wie<br />
„Heizen mit Weizen“ eher spontane Abwehr<br />
als Begeis terung für neue Wärme konzepte aus.<br />
Und in der Tat schwin det dort, wo Biokraftstoffe<br />
angebaut werden, <strong>die</strong> Anbaufläche für Nah -<br />
rungsmittel. „Seit fast alles, was essbar ist, zu Treib -<br />
stoff verarbeitet werden kann“, wie es Lester<br />
Brown, Präsident des Earth Policy Institute in<br />
Washington, in Spiegel Special ausdrückte,<br />
verschwimmen also <strong>die</strong> Gren zen zwischen der<br />
Nahrungs mittel- und der Energieindustrie.<br />
Letztlich hänge es nur vom Ölpreis ab, ob <strong>die</strong><br />
nach wachsenden Rohstoffe zu Nahrungs mitteln<br />
oder zu Treibstoff verarbeitet werden, meint<br />
Brown. Für Stefan Tangermann, den OECD-<br />
35
36<br />
Direktor für Handel und Landwirtschaft, sind <strong>die</strong><br />
Folgen von mehr Mais im Tank mehr Hungernde<br />
in Entwick lungsländern.<br />
Aber ganz so einfach ist es auch wieder<br />
nicht: Wie Jürgen Trittin jüngst in der politischen<br />
ökologie treffend feststellte, sind akuter Hunger und<br />
Armut nicht unbedingt Folgen mangelnder<br />
Nahrungsmittelproduktion, sondern Resultat eines<br />
Verteilungsproblems. Somit müsse der Anbau von<br />
Energiepflanzen auch nicht zwangsläufig <strong>die</strong> Ver -<br />
sor gung beeinträchtigen. Vielmehr gingen Armut<br />
und Unterversorgung teilweise auf <strong>die</strong> landwirt -<br />
schaftliche Überproduktion der EU und der USA<br />
zurück: „Der Export hoch subventio nierter<br />
Lebensmittel in Entwicklungsländer zerstört <strong>die</strong><br />
einheimische Produktion“, erläutert Trittin. So<br />
gesehen müs se es also gar nicht von Nachteil sein,<br />
wenn <strong>die</strong> bis herigen landwirtschaftlichen Über -<br />
schüsse des Nor dens in <strong>die</strong> Tanks wanderten und<br />
steigende Rohstoffpreise den Bauern des Südens<br />
endlich wieder ein ausreichendes Einkommen<br />
bescherten. Wie aber eine arme städtische und <strong>die</strong><br />
marginalisierte ländliche Bevölkerung mit den<br />
steigenden Lebensmittelpreisen umgehen soll,<br />
erklärt der Ex-Umweltminister leider nicht.<br />
Tatsächlich zeigen <strong>die</strong> nachwachsenden Energie -<br />
träger einen Weg zu mehr Nachhaltigkeit und<br />
sozialer Gerechtigkeit auf: Pflanzen wie etwa <strong>die</strong><br />
tropische Ölnuss Jatropha lassen sich dezentral und<br />
ohne große Investitionen anbauen und nutzen,<br />
schützen vor Erosion und können so für viele<br />
Regio nen des Südens einen Weg aus der Armut<br />
darstellen. Vor allem denen, <strong>die</strong> bisher nicht an eine<br />
Energie-Infrastruktur angebunden sind oder sich<br />
Thema<br />
Energie-Im por te schlicht nicht leisten können,<br />
bieten nachwachsende Energien reelle Chancen.<br />
Jatropha etwa tritt nicht in Konkurrenz zur<br />
Nahrungsmittelproduktion oder zu intakten<br />
Ökosystemen. Das Öl ihrer haselnussgroßen<br />
Samen eignet sich unter anderem als Brennstoff für<br />
Lampen und Herde sowie als Treibstoff für<br />
Generatoren, Landmaschinen und Kraftfahrzeuge.<br />
Über den recht einfachen chemischem Vorgang der<br />
Verestherung lässt sich daraus auch Bio<strong>die</strong>sel<br />
herstellen. Nicht nur kleine dörfliche Entwick -<br />
lungs hilfeprojekte setzen auf Ja tropha. Einige<br />
Entwicklungs- und Schwellenländer widmen der<br />
Ölpflanze gar nationale Entwicklungspläne. Der<br />
Trend, der sich hier andeutet, entwickelt sich zum<br />
Test, ob <strong>die</strong> Kleinbauern des Südens tatsächlich<br />
vom Bioenergieboom profitieren können. <strong>Die</strong>s<br />
gelingt nur, wenn sie in ausreichendem Maße an der<br />
Wertschöpfung beteiligt werden. Und das<br />
wiederum wird voraussichtlich in den wenigsten<br />
Entwicklungsländern der Welt der Fall sein.<br />
Aus welcher Region und von welcher<br />
Pflanze auch immer <strong>die</strong> Bioenergie stammt, als<br />
Treibstoff für Kraftfahrzeuge ist ihre Nutzung am<br />
wenigsten effektiv. <strong>Die</strong> Nutzung biogener Brenn -<br />
stoffe im mobilen Bereich spart deutlich weniger<br />
CO 2 ein, als beispielsweise ihr Einsatz in effizienten<br />
Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen. Hier kommt<br />
Biogas ins Spiel, das einige der Probleme umgeht,<br />
<strong>die</strong> den Biokraftstoffen ein solch schlechtes Image<br />
bereiten. Während für Bio<strong>die</strong>sel und Ethanol nur<br />
ein Teil der Pflanze in nutzbare Energie übergeht,<br />
vergären Biogasanlagen <strong>die</strong> gesamte Biomasse zu<br />
methanhaltigem Gas, das dem Erdgas ähnelt. Alle<br />
Der kommende Öko-Energiehof:<br />
ganz rechts das Maschinenhaus, in der Mitte der isolierte Gärbehälter (Fermenter), links der Nachgärbehälter mit Gasspeicher-Haube.<br />
www.hofgut-holland.de
k.A.; www.ethanol-statt-benzin.de<br />
Klimawandel<br />
pflanzlichen Produkte sind dafür geeignet, nur zu<br />
holzig dürfen sie nicht sein: Grasschnitt, Silage<br />
(Gärfutter) oder Energiepflanzen. Biogas lässt sich<br />
darüber hin aus aus Gülle oder Festmist oder aus<br />
organischen Reststoffen aus der Landwirtschaft<br />
und der Lebensmittelindustrie gewinnen. Das<br />
wichtigste Argument für Biogas sind <strong>die</strong> Stoff -<br />
kreisläufe: Alle wichtigen Nährstoffe verbleiben bei<br />
der Vergärung im Restsubstrat, das anschließend<br />
wieder auf <strong>die</strong> Felder ausgebracht werden kann.<br />
Bisher wird landwirtschaftlich erzeugtes Biogas<br />
überwiegend in dezentralen Blockheizkraftwerken<br />
zu Strom und Wärme umgewandelt. Durch <strong>die</strong><br />
dezentrale Biogasgewinnung in landwirtschaft -<br />
lichen Betrieben verbleibt <strong>die</strong> Wertschöpfung<br />
weitgehend bei den Bauern. In der Chance für<br />
ländliche Regionen liegt aber zugleich auch ihre<br />
Grenze: Für <strong>die</strong> dabei anfallende Wärme finden sich<br />
in Hofnähe meist keine Abnehmer. So ist es<br />
sinnvoll, das Gas ins Erdgasnetz einzuspeisen und<br />
dorthin zu leiten, wo am meisten Strom und<br />
Wärme gebraucht werden – in <strong>die</strong> Städte. Seit<br />
Dezember 2006 fließt in Pliening bei München<br />
und in Straelen am Niederrhein das erste Biogas ins<br />
deutsche Gasnetz. Zwar sind Länder wie etwa<br />
Schweden oder <strong>die</strong> Schweiz Deutschland um einige<br />
Jahre voraus, aber <strong>die</strong> deutschen Versorger rüsten<br />
auf: Anfang 2007 gründete der Energieriese Eon<br />
eine Bioerdgas GmbH und glaubt, in wenigen<br />
Jahren Biogas in Erdgasqualität zu weltmarkt -<br />
fähigen Preisen herstellen zu können. Mit dem<br />
Einstieg der Konzerne in das Biogasgeschäft geht<br />
allerdings ein Stück des Charmes verloren: Es ist<br />
gerade der Vorteil der regional hergestellten<br />
Energie, dass regionale Biogasnetze in der Hand der<br />
Stadtwerke, Kommunen oder Produzenten <strong>die</strong>sen<br />
Unabhängigkeit von den großen Versorgern<br />
ermöglicht.<br />
Beim Privatkundengeschäft mit Biogas hat ein<br />
kleiner Anbieter aus Hamburg <strong>die</strong> Nase vorn:<br />
Erstmals seit September 2007 können End -<br />
verbraucher Biogas direkt über das Gasnetz<br />
beziehen. In fünf nördlichen Bundesländern bietet<br />
der Ökoenergievertreiber Lichtblick einen Mix aus<br />
Erd- und Biogas an. In den kommenden Monaten<br />
soll das Versorgungsgebiet auf weitere Bundes -<br />
länder ausgeweitet werden und nach Möglichkeit<br />
im kommenden Jahr ganz Deutschland abdecken.<br />
Zurzeit sei noch nicht ausreichend Biogas verfüg -<br />
bar, um den Bioanteil auf über fünf Prozent zu<br />
erhöhen. Geht es nach dem Institut für Energetik<br />
und Umwelt in Leipzig muss das nicht so bleiben:<br />
Bis 2020 könne der Erdgasverbrauch Gesamt-<br />
Europas bis hin zum Ural – „bei entsprechender<br />
Effizienzsteigerung“ – vollständig durch Biogas aus<br />
der Landwirtschaft ersetzt werden. Und das bei<br />
vollständiger Nahrungsmittelselbstversorgung,<br />
betont <strong>die</strong> Stu<strong>die</strong> „Möglichkeiten einer euro pä -<br />
ischen Biogaseinspeisungsstrategie“. Wenn das<br />
Biogaspotenzial in Europa ausgenutzt werde, ließen<br />
sich bis 2020 <strong>die</strong> CO 2 -Emissionen um zehn Prozent<br />
senken. Woher das Gas käme? Vornehmlich aus<br />
Osteuropa. Dort sollten sich <strong>die</strong> Bauern entlang der<br />
bereits bestehenden Erdgaspipelines auf Biomethan<br />
umstellen und das Gas in das Netz einspeisen. <strong>Die</strong> -<br />
sen Optimismus kann sonst aller dings niemand<br />
teilen. So kalkuliert etwa das Wuppertal Institut für<br />
Umwelt, Energie, Klima, dass Biogas 2030 lediglich<br />
rund zehn Prozent des heutigen deutschen<br />
Gasverbrauchs decken könnte.<br />
Konkurrenz um <strong>die</strong> Rohstoffe wird dem Biogas<br />
zukünftig verstärkt <strong>die</strong> sogenannte zweite<br />
Generationen der Biokraftstoffe machen: Mit dem<br />
Biomass-to-Liquid-Verfahren (BtL) lässt sich aus<br />
jedem kohlenstoffhaltigen Rohmaterial, also jedem<br />
Teil einer Pflanze, synthetischer Biosprit herstellen.<br />
In einem relativ aufwändigen Prozess entsteht über<br />
eine Reihe von Zwischenschritten (Vergasung und<br />
Verflüssigung) „SynFuel“, dessen Kraftstoff -<br />
eigenschaften sich bedarfsgerecht „designen“<br />
lassen, in Richtung Benzin oder <strong>Die</strong>sel etwa. Für <strong>die</strong><br />
Automobilindustrie ist synthetischer Kraftstoff<br />
ausgesprochen interessant: Er kann über <strong>die</strong><br />
vorhandene Tank infrastruktur in allen vorhan -<br />
Eigentlich waren wir schon mal so weit: damals ein Kadett mit Holzvergaser, heute ein Renault mit Ethanol<br />
37
40<br />
denen Verbrennungsmotoren eingesetzt werden.<br />
Seine kurzfristigen Vorteile werden allerdings<br />
überschätzt: <strong>Die</strong> Produktion befindet sich noch im<br />
Versuchsstadium, mit nennenswerten Mengen ist<br />
also vorerst nicht zu rechnen. Darüber, ob <strong>die</strong><br />
Biokraftstoffe der zweiten Generation einen<br />
deutlichen Umweltvorteil gegenüber fossilen<br />
Kraftstoffen haben, besteht keinesfalls Einigkeit.<br />
Negativ zu Buche schlagen der hohe technische<br />
Aufwand und der große Energiebedarf bei der<br />
Herstellung.<br />
Während das Publikum des Energiejahrmarkts<br />
nun gespannt beobachtet, ob <strong>die</strong> Achterbahn <strong>die</strong><br />
Der Klimawandel ist Gewissheit<br />
Bioenergie wieder nach oben oder weiter hinab<br />
trägt, darf das eigentliche Problem nicht aus dem<br />
Blick geraten: Es wird versucht, <strong>die</strong> herrschenden<br />
energiezehrenden Wirtschafts- und Konsum -<br />
verhältnisse zu konservieren und nur kosmetisch an<br />
<strong>die</strong> Erfordernisse des Klimaschutzes anzupassen.<br />
<strong>Die</strong>ser Versuch wird scheitern. Nur ein anderer Weg<br />
führt zu ernsthaftem Umwelt- und Ressourcen -<br />
schutz führt: eine Kombi nation aus Effizienz -<br />
revolution und Energiesparen. Erst wenn der<br />
Energiekonsum deutlich gesunken ist, lässt sich ein<br />
wesentlicher Anteil aus nachwach senden<br />
Rohstoffen decken. Und auch erst dann kann<br />
Biosprit zu einer ernsthaften Option werden.<br />
Modelle, Szenarien und Prognosen<br />
Noch immer gibt es Menschen, <strong>die</strong> am Klimawandel zweifeln oder ihn als vielleicht doch nicht so bedrohlich ansehen. Gern berufen<br />
sich <strong>die</strong>se Skeptiker auf <strong>die</strong> Unsicherheit wissenschaftlicher Vorhersagen. Zu Unrecht.<br />
Der Klimawandel ist durch <strong>die</strong> Verlei -<br />
hung des Friedensnobelpreises an den ehemaligen<br />
Vizepräsidenten der USA Al Gore und an das IPCC<br />
ein Dauerbrenner in den Me<strong>die</strong>n. Damit erlangt<br />
<strong>die</strong>ses Thema eine ähnliche Präsenz im kollektiven<br />
Bewusstsein wie in den frühen 80er Jahren das<br />
„Waldsterben“. Als Ursache dafür können verschie -<br />
dene öffentlichkeitswirksame Ereignisse angesehen<br />
werden, zum Beispiel <strong>die</strong> Beratungen zum aktuellen<br />
Report des IPCC und <strong>die</strong> Veröffentlichung der<br />
jeweiligen Berichte, der G8-Gipfel in Heiligen -<br />
damm mit dem Klima schwerpunkt und nun <strong>die</strong><br />
Verleihung des Nobel preises. Darüber hinaus sind<br />
das Wetter und das Klima bei uns sowieso viel -<br />
diskutierte Themen, <strong>die</strong> jetzt im Zusammen hang<br />
mit möglichen zukünf tigen Katastrophen noch<br />
einen zusätzlichen Reiz erfahren.<br />
Aber was hat es auf sich mit dem Klimawandel<br />
und den Prognosen, <strong>die</strong> in den Me<strong>die</strong>n verbreitet<br />
werden? Was bedeuten <strong>die</strong> Begriffe Klimawandel,<br />
Modelle, Szenarien und Prognosen? Mit welcher<br />
Genauigkeit lassen sich heute Veränderungen des<br />
Klimasystems nachweisen, und wie ist der Einfluss<br />
des Menschen auf <strong>die</strong>ses System zu quantifizieren?<br />
In <strong>die</strong>sem Beitrag sollen <strong>die</strong> einzelnen Begriffe<br />
erläutert und in knapper Form ein Überblick über<br />
den aktuellen Stand der wissenschaftlichen<br />
Kenntnis des Klimawandels gegeben werden.<br />
Von Karl-Friedrich Wetzel<br />
Thema<br />
Klimawandel – was bedeutet das? Unter<br />
Klima wird in der Wissenschaft der mittlere Zu -<br />
stand der Atmosphäre über einen längeren Zeit -<br />
raum in einem Gebiet verstanden. Der längere<br />
Zeitraum ist dabei auf meistens 30-jährige Be ob -<br />
ach tungsperioden bezogen. Das Klima hat sich in<br />
der Vergangenheit nie als etwas Konstantes<br />
dargestellt, es unterlag seit dem Beginn atmos phä -<br />
rischer Prozesse auf unserem Planeten dramatischen<br />
Veränderungen. <strong>Die</strong> Eiszeiten der jüngeren<br />
Erdgeschichte sind dafür <strong>die</strong> besten Zeugnisse.<br />
Auch in historischer Zeit haben Klimaänderungen<br />
stattgefunden, wie <strong>die</strong> größere Ausdehnung des<br />
Weinbaus während des Mittelalters oder <strong>die</strong> tiefen<br />
Lagen der Gletscherzungen in den Alpen noch im<br />
19. Jahrhundert an zeigen. Der deutliche Rückgang<br />
der Gletscher in na he zu allen Gebirgen der Welt,<br />
<strong>die</strong> zunehmende Erwärmung der Meere, <strong>die</strong><br />
Verschiebung von Vegetationszonen und Anbau -<br />
grenzen zeigen unzweifelhaft an, dass es aktuell auf<br />
der Erde wärmer wird. Daran gibt es in der Wissen -<br />
schaft keinen Zweifel mehr; der Klima wandel ist<br />
Realität.<br />
<strong>Die</strong> große wissenschaftliche Herausforderung ist,<br />
zu verstehen, warum sich das Klima im Laufe der<br />
Erdgeschichte ständig verändert hat. Bei den<br />
Ursachen werden heute zwei große Gruppen<br />
unterschieden: <strong>die</strong> extraterrestrischen Faktoren, <strong>die</strong>
Klimawandel<br />
vor allem in veränderten solaren Einstrahlungs -<br />
verhältnissen begründet sind und <strong>die</strong> terrestrischen<br />
Faktoren. Als wirksame terrestrische Faktoren<br />
können <strong>die</strong> atmosphärische Zusammensetzung, <strong>die</strong><br />
Absorptionseigenschaften von Atmosphäre und<br />
Erdoberfläche für solare Strahlung und <strong>die</strong><br />
ozeanische Zirkulation sowie <strong>die</strong> Wechselwirkung<br />
<strong>die</strong>ser Teilsysteme angesehen werden. Auf<br />
verschiedene terrestrische Faktoren hat der Mensch<br />
einen erheblichen Einfluss genommen. Dazu<br />
zählen <strong>die</strong> chemische Zusammensetzung der Atmo -<br />
sphäre und <strong>die</strong> Veränderung der Landoberflächen<br />
durch den Menschen.<br />
<strong>Die</strong> Klimaforschung hat bei der Untersuchung der<br />
einzelnen klimawirksamen Prozesse das große<br />
Problem, dass sich <strong>die</strong> Prozesse auf zeitlichen und<br />
räumlichen Skalen bewegen, <strong>die</strong> eine Analyse im<br />
Labor nicht erlauben. Man ist daher auf Unter -<br />
suchungen von Messdaten mit statistischen<br />
Methoden angewiesen, wobei <strong>die</strong> Zeitreihen mit<br />
zunehmender Länge immer unsicherer werden.<br />
<strong>Die</strong>s ist einerseits durch unterschiedlich Mess -<br />
verfahren begründet, <strong>die</strong> in der Vergangenheit<br />
angewendet wurden. Andererseits reicht <strong>die</strong><br />
Instrumentenperiode gerade 150 bis 200 Jahre in<br />
<strong>die</strong> Vergangenheit zurück. Für davor liegende<br />
Zeiträume ist man auf sog. Proxidaten angewiesen,<br />
<strong>die</strong> sich aus anthropogenen Aufzeichnungen<br />
(Ernteberichte, Steueraufkommen, Hochwasser<br />
und anderen) und aus erdgeschichtlichen Archiven<br />
(etwa aus Baumringanalysen, Mooren, See -<br />
ablagerungen, Eiskernen) ergeben und in<br />
Klimasignale überführt werden können. Auch hier<br />
ist festzustellen, dass mit zunehmender Länge des<br />
betrachteten Zeitraums <strong>die</strong> Unsicherheiten immer<br />
größer werden.<br />
Neben den statistischen Untersuchun -<br />
gen werden Computermodelle verwendet, um das<br />
globale Klima in Form von Simulationen stu<strong>die</strong>ren<br />
zu können.<br />
<strong>Die</strong> aktuellen Klimamodelle basieren auf<br />
Gleichungs systemen, mit denen <strong>die</strong> Vorgänge im<br />
Klimasystem auf der Grundlage der Hauptsätze der<br />
Thermodynamik und des Massenerhalts<br />
beschrieben werden. Wichtig sind hierbei <strong>die</strong><br />
atmosphärischen Prozesse, <strong>die</strong> ozeanische Zirku -<br />
lation und <strong>die</strong> Kopplung <strong>die</strong>ser Prozesse mit denen<br />
der Festländer. Um <strong>die</strong> Strömungs- und Transport -<br />
prozesse räumlich abbilden und somit <strong>die</strong> klima -<br />
relevanten Parameter berechnen zu können, werden<br />
<strong>die</strong> Atmosphäre und <strong>die</strong> Erdoberfläche in ein drei -<br />
dimensionales Gitternetz eingeteilt. Dabei ent -<br />
stehen würfelähnliche Raumgebilde mit Kanten -<br />
längen von 100 bis 200 km und Mächtigkeiten von<br />
100 m bis 10 km in Abhängigkeit von der Höhe. Da<br />
<strong>die</strong> Prozesse in der bodennahen Grundschicht<br />
besonders wichtig für <strong>die</strong> Modellierung sind, wird<br />
hier eine höhere vertikale Auflösung als in den<br />
oberen Schichten der Atmosphäre benötigt. <strong>Die</strong><br />
Berechnung im Modell erfolgt dann in diskreten<br />
Zeitschritten von 3 bis 5 Minuten. Es ist nicht<br />
schwer, sich vorzustellen, dass bei einer so groben<br />
Abbildung des Klimasystems viele wichtige<br />
kleinräumige Prozesse in der Atmosphäre<br />
unberücksichtigt bleiben. <strong>Die</strong>s wird als das Problem<br />
der subskaligen Prozesse bezeichnet, das durch<br />
entsprechende empirisch gewonnene Daten und<br />
daraus abgeleitete Parameter gelöst wird. Genau<br />
hier ist jedoch ein gewisser Schwachpunkt der<br />
Klimamodelle zu sehen, da eine Parametrisierung<br />
der subskaligen Prozesse bislang nicht für alle<br />
Gebiete der Erde mit der gleichen Genauigkeit<br />
vorliegten. Trotz der Einschränkungen stehen der<br />
Klimaforschung mit den Modellen mächtige<br />
Werkzeuge zur Verfügung, <strong>die</strong> ein besseres<br />
Verständnis des globalen Klimasystems erlauben<br />
und mit deren Hilfe das Klima vergangener und<br />
zukünftiger Zeiträume rekonstruieren bzw.<br />
vorhergesagt werden kann.<br />
<strong>Die</strong> verschiedenen Klimamodelle der einzelnen<br />
Forschergruppen unterscheiden sich demnach vor<br />
allem in den Parametrisierungen und in der<br />
räumlich-zeitlichen Diskretisierung. Im IPCC-<br />
Bericht wird den Unterschieden der einzelnen<br />
Modelle dadurch Rechnung getragen, dass der<br />
Mittelwert der verschiedenen Modellrechnungen<br />
genommen und damit der Fehler einzelner Modelle<br />
minimiert wird.<br />
Alle Klimamodelle benötigen für <strong>die</strong><br />
Berechnungen Vorgaben über <strong>die</strong> Ausgangs- und<br />
Randbedingungen. Dazu gehören <strong>die</strong> Zusammen -<br />
setzung der Atmosphäre unter Berücksichtigung<br />
der Spurengaskonzentrationen mit den Treibhaus -<br />
gasen CO 2 und Methan, <strong>die</strong> zukünftige Entwick -<br />
lung der anthropogenen Emissionen und <strong>die</strong> zu<br />
erwartende Veränderung der Landnutzungs -<br />
systeme. <strong>Die</strong> Vorgaben, auf deren Basis <strong>die</strong> Modelle<br />
das zukünftige Klima errechnen, werden Szenarien<br />
genannt. Insgesamt liegen 40 verschiedene<br />
Emissionsszenarien vor, <strong>die</strong> sich auf vier grund -<br />
sätzliche Szenarienfamilien zurückführen lassen.<br />
Den Szenarienfamilien liegen jeweils unter -<br />
schiedliche Annahmen über <strong>die</strong> zu künftige<br />
demographische Entwicklung und <strong>die</strong> sich<br />
verändernden ökonomischen und technologischen<br />
Verhältnisse zugrunde. Beispielsweise wird bei der<br />
Szenarienfamilie A1 von einem raschen<br />
Wirtschafts wachstum und einer weiter stark<br />
steigenden Weltbevölkerung bis zum Ende des 21.<br />
Jahrhunderts ausgegangen. Darüber hinaus werden<br />
soziale, kulturelle und politische Spannungen<br />
durch Ausgleich und Schulung minimiert und<br />
gleichzeitig effizientere Technologien weltweit<br />
eingeführt. Für <strong>die</strong> Klimamodellierung ist der<br />
zukünftige Ausstoß von Treibhausgasen, der sich<br />
bei drei Unterszenarien der A1-Familie bei sonst<br />
41
gleicher Entwicklung unterscheidet, eine<br />
wesentliche Voraussetzung. Beim A1F-Szenario<br />
werden als Energieträger fossile Brennstoffe<br />
angenommen, dagegen werden im A1T-Szenario<br />
hauptsächlich regenerative Energien verwendet,<br />
und A1B liegt mit seiner Prognose genau<br />
dazwischen. <strong>Die</strong> A2-Szenarien gehen von einer<br />
weniger homogenen globalen Entwicklung aus,<br />
vielmehr prägen hier starke regionale Unterschiede<br />
das Gesicht der zukünftigen Welt. Bei einem eben -<br />
falls hohen Bevölkerungswachstum und einer zwar<br />
heterogenen, aber dennoch starken wirtschaft -<br />
lichen Entwicklung sind besonders ungünstige<br />
Entwicklungen der Treibhausgasemissionen zu<br />
erwarten.<br />
Eine besonders günstige Entwicklung der<br />
Treibhausgasemissionen resultiert bei den B1-Sze -<br />
na rien aus einer geänderten Wirtschaftsstruktur hin<br />
zu einer <strong>Die</strong>nstleistungsgesellschaft, wobei eine den<br />
A1-Szenarien ähnliche demographische Entwick -<br />
lung angenommen wird. <strong>Die</strong> B2-Szenarien können<br />
als eine Mischung aus A1- und B1-Szenarien<br />
angesehen werden. Welches Szenario hat nun <strong>die</strong><br />
höchste Eintrittswahrscheinlichkeit? <strong>Die</strong>se Frage<br />
kann nicht beantwortet werden, und <strong>die</strong> Autoren<br />
der Stu<strong>die</strong>n weisen ausdrücklich darauf hin, dass<br />
alle Szenarien gleiche Eintrittswahrscheinlichkeiten<br />
haben.<br />
Wie verlässlich kann nun mit Szenarien und<br />
Klimamodellen das zukünftige Klima vorgesagt<br />
<strong>Die</strong> Abweichungen der global gemittelten bodennahen Temperaturen für den Zeitraum von<br />
1900 bis 2100 gegenüber dem Mittelwert der Referenzperiode 1980 bis 1999 in Grad Celsius.<br />
<strong>Die</strong> Modellsimulationen für ausgewählte Szenarien sind farblich dargestellt, <strong>die</strong> grau hinterlegten<br />
Flächen verdeutlichen <strong>die</strong> Modellunsicherheiten. Mit den grauen Balken im rechten Teil der<br />
Abbildung werden <strong>die</strong> maximalen Wertebereiche der Temperaturzunahme für <strong>die</strong> wichtigsten<br />
Szenarien auf Basis aller Klimamodelle dargestellt .<br />
42<br />
Thema<br />
werden und wie bedeutend ist der anthropogene<br />
Anteil an der Klimaänderung?<br />
<strong>Die</strong> Klimamodelle stellen den aktuellen<br />
wissenschaftlichen Kenntnisstand des globalen<br />
Klimasystems dar. Dass <strong>die</strong> Modelle realistische<br />
Werte liefern, zeigen Rückberechnungen des<br />
Klimas der vergangenen 100 Jahre (Abb. unten).<br />
<strong>Die</strong> aufgetretenen Ab weichungen der Simulationen<br />
gegenüber den beobachteten Messwerten liegen bei<br />
den Temperaturen im Bereich von wenigen zehntel<br />
Graden. Daher kann davon ausgegangen werden,<br />
dass auch <strong>die</strong> zu erwartenden Änderungen im<br />
realistischen Rahmen errechnet werden können.<br />
Allerdings werden <strong>die</strong> schon angesprochenen<br />
Modellunsicherheiten von den Unsicherheiten der<br />
zugrundeliegenden Szenarien überlagert und<br />
ergeben einen nicht genau abzuschätzenden Pro -<br />
gno sefehler. Um <strong>die</strong>sen Fehler deutlich zu machen,<br />
werden vom IPCC <strong>die</strong> aus den einzelnen Modellen<br />
gemittelten Vorhersagen zu sammen mit dem<br />
Schwankungsbereich in der Größenordnung von ±<br />
einer Standardabweichung der einzelnen Modelle<br />
angegeben. Wie <strong>die</strong> Abbildung zeigt wird damit das<br />
Maß der Unsicherheit deutlich wiedergegeben. Für<br />
den aktuellen 4. Bericht des IPCC wird für das Jahr<br />
2100 als Mittelwert der Temperaturerhöhung<br />
(gegenüber der Referenz periode 1980 bis 1999)<br />
über alle Modelle und Szenarien ein Wert von 2,8<br />
Grad Celsius angegeben. Dabei<br />
reicht <strong>die</strong> Spanne vom B1-Szenario<br />
mit 1,1 Grad Celsius Erhöhung im<br />
minimalen Fall bis hin zu 6,4 Grad<br />
Celsius maximaler Erhöhung beim<br />
ungünstigen A1FI Szenario. Schließ -<br />
lich wird für den Vergleich ein „Null -<br />
sze nario“ angenommen, bei dem ein<br />
so fortiges Einfrieren aller Emissio -<br />
nen auf dem Ni veau des Jahres 2000<br />
angenommen wird. Selbst un ter<br />
<strong>die</strong>ser unrealis ti schen Annahme ist<br />
bis zum Jahr 2100 mit einer<br />
Zunahme der globalen Tem peratur<br />
um 0,6 Grad Celsius zu rechnen, da<br />
das globale Klimasystem nur träge<br />
auf <strong>die</strong> inzwischen ge änderte<br />
Strahlungsbilanz reagiert.<br />
Der anthropogene An teil an der<br />
Klimaänderung kann mit Hilfe der<br />
Klimamodelle geschätzt werden,<br />
indem Fak toren wie zum Beispiel <strong>die</strong><br />
Treibhausgase auf vorindustriellem<br />
Ni veau ge halten werden. Durch <strong>die</strong> -<br />
ses Vorgehen kann <strong>die</strong> globale Erwär -<br />
mung in ei nen natürlichen und in ei -<br />
nen an thropogen verursa chten<br />
Anteil zerlegt werden. Dabei zeigt<br />
sich, dass durch <strong>die</strong> steigenden<br />
Treibhausgasemissionen vor allem
Klimawandel<br />
<strong>die</strong> räumlichen Verteilungsmuster der Temperatur -<br />
zunahmen in den niederen Breiten zu einem hohen<br />
Anteil erklärt werden können. Der Einfluss der<br />
natürlichen Variabilität ist vor allem in den höheren<br />
Breiten und hier an den Kontinenträndern hoch.<br />
<strong>Die</strong>s sind jedoch auch Gebiete, in denen <strong>die</strong><br />
Modellunsicherheiten vergleichsweise groß sind.<br />
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der<br />
Klimawandel mit ansteigenden globalen Tempera -<br />
turen eine Realität ist. <strong>Die</strong>ser Klimawandel lässt<br />
sich mit den vorliegenden Klimamodellen rechne -<br />
risch simulieren. Auf der Basis von Emissions -<br />
szenarien, <strong>die</strong> eine unterschiedliche demogra -<br />
phische, technologische und soziale Entwicklung<br />
der Welt annehmen, können mit Modellen<br />
Prognosen des zukünftigen Klimas vorgenommen<br />
werden. Dabei ist nach dem Mittel aller Simu -<br />
Wissenschaft und Technik haben sich<br />
seit der Mitte des letzten Jahrhunderts enorm<br />
entwickelt. Es gibt nichts, was nicht erfasst,<br />
gemessen, berechnet und damit kontrolliert wird.<br />
Einen Problembereich jedoch gibt es, den anthro -<br />
po genen Klimawandel, bei dem, durch seine<br />
Komplexität bedingt, nur ansatzweise klar ist, wie<br />
Ursachen und Wechselwirkungen miteinander<br />
verflochten sind.<br />
Einerseits scheinen der Klimawandel und seine<br />
Auswirkungen klar vor Augen zu stehen, seit der<br />
jüngste Report der IPCC <strong>die</strong> Welt aufgerüttelt hat.<br />
Bei einer „Business as usual“-Haltung würden unter<br />
anderem Bangladesh, <strong>die</strong> Großräume Kalkutta und<br />
Shanghai sowie <strong>die</strong> Niederlande und Teile Floridas<br />
durch das teilweise Abschmelzen der Polkappen<br />
überflutet werden. Über 100 Millionen Menschen<br />
wären dann heimatlos und auf der Flucht. Schon<br />
heute ist durch eine Rekord-Eisschmelze <strong>die</strong><br />
Nordwest-Passage nördlich von Amerika erstmals<br />
eisfrei.<br />
Andererseits weckt eine eisfreie Schiffspassage<br />
sofort <strong>die</strong> Hoffnungen und Begehrlichkeiten der<br />
Fehler im Umgang mit Komplexität<br />
Ich vereinfache jetzt mal<br />
Wie kann man überhaupt vernünftig über etwas so Hochkompliziertes wie das Klima sprechen, ohne dabei <strong>die</strong> Komplexität der<br />
Beschreibung unerlaubt zu reduzieren? Zum Beispiel durch Vereinfachungen, <strong>die</strong> aber als solche schon wieder Ungenauigkeiten<br />
und Fehler mit sich bringen können. Dass <strong>die</strong>s auch in den Naturwissenschaften eine, aber beileibe nicht <strong>die</strong> einzige Fehlerquelle ist,<br />
zeigt der folgende Beitrag.<br />
Von Ulrich Frey<br />
lationen auf Basis aller Szenarien mit einer mittleren<br />
globalen Temperaturerhöhung von ca. 2,8 Grad<br />
Celsius bis zum Ende des 21. Jahrhunderts zu<br />
rechnen. Nach aktuellem Kenntnisstand ist der<br />
anthropogene Anteil daran vor allem in den<br />
niederen Breiten sehr deutlich, obwohl hier <strong>die</strong><br />
bislang beobachtete Erwärmung im globalen<br />
Vergleich gering ausfällt. Eine klassische Fehler -<br />
abschätzung ist aufgrund des Prognose charakters<br />
der Modellierungen nicht möglich. Im Sinne einer<br />
Vorsorge ist entschiedenes Handeln dennoch<br />
dringend geboten, denn der größte Anteil an der<br />
globalen Klimaänderung ist sehr wahrscheinlich<br />
(„very likely“, so der Fachterminus) auf <strong>die</strong><br />
anthropogenen Treibhausgasemissionen<br />
zurückzuführen, wie es auch im neuesten IPCC-<br />
Report heißt.<br />
Transportwirtschaft, säen Klimawandelleugner mit<br />
gefälschten Zahlen und geschönten Kurven<br />
Zweifel. An ihrer Seite freut sich <strong>die</strong> deutsche Auto -<br />
industrie über Merkels merkwürdig ambivalente<br />
Haltung: Zwar wird <strong>die</strong> Bundes kanzlerin nicht<br />
müde, Klimaschutz einzufordern, widersetzt sich<br />
aber gleichzeitig einer starken CO 2 -Reduktion in<br />
der Autoindustrie.<br />
Solche Widersprüchlichkeiten sind nichts Neues.<br />
Auch der heute hochgelobte Al Gore, Vize-<br />
Präsident unter Bill Clinton, der 1992 mit seinem<br />
Ökobuch Earth in the Balance Schlagzeilen<br />
machte, muss sich <strong>die</strong>sen Vorwurf gefallen lassen.<br />
<strong>Die</strong> beiden mächtigsten Männer der Welt<br />
ratifizierten für <strong>die</strong> USA das Kyoto-Protokoll nicht<br />
und machten es damit zu einer Totgeburt. In <strong>die</strong>sem<br />
Sinne kann man auch <strong>die</strong> Ratifizierung des<br />
Abkommens durch Russland 2004 pessimistisch<br />
interpretieren: Mit dem Emissionshandel kommen<br />
dringend benötigte Devisen ins Land.<br />
Schon <strong>die</strong>se kleine Auswahl zeigt, dass es sich hier<br />
um eine extrem komplexe Problematik handelt, in<br />
der viele Akteure aus unterschiedlichen Motiva -<br />
tionen Entscheidungen treffen.<br />
43
44<br />
Noch etwas kommt hinzu. Neben der hohen<br />
Anzahl von Faktoren, <strong>die</strong> in politische Entschei -<br />
dungsprozesse hineinspielen, neben der<br />
Intransparenz der Gesamtsituation und den<br />
gegenläufigen Interessen werden komplexe<br />
Systeme, egal welcher Art, von Menschen oft mit<br />
inadäquaten Problemlösungsmethoden<br />
angegangen. Viele Simulationen und Versuche<br />
zeigen, dass es nur einige wenige, zudem eng<br />
begrenzte und oft fehlerbehaftete Methoden gibt,<br />
<strong>die</strong> Menschen (auch Wissenschaftler ) zur Lösung<br />
von Problemen in komplexen Systemen<br />
verwenden.<br />
Selbst wenn man also einen weltweiten Konsens<br />
zum Klimaschutz voraussetzte (den es nicht gibt),<br />
der eine Einigung auf <strong>die</strong> geeigneten Maßnahmen<br />
in der richtigen Dosierung zum angemessenen<br />
Zeitpunkt möglich machte (was schon aufgrund<br />
der Länderzahl unmöglich sein dürfte), selbst dann<br />
bleiben immer noch <strong>die</strong> Eigendynamik des Systems<br />
Klimawandel und <strong>die</strong> inhärent fehlerhaften<br />
Problemlösungsmethoden zu berücksichtigen, <strong>die</strong><br />
eine „Lösung“ von vornherein scheitern lassen<br />
könnten. <strong>Die</strong>s birgt eine nicht zu unterschätzende<br />
Gefahr für alle Versuche, den Klimawandel zu<br />
stoppen.<br />
Man kann Komplexität an der Vielzahl<br />
von Merkmalen erkennen. Schon im Begriff Klima<br />
treffen zahlreiche Merkmale zusammen, so etwa<br />
Niederschlagsmenge, Temperatur der Weltmeere,<br />
Windsysteme und vieles mehr. Es liegt zudem auf<br />
der Hand, dass neben der politischen Dimension<br />
der Problematik auch <strong>die</strong> ökologische, wirtschaft -<br />
liche und soziale Dimension berücksichtigt werden<br />
muss. <strong>Die</strong> schiere Größe der Welt und <strong>die</strong> Zahl der<br />
beteiligten Länder, <strong>die</strong> wiederum einzelne Bünd -<br />
nisse miteinander eingehen, deren Regierungen<br />
wechseln und in Fraktionen zerfallen, kommt noch<br />
hinzu.<br />
Komplexität zeigt sich auch durch Intransparenz,<br />
also <strong>die</strong> Unzugänglichkeit vieler Merkmale. Da her<br />
ist <strong>die</strong> Erhebung wissenschaftlicher Daten<br />
schwierig. <strong>Die</strong>se müssen oft über sogenannte<br />
Proxies, also Stellvertreter-Indikatoren erhoben<br />
werden und unterliegen Unsicherheit und Schwan -<br />
kungen. Deshalb wird meist mit Szenarien, also mit<br />
Wenn-Dann-Aussagen gearbeitet, mit denen<br />
mögliche Entwicklungskorridore vorgegeben sind,<br />
und <strong>die</strong>sen liegen jeweils politische Richtungs -<br />
entscheidungen zugrunde liegen.<br />
Nicht zu vernachlässigen ist auch <strong>die</strong> Dynamik,<br />
also <strong>die</strong> selbstständige Weiterentwicklung<br />
komplexer Systeme und <strong>die</strong> Vernetztheit, sprich <strong>die</strong><br />
gegenseitige Beeinflussung von Merkmalen.<br />
Ein Beispiel ist <strong>die</strong> abschmelzende Eisdecke in der<br />
Arktis. <strong>Die</strong>ser Prozess verläuft keineswegs linear,<br />
sondern das dunklere Meerwasser nimmt mehr<br />
Wärme auf als das vorher bestehende Eis. Das<br />
Thema<br />
beschleunigt den Prozess. Und trotz aller<br />
Berechnungen kam <strong>die</strong>s selbst für Experten<br />
überraschend.<br />
<strong>Die</strong> hochgradige Vernetzung führt auch dazu,<br />
dass Änderungen der Atmosphäre gleichzeitig<br />
Meeresströme, Windsysteme und damit auch<br />
landwirtschaftliche Nutzflächen betreffen. <strong>Die</strong>s<br />
wiederum kann unvorhergesehene soziale<br />
Auswirkungen zeitigen, wenn z. B. Hunger oder<br />
Überschwemmungen zu Migration und Bürger -<br />
krieg führen. Im Falle des Klimawandels handelt es<br />
sich um einen extrem vergrößerten Maßstab. So<br />
werden sich ganze Vegetationszonen und dazu gehö -<br />
rige Wettersysteme verschieben. Im schlimmsten<br />
Fall könnte der Nordatlantikstrom abreißen mit<br />
gravierenden Auswirkungen auf den Wärme haus -<br />
halt Europas. Bereits hier gilt es festzuhalten: In den<br />
meisten Fällen wird es sich um völlig<br />
unvorhersehbare Phänomene handeln.<br />
Andere Charakteristika komplexer Systeme<br />
werden erst bei menschlichen Eingriffen offen -<br />
sichtlich. Dazu zählen Probleme mit Zeitverzö ge -<br />
rungen nach Interventionen (und beim Klima -<br />
wandel geht es teilweise um Jahrhunderte und<br />
Jahrtausende), offene Kriterien der Zielerfüllung<br />
(was sind überhaupt <strong>die</strong> Ziele?) und <strong>die</strong> Proble -<br />
matik, auf mehrere Ziele gleichzeitig zu optimieren.<br />
Offen zu Tage treten <strong>die</strong> Streitigkeiten bezüglich<br />
des Klimaschutzes, wenn nicht mehr auf wissen -<br />
schaftlicher, dann auf politischer Ebene. Was hat<br />
höchste Priorität? Was muss wer wann errei chen?<br />
Nicht einmal ansatzweise ist hier Konsens zu<br />
erkennen. Und schließlich gibt das ungebremste<br />
Streben nach der Quadratur des Kreises zu denken:<br />
Wie lassen sich Wirtschaftswachstum und Nach -<br />
hal tigkeit verbinden? Wie passt der Billigflieger<br />
zum teuren Flugbenzin?<br />
Es gibt viele ernüchternde Berichte und<br />
wissenschaftliche Stu<strong>die</strong>n dazu, wie oft Menschen<br />
Probleme haben, mit komplexen Systemen<br />
umzugehen. Unfälle wie Tschernobyl, Three Mile<br />
Island, aber auch Simulationsläufe in Kernkraft -<br />
werken und Krankenhäusern belegen, wie schmal<br />
<strong>die</strong> Brücke beim Gang über den Abgrund ist. Das<br />
gilt auch dann, wenn mit Redundanz, Über -<br />
wachung usw. gearbeitet wird.<br />
Eindrucksvoll ist auch das Versagen bei dem<br />
Versuch der Steuerung ökologischer Systeme. Der<br />
Schutz des Yellowstone-Nationalparks ist seit etwa<br />
100 Jahren nicht mehr als eine Aneinanderreihung<br />
planerischer Misserfolge von Naturschutzexperten.<br />
Ein anderes (wissenschaftlich aufgearbeitetes)<br />
Beispiel ist der Versuch, seit 1900 <strong>die</strong> Blue-<br />
Mountains-Wälder in Oregon nachhaltig zu<br />
bewirtschaften. Auch <strong>die</strong>s ist katastrophal fehl -<br />
geschlagen und kann stellvertretend für viele andere<br />
misslungene Versuche stehen, Ökosysteme in den<br />
Griff zu bekommen.
Klimawandel<br />
Als weiterer Beleg kann <strong>die</strong> Einführung neuer<br />
Arten in bestehende Ökosysteme genannt werden.<br />
Eine Beschreibung der hundert schädlichsten<br />
Einführungen auf der Welt (siehe www.issg.org)<br />
liest sich wie ein Horror-Roman menschlicher<br />
Kurzsichtigkeit. <strong>Die</strong>se Daten geben also Grund,<br />
pessimistisch zu sein, zumal <strong>die</strong> Problematik des<br />
Klimawandels alle <strong>die</strong>se Beispiele sowohl an Größe<br />
und Be deutung der Aufgabe als auch an Komple -<br />
xität bei weitem übersteigt.<br />
Wir müssen uns also mit dem Gedanken vertraut<br />
machen, dass selbst bei einer in Bezug auf den<br />
Klimaschutz extrem großen Handlungsbereitschaft<br />
viele ungewollte negative Auswirkungen auftreten<br />
werden. Ein Beispiel: Das Gesetz zur Förderung<br />
erneuerbarer Energien (EEG) löste einen Boom bei<br />
erneuerbaren Energien aus und gilt als großer<br />
ökologischer Erfolg. Darunter fällt auch <strong>die</strong><br />
Förderung des Bio<strong>die</strong>sels zur CO 2 -Minderung.<br />
Durch globale wirtschaftliche Wirkungsketten<br />
führt <strong>die</strong>s aber dazu, dass für das billige Palmöl<br />
(„Kahlschlag<strong>die</strong>sel“) aus Südostasien Wälder durch<br />
Brandrodung vernichtet werden. Indonesien und<br />
Malaysia holzen dafür im irrwitzigen Tempo den<br />
verbleibenden Regenwald ab. Zusätzlich ist damit<br />
<strong>die</strong> CO 2 -Freisetzung größer, als wenn man auf<br />
Bio<strong>die</strong>sel von vornherein verzichtet hätte.<br />
Schwierig bis unmöglich wird es auch, langfris -<br />
tige oder verdeckte Folgen zu erkennen. Bereits klar<br />
ist, dass es zu massiven Zeitverschiebungen bei der<br />
Implementierung von Maßnahmen kommen wird,<br />
sich weltweite Koordination als extrem schwierig<br />
erweist und trotz aller Bekundungen nur wenige<br />
Mittel zur Verfügung gestellt werden. Optimale<br />
Voraussetzungen sind das nicht.<br />
Für mich sind nun einerseits <strong>die</strong> bereits began -<br />
genen Fehler interessant, <strong>die</strong> sich auf bekannte<br />
Denkmuster im Umgang mit komplexen Systemen<br />
zurückführen lassen; andererseits will ich<br />
versuchen, noch kommende Fehler zu prognos -<br />
tizieren. <strong>Die</strong>s geschieht durch Übertragung der aus<br />
der Forschung bekannten Fehler, <strong>die</strong> sich auch auf<br />
politische Aspekte des Klimawandels übertragen<br />
lassen. Hier sind einige der bekanntesten, <strong>die</strong> auch<br />
gern wiederholt werden.<br />
FEHLER 1: Menschen handeln leider meist<br />
nicht nach der Devise „Vorbeugen ist besser als<br />
Heilen“, denn eine unserer fatalsten Denk schwä -<br />
chen ist <strong>die</strong> Kurzsichtigkeit im Planen. Nur Proble -<br />
me in der Gegenwart erregen unsere Aufmerk sam -<br />
keit und veranlassen uns zu handeln. So versucht<br />
der Stern-Report <strong>die</strong> Kosten der Auswirkungen des<br />
Klimawandels zu schätzen und kommt zu dem –<br />
nicht überraschenden – Ergebnis, dass sofortiges<br />
Handeln etwa 1 Prozent des Weltinlandproduktes<br />
kosten wird. Heutige Untätigkeit wird später dage -<br />
gen mit etwa 5 bis 20 Prozent zu Buche schlagen.<br />
<strong>Die</strong>sen Gedanken hört man zwar inzwischen von<br />
vielen Politikern, umgesetzt hingegen wird er nicht.<br />
<strong>Die</strong>se Verhaltensweise ist bekannt: Fernwir -<br />
kungen und Schäden, <strong>die</strong> weit in der Zukunft<br />
liegen, werden nicht angemessen beurteilt. Statt -<br />
dessen küm mert man sich um vergleichsweise<br />
kleine Probleme in der Gegenwart; man arbeitet<br />
also Probleme nach Auffälligkeit und zeitlicher<br />
Nähe statt nach Wichtigkeit ab. <strong>Die</strong> aktuelle Kritik<br />
am Stern-Report erinnert zudem auffallend an <strong>die</strong><br />
Kritik, <strong>die</strong> nach 1972 an den Grenzen des Wachs -<br />
tums geübt wur de: Probleme könnten jederzeit<br />
durch technologischen Fortschritt und wirt schaft -<br />
liche, sowie politische An passungen gelöst werden.<br />
6,7 Milliarden Menschen mit immer knapperen<br />
Ressourcen wissen heute, dass kaum etwas davon in<br />
<strong>die</strong> Tat umgesetzt wurde. Und der Glaube an das<br />
Allheilmittel „Wirtschafts wachs tum“ scheint uns<br />
heute sogar naiv.<br />
In kleinerem Maßstab begegnen wir <strong>die</strong>sem<br />
Denkmuster beim Argument der zu hohen Kosten<br />
für erneuerbare Energien, deren Ausbau also<br />
wirtschaftlich unsinnig sei. Nicht bedacht wird<br />
dabei, dass ein Ausbau erst dann, wenn es wirt -<br />
schaftlich wäre (kurz vor dem Ende der fossilen<br />
Brennstoffe) daran scheitern wird, dass dann keine<br />
Energie mehr vorhanden ist, um alternative<br />
Quellen auszubauen.<br />
FEHLER 2: Aus Ökosystem-Stu<strong>die</strong>n ist bekannt,<br />
dass Menschen selbst bei vollständiger Information<br />
über das Problem oft mit Untätigkeit reagieren.<br />
Mitunter ist <strong>die</strong> Hoffnung einfach <strong>die</strong>, dass sich das<br />
Probleme von selbst auflöst. Auch <strong>die</strong>ses Verhalten<br />
findet man zur Genüge in der Klimawandeldebatte<br />
(aber ebenso, wie erwähnt, in den Grenzen des<br />
Wachstums bezüglich Ressourcenfrage und<br />
Geburtenkontrolle). So ist <strong>die</strong> CO 2 -Anreicherung<br />
durch Menschen seit den 50er Jahren bekannt, der<br />
erste IPCC-Bericht mit deutlichen Warnungen<br />
datiert von 1990 – viel ist bislang nicht geschehen.<br />
Das kann man nun natürlich vielen Faktoren (z.B.<br />
dem Druck der Wirtschaft, der Wählergunst)<br />
zuschlagen, und doch ist <strong>die</strong>ses Verhalten typisch<br />
für den Um gang mit komplexen Problemen.<br />
Als Beispiel dafür sollen Bill Clintons Aussagen<br />
<strong>die</strong>nen, der in mehreren Reden schon 1998 von<br />
mehr Toten durch Klimawandel, vom teilweisen<br />
Versinken Floridas durch einen Anstieg des Meeres -<br />
spiegels und einer extremeren Ausprägung und<br />
Häufung des El-Niño-Phänomens sprach. <strong>Die</strong>se<br />
Reden kann man heute – neun Jahre später nun als<br />
harte wissenschaftliche Fakten – fast wörtlich im<br />
IPCC-Bericht 2007 wiederfinden. Interessant auch<br />
<strong>die</strong> Verordnung zur Energieeffizienz von Haushalts -<br />
geräten in den USA, <strong>die</strong> bereits 1987 und 1992 vom<br />
Kongress verabschiedet, aber nie implementiert<br />
wurde. Allein dadurch würden <strong>die</strong> CO 2 -Emissio -<br />
nen um Prozent gesenkt und Millionen Dollar an<br />
Stromkosten gespart.<br />
FEHLER 3: Komplexe Systeme werden in ihrer<br />
tatsächlichen Komplexität unterschätzt, <strong>die</strong> eigene<br />
Kompetenz dabei überschätzt. Komplettiert wird<br />
45
Anzeig<br />
Roden<br />
Doppe
e<br />
stock<br />
lseite
48<br />
Thema Klimawandel<br />
das von einer zugrundeliegenden Einfachheits -<br />
vermutung.<br />
Im Falle des Klimawandels fällt der Optimismus<br />
auf, mit dem Probleme angegangen werden.<br />
Hinter grund ist eine Wissenschafts- und Technik -<br />
gläubigkeit, <strong>die</strong> neue Technologien und zu<br />
erwartende Effizienzgewinne bereits als real ansieht.<br />
Allerdings ist bekannt, dass manche wissen -<br />
schaftliche Versprechungen sich um Jahrzehnte<br />
verschieben oder sogar nie eintreffen – siehe<br />
Kernfusion. Oft wird über<strong>die</strong>s auf effizientere<br />
Solarzellen im Versuchsstadium, auf Kernfusion als<br />
Allheilmittel oder „neue Techniken“ wie <strong>die</strong><br />
Solarthermie verwiesen. Das Problem: Alle <strong>die</strong>se<br />
hochgelobten Technologien befinden sich noch im<br />
Planungsstadium oder existieren lediglich als<br />
Prototypen – und das teilweise schon seit Jahr -<br />
zehnten. Dabei wird unterschätzt, wie zeitaufwän -<br />
dig, ressourcenintensiv und teuer eine Massen -<br />
produktion in Gang zu setzen ist; eine „Im Prinzip<br />
geht das“-Haltung ist hier zwar fehl am Platze, aber<br />
leider typisch.<br />
FEHLER 4: <strong>Die</strong>ses Denkmuster kennt jeder von<br />
uns: Altes und Vertrautes wird dem Neuen<br />
vorgezogen. Längst stimmt nicht mehr, dass<br />
Wirtschaftswachstum und CO 2 -Minderung<br />
unvereinbar sind. Umweltschutz verursacht nicht<br />
nur Kosten, sondern schafft im Gegenteil Arbeits -<br />
plätze. Mit <strong>die</strong>sem Argument stieß Jürgen Trittin<br />
noch oft auf Unglauben und Hohn; Sigmar Gabriel<br />
kann heute immerhin auf <strong>die</strong> neu geschaf fenen<br />
Arbeitsplätze der Solar- und Windindustrie hin -<br />
weisen. Wollen wir hoffen, dass es unser nächs ter<br />
Umweltminister wieder etwas leichter hat. <strong>Die</strong><br />
„neue“ Idee also ist: Einsparung von Energie durch<br />
effizientere Geräte, Heizungen und Dämmungen<br />
bedeutet der facto Wachstumspotenzial durch<br />
Ressourceneinsparung.<br />
Belassen wir es bei <strong>die</strong>sen vier Skizzen. Interessant<br />
wird der Versuch, weitere Fehler vorherzusagen.<br />
Welche Prognosen kann man jetzt schon stellen?<br />
Beginnen wir mit einigen gerade<br />
sichtbar werdenden Fehlern. Was vor unseren<br />
Augen bereits stattfindet, ist eine Art Realitäts -<br />
verleugnung, und sie wird noch stärker werden.<br />
Ein Anzeichen dafür ist <strong>die</strong> überaus erstaunliche<br />
Zahl der Reportagen, <strong>die</strong> sich mit den positiven<br />
Auswir kungen des Klimawandels beschäftigen. Da<br />
wird dumm-fröhlich über den jetzt möglichen<br />
Weinbau in Schweden schwadro niert, da freut sich<br />
<strong>die</strong> Schifffahrt über eine eisfreie Nordwest-Passage,<br />
da rechnet man bereits <strong>die</strong> neuen Flächen des<br />
Weizen anbaus in Kanada aus, usw. ad nauseam.<br />
Dass durch Migration, Überflutung und Krank -<br />
heiten (WHO-Schätzung: allein durch Hitzewellen<br />
über 150000 Tote pro Jahr) Katastrophen ohne<br />
Beispiel herein brechen werden, wird dagegen gerne<br />
verdrängt. Oder wie es Simon & Garfunkel sagten:<br />
Thema<br />
„Still a man hears what he wants to hear, and<br />
disregards the rest.“<br />
Unzweifelhaft werden sich auch einige Erfolge<br />
beim Klimaschutz einstellen. <strong>Die</strong>s wird dazu<br />
führen, dass das Gefühl herrscht, man habe „alles<br />
im Griff“ – wiederum ein typisches Verhalten.<br />
Gegenlautende Meinungen aus wissenschaftlichen<br />
Fachjournalen werden dabei wohl ungehört<br />
bleiben. Typisch ist übrigens auch, <strong>die</strong> bei einigen<br />
Teilproblemen erfolgreichen Maßnahmen auf<br />
andere, dafür ungeeignete Probleme auszudehnen.<br />
Meist folgt dann eine Wiederholung und massive<br />
Verstärkung der Maßnahmen; um so erstaunter<br />
wird man sein, wenn sich der gewünschte Erfolg<br />
nicht einstellt. Ein Beispiel aus der Ökologie ist <strong>die</strong><br />
Übertragung von Forstmethoden für den europä -<br />
ischen Wald auf <strong>die</strong> völlig anders gearteten ameri -<br />
kanischen Wälder.<br />
In naher Zukunft (in 10 bis 20 Jahren)<br />
dürften <strong>die</strong> negativen Folgen des Klimawandels<br />
bereits deutlich sichtbar geworden sein. Zu<br />
erwarten ist dabei eine massive Unterschätzung der<br />
Probleme. Wenn Probleme im Endstadium nicht<br />
mehr geleugnet werden können, werden unter<br />
anderem folgende Mechanismen immer wieder<br />
auftreten: an erster Stelle natürlich der Verweis auf<br />
Wissenschaft und Technik, <strong>die</strong> bald mit Lösungen<br />
aufwarten werden; dann der Hinweis, dass <strong>die</strong><br />
bereits geleisteten Anstrengungen bald Früchte<br />
tragen werden, nur erst noch greifen müssten.<br />
Eine weitere, recht sichere Vorhersage bezieht sich<br />
auf <strong>die</strong> Analyse eigener Fehler: Sie wird kaum statt -<br />
finden. Ebensowenig ist mit engmaschigen Kon -<br />
trollen zur Überprüfung zu rechnen, ob denn <strong>die</strong><br />
getroffenen Maßnahmen tatsächlich <strong>die</strong> ge wünsch -<br />
te Wirkung erzielen.<br />
Möglicherweise erscheinen <strong>die</strong>se Prognosen zu<br />
pessimistisch. Leider lassen Stu<strong>die</strong>n und Simula tio -<br />
nen kaum einen anderen Schluss zu. Denn es han -<br />
delt sich hier um einige der häufigsten mensch -<br />
lichen Denkschwächen, <strong>die</strong> man unabhängig von<br />
Bildungsstand oder Information immer wieder<br />
vorfindet.<br />
Wie, so lautet nun <strong>die</strong> naheliegende Frage, lassen<br />
sich denn <strong>die</strong>se Fehler nun vermeiden? Fast gar<br />
nicht, so <strong>die</strong> ernüchternde Antwort. Allenfalls<br />
vorstellbar wäre eine grenzenüberschreitende<br />
Wissenschaft, <strong>die</strong> einem handlungsbefugten<br />
Weltgremium fun<strong>die</strong>rte Entscheidungshilfen an <strong>die</strong><br />
Hand gibt, <strong>die</strong> zeitnah umgesetzt werden könnten.<br />
Ob aber wissenschaftliche Korrekturmechanismen<br />
funktionieren, ob Politiker auch unpopuläre<br />
Entscheidungen treffen werden, ob Einzelpersonen<br />
auch für sie Nachteiliges beschließen, das ist <strong>die</strong><br />
große Frage der nahen Zukunft, denn ein Problem<br />
in <strong>die</strong>ser gewaltigen Größenordnung gab es noch<br />
nie. Aber wer weiß, vielleicht überrascht <strong>die</strong><br />
Menschheit sich ja selbst.
Palermo ist nicht mehr <strong>die</strong> Hauptstadt der<br />
Mafia und wird es vielleicht nie mehr sein. Palermo<br />
war ein mal <strong>die</strong> Hauptstadt der Antimafia. Es hat eine<br />
Pe ri ode der Auseinandersetzungen und der Em pö -<br />
rung durchlebt. Heute aber, und nicht erst seit gestern,<br />
läuft Palermo Gefahr, nicht mehr Hauptstadt<br />
zu sein (weder der Mafia noch der Antimafia), sondern<br />
einfach und modern der Hauptsitz – der neuen<br />
Mafia.<br />
Und <strong>die</strong> auftauchenden Hauptfiguren heißen heu -<br />
te nicht mehr Badalamenti, Liggio, Riina, Bagarella,<br />
Provenzano (<strong>die</strong> historischen und inzwischen verhaf -<br />
teten Führer der Mafia) und auch nicht Lo Piccolo<br />
oder Messina Denaro (<strong>die</strong> jüngeren Leitfiguren). Sie<br />
nennen sich heute anders: Berater, Techniker, Ma -<br />
cher, werden von der guten Gesellschaft bewundert,<br />
tragen <strong>die</strong> Namen neuer, unbekannter Bosse, <strong>die</strong><br />
nur ge murmelt werden, wie Rossi oder Bianchi oder<br />
ähnlich.<br />
<strong>Die</strong>se neuen und bekannten und auch <strong>die</strong> un -<br />
bekannten Persönlichkeiten der Salons findet man<br />
auf Luxusyachten, <strong>die</strong> in winzigen Touristenhäfen<br />
vor Anker liegen; sie nehmen Partydrogen, <strong>die</strong> ihnen<br />
ihre Freunde beschafft haben, sie kleiden sich in<br />
Designerklamotten und besitzen vielzylindrige Mo -<br />
torräder oder Autos und sehen damit ganz und gar<br />
anders aus als <strong>die</strong> erbärmlichen und ungehobelten<br />
Pusher aus den Vororten.<br />
Es wird dahin kommen, dass ein altes Mo dell fröhliche<br />
Urständ feiert. Als „modern“ kehrt das ame ri -<br />
kanische Modell zurück, das schon den Familien der<br />
Bontade und Inzerillo vorschwebte und das durch<br />
das Aufkommen der Männer aus Corleone verdrängt<br />
worden war.<br />
Palermo ist nun dabei, sich um den neuen Hauptsitz<br />
der neuen Mafia zu bewerben.<br />
Diffuse Gesetzlosigkeit, unauffällige Blutbäder,<br />
dabei gleichwohl zusammengeraffter Reichtum, das<br />
Symbol für <strong>die</strong> gesellschaftliche Stellung, um <strong>die</strong><br />
man sie beneidet und der nachgeeifert wird; das<br />
Schweigegebot gewandelt in Selbstgefälligkeit. <strong>Die</strong><br />
Politik erweist sich als unfähig, dem neuen Kampf<br />
gegen <strong>die</strong> neue Mafia eine Stimme zu geben. Und<br />
während <strong>die</strong> Mafiosi aus grauer Vorzeit noch immer<br />
Kaufleute physisch bedrohen, ihnen Schutzgelder<br />
abpressen oder Wucherzinsen eintreiben oder Wäh-<br />
Palermo und <strong>die</strong> Mafia<br />
Der italienische Filz<br />
Dem Verfasser, von 1985 bis 2000 Bürgermeister von Palermo, gelang es, den Kampf gegen <strong>die</strong> Mafia weit über Sizilien hinauszu -<br />
tragen und ihm Stimme und Wucht zu verleihen. In <strong>die</strong>sem Beitrag appelliert er an <strong>die</strong> europäische Öffentlichkeit, den Kampf nicht<br />
aufzugeben, selbst wenn <strong>die</strong> Mafia ihre Methoden unendlich verfeinert hat und das Fernsehen keine blutigen Bilder mehr liefert.<br />
Von Leoluca Orlando<br />
lerstimmen kaufen oder erschwindeln, manipulieren<br />
<strong>die</strong> neuen Mafiosi <strong>die</strong> Macht der Behörden und<br />
das Finanzsystem ebenso wie Wahlvorgänge und<br />
deren amtliche Protokolle.<br />
Um sich der neuen, der modernen Mafia entgegenzustellen,<br />
bedarf es einer neuen, abge stimmten<br />
Reaktion der Behörden. Was wir brauchen, ist <strong>die</strong><br />
Empörung der Zivilgesellschaft, <strong>die</strong> kraftvoll für <strong>die</strong><br />
Sache einer Kultur der Gesetze und ihrer allseits verbreiteten<br />
Einhaltung eintritt.<br />
Es ist unerlässlich, dass <strong>die</strong> Gesetzgebung <strong>die</strong>sem<br />
Wandel von Strategie und Auftreten angepasst wird,<br />
um der <strong>die</strong>ser neuen Mafia entgegenzu treten.<br />
Es sind sicher weitere Gesetzesänderungen nötig,<br />
um <strong>die</strong> Grenzen, aber auch Unzulänglichkeiten der<br />
augenblicklichen Gesetzgebung zu überwinden, so<br />
wie das in der Vergangenheit mit bestimmten Paragraphen<br />
des italienischen Strafgesetzbuchs ja schon<br />
öfter ge schehen ist.<br />
Wir brauchen eine Zusammenarbeit zwischen den<br />
<strong>Die</strong>nsten. Ein breiter Konsens über eine Reihe von<br />
ethischen Werten, <strong>die</strong> ihrerseits einen anders gearteten<br />
Gemeinsinn herausbilden, muss ins Leben gerufen<br />
werden.<br />
Es stellt sich nachdrücklich eine neue<br />
ethische Frage: <strong>die</strong> nach einem anderen Lebensstil.<br />
Wir können nicht länger immer nur warten auf das<br />
Eingreifen der Justiz und ihre freundliche Unterstützung.<br />
Keime und Spuren einer neuen ethischen<br />
Bedeutung der Zivilgesellschaft zeigen sich im so -<br />
zialen und produktiven Umgang mit beschlag -<br />
nahmten Mafia-Gütern. <strong>Die</strong> Erfahrungen, <strong>die</strong> man<br />
mit Zivilcourage gemacht hat, mit der Entscheidung,<br />
aus der Logik der Schutzgelder heraus zu tre -<br />
ten, sind vielleicht unausgereift, aber bedeutungs -<br />
voll. Ein solches Vorgehen hat 1991 den Unter -<br />
nehmer Libero Grassi Ruhe und das Leben gekostet.<br />
Wir sehen also, es geht nicht lediglich um Strafanzeigen,<br />
sondern auch um öffentliche Alli an zen (zum<br />
Beispiel das Bündnis „Kritischer Konsum“), bestehend<br />
aus Händlern, <strong>die</strong> sich gegen Schutzgelder aussprechen,<br />
und Verbrauchern, <strong>die</strong> öffentlich erklären,<br />
nur noch bei eben <strong>die</strong>sen Händlern einkaufen<br />
zu wollen. Es ist auch nur recht und billig, an <strong>die</strong>ser<br />
49
50<br />
Stelle an den Beschluss des SizilianischenUnternehmerverbandes<br />
zu erinnern, an dere<br />
Unternehmer, <strong>die</strong> Schutzgelder<br />
entrichten, auszuschließen: eine<br />
ethisch verantwortungsvolle<br />
Antwort auf den Appell mutiger<br />
sizilianischer Unternehmer, erst<br />
kürzlich wieder ausgesprochen<br />
von Rodolfo Guaiana und<br />
Andrea Vecchio. Beispielhaft in<br />
ethischer Hinsicht ist schließlich<br />
<strong>die</strong> Rolle der Zi vil ge sell -<br />
schaft bei der Gründung von<br />
Ko mitees zur Überprüfung der<br />
Wahl ergeb nisse, zur Einhaltung<br />
der gesetzlichen Vorschriften<br />
und zur Wah rung der Freiheit<br />
der Wahl als Gegenwehr zur per -<br />
fekten Kontrolle der politischen<br />
Landschaft, <strong>die</strong> sen Domänen<br />
sowohl der alten wie der neuen<br />
Ma fia, der alten, indem Stimmzettel herausgefischt<br />
oder aber einfach Stimmen gekauft wurden, und<br />
von der neuen, indem schon bei der Platzierung der<br />
Wahl lokale manipuliert wird und dann erst recht bei<br />
der Protokollierung der Wahl ergebnisse. <strong>Die</strong> von<br />
<strong>die</strong>sen brandgefährlichen Nähe zwischen Mafia und<br />
Po litik erzeugte Schieflage wird von den Ermitt -<br />
lungs behörden neuerlich sträflich unterbewertet.<br />
Wieder einmal sind Mafia und Politik im heimlichen<br />
Einverständnis, dem Staat weit voraus.<br />
<strong>Die</strong> Übel Siziliens sind keine Ausnahmefälle,<br />
und in der Tat, sie lösen keinen Skandal mehr<br />
aus. Als Hauptstadt der Mafia war Palermo aufsehenerregend,<br />
und als Hauptstadt der Antimafia war<br />
es wieder so. Das Palermo von heute aber, das<br />
Palermo als Hauptsitz der neuen Mafia, erregt keinen<br />
Skandal mehr. Und zwar deshalb nicht, weil es<br />
sich in Übereinstimmung befindet mit der Systemkrise<br />
ei nes ganzen Landes. Im ganzen Land hat sich –<br />
nach Jahren der Korruption und nach den Erfolgen<br />
der Justiz der „Sauberen Hände“ – das gesetzwidrige<br />
Ita lien von heute modernisiert. Unser Land ist ein<br />
Land der verfilzten Interessen geworden. Ich rede<br />
nicht von Berlusconi, oder doch nicht nur von Berlusconi,<br />
ich rede von einer Kultur, von einem<br />
Lebensstil, der Politiker, Unternehmer, Intellektuelle<br />
und Künstler aus beiden politischen Lagern<br />
amalgamiert und einander angleicht.<br />
Der Interessenfilz ist der Personalausweis <strong>die</strong>ser<br />
neuen Kasten; er ist der gemeinsame Nenner aller<br />
Gesetzesverstöße, im Norden wie im Süden; er ist<br />
eine Kultur, <strong>die</strong> es der Mafia erlaubt, zu wachsen und<br />
zu gedeihen, und zwar ebensogut in irgendeinem<br />
Kuhstall in Corleone wie in der Mailänder Börse.<br />
Der Interessenfilz ist das neue Schmiergeld, das<br />
Schutzgeld des dritten Jahrtausends.<br />
Ich bin fast versucht, ein Lob auf <strong>die</strong> gute alte<br />
Bestechung zu singen. Sie vergiftete zwar ein Ge -<br />
www.mafianetwork.it<br />
Wo Gesetze gemacht werden (müssten): Parlament in Rom<br />
schäft, aber dagegen konnte man sich wehren: entweder<br />
indem man noch etwas drauflegte oder indem<br />
man zum Staatsanwalt ging. <strong>Die</strong> Interessenverfilzung<br />
indessen ist ein System und lässt sich in der<br />
Regel gar nicht als Verbrechen einstufen. Wie soll<br />
man sich wehren gegen <strong>die</strong> systematische Einmischung<br />
der Politiker und der von ihnen Ab hän gigen<br />
in das Eigentum und <strong>die</strong> Verwaltungsinstan zen<br />
einer Privatklinik, <strong>die</strong> ihrerseits vertraglich in das<br />
staatliche Gesundheitssystem eingebunden ist? In<br />
<strong>die</strong> Belange eines Hotels, das mit öffentlichen Mitteln<br />
bezahlt worden ist? In eine Firma, <strong>die</strong> im öffentlichen<br />
Auftrag Güter produziert oder <strong>Die</strong>nstleistungen<br />
bereitstellt? Wir haben es wahrhaftig mit den<br />
Verfallsformen der normalen Markt wirt schaft zu<br />
tun. <strong>Die</strong> Vorgänge sind überhaupt nicht mehr als<br />
Verbrechen beschreibbar, und wegen der Trennung<br />
von politischer und bürokratischer Verantwortung<br />
können sie auch nicht mehr straf rechtlich verfolgt<br />
werden. Der Veraltungsbeamte un terschreibt eben,<br />
was der Politiker von ihm verlangt. Und wenn nicht,<br />
dann greift das „Spoil-System“, das Beute-Prinzip,<br />
demzufolge <strong>die</strong> interessanten Posten neuverteilt<br />
werden an <strong>die</strong> Anhänger der siegreichen Partei: Man<br />
ersetzt den widerspenstigen Beamten einfach durch<br />
einen willfährigen.<br />
Italien ist eine Metapher für Palermo –<br />
und umgekehrt. Alles stützt sich gegenseitig – in Pa -<br />
lermo wie in Italien – im Guten wie im Schlechten.<br />
Heute überwiegend im Schlechten. Es bildet sich<br />
ein gefährlicher Gleichklang: Palermo <strong>die</strong> Hauptstadt<br />
der neuen Mafia und Italien das Hauptland der<br />
verfilzten Interessen.<br />
Das ist <strong>die</strong> Herausforderung, <strong>die</strong> eigentliche<br />
Herausforderung für das System Italien: Es muss<br />
sich von der alten und von der neuen Mafia befreien,<br />
sonst gleitet es unaufhaltsam in einen Sumpf der<br />
Gesetzlosigkeit.
52<br />
<strong>Die</strong> Europäische Union<br />
Wertegemeinschaft<br />
oder Rechtsordnung<br />
Robert Spaemann, Professor em. für Philosophie, hat sich in einem vielbeachteten Beitrag dagegen ausgesprochen, <strong>die</strong> Werte der<br />
EU über Gebühr zu betonen oder gar mit ihnen politisches Handeln zu legitimieren. Er erkennt darin, so lautet neuerdings das<br />
paradoxe Schlagwort, einen „liberalen Totalitarismus“. Sind <strong>die</strong> europäischen Werte eine berechtigte Forderung oder nur eine<br />
staatsphilophische Verirrung?<br />
Ich möchte gern mit dem Hauptargument<br />
beginnen, das gegen ein Europa als Wertegemeinschaft<br />
vorgebracht wird. Deshalb werde ich<br />
sehr kurz <strong>die</strong> kritischen Einwände von Robert<br />
Spaemann und Krzysztof Michalski vorstellen, <strong>die</strong><br />
<strong>die</strong>se Frage schon im Jahr 2001 in der Zeitschrift<br />
Transit diskutiert haben.<br />
In seinem Artikel „Europa –<br />
Wertegemeinschaft oder Rechtsordnung?“ betont<br />
Spaemann dort, dass <strong>die</strong> Rede von Werten trivial<br />
und gleichzeitig gefährlich ist. Gefährlich ist sie<br />
aufgrund ihrer Un genauigkeit und trivial, weil wir<br />
längst wissen, dass jede Gesellschaft auf bestimmten<br />
gemeinsamen Werten aufgebaut ist. Der<br />
gemeinsame Vorrat all dessen, was wir hoch- bzw.<br />
geringschätzen, hat zwar zum Rückzug der westlichen<br />
Gesellschaften geführt, schon weil <strong>die</strong> Zahl<br />
der verschiedenen Le bensstile und Einstellungen<br />
zugenommen hat, also durch den sogenannten<br />
Pluralismus. Jedoch brauchen selbst pluralistische<br />
Gesellschaften, fährt Spaemann fort, gemeinsame<br />
Werte und Wert urteile als Grundlage für we -<br />
sentliche Rechte.<br />
Aber <strong>die</strong> wahre Gefahr der Rede von der „Wer -<br />
tegemeinschaft Europa“ liegt nach Spaemann in<br />
der Tatsache, dass hier eine „Tendenz“ vorliegt,<br />
„<strong>die</strong> Rede von Grundrechten allmählich mehr und<br />
mehr zu ersetzen durch <strong>die</strong> Rede von Grundwerten“.<br />
Konkret zeigt sich <strong>die</strong> Gefahr dann, wenn der<br />
Staat <strong>die</strong> Anwendung von Gewalt legitimiert durch<br />
<strong>die</strong> Berufung auf „höhere Werte“, um etwas zu verbieten,<br />
was sich allein durch das Gesetz nicht verbieten<br />
lässt. In einem solchen Fall werden also<br />
Werte missbraucht zur Verletzung der Rechtsordnung.<br />
Das war z.B. der Fall im Dritten Reich, das ja<br />
ebenfalls eine Art Wertegemeinschaft war, eine<br />
„Volksgemeinschaft“, in der der Staat nur der Vollstrecker<br />
einiger „höherer Werte“ wie Nation, Ras -<br />
se, Gesundheit etc. war, und in der <strong>die</strong> NSDAP, <strong>die</strong><br />
<strong>die</strong>sen Werten Treue geschworen hatte, <strong>die</strong> Macht<br />
im Staat übernahm und den Staat sogar unter ihre<br />
Herrschaft brachte.<br />
Ein erstes Anzeichen für <strong>die</strong>se Gefahr eines „libe r -<br />
Von Yvanka B. Raynova<br />
tären Totalitarismus“ ist, nach Spaemann, <strong>die</strong> Verfolgung<br />
von Sekten. Spaemann stellt fest, dass <strong>die</strong><br />
Bezeichnung einer Gemeinschaft als „Sekte“ in der<br />
Willkür derjenigen liegt, <strong>die</strong> allein <strong>die</strong> Deutungs -<br />
hoheit innehaben, also der Vertreter der Staatsgewalt.<br />
Bei der informellen Verfolgung von Sek ten<br />
wird demnach <strong>die</strong> mühsam erreichte Rechts staat -<br />
lichkeit in den Wind geschlagen, weil der Staat sich<br />
als liberale Wertegemeinschaft versteht, als Welt -<br />
an schauungsstaat und nicht mehr als Rechtsordnung.<br />
Ein zweiter Hinweis auf <strong>die</strong> Gefahr des „liberalen<br />
Totalitarismus“ ist für Spaemann der Einsatz staat -<br />
licher Organe zur Diskriminierung bestimmter<br />
politischer Ideen, selbst wenn <strong>die</strong>se verfassungs -<br />
konform sind. Das sei gegenwärtig in Deutschland<br />
der Fall, wo zur Zeit versucht werde, eine öf fent -<br />
liche Diskussion über <strong>die</strong> Frage der Einwanderung<br />
zu unterbinden. oppositionelle Meinungen oder<br />
ein ethnisch-kulturelles Selbstverständnis der Na -<br />
tion seien tabuisierte Themen, weil sie an Gewalt<br />
gegen Ausländer denken lassen. Der Staat versteht<br />
sich als „Bündnis gegen Rechts – das ist <strong>die</strong> Wer -<br />
tegemeinschaft anstelle des Staates, und hier müs -<br />
sen <strong>die</strong> Alarmglocken läuten“.<br />
Spaemann drittes Beispiel hängt eng mit dem<br />
eben Gesagten zusammen. Er unterstreicht, dass<br />
der Staat sich „seiner Neutralitätspflicht entledigen<br />
(könne), indem er staatliche Institutionen privatisiert,<br />
in denen er gleichwohl als Mehrheitsgesellschafter<br />
das Sagen behält, und er kann dann<br />
<strong>die</strong>se Position zur Diskriminierung missliebiger<br />
Organe gebrauchen“. <strong>Die</strong>s sei vor kurzen der Fall<br />
in Deutschland gewesen, als <strong>die</strong> PostBank <strong>die</strong> Konten<br />
der Wochenzeitung Junge Freiheit kündigte.<br />
Der Boykott der Zeitung wurde zwar rückgängig<br />
gemacht, aber der Versuch sei ein Grund, wachsam<br />
zu bleiben.<br />
Als viertes Beispiel nennt Spaemann <strong>die</strong> Sanktionen<br />
gegen Österreich Anfang 2000. <strong>Die</strong> EU bechloss<br />
damals, Österreich unter „Quarantäne“ zu<br />
stellen, allein aus political correctness, weil Ös ter -<br />
reich sich eines Mangels an „europäischen Wer ten“
schuldig gemacht hatte. „Zwar trug in <strong>die</strong>sem Fall<br />
nach einem Gutachten dreier ‚Weiser’ das Recht<br />
glücklicherweise den Sieg über <strong>die</strong> Wertegemeinschaft<br />
davon, was übrigens <strong>die</strong> deutsche Bundesregierung<br />
nicht daran hinderte, mit der Ächtung des<br />
Nachbarn noch eine Weile fortzufahren.“<br />
Das fünfte und letzte Beispiel Spaemanns ist der<br />
Kosovo-Krieg: Er sei im Namen „unserer Werte“<br />
ge führt worden. <strong>Die</strong> entscheidende Voraussetzung,<br />
nämlich <strong>die</strong> Vertreibung eines Volkes aus seiner<br />
Heimat durch eine militärische Intervention<br />
zu verhindern, <strong>die</strong>nt zweifellos einer „gerechten<br />
Sache“. „Mit dem geltenden Völkerrecht war <strong>die</strong><br />
Führung eines solchen Krieges allerdings unvereinbar.“<br />
Auch hier stellte man sich im Namen der<br />
Werte über das Gesetz, ein Zustand, der früher einmal<br />
Totalitarismus hieß.<br />
Mit anderen Worten, Spaemann hält<br />
der Idee eines Europas als Wertegemeinschaft entgegen,<br />
dass Werte in Europa dazu gebraucht werden,<br />
Dis kriminierungen zu begründen und das<br />
geltende Recht zu hintergehen. Dem Werte-Befürworter<br />
kommt es jedoch auf noch etwas ganz anderes<br />
an: Macht. <strong>Die</strong> Macht ist der höchste Wert, und<br />
Menschen halten als Werte immer das hoch, was<br />
ihnen dazu verhilft, Macht zu gewinnen. Spaemann<br />
ist überzeugt, das genau das gegenwärtig in<br />
Europa geschieht. Den Grund sieht er in einer<br />
paradoxen Dialektik aus „dem sich ausbreitenden<br />
Werterelativismus und Skeptizismus“ einerseits<br />
und „der Verabsolutierung der eigenen Wertschätzungen“<br />
an dererseits. Werte werden durch <strong>die</strong>jenigen<br />
ge setzt, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Macht dazu haben, also ist ihr<br />
Kampf um <strong>die</strong> Werte nichts anderes als ihr Kampf<br />
um <strong>die</strong> Macht. Man muss daher immer „nach den<br />
verborgenen Interessen fragen. Wer zieht hier Vorteile<br />
aus einer bestimmten Wertordnung?“<br />
Eine ähnliche Position nimmt Krzysztof<br />
Michalski ein, wenn auch mit anderen Argumenten<br />
(in seinem Beitrag Politik und Werte, ebenfalls<br />
in Transit 2001).<br />
Nichts, was wir tun, sagt er, ist moralisch neutral,<br />
aber <strong>die</strong> moralische Bedeutung unseres Tuns ist<br />
mehrdeutig, und es gibt keine klaren Hinweise da -<br />
rauf, wie das Gute in der Welt zu erreichen sei. Politik<br />
und Werte sind immer schon miteinander verknüpft,<br />
denn Politik hat es mit moralischen<br />
Werten zu tun, <strong>die</strong> nicht einfach auf materielle In -<br />
teressen reduziert werden können. <strong>Die</strong> Politik operiert<br />
in einem Raum, „der geformt wird von moralischen<br />
Gebräuchen, Gefühlen und<br />
Erwar tungen“, „Vorstellungen von Gut und<br />
Böse“, also von Werten. Eben weil sich <strong>die</strong> Gesellschaft<br />
„durch historisch entstandene ‚Werte’ definiert,<br />
kann keine Gesellschaft – und das gilt auch<br />
für ‚Europa’ oder ‚Österreich’ – darauf verzichten,<br />
‚andere’ auszuschließen, <strong>die</strong> nach anderen ‚Werten’<br />
leben; erst durch <strong>die</strong>se Ausschließung (...) werden<br />
wir zu denen, <strong>die</strong> wir sind. Dadurch entsteht übrigens<br />
<strong>die</strong> explosive Spannung, in der wir leben: der<br />
modernen europäischen Kultur.“<br />
Das Nexus-Institut an der Universität<br />
Tilburg in den Niederlanden organisierte 2004<br />
eine Serie internationaler Kongresse zu europäischen<br />
Werten und ihrer Bedeutung für unsere Zu -<br />
kunft. Einige hundert prominente Philo sophen<br />
und politische Entscheidungsträger nahmen daran<br />
teil, in Den Haag, Warschau, Berlin, Washington<br />
und Rotterdam. In <strong>die</strong>sen Diskussionen wurde<br />
besonderer Wert dar gelegt, zwischen den Werten<br />
und der Politik keinen Graben entstehen zu lassen.<br />
Ich möchte hier nur kurz einige Argumente zitieren,<br />
<strong>die</strong> von den Verteidigern eines Europas als<br />
Wertegemeinschaft vorgebracht wurden, da in<br />
ihren Augen Europa mehr ist als bloß ein Politikund<br />
Wirtschaftsbündnis:<br />
- <strong>Die</strong> meisten universalen Werte sind in Europa<br />
entstanden. europäische Werte sind das Ergebnis<br />
jahrhundertelanger Prozesse, in denen hohe künstlerische<br />
und kulturelle Leistungen und extreme<br />
Ungerechtigkeit und Gewalt miteinander abwechselten.<br />
- Europäer haben sich jedoch immer noch nicht<br />
entschieden, ob sie Europäer aufgrund ihrer Vergangenheit<br />
sind oder wegen ihrer Zukunft. <strong>Die</strong> EU<br />
sieht nicht so aus, als habe sie gemeinsame Werte,<br />
sondern eher wie ein lockerer Club.<br />
- Bei der Suche nach einer europäischen Identität<br />
spielen Werte eine entscheidende Rolle. Das gilt<br />
besonders heute, da viele Menschen ihre Existenz<br />
zunehmend verunsichert sehen durch <strong>die</strong> Globalisierung,<br />
den technologischen Wandel, <strong>die</strong> Ein wan -<br />
derung und einen veränderten „Gesell schafts -<br />
vertrag“.<br />
- Werte als solche sind blasse, abstrakte Begriffe,<br />
und doch sind sie handlungsleitend. Auch <strong>die</strong> formalste<br />
europäische Gesetzgebung beruht auf eindeutigen<br />
Werten. <strong>Die</strong>se müssen bewahrt und auf -<br />
rechterhalten werden gegenüber Gleich gül tigkeit,<br />
Skeptizismus und Egoismus, indem sie klar ausgesprochen<br />
und diskutiert werden.<br />
- <strong>Die</strong> EU ist <strong>die</strong> einzige föderale Konstruktion,<br />
<strong>die</strong> zum Ziel hat, eine Gemeinschaft der Vielfalt zu<br />
werden und nicht eine Nation (weshalb <strong>die</strong> EU von<br />
ihren Nachbarn auch nicht als Bedrohung empfunden<br />
wird). Gleichwohl hat der nach dem Zwei -<br />
ten Weltkrieg eingeführte Zwang zum Kompromiss<br />
dem Kontinent Einfluss und moralische<br />
Au torität verliehen. Europa scheint sich seiner<br />
Macht nicht ausreichend bewusst zu sein, zumin -<br />
dest tut es nicht genug in der Ausübung <strong>die</strong>ser<br />
Macht, obwohl viele Nicht-Europäer gerade da -<br />
rauf ihre Hoffnungen setzen.<br />
Wenn man den Ausdruck „europäi -<br />
sche Werte“ benützt, stellt sich sofort <strong>die</strong> Frage,<br />
was für ein Wertesystem damit gemeint ist. Der<br />
53
54<br />
nie derländische Premier Jan Peter Balkenende hält<br />
<strong>die</strong> Achtung der Menschenrechte und der Menschenwürde,<br />
Freiheit, Gleichheit und Solidarität für<br />
„bindende universale moralische Werte, <strong>die</strong> in unseren<br />
Verträgen festgehalten werden“. Ähnlich formuliert<br />
es auch <strong>die</strong> Entschließung auf dem Kongress des<br />
Nexus-Instituts 2004, „Realising the Idea of<br />
Europe“: „Europa ist geeint in seiner Viel falt. Einheit<br />
in Vielfalt ist ein historisches und ein moralisches<br />
Prinzip. Es bezieht sich auf <strong>die</strong> universalen<br />
Werte, <strong>die</strong> mehr als zweitausend Jahre lang <strong>die</strong><br />
Grundlagen Europas gelegt haben: Achtung der<br />
Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit,<br />
<strong>die</strong> Herrschaft des Rechts und <strong>die</strong> Achtung der Menschenrechte.<br />
Sie sind <strong>die</strong> Grundwerte, <strong>die</strong> eine pluralistische<br />
und tolerante Gesellschaft schützen vor<br />
Absolutismus, Relativismus und Ni hi lismus. <strong>Die</strong>se<br />
Grundwerte sind unantastbar.“<br />
Aber sind „europäische Werte“ lediglich moralische<br />
Werte? Ist <strong>die</strong> Achtung der Menschenwürde<br />
und der Menschenrechte nicht auch ein sozialer<br />
und ein politischer Wert? Sind <strong>die</strong> Menschenrechte<br />
lediglich Grundwerte oder eher Grundrechte?<br />
Sind sie etwas beides gleichzeitig? Ist Freiheit<br />
ein Wert an sich? Oder ist Freiheit womöglich<br />
eine Bedingung, eine konkrete Situation oder,<br />
andererseits, ein Ideal, das wir doch nie vollkommen<br />
verwirklichen? Gibt es wirklich keinen Unterschied<br />
zwischen moralischer, sozialer, politischer,<br />
rechtlicher und persönlicher Freiheit? Was ist<br />
eigentlich gemeint mit der Feststellung, <strong>die</strong>se<br />
„europäischen Werte“ seien universal gültig? Wie<br />
kann man einerseits sagen, <strong>die</strong>se sich verändernden<br />
Werte seien das Ergebnis unserer Geschichte, und<br />
auf der anderen Seite behaupten, sie seien abstrakt<br />
und universal?<br />
Auf all <strong>die</strong>se Fragen und Paradoxa gibt <strong>die</strong> gegenwärtige<br />
Werte-Diskussion keine Antwort.<br />
Darüber hinaus bemerken wir eine Art „missing<br />
link“ zwischen Werten und Normen. Es wird still -<br />
schweigend unterstellt, dass Werte eine moralische<br />
Angelegenheit sind und Normen eine rechtliche.<br />
Dabei wird aber übersehen, dass es nicht nur recht -<br />
liche, sondern auch moralische, politische und kulturelle<br />
Normen gibt. Im Hinblick auf unsere Ausgangsfrage,<br />
ob Europa eine Wertegemeinschaft oder<br />
eine Rechtsordnung sein soll, muss jedoch festgehalten<br />
werden, dass Werte im Unterschied zu rechtlichen<br />
Normen ein „weicherer“ Begriff sind: sie sind<br />
weniger formal, nicht zwingend, ein Sollen, aber<br />
kein obligatorisches Müssen. <strong>Die</strong>sen Verpflichtungscharakter<br />
nehmen Werte erst an, wenn sie tatsächlich<br />
zu Normen werden.<br />
Mit einem Einwand haben <strong>die</strong> Gegner<br />
einer Wertegemeinschaft Europa völlig recht: Werte<br />
können heute zu einem totalitären Zwang entarten,<br />
wenn sie dazu benützt werden, ungesetzliche Diskriminierung<br />
von Menschen, Gruppen oder Staaten zu<br />
legitimieren, wenn sie sich also an <strong>die</strong> Stelle der<br />
Rechtsordnung setzen.<br />
Wir müssen jedoch einen klaren Trennungsstrich<br />
ziehen zwischen dem wesentlichen Kennzeichen<br />
von Werten (dass sie nämlich gerade nicht au to ri -<br />
tär sind) und den Zwecken, für <strong>die</strong> gebraucht wer -<br />
den (dass sie also durch einem autoritären Machtstreben<br />
<strong>die</strong>nstbar gemacht werden). Werte sind<br />
nicht automatisch <strong>die</strong> Maske eines Willens zur<br />
Macht, wie Spaemann und vor ihm schon Nietzsche<br />
behaupten. In christlichen, aber auch in vielen<br />
fernöstlichen Traditionen finden wir eine ganze<br />
Reihe höherer geistiger Werte, <strong>die</strong> nichts mit dem<br />
Streben nach Macht zu tun haben: Mitgefühl,<br />
Selbstlosigkeit, Hilfsbereitschaft, Hingabe, Groß -<br />
zügigkeit. Von Zeit zu Zeit treffen wir sogar auf<br />
Menschen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Werte verwirklichen.<br />
Auch lässt sich <strong>die</strong> Behauptung Michalskis, Werte<br />
lösten immer nur Konflikte aus, nicht aufrechterhalten,<br />
ebensowenig, dass sie unverbindlich und<br />
lediglich identitätsstiftend seien, wie Politiker gern<br />
betonen.<br />
Es kommt immer darauf an herauszufinden,<br />
unter welchen Bedingungen und in welchen Situationen<br />
Werte zu einem Konflikt führen und wo sie<br />
andererseits Brücken bauen zwischen Menschen,<br />
Gruppen und Nationen.<br />
Eine ernste Gefahr sehe ich in den Verlautbarungen<br />
mancher Politiker, wir müssten „unsere Werte<br />
verteidigen“ gegen ihre „Feinde“, z.B. gegen Extremisten.<br />
Es bleibt gefährlich unklar, was konkret<br />
damit gemeint ist, und wir haben den Eindruck,<br />
<strong>die</strong>se Aufforderung ist nur eine neue Form der Rede<br />
vom Kalten Krieg gegen „unsere Feinde“, vor denen<br />
wir uns zu fürchten hätten.<br />
Eine weitere Gefahr liegt darin, dass <strong>die</strong> so oft<br />
zitierten „europäischen Werte“ als exklusive Er run -<br />
genschaften der europäischen Kultur angesehen<br />
werden (wie es Balkenende, Giscard d’Estaing und<br />
andere gern tun). <strong>Die</strong>se Spielart des Eurozentrismus<br />
vergisst, das <strong>die</strong> Achtung der Menschen und ihrer<br />
Würde, aber auch Freiheit, Toleranz und Solidarität<br />
höchste Werte in einigen der ältesten Kulturen der<br />
Welt sind, etwa in In<strong>die</strong>n oder auch in China.<br />
Wie kann also <strong>die</strong> Europäische Union sich als „Pionier<br />
der Werte“ aufspielen, wenn sie ihren eigenen<br />
Bürgern nicht einmal erklären kann, was Werte<br />
sind?<br />
Ich komme zur Ausgangsfrage zurück: Soll Eu ro pa<br />
eine Wertegemeinschaft oder eine Rechtsordnung<br />
sein?<br />
Mir ist, offen gesagt,überhaupt nicht klar, warum<br />
<strong>die</strong> Frage in <strong>die</strong>ser Form gestellt wird, in <strong>die</strong>ser Entweder-oder-Form.<br />
Warum wird sie nicht als<br />
Sowohl-als-auch-Frage formuliert? Erinnert <strong>die</strong><br />
Frage nicht an <strong>die</strong> alte Streitfrage, was zuerst da war,<br />
<strong>die</strong> Henne oder das Ei?<br />
<strong>Die</strong> Gegner einer Wertemeinschaft nehmen an,<br />
dass ein als Wertegemeinschaft konstituierter Staat<br />
allein dadurch ein totalitärer Staat ist, dass er sich als<br />
einen „Beauftragten höherer Werte“ versteht, einer
presse.europapark.de<br />
Weltanschauung, <strong>die</strong> nur aus sehr relativen und<br />
dezisionistischen Wertvorstellungen besteht, und<br />
nicht eine Rechtsordnung verwirklicht. Ich habe<br />
jedoch dargelegt, dass Werte nicht einfach willkürliche<br />
Setzungen sind und außerdem nicht nur oder<br />
immer ein verkleidetes Machtstreben.<br />
Andererseits ist aber auch ein Rechtsstaat nicht<br />
automatisch eine bessere Einrichtung als eine Wertegemeinschaft.<br />
<strong>Die</strong> wirkliche Gefahr liegt (und<br />
insoweit hat Spaemann recht) in der Ersetzung des<br />
Rechtsordnung durch eine Werteordnung. Aber<br />
eine bestehende Rechtsordnung kann auch <strong>die</strong><br />
Form einer Diktatur oder eines Polizeistaats annehmen,<br />
in dem sowohl Grundwerte als auch Grundrechte<br />
dauernd verletzt werden.<br />
Soziale, politische, moralische, kulturelle und per -<br />
sönliche Werte brauchen den Schutz recht li cher<br />
Normen. Aber auch Rechtsnormen brauchen eine<br />
politische und parlamentarische Zustimmung<br />
ebensosehr wie eine Legitimierung durch allgemein<br />
anerkannte Werte. Nicht zuletzt ist eine An er -<br />
kennung durch <strong>die</strong> Öffentlichkeit eine we sent liche<br />
Voraussetzung für Normen und Werte, wenn starke<br />
innere Spannungen vermieden werden sollen.<br />
Es sollte also klar sein, dass Wertegemeinschaft<br />
und Rechtsordnung sich gegenseitig nicht aus -<br />
schließen, dass sie (miteinander verbunden, wie sie<br />
nun einmal sind) nicht gegeneinander ausgespielt<br />
werden sollten, und auch dass <strong>die</strong> Öffentlichkeit<br />
sich stärker in den Debatten über Werte und Normen<br />
en gagieren sollte.<br />
Werte sind der Kern jeder Weltanschauung, jeder<br />
Idee eines menschlichen Wesens, wir finden sie in<br />
religiösen Traditionen und in allem sozialen und<br />
politischen Handeln ebenso wie in Rechtsordnungen.<br />
Man kann Werte nicht mit Gewalt durchsetzen.<br />
Jeder Versuch, sie als neue Ideologie zu missbrauchen<br />
und sie Bürgern, Politikern, dem Bil -<br />
dungssystem, ja dem ganzen Kulturbereich in<br />
Europa aufzuzwingen und dann vielleicht noch<br />
<strong>die</strong>se Ideologie anderen Wertordnungen entgegenzusetzen,<br />
würde zweifellos mehr Schaden an richten<br />
als Nutzen stiften.Wenn <strong>die</strong> Europäische Union ihre<br />
Werte zum Dreh- und Angelpunkt einer „Einheit in<br />
Vielfalt“ machen will, dann sollten <strong>die</strong>se alten Werte<br />
immer wieder neue Inhalte in sich aufnehmen, um<br />
lebendig und zeitgemäß zu bleiben. Gleichzeitig<br />
sollten neue gemeinsame Werte, <strong>die</strong> unserer historischen<br />
Lage angemessen sind, entstehen und im vereinten<br />
Aufbau der Europäischen Gemeinschaft<br />
praktisch werden.<br />
Der Beitrag ist der stark gekürzte Text eines Vortrags der<br />
Verfasserin auf dem Internationalen Kongress „Justice and<br />
Human Values in Europe“, der vom 9. bis 11. 2007 Mai in<br />
Europa, ein Freizeipark: Deutschlands größter Themenpark, Rust bei Freiburg<br />
55
56<br />
Nach der Stu<strong>die</strong> einer Schweizer Unternehmensberatung<br />
vom März <strong>die</strong>ses Jahres liegt der CO 2 -Ausstoß<br />
„der Porsche-Sportwagen” bei 300 Gramm pro<br />
Kilometer ...<br />
... <strong>die</strong>se Aussage ist falsch. Unsere Sportwagen emittieren<br />
im Schnitt nicht mehr als 265 Gramm. Selbst,<br />
wenn Sie <strong>die</strong> Cayenne-Modelle mit einbeziehen,<br />
kommt Porsche auf einen durchschnittlichen CO 2 -<br />
Ausstoß von weniger als 290 Gramm.<br />
Dennoch bleibt ein Flottenwert von knapp 300<br />
Gramm CO 2 sehr hoch. Im Branchenvergleich<br />
nimmt Porsche damit eine Spitzenstellung ein. <strong>Die</strong><br />
Honda-Flotte beispielsweise emittiert nur halb so<br />
viel.<br />
Das mag ja sein. Nur ist <strong>die</strong>se Gegenüberstellung<br />
nicht redlich. Denn Porsche ist ein kleiner Nischenhersteller<br />
und kein Volumenhersteller. Wir bauen<br />
ausschließlich exklusive Sport- und Geländewagen.<br />
Auch <strong>die</strong> großen Automobilkonzerne bieten sportliche<br />
oder geländegängige Fahrzeuge an. Aber bei der<br />
Berechnung des Durchschnittswerts für <strong>die</strong> Gesamtflotte<br />
fallen <strong>die</strong>se Modelle kaum ins Gewicht, weil <strong>die</strong><br />
Hersteller sie mit ihren Millionen Kleinwagen statistisch<br />
verrechnen können. Uns ist das nicht möglich.<br />
Wir bauen zwar flotte Autos, haben aber keine Flotte.<br />
Wäre Porsche nicht unabhängig, sondern wie <strong>die</strong><br />
meisten unserer direkten Wettbewerber Tochtergesellschaft<br />
eines großen Konzerns, würde unser CO 2 -<br />
Wert noch nicht einmal gesondert ausgewiesen werden.<br />
Hier vergleicht man also Äpfel mit Birnen.<br />
Was wäre denn Ihrer Ansicht nach eine sinnvollere<br />
Bewertungsgrundlage?<br />
Wir müssen <strong>die</strong> Marktsegmente einzeln betrachten.<br />
<strong>Die</strong> entscheidende Frage lautet doch, wie viel CO 2<br />
beispielsweise der aktuelle Porsche 911 im direkten<br />
Vergleich mit einem ähnlich leistungsstarken Sportwagen<br />
des Wettbewerbs ausstößt. Und glauben Sie<br />
mir, Sie werden von dem Ergebnis überrascht sein.<br />
Was ihre Umwelteigenschaften betrifft, brauchen<br />
sich <strong>die</strong> Fahrzeuge von Porsche in ihren Segmenten<br />
vor den Produkten der Konkurrenz jedenfalls nicht zu<br />
verstecken, im Gegenteil. Das gilt für den 911 ge -<br />
nauso wie für den Boxster, den Cayman oder den<br />
Cayenne.<br />
Über <strong>die</strong> Freude am Fahren<br />
Nicht ohne mein Auto<br />
<strong>Die</strong> Auto-Industrie, meint der Ex-VW-Vorstand Daniel Goudevaert, „deckt nicht <strong>die</strong> Bedürfnisse der Kundschaft, sondern sie<br />
weckt Bedürfnisse, <strong>die</strong> sie durch das Angebot stillt“, besonders durch das lukrative Angebot klimaschädlicher größerer Wagen.<br />
Toyota hatte den Mut, ein kleines (und nicht gerade schönes) Auto auf den Markt zu bringen. <strong>Die</strong> deutsche Automobilindustrie<br />
aber ist umwelttechnisch nicht mehr Weltspitze, sondern muss jetzt eine Aufholjagd beginnen. <strong>Die</strong> Porsche AG, so ihr<br />
Vorstandsvorsitzender Wiedeking, ist mit dabei.<br />
Interview mit Dr. Wendelin Wiedeking<br />
Sollten <strong>die</strong> Automobilhersteller demnach verpflichtet<br />
werden, vor allem bei ihren Sport-, Gelände- und<br />
Oberklassefahrzeugen <strong>die</strong> CO 2 -Emissionen drastisch<br />
zu senken? Schließlich emittiert ein Kleinwagen<br />
nur etwa halb so viel Kohlendioxid wie beispielsweise<br />
der Porsche Cayenne.<br />
Auf unseren Straßen fahren aber viele Millionen<br />
Klein- und Mittelklassewagen und nur relativ<br />
wenige Cayenne. Das heißt, wenn wir <strong>die</strong> CO 2 -<br />
Emissionen des Pkw-Verkehrs insgesamt wirklich<br />
spürbar reduzieren wollen, dürfen wir uns dabei<br />
nicht allein auf <strong>die</strong> Premium-Segmente beschränken,<br />
sondern müssen auch in den Volumen-Segmenten<br />
ansetzen. Denn aufgrund der hohen Stückzahl<br />
liegt deren Anteil an den Emissionen um ein<br />
Mehrfaches über dem der Premium-Segmente. Alle<br />
heute zugelassenen Porsche-Fahrzeuge zusammen-
genommen tragen beispielsweise weniger als ein<br />
Promille zum CO 2 -Gesamtausstoß in Deutschland<br />
bei. Selbst wenn wir unsere Werke morgen komplett<br />
dichtmachen und alle Porsche-Fahrer aufs Fahrrad<br />
umsteigen würden, hätte <strong>die</strong>s keinerlei messbare<br />
Auswirkungen auf <strong>die</strong> deutsche CO 2 -Bilanz –<br />
geschweige denn auf <strong>die</strong> Entwicklung des globalen<br />
Klimas.<br />
Kann Porsche sich Ihrer Ansicht nach also bequem<br />
zurücklehnen?<br />
Das habe ich damit nicht gesagt. Selbstverständlich<br />
stehen auch wir in der Pflicht, unseren Beitrag zum<br />
Klimaschutz zu leisten, gar keine Frage. Und wir nehmen<br />
unsere Verantwortung für <strong>die</strong> Umwelt sehr<br />
ernst. So hat Porsche in den vergangenen Jahren <strong>die</strong><br />
CO 2 -Emissionen seiner Fahrzeuge im Durchschnitt<br />
immerhin um jährlich 1,7 Prozent gesenkt. Das ist ein<br />
Spitzenwert in der Autoindustrie. Und der aktuelle<br />
Cayenne verbraucht bis zu 15 Prozent weniger Kraftstoff<br />
als <strong>die</strong> Vorgängergeneration.<br />
Trotzdem emittiert ein Cayenne nach wie vor rund<br />
doppelt soviel CO 2 wie ein Kleinwagen.<br />
Wir können <strong>die</strong> Gesetze der Physik nicht einfach<br />
aushebeln. Es ist nicht möglich, einen Geländewagen<br />
auf das CO 2 -Niveau eines Kleinwagens zu bringen.<br />
Doch auf <strong>die</strong> Leistung bezogen, beim CO 2 -<br />
Ausstoß pro PS, sind unsere Fahrzeuge schon heute<br />
deutlich besser als jeder Kleinwagen. Und wir arbeiten<br />
daran, unsere Motoren in Zukunft noch effizienter<br />
zu machen. Übrigens: <strong>Die</strong> neuen Technologien<br />
zur Verbrauchsminderung, <strong>die</strong> wir und andere<br />
Premium-Hersteller in unseren Fahrzeugen einsetzen,<br />
kommen häufig später auch in den Volumensegmenten<br />
zum Einsatz. Von der Bereitschaft unserer<br />
Kunden, den Mehrpreis für teure Innovationen<br />
zu bezahlen, profitiert am Ende auch der Kleinwagen-Käufer.<br />
Kein Porsche-Fahrer braucht also im<br />
Büßergewand herumlaufen.<br />
Dennoch hat man bisweilen den Eindruck, <strong>die</strong> deutschen<br />
Autobauer litten allgemein unter einem „PS-<br />
Größenwahn”.<br />
Ich habe <strong>die</strong>sen Eindruck nicht. Richtig ist, dass<br />
<strong>die</strong> deutsche Automobilindustrie vor allem in den<br />
Premium-Segmenten international sehr erfolgreich<br />
ist – also mit technisch innovativen, leistungsstarken<br />
und gut ausgestatteten Fahrzeugen. Das ist nun<br />
einmal ihre Stärke. Und wenn wir nicht Gefahr laufen<br />
wollen, hierzulande in großem Ausmaß industrielle<br />
Arbeitsplätze zu verlieren, tun wir gut daran,<br />
<strong>die</strong>se Stärke weiterhin zu nutzen.<br />
Hat Toyota denn nicht schon vor einiger Zeit seinen<br />
Konkurrenten, auch in Europa, vorgemacht, dass es<br />
auch anders geht?<br />
Bei aller Wertschätzung für <strong>die</strong> Kollegen von Toyota<br />
– aber der CO 2 -Ausstoß der europäischen Toyota-<br />
Flotte liegt immer noch über dem Wert von Volkswagen.<br />
Auch <strong>die</strong> Japaner bauen schließlich Geländeund<br />
Sportwagen. Leider werden solche Fakten in der<br />
emotional aufgeheizten Klimadebatte gerne übersehen.<br />
Bei uns haben sogar einige Volksvertreter dazu<br />
aufgerufen, <strong>die</strong> Produkte heimischer Hersteller zu<br />
boykottieren und stattdessen japanische Fahrzeuge zu<br />
kaufen. In Frankreich oder Japan wäre so etwas<br />
undenkbar.<br />
Kann <strong>die</strong> Automobilbranche ihr für nächstes Jahr<br />
selbstgesetztes Ziel von 140 Gramm CO 2 -Ausstoß<br />
pro Fahrkilometer überhaupt noch erreichen?<br />
<strong>Die</strong>se Zielsetzung ist sehr ehrgeizig. Doch wenn<br />
sämtliche Unternehmen mitziehen und genauso<br />
konsequent an der Reduzierung ihrer Flottenwerte<br />
arbeiten wie Porsche, dürften <strong>die</strong> europäische Automobilindustrie<br />
<strong>die</strong>ser Vorgabe zumindest ein gutes<br />
Stück näher kommen. Wichtig ist nur, dass der<br />
CO 2 -Austoß im Mittelklasse- und Kleinwagensegment<br />
prozentual gesehen ebenso stark gesenkt wird<br />
wie in der Oberklasse. Ich bin davon überzeugt, dass<br />
<strong>die</strong> europäischen Hersteller noch eine ganze Reihe<br />
technischer Neuerungen zur Verbrauchsminderung<br />
in der Hinterhand haben, <strong>die</strong> im Verlauf der kommenden<br />
zwölf Monate in den Serieneinsatz gehen<br />
werden. Am 31. Dezember 2008 wird Bilanz gezogen,<br />
dann wissen wir mehr.<br />
2012 soll der CO 2 -Ausstoß der europäische Automobilindustrie<br />
auf durchschnittlich 130 Gramm<br />
begrenzt werden. Müssen wir bis dahin mit dem<br />
hohen Ausstoß leben?<br />
Dazu sollte man zunächst wissen, dass der Pkw-<br />
Verkehr am gesamten Kohlendioxid-Ausstoß in<br />
Deutschland nur mit weniger als zwölf Prozent<br />
beteiligt ist. Der Anteil, den unsere Kraftwerke beisteuern,<br />
liegt zum Beispiel gut dreieinhalb mal so<br />
hoch, bei 43 Prozent. Sogar <strong>die</strong> privaten Haushalte<br />
tragen mit einem Anteil von 14 Prozent stärker zu<br />
den CO 2 -Emissionen bei als der Pkw-Verkehr. <strong>Die</strong><br />
Vorstellung, dass <strong>die</strong> europäische Automobilindustrie<br />
den Anstieg des vom Menschen verursachten<br />
Kohlendioxids in der Erdatmosphäre im Alleingang<br />
stoppen könnte, ist vor <strong>die</strong>sem Hintergrund doch<br />
geradezu absurd – erst recht, wenn man bedenkt,<br />
dass beispielsweise in China jede Woche ein neues<br />
Kohlekraftwerk in Betrieb geht. Wir haben es hier<br />
mit einem weltweiten Problem zu tun. Und das lässt<br />
sich eben nur global unter Einbeziehung sämtlicher<br />
Ursachen lösen.<br />
Eine <strong>die</strong>ser Ursachen ist und bleibt aber das Automobil<br />
– jedenfalls, solange es von einem Motor angetrieben<br />
wird, der Kraftstoffe auf fossiler Basis verbrennt.<br />
Das ist unbestritten. Und natürlich werden <strong>die</strong><br />
Hersteller viel Geld in ihre Entwicklung investieren,<br />
um gemeinsam bis 2012 den Zielwert von 130<br />
Gramm zu erreichen. Das geht allerdings nicht über<br />
Nacht und ist auch nicht allein mit Fortschritten im<br />
Bereich der Fahrzeugtechnik realisierbar. <strong>Die</strong> EU-<br />
Kommission hat nicht ohne Grund vorgeschlagen,<br />
dass ein Teil der angestrebten Reduktion, nämlich<br />
zehn Gramm, mit anderen Maßnahmen erreicht<br />
57
58<br />
werden soll, um insgesamt sogar auf einen Wert von<br />
120 Gramm zu kommen.<br />
Das klingt ambitioniert. Und an welche Maßnahmen<br />
wurde da gedacht?<br />
Dazu zählen beispielsweise Reifen mit geringerem<br />
Rollwiderstand und der verstärkte Einsatz von Biokraftstoffen.<br />
Auch im Straßenbau kann noch viel<br />
getan werden – sei es durch <strong>die</strong> Verwendung von Belägen,<br />
<strong>die</strong> den Kraftstoffverbrauch mindern, sei es<br />
durch den Einsatz von intelligenten Leitsystemen, <strong>die</strong><br />
den Verkehr entzerren und Staus vermeiden helfen.<br />
Und jeder Einzelne hat natürlich auch durch sein<br />
individuelles Fahrverhalten einen erheblichen Einfluss<br />
darauf, wie viel Kohlendioxid sein Fahrzeug in<br />
der Praxis emittiert.<br />
Warum wurde eigentlich, dass das Drei-Liter Auto<br />
„vom Markt nicht angenommen”? Ist da etwa das<br />
Vertrauen ins eigene Marketing geschwunden?<br />
<strong>Die</strong> Nachfrage nach solchen Modellen war seinerzeit<br />
nicht so stark gewesen, dass es sich betriebswirtschaftlich<br />
gerechnet hätte, sie weiter anzubieten. <strong>Die</strong><br />
Zeit war einfach noch nicht reif dafür. Das könnte<br />
heute anders sein.<br />
Wir wissen relativ verlässlich, dass <strong>die</strong> Erdölreserven<br />
nicht nur begrenzt sind, sondern dass wir einem<br />
Fördermaximum entgegengehen. Wann wird es nach<br />
Ihren Informationen erreicht sein?<br />
Dazu gibt es eine Reihe unterschiedlicher Prognosen,<br />
<strong>die</strong> dazu auch noch nahezu jährlich korrigiert<br />
werden – in aller Regel übrigens nach oben. Allerdings<br />
scheint <strong>die</strong> Erschließung neuer Vorkommen<br />
in bestimmten Bereichen der Erdölförderung offenbar<br />
recht kompliziert und teuer zu sein. In jedem<br />
Fall müssen sich <strong>die</strong> Autofahrer darauf einstellen,<br />
dass <strong>die</strong> Preise für fossile Brennstoffe aufgrund der<br />
weltweit zunehmenden Nachfrage weiter steigen<br />
werden.<br />
Kann der dann ziemlich sicher eintretende Rückgang<br />
der Erdölförderung und damit der Benzinproduktion<br />
allein durch den Einsatz sparsamerer Motoren<br />
oder Fahrweisen aufgefangen werden?<br />
Wahrscheinlich nur zu einem Teil. Ein wichtiger<br />
Effekt wird aber sein, dass wir damit das Erdölzeitalter<br />
verlängern können, was uns mehr Zeit für <strong>die</strong><br />
Suche nach Alternativen gibt. Wir sprechen hier von<br />
Zeiträumen, <strong>die</strong> in der Fahrzeugentwicklung eine<br />
halbe Ewigkeit sind. Gerade im Bereich der Motorentechnik<br />
sehe ich ein großes Entwicklungspotenzial,<br />
das noch lange nicht ausgeschöpft ist. Interessant<br />
ist in <strong>die</strong>sem Zusammenhang auch ein<br />
Rückblick: Seit 1990 hat das Verkehrsaufkommen<br />
in Deutschland einschließlich des Lkw-Verkehrs<br />
um immerhin 60 Prozent zugenommen. Trotzdem<br />
ist der jährliche Gesamtverbrauch von Benzin- und<br />
<strong>Die</strong>sel-Kraftstoff allein in den vergangenen sechs<br />
Jahren von knapp 42 Millionen Tonnen um etwa<br />
acht Prozent auf rund 38 Millionen Tonnen gesunken.<br />
Wir sind also bereits auf dem richtigen Weg.<br />
Könnte das möglicherweise künftig zurückgehende<br />
Benzin-An gebot durch Ersatz-Kraftstoffe wie Bio-<br />
Ethanol ausgeglichen werden?<br />
Bio-Ethanol ist schon heute eine sehr interessante<br />
Option – nicht zuletzt auch deshalb, weil es unter<br />
bestimmten Produktionsbedingungen weitgehend<br />
CO 2 -neutral sein kann. <strong>Die</strong> Sportwagen-Modelle<br />
von Porsche vertragen bereits Kraftstoffe, denen zehn<br />
Prozent Bio-Ethanol beigemischt wurden. Der aktuelle<br />
Cayenne verträgt sogar bis zu 25 Prozent Beimischung.<br />
Und wir arbeiten derzeit an neuen Motoren,<br />
<strong>die</strong> künftig sogar mit Kraftstoff betrieben werden<br />
können, der einen Ethanol-Anteil von bis zu 80 Prozent<br />
hat. Bisher stehen Kraftstoffe mit Bio-Ethanol<br />
leider noch nicht flächendeckend zur Verfügung. Da<br />
gibt es für <strong>die</strong> Kraftstoffindustrie und für <strong>die</strong> Erzeuger<br />
der notwendigen Biomasse noch einiges zu tun.<br />
Und welche Chancen sehen Sie für synthetische<br />
Kraftstoffe?<br />
<strong>Die</strong> Entwicklung synthetischer Kraftstoffe macht<br />
durchaus Fortschritte. Und das ist auch gut so. Denn<br />
im Gegensatz zur Herstellung herkömmlicher Biokraftstoffe<br />
aus Samen oder Früchten kann beim Syntheseprozess<br />
<strong>die</strong> ganze Pflanze als Lieferant von Bio-<br />
Masse genutzt werden. <strong>Die</strong>ses Verfahren führt zu<br />
einer erheblichen Verbesserung der Ökobilanz und<br />
kann der Umwelt tatsächlich einen großen Nutzen<br />
bringen. Noch ist allerdings nicht absehbar, wann<br />
synthetische Kraftstoffe in größeren Mengen und zu<br />
vertretbaren Kosten zur Verfügung stehen werden.<br />
Im Rahmen einer Innovationsallianz der deutschen<br />
Industrie unter Federführung des Bundesministeriums<br />
für Bildung und Forschung wird derzeit am Aufbau<br />
einer <strong>ersten</strong> großtechnischen Anlage in Deutschland<br />
gearbeitet, <strong>die</strong> voraussichtlich im Jahr 2012 in<br />
Betrieb gehen könnte.<br />
Von alternativen Antrieben wie dem Hybrid-Motor<br />
ist in Deutschland sehr verhalten <strong>die</strong> Rede. Toyota<br />
konnte dagegen bereits rund eine Million Hybrid-<br />
Fahrzeuge absetzen. Haben <strong>die</strong> deutschen Hersteller<br />
den Trend verschlafen?<br />
Das sehe ich nicht so. <strong>Die</strong> deutschen Hersteller<br />
haben einfach andere Strategien verfolgt; zum Beispiel<br />
mit der <strong>Die</strong>seltechnologie, und zwar mit<br />
Erfolg. Wir sollten auch nicht vergessen, dass Toyota<br />
jährlich insgesamt rund neun Millionen Fahrzeuge<br />
absetzt. Da nehmen sich eine Million Hybridfahrzeuge<br />
auf zehn Jahre verteilt immer noch sehr<br />
bescheiden aus.<br />
Langsam scheint der Hybrid-Zug jedoch Fahrt aufzunehmen.<br />
Werden <strong>die</strong> deutschen Hersteller es schaffen,<br />
rechtzeitig aufzuspringen?<br />
Klar, derzeit hat der Hybrid Hochkonjunktur.<br />
Aber eigentlich ist er ja nichts Neues. Der erste<br />
Hybrid-Antrieb wurde bereits vor mehr als einem<br />
Jahrhundert entwickelt – übrigens von Professor<br />
Ferdinand Porsche. Und moderne Hybrid-Prototypen<br />
gab es in Deutschland schon in den 80er Jahren.<br />
Keine Frage: Toyota hat sich auf <strong>die</strong>sem Gebiet
einen Vorsprung erarbeitet. Aber wir Deutschen<br />
haben längst <strong>die</strong> Verfolgung aufgenommen und<br />
holen inzwischen auf.<br />
Ist auch Porsche an <strong>die</strong>ser Verfolgungsjagd beteiligt?<br />
Ja, auf jeden Fall. Noch vor Ende <strong>die</strong>ses Jahrzehnts<br />
werden wir eine eigenständige, innovative Hybrid-<br />
Lösung anbieten. Und soviel steht schon fest: Der<br />
Cayenne wird mit Hybrid-Antrieb bis zu 30 Prozent<br />
weniger Kraftstoff verbrauchen als <strong>die</strong> aktuelle<br />
Modellgeneration. Im Klartext: Bei der Verbrauchsangabe<br />
wird eine Acht vor dem Komma stehen.<br />
Auch unsere künftig vierte Baureihe, der Panamera,<br />
wird für den Hybrid-Antrieb ausgelegt sein.<br />
Wie einsatzfähig ist <strong>die</strong> Technologie des Wasserstoffbzw.<br />
des Brennstoffzellen-Motors? Angeblich gibt es<br />
bei uns schon seit etwa 20 Jahren ein solches Automobilprojekt.<br />
Pilotprojekte gibt es in <strong>die</strong>sem Bereich schon viele.<br />
Aber <strong>die</strong> vielfältigen Probleme, <strong>die</strong> im Zusammenhang<br />
mit <strong>die</strong>sen neuen Technologien auftreten, sind<br />
noch lange nicht zufriedenstellend gelöst. Dazu<br />
gehört unter anderem <strong>die</strong> entscheidende Frage, wie<br />
regenerativer Wasserstoff in ausreichender Menge<br />
bereitgestellt werden kann. Und am Ende muss auch<br />
der Kostenaufwand in einem vernünftigen Verhältnis<br />
zum Nutzen stehen. Denn eine aufwändige<br />
High-Tech-Lösung anzubieten, <strong>die</strong> sich niemand<br />
leisten kann, weil sie viel zu teuer ist, hilft ja niemandem<br />
weiter.<br />
Gibt es eigentlich ein Menschenrecht auf Mobilität?<br />
Auf jeden Fall ist das Streben nach Mobilität seit<br />
jeher ein menschliches Grundbedürfnis. Daraus<br />
gleich ein Menschenrecht abzuleiten, ginge vielleicht<br />
etwas zu weit. Doch über eines müssen wir uns<br />
im Klaren sein: Eine freie, moderne und global wettbewerbsfähige<br />
Industriegesellschaft wird ohne ein<br />
hohes Maß an individueller Mobilität einfach nicht<br />
funktionieren und sich positiv weiter entwickeln<br />
können.<br />
Das heißt, wir sollten so weitermachen wie bisher?<br />
Nein. Selbstverständlich müssen wir intensiv über<br />
<strong>die</strong> umweltverträgliche Gestaltung von Mobilität<br />
nachdenken. Da zu gehört beispielsweise, für eine<br />
effizientere Allokation von Menschen und Gütern<br />
auf <strong>die</strong> verschiedenen Verkehrsträger zu sorgen.<br />
Dazu gehört auch, <strong>die</strong> Erforschung und Entwicklung<br />
neuer Technologien konsequent voranzutreiben.<br />
Doch unsere Mobilität grundsätzlich infragezustellen,<br />
hieße, das Rad der Geschichte um<br />
mindestens hundert Jahre zurückzudrehen. Dann<br />
wäre unser Land aber nicht mehr wettbewerbsfähig<br />
– ganz zu schweigen von den immens hohen sozialen<br />
Kosten, <strong>die</strong> damit verbunden wären. Wollen wir<br />
aus Deutschland tatsächlich einen beschaulichen<br />
Freizeitpark zur Erbauung asiatischer Touristen<br />
machen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass <strong>die</strong> Bürger<br />
von <strong>die</strong>ser Zu kunftsperspektive allzu begeistert<br />
wären.<br />
Anzeige<br />
Heuchelberg<br />
59
Szenario 1<br />
Technik<br />
<strong>Die</strong> Gesellschaft ist von einer großen Offenheit<br />
gegenüber neuen Technologien geprägt. <strong>Die</strong> In -<br />
vestitionsbereitschaft von Unternehmen in neue<br />
Technologien hat aufgrund der Haftungsübernahme<br />
für Großrisiken durch den Staat erheblich<br />
zugenommen.<br />
Auch <strong>die</strong> klar definierte Rolle von Regulierern, <strong>die</strong><br />
das Angebot von Verkehrs-, Energie- und Telekommunikationsleistungen<br />
überwachen, ermöglicht ein<br />
Preisgefüge, das den technologischen Fortschritt<br />
fördert.<br />
Auf dem Gebiet der mobilen Breitbandtechnik ist<br />
es gelungen, attraktive Mobilfunk<strong>die</strong>nste für Un -<br />
ternehmen und Endverbraucher auf den Markt zu<br />
bringen. <strong>Die</strong> zunehmende Bedeutung der elektronischen<br />
Unterhaltung hat dazu geführt, dass für eine<br />
Reihe von Menschen – insbesondere Jugendliche –<br />
virtuelle Welten eine wichtige Rolle spielen. Zum<br />
Teil schottet man sich dadurch von der realen<br />
Außenwelt ab, vor allem, wenn das tägliche Leben<br />
nur wenig sinnhaft erscheint. Damit ist das Internet<br />
allgegenwärtig geworden, was sowohl der elektronischen<br />
Unterhaltung als auch dem elektronischen<br />
Handel einen enormen Aufschwung verliehen hat.<br />
Der stationäre Handel hat sich aufgrund seiner<br />
Logistikerfahrung und großer Investitionen in<br />
Logistiksysteme gegenüber dem E-Commerce<br />
behaupten können, so dass der überwiegende Teil<br />
der im Versorgungshandel getätigten Transaktionen<br />
weiterhin über den stationären Handel erfolgt.<br />
Automatische Übersetzungssysteme haben sich in<br />
der Breite durchgesetzt und dazu geführt, dass auch<br />
regionale Sprachen wie Katalan oder Ladinisch<br />
erhalten bleiben, obwohl Englisch <strong>die</strong> dominante<br />
Sprache in der internationalen Kommunikation<br />
geworden ist.<br />
Gegenüber dem Ubiquitous Computing bestehen<br />
weiterhin große Vorbehalte, da <strong>die</strong> Bürger ihre Privatsphäre<br />
nicht ausreichend geschützt sehen. <strong>Die</strong><br />
erhöhten Anforderungen für den Schutz der Privatsphäre<br />
machen es nicht wirtschaftlich, Alltagsgegenstände<br />
generell zu vernetzen. Der Kampf gegen Terrorismus<br />
sowie das zunehmende Bedürfnis nach<br />
Sicherheit haben jedoch zu einer weit verbreiteten<br />
DOKUMENTATION (ZWEITERTEIL)<br />
Wie wollen wir 2020 leben?<br />
Infratest hat für <strong>die</strong> Siemens AG im Jahr 2004 zwei Zukunftsvisionen vorgelegt (Horizons 2020. Ein Szenario als Denkanstoß für <strong>die</strong><br />
Zukunft). Europaweit wurden 671 Experten angeschrieben, 161 von ihnen nahmen an der Be fragung teil. Szenario 1 geht dabei<br />
von einem starken Sozialstaat aus, während das Szenario 2 durch eine Dominanz des freien Spiels der Kräfte und den Rückzug des<br />
Staates gekennzeichnet ist. In der GAZETTE Herbst 2007 brachten wir eine Gegenüberstellung der Abschnitte „Politik“, „Wirtschaft“<br />
und „Umwelt“. Heute und abschließend stellen wir <strong>die</strong> Abschnitte Abschnitte „Technik“ und „Gesellschaftliche Werte“ vor.<br />
Szenario 2<br />
Technik<br />
<strong>Die</strong> Gesellschaft ist geprägt durch eine große<br />
Offenheit gegenüber neuen Technologien. Dabei<br />
haben sich vor allem <strong>die</strong>jenigen Technologien<br />
durchgesetzt, <strong>die</strong> einen kurzfristigen Markterfolg<br />
versprechen.<br />
Technologien, <strong>die</strong> hohe Anlaufinvestitionen erfordern<br />
oder lange Entwicklungszeiten benötigen,<br />
haben sich nur in geringem Maße durchsetzen können.<br />
So hat <strong>die</strong> Brennstoffzelle nach wie vor den<br />
erwarteten Durchbruch nicht erzielt; lediglich in<br />
der stationären Anwendung sind einzelne, oftmals<br />
subventionierte Brennstoffzellen im Einsatz.<br />
Anders verhält es sich auf dem Gebiet der Kernenergie.<br />
<strong>Die</strong> kostengünstige Stromerzeugung aus<br />
Kernenergie und <strong>die</strong> technologische Entwicklung<br />
von inhärent sichereren Kernkraftwerken sowie <strong>die</strong><br />
europaweiten Anstrengungen zur Verringerung des<br />
CO 2 -Ausstoßes haben zu einer Revitalisierung der<br />
Kernenergie geführt. Dabei war das Zusammenwachsen<br />
des europäischen Marktes von großer<br />
Bedeutung. Es konnten Standorte sowohl für Kernkraftwerke<br />
als auch für Endlager in Regionen gefunden<br />
werden, in welchen ansonsten nicht investiert<br />
wird und wo eine geringere Sensibilität gegenüber<br />
<strong>die</strong>ser Technologie vorherrscht als im Ballungsraum.<br />
Große Verbundnetze führen zu einem ausreichenden<br />
Stromangebot für ganz Europa. Somit<br />
kann der steigende Energiebedarf in einer zunehmend<br />
technisierten Gesellschaft zu angemessenen<br />
Preisen gedeckt werden.<br />
<strong>Die</strong> Entwicklung der Kommunikationstechnik<br />
hat den größten Einfluss auf <strong>die</strong> Veränderung des<br />
täglichen Lebens. E-Commerce ist zu einem der<br />
wichtigsten Vertriebskanäle geworden. Der elektronische<br />
Einkauf von Waren und <strong>Die</strong>nstleistungen,<br />
das Bezahlen, aber auch <strong>die</strong> logistische Disposition<br />
sind zur Selbstverständlichkeit im Versorgungshandel<br />
geworden. Im Erlebnishandel ergänzen sich E-<br />
Commerce und stationärer Handel sehr vorteilhaft.<br />
Intelligente, autonome Systeme erfüllen eine<br />
ganze Reihe von Aufgaben im privaten Haushalt<br />
und im Arbeitsleben, wie z. B. <strong>die</strong> Disposition von<br />
Verbrauchsartikeln oder automatische Sicherheitsvorkehrungen.<br />
Da Sicherheit nicht mehr vom Staat<br />
61
62<br />
(Szenario 1) (Szenario 2)<br />
Akzeptanz gegenüber neuen Technologien zur<br />
Über wachung und Personenidentifizierung ge -<br />
führt.<br />
<strong>Die</strong> staatliche Technologieförderung und der<br />
Bedarf an immenser Rechenleistung im Sicherheitsbereich<br />
haben dem Quantencomputer zum Durchbruch<br />
verhelfen. Damit eröffnen sich für <strong>die</strong> Wirtschaft<br />
völlig neue Möglichkeiten, <strong>die</strong> paralleles<br />
Rechnen bereits zur Selbstverständlichkeit gemacht<br />
haben.<br />
<strong>Die</strong> Politik hat dafür gesorgt, dass zentralverwaltete<br />
Netze nach wie vor dominieren. So soll einerseits<br />
eine landesweite vollständige Netzabdeckung<br />
ermöglicht werden, auf der anderen Seite soll aber<br />
aus Sicherheitsgründen – um Kriminelle und (po -<br />
tentielle) Terroristen leichter abhören sowie Hacker<br />
verfolgen zu können – eine staatliche Kontrolle über<br />
<strong>die</strong>se möglich sein.<br />
Der hohe Stellenwert elektronischer Kommunikation<br />
und Me<strong>die</strong>n sowie <strong>die</strong> staatliche Förderung der<br />
Kommunikationstechnologie haben den Digital<br />
Divide verhindert. <strong>Die</strong>s wurde maßgeblich durch<br />
<strong>die</strong> Chancengleichheit im Bildungswesen und den<br />
Zugang für jeden Bürger zu den verschiedenen Bildungsinstitutionen<br />
erreicht. <strong>Die</strong> neuen Technologien<br />
werden damit von der Masse der Menschen<br />
genutzt, jedoch stehen den privaten Haushalten<br />
dafür nur begrenzte Budgets zur Verfügung.<br />
Intelligente autonome Systeme haben sich nur in<br />
Unternehmen zur Prognose von Finanzdaten, An -<br />
lagenoptimierung, aber auch zur Verkehrsflussoptimierung<br />
durchsetzen können. Bei den privaten<br />
Haushalten ist bislang kein Durchbruch erreicht<br />
worden, was unter anderem an dem gesunkenen frei<br />
verfügbaren Einkommen liegt. Im Bereich der Le -<br />
bens mitteltechnologie hat der Staat durch ent -<br />
sprechende Gesetze und Auflagen sowie eine Kenn -<br />
zeichungspflicht für gentechnisch modifizierte<br />
Nahrungsmittel dafür gesorgt, dass es auch weiterhin<br />
gentechnikfreie Nahrungsmittel gibt.Trotzdem<br />
haben sich genetisch modifizierte Nahrungsmittel<br />
schleichend durchgesetzt. Ökologisch orientierte<br />
Verbraucher sind allerdings nach wie vor äußerst<br />
skeptisch.<br />
Ein großer politischer Erfolg war <strong>die</strong> europäische<br />
Einigung auf eine einheitliche Gesetzgebung und<br />
<strong>die</strong> Klärung der ethischen Zulässigkeit der Anwendung<br />
der Gentechnik. <strong>Die</strong>s verschafft der Industrie<br />
Rechtssicherheit und sichert einheitliche Rahmen -<br />
bedingungen in ganz Europa. Bislang ist es allerdings<br />
nicht gelungen, <strong>die</strong>se europäischen Grundsätze<br />
auch außerhalb Europas zu verankern. Sowohl<br />
<strong>die</strong> USA als auch verschiedene asiatische Länder<br />
haben nicht nur in der grünen Gentechnik (Landwirtschaft),<br />
sondern auch in der roten (Medizin)<br />
und der grauen Gentechnik (Mikrobiologie, Um -<br />
weltschutztechnik) Wettbewerbsvorsprünge er -<br />
reicht, da dort keine gesetzlichen Beschränkungen<br />
bestehen. Eine Reihe internationaler Konzerne<br />
fährt heute eine zweigleisige Strategie: Einerseits<br />
garantiert werden kann, steigt <strong>die</strong> Nachfrage von<br />
Privatpersonen nach neuen Technologien der Überwachung<br />
und Personenidentifizierung. Sicherheit<br />
ist damit zu einem relevanten Markt geworden.<br />
Im Bereich des Mobilfunks ist es gelungen, attraktive<br />
<strong>Die</strong>nste für Unternehmen und Endverbraucher<br />
mit der mobilen Breitbandtechnik auf den Markt zu<br />
bringen.<br />
Ubiquitous Communication ist zur Regel geworden.<br />
Zahlreiche Gegenstände des täglichen Lebens<br />
und der Arbeitswelt sind intelligent und vernetzt.<br />
Insbesondere in der Logistik werden Informationen<br />
über Ort und Zustand von Gütern genutzt, um Produktionsqualität<br />
und Lieferprozesse zu überwachen<br />
und den Kundenservice zu erhöhen.<br />
<strong>Die</strong> Nutzungsart, aber auch <strong>die</strong> grundsätzliche<br />
Zugangsmöglichkeit zu elektronischen Kommunikationsmitteln<br />
trennen Weltbürger, Informierte,<br />
Berufstätige und mit guten Startchancen ausgestattete<br />
Jugendliche von demjenigen Teil der Bevölkerung,<br />
der keinen Zugang zu derlei Angeboten hat,<br />
was einen Digital Divide innerhalb der Gesellschaft<br />
zur Folge hat.<br />
Nicht durchsetzen konnten sich automatische<br />
Übersetzungssysteme, da <strong>die</strong> Dominanz des Englischen<br />
als Weltsprache dazu geführt hat, dass ein<br />
Großteil der Menschen direkt miteinander kommuniziert.<br />
Ebenso hat der Quantencomputer noch keinen<br />
Durchbruch erzielen können.<br />
Ein entscheidender Durchbruch bei der elektronischen<br />
Kommunikation wurde mit dem Supranet als<br />
dem Netz der Zukunft erzielt. Endgeräte <strong>die</strong>nen in<br />
<strong>die</strong>sen sich selbst organisierenden Netzen als Netzknoten.<br />
Datenaustausch und Telefonate finden<br />
ihren Weg von Endgerät zu Endgerät ohne <strong>die</strong> Nutzung<br />
zentralverwalteter Netze. <strong>Die</strong>s hat <strong>die</strong> Kommunikations-<br />
und Informationskosten maßgeblich<br />
minimiert und <strong>die</strong> Transfermenge von Information<br />
und Kommunikation erheblich erhöht.<br />
Technologische Fortschritte in der Nahrungsmittelindustrie<br />
haben zur Zunahme gentechnisch mo -<br />
difizierter Nahrungsmittel geführt. Sie sind entsprechend<br />
gekennzeichnet und haben sich nicht zuletzt<br />
aufgrund günstiger Preise in der Breite durchsetzen<br />
können.<br />
Hinsichtlich der Gentechnik generell ist es in<br />
Europa nicht gelungen, eine einheitliche Vorstellung<br />
darüber zu erlangen, was ethisch und juristisch<br />
vertretbar ist und was nicht, so dass auf <strong>die</strong>sem<br />
Gebiet ein intensiver Standortwettbewerb zwischen<br />
den verschiedenen Regionen Europas entstanden<br />
ist. Dadurch konnten vor allem Kleinstaaten wie<br />
Estland oder Island mit einer lockeren Gesetzgebung<br />
Standortvorteile erzielen.<br />
Wesentliche Fortschritte zur Nutzung menschlicher<br />
bzw. tierischer Bestandteile sind patentiert<br />
worden, wodurch Unternehmen <strong>die</strong> Rechte an<br />
bestimmten Therapien und Eingriffsmöglichkeiten<br />
erworben haben. Da <strong>die</strong>se Unternehmen selbst
(Szenario 1) (Szenario 2)<br />
werden Produkte nach europäischen Richtlinien<br />
hergestellt, welche aufgrund hoher Qualitätsstandards<br />
auch außerhalb Europas abgesetzt werden<br />
können.<br />
Andererseits werden auch solche Produkte produziert,<br />
welche <strong>die</strong> relativ strengen europäischen Vorschriften<br />
nicht berücksichtigen und daher nur<br />
außerhalb Europas hergestellt und angeboten werden<br />
können.<br />
Anwendungsgebiete der Gentechnik im Bereich<br />
menschlichen oder tierischen Lebens wurden in<br />
Europa aufgrund gemeinsamer ethischer Grundvorstellungen<br />
sehr restriktiv gehandhabt, so dass für<br />
Erfindungen auf <strong>die</strong>sem Gebiet kein Patentschutz<br />
erteilt wurde. Daraus haben sich zahlreiche internationale<br />
Konflikte entwickelt.<br />
Gesellschaftliche Werte<br />
<strong>Die</strong> Gesellschaft orientiert sich an traditionellkonservativen<br />
Werten. Gesellschaftliche Verantwortung,<br />
Toleranz sowie klare Moralvorstellungen<br />
kennzeichnen das Zusammenleben. Jeder ist für<br />
sich und seine Umgebung, sein eigenes Leben, seine<br />
Entwicklung sowie sein Tun verantwortlich. Sowohl<br />
Unternehmen und Organisationen als auch jeder<br />
Einzelne werden an Werten wie Fairness, Rücksicht<br />
sowie Verantwortungsbewusstsein gemessen. <strong>Die</strong>s<br />
geht einher mit einer großen Bedeutung des Berufs<br />
und des lebenslangen Lernens, was für <strong>die</strong> ge sell -<br />
schaftliche Stellung als wichtig erachtet wird.<br />
Konsum als Statusmerkmal hat heute kaum mehr<br />
eine Bedeutung. Alle Schichten, ob arm oder reich,<br />
kaufen preisgünstig ein, wodurch <strong>die</strong> Bedeutung der<br />
Discounter weiter zugenommen hat.<br />
Sicherheit hat sich in den vergangenen 15 Jahren<br />
zu einem neuen Wert in der Gesellschaft entwickelt.<br />
Da es dem Staat gelungen ist, <strong>die</strong> Sicherheit der Bürger<br />
weitgehend zu gewährleisten, stoßen Kontrollen<br />
zur Erhöhung der Sicherheit auf eine breite Akzeptanz.<br />
Trotzdem haben der Schutz der Privatsphäre<br />
und damit auch der Datenschutz einen ho hen Stellenwert.<br />
Jegliche Form der Über wachung, <strong>die</strong> hierauf<br />
keine Rücksicht nimmt, wird abgelehnt.<br />
Krankenhäuser betreiben, können sie <strong>die</strong>se Leistungen<br />
preisgünstig anbieten. Allerdings konnte der<br />
Patentschutz nicht flächendeckend durchgesetzt<br />
werden.<br />
Es werden alle Technologien genutzt, <strong>die</strong> es ermöglichen,<br />
bereits vor der Geburt auf das menschliche<br />
Leben Einfluss zu nehmen. Technologien wie <strong>die</strong><br />
pränatale Embryonenselektion zur Vermeidung von<br />
genetisch bedingten Krankheiten sowie <strong>die</strong> In-vitro-<br />
Fertilisation – ursprünglich entwickelt, um kinderlosen<br />
Paaren den Kinderwunsch zu erfüllen –<br />
ermöglichen zumindest teilweise <strong>die</strong> Ver wirk li -<br />
chung von individuellen Wünschen bei Charakter<br />
und genetischer Ausprägung von Ungeborenen.<br />
<strong>Die</strong> Zellchirurgie hat sich zu einer relevanten Technik<br />
entwickelt und ist ein Beweis für das Zusammenführen<br />
unterschiedlichster Disziplinen zum<br />
Nutzen des Menschen. Früher unheilbare Krankheiten,<br />
wie z. B. manche Krebsarten, sind dadurch<br />
heilbar geworden.<br />
Gesellschaftliche Werte<br />
Gesellschaftlicher Wandel ist ein positiv besetzter<br />
Wert, weshalb <strong>die</strong> Gesellschaft gegenüber Veränderungen<br />
aufgeschlossen ist. Es sind jedoch keine allgemein<br />
verbindlichen moralischen Wertvorstellungen<br />
mehr anzutreffen. Das Streben nach dem ei ge -<br />
nen Vorteil gilt für Individuen gleichermaßen wie<br />
für Unternehmen und Organisationen. Selbstverwirklichung<br />
sowie Eigenverantwortung stehen an<br />
der Spitze der Wertehierarchie. Jeder ist für sein persönliches<br />
Wohlergehen, seine Weiterentwicklung<br />
sowie für sein Tun selbst verantwortlich. Jeder<br />
Mensch hat zudem das Recht, über sein Sterben<br />
selbst zu entscheiden und <strong>die</strong>se Entscheidung auf<br />
nahestehende Menschen zu übertragen.<br />
<strong>Die</strong> Selbstverantwortung gilt nicht nur für das Privatleben,<br />
sondern auch im Arbeitsleben ist proaktives,<br />
unternehmerisches Handeln ausschlaggebend.<br />
Man ist offen für <strong>die</strong> gesamte Welt, nutzt <strong>die</strong> Möglichkeit,<br />
überallhin zu reisen und sich austauschen<br />
zu können. Der Umgang mit fremden Kulturen ist<br />
längst zur Selbstverständlichkeit geworden, was <strong>die</strong><br />
multikulturelle Zusammensetzung der Gesellschaft<br />
in Europa mit ihrer großen Vielfalt an Lebensstilen<br />
und Wertvorstellungen gefördert hat.<br />
<strong>Die</strong> Schere zwischen Arm und Reich hat sich weiter<br />
geöffnet, da ein Teil der Bevölkerung von der<br />
wirtschaftlichen Entwicklung in Europa profitieren<br />
und sein Einkommen weiter steigern konnte, während<br />
es einem anderen Teil der Gesellschaft nicht<br />
gelungen ist, an <strong>die</strong>sem Wohlstand teilzuhaben. <strong>Die</strong><br />
Unterschiede zwischen Arm und Reich sind nicht<br />
nur zwischen den verschiedenen Regionen Europas<br />
anzutreffen, sondern wachsen auch innerhalb der<br />
einzelnen Länder an.<br />
63
64<br />
(Szenario 1) (Szenario 2)<br />
Neben den daraus resultierenden Unterschieden<br />
hinsichtlich der Lebensverhältnisse und des Konsums<br />
ist auch Zeit zu einem Statussymbol avanciert.<br />
„Time poor, money rich“ bzw. „time rich, money<br />
poor“ ist heute einer der entscheidenden Klassenunterschiede.<br />
<strong>Die</strong> gesellschaftliche Stellung wird maßgeblich<br />
durch Freizeitaktivitäten sowie durch <strong>die</strong> Beteiligung<br />
am politischen und gesellschaftlichen Leben<br />
geprägt. Wer bereits im Beruf sehr engagiert ist,<br />
beteiligt sich auch stärker am politischen und gesellschaftlichen<br />
Leben und ist sehr viel aktiver in seiner<br />
Freizeit.<br />
<strong>Die</strong> soziale Durchlässigkeit in der Gesellschaft hat<br />
sich weiterhin verbessert, so dass ein gesellschaftlicher<br />
Aufstieg heute leichter möglich ist als vor 15<br />
Jahren. Allerdings ist mit der besseren sozialen<br />
Durchlässigkeit auch das Risiko des Verlustes der<br />
sozialen Stellung verbunden, da ein gesellschaftlicher<br />
Status nicht mehr lebenslang festgelegt ist.<br />
<strong>Die</strong> große Offenheit für neue Technologien sowie<br />
<strong>die</strong> rasante Entwicklung der Informations- und<br />
Kommunikationstechnik haben dazu beigetragen,<br />
dass virtuelle Welten zu einem neuen Lebensraum<br />
geworden sind. Einerseits wird <strong>die</strong> virtuelle Welt als<br />
Bereicherung der realen Welt gesehen, andererseits<br />
aber auch als Fluchtmöglichkeit, um dem für einen<br />
Teil der Menschen wenig attraktiven Lebensalltag<br />
zu entkommen.
Bilder und Texte: Tettler’s Postkarten Album, 1902<br />
Postkarten für den Fortschritt<br />
Poesiealbum der Electrizität<br />
65
66<br />
(ganz oben):<br />
„Wenn ich ein Vöglein wär’„ sang der Dichter vormals. Heute ist <strong>die</strong>s unnötig, denn das Telephon,<br />
<strong>die</strong>se epochale Erfindung, verbindet <strong>die</strong> Liebenden über Länder und Meere.<br />
(oben:)<br />
Bereits im zartesten Blüthenalter, so will es der Zeichner <strong>die</strong>ser Karte, soll der kleine Liebling<br />
<strong>die</strong> Errungenschaften der neuen Zeit benützen.
Wie sträubt sich der stattliche Schnurrbart des Papas vor Freude über den ersehnten Stammhalter,<br />
den der electrisch betriebene Automat ihm gegen eine mäßige Gebürhrbescheert.<br />
67
(oben:)<br />
Und endlich der Gipfel des Comforts: das vollelectrische Schlafgemach! Auf einen Knopfdruck erlöscht das Nachtlicht,<br />
auf einen weiteren öffnen sich <strong>die</strong> Vorhänge. Eine electrische Anlage unterrichtet <strong>die</strong> Domestiken, daß das kleine Frühstück<br />
gewünscht wird, und sogleich erscheint es mittels eines electrischen Aufzuges neben dem Bett. Wie schön werden es<br />
doch unsere Nachfahren haben, wenn Sie keine <strong>Die</strong>nstboten mehr um sich haben müssen!<br />
(Sammelbilder linke Seite:)<br />
Auch der <strong>die</strong>nstbare Geist des Jahres 2000 hat ein schöneres Leben. Gleich einem Zauberstab folgt <strong>die</strong> Maschine dem<br />
Elctro-Magneten in der Hand des Mädchens.<br />
Und schließlich ist der vornehmste Wunsch des Ökonomen erfüllt. Im Jahre 2000 sitzt er am Rande seiner Felder und<br />
sieht gemütlich zu, wie electrische Apparate sie abernten.<br />
<strong>Die</strong>s Bauwerk wächst allein durch <strong>die</strong> Kraft der Electrizität empor. Kein Arbeiter ist zu sehen, nur der Architekt be<strong>die</strong>nt<br />
Hebel und Knöpfe, und wie durch Geisterhand fügt sich Stein auf Stein.<br />
69
Zu den schönsten Weihnachtslandschaften gehören<br />
<strong>die</strong> Täler und Wälder, <strong>die</strong> einsamen Waldgebirge<br />
des nördlichen Neuengland. Sie beginnen ab<br />
einer Linie, <strong>die</strong> von Boston aus westlich bis zu dem<br />
an den Mittelrhein erinnernden Tal des majestätischen<br />
Mohawk River im Bundessstaat New York<br />
reicht und sich dann nordwärts wendet zur kanadischen<br />
Grenze, gegen den Niagarastrom hin und an<br />
das immer noch waldbestandene, wenngleich<br />
längst dichtbesiedelte und industriell entwickelte<br />
Ufer des östlichsten der Großen Seen.<br />
<strong>Die</strong>ser Landstrich, <strong>die</strong>ses riesige, über Hunderte<br />
Kilometer sich dehnende Rechteck auf der Landkarte,<br />
ist jener Teil Amerikas, der als einer der <strong>ersten</strong><br />
auf dem neuen Kontinent von englischsprechenden<br />
Siedlern, tiefreligiös und voll heimlichem<br />
Hass gegen Seine viel zu weltliche Britische Majestät,<br />
entdeckt wurde und auch bei den Neugierig-<br />
Gebildeteren des nördlichen Europa das erste Bild<br />
<strong>die</strong>ser neuen Welt geprägt hat. Und ohne dass es<br />
einer bis heute so richtig bemerkt hat, wurde <strong>die</strong>ser<br />
Teil des Kontinents als einer der <strong>ersten</strong> vom Lauf<br />
der Welt wieder vergessen. Vor annähernd 200 Jahren<br />
bereits. <strong>Die</strong>ses waldbestandene Neuengland<br />
wurde so sehr vergessen, dass es von da an bleiben<br />
konnte, was und wie es war. Und was es heute noch<br />
ist.<br />
Von einer Welt der kreischenden Geräusche, der<br />
Gier, des unablässigen Getriebes eines amerikanischen,<br />
oder sollen wir sagen: beinahe weltweit<br />
omnipräsenten Alltags treten wir da ein in eine<br />
Welt der Stille, ja fast des Schweigens; und das auch<br />
heute noch, ja, heute wieder ganz besonders. Selbst<br />
<strong>die</strong> profane Fahrt mit dem Auto auf der Autobahn<br />
aus der Megastadt zwischen New York City und<br />
dem Umland von Boston lässt <strong>die</strong>se Wandlung<br />
binnen weniger Kilometer erleben. Lagen unsere<br />
Blicke soeben noch auf Dörfern und Städten, auf<br />
bebautem, dem wirtschaftlichen Gewinn unterworfenem<br />
Land, so rücken uns von jetzt an, mit<br />
dem zunehmend sich wellenden Verlauf der Autobahn,<br />
<strong>die</strong> schier unendlichen Höhenlinien hintereinander<br />
gestaffelter Hügelketten nahe, und <strong>die</strong><br />
der nach Norden zu emporwachsenden Waldgebirge.<br />
Lichtungen dazwischen, an denen <strong>die</strong> Autobahn<br />
vorbeiführt, sind <strong>die</strong> Plätze für einzeln daliegende<br />
Gehöfte; sie scheinen nur der Abwechs lung<br />
zu <strong>die</strong>nen und das an Eindrücken herauszuarbeiten,<br />
was wir im <strong>ersten</strong> Überblick ohnehin schon<br />
geahnt haben. Dass wir da eintreten in ein Land des<br />
Schweigens und der Stille, wie es unsere Gegenwart<br />
scheinbar gar nicht mehr zu bieten vermag. Da und<br />
Reportage<br />
Weihnachtslandschaften<br />
Von Oskar Holl<br />
dort, in den langen Abständen der seltenen Autobahnabfahrten,<br />
an altenglisches Bauernland<br />
gemahnende Ortsnamen, doch im Widerspruch<br />
zu der Ankündigung ist kein einziges Dorf zu<br />
sehen, meist bleibt es bei versprengten Lichtern in<br />
den Wäldern, einem Durchblick vielleicht auf eine<br />
mit Lichterkette geschmückte hohe Tanne vor<br />
einem Haus, der Baum selbstverständlich lebend<br />
und ungeschnitten auf kräftig lebendem Stamm.<br />
<strong>Die</strong> Tanne steht vor einem solchen Hof, der zu der<br />
sonst unsichtbaren Gemeinde North Sutton<br />
gehört.<br />
<strong>Die</strong>ses Neuengland, das sind neben dem östlichen,<br />
fast schon allzu entlegenen und auch mit<br />
anderer Geschichte lebenden Maine vor allem <strong>die</strong><br />
Staaten New Hampshire, Vermont und der nördliche<br />
Teil des Staates New York, jener „Upstate New<br />
York“, der sich von der Weltmetropole im Süden so<br />
sehr unterscheidet, als wären es zwei Kontinente,<br />
durch einen Ozean von Bewusstsein und Lebensauffassung<br />
voneinander getrennt. Mit einander<br />
glücklich werden beide wohl nur, wenn sie aneinander<br />
nicht denken.<br />
Drei von Süd nach Nord verlaufende uralte,<br />
schwer verwitterte, vielfach abgeschliffene und<br />
abgerundete Waldgebirge, aus dem Altertum der<br />
Erdgeschichte, bilden das Rückgrat Neuenglands;<br />
in New Hampshire <strong>die</strong> White Mountains, für altes<br />
Urgestein ungewöhnlich hochaufragend und wie<br />
der Name sagt, schneebedeckt, und das neun<br />
Monate im Jahr, dann <strong>die</strong> grünen Berge von Vermont<br />
in der Mitte, und endlich im Westen <strong>die</strong><br />
weitläufigen, beinahe unabsehbaren Adirondacks<br />
im Staat New York, indianischer Name und auch<br />
noch indianische Reservationen, wenn auch kleinwinzig.<br />
Dazwischengehängt <strong>die</strong> Bänder der großen,<br />
fast geradewegs nach Süden strebenden<br />
Ströme, der stille Connecticut River mit durchsichtig-braunem<br />
Moorwasser und vor allem der<br />
breit sich hinwälzende, mehrere große Ströme aufnehmende<br />
Hudson River in dem weiten Tal, das<br />
Apfelbäume und Getreide so gut gedeihen lässt<br />
und den Holländern eine frühe Heimat war.<br />
Im November, eine gute Weile vor Thanksgivings,<br />
dem amerikanischen Fest, das nirgend<br />
anders so hingehört wie gerade hierher, ist schon<br />
längst der erste Schnee gefallen. Dann blieb es<br />
lange trocken, arktische Kälte floss vom Kanadischen<br />
Schild ungehindert, nicht wie in Europa<br />
durch Golfstrom und Ost-West verlaufende Mittelgebirge<br />
abgemildert, nach Süden herunter und<br />
erfüllte <strong>die</strong> Luft mit ihrer klirrenden, <strong>die</strong> Baum-<br />
71
72<br />
stämme zum Knacken bringenden Kälte. Ganz<br />
Vorsichtige, auch ehemalige Städter, <strong>die</strong> in ihren<br />
Häusern ohne Garten mitten unter Bäumen<br />
wohnten, achteten darauf, ob es im dem steinhart<br />
verharschten Schnee nicht Spuren von Bären gab<br />
oder ob sich <strong>die</strong> Braunen schon in ihre Winterquartiere<br />
verzogen hatten.<br />
Wer aus dem Auto steigt und sich zu Fuß weitermacht,<br />
dem zieht in der einfallenden Dämmerung<br />
bald der Rauch von Holzfeuer in <strong>die</strong> Nase, das un -<br />
trüglichste Zeichen, dass Häuser in der Nähe sind.<br />
Auch <strong>die</strong>ses Tal, das sich vor der Mündung in den<br />
Hauptfluss verengt, zeigte seine lange, geschwungene<br />
Form, nichts Jähes, keinen plötzlichen, willkürlichen<br />
Richtungswechsel, sondern ein leicht<br />
gekrümmter Talgrund lag da mit Grasboden, beidseits<br />
<strong>die</strong> Wälder an den Talhängen, und hier und<br />
dort stachen <strong>die</strong> Gehöfte heraus mit den rostrot<br />
gestrichenen Scheunen, der allgegenwärtigen Far -<br />
be, einst aus dem schwedischen Falun importiert,<br />
seit Jahrzehnten schon überragt von den Silos, <strong>die</strong><br />
zeigen sollten, dass auch Landwirtschaft heutzutage<br />
fabrikmäßig ernstgenommen sein wollte.<br />
Weit hinten, auf einem Hügel mitten im Talverlauf,<br />
einer Laune eines jener Gletscher, nach denen<br />
<strong>die</strong> ganze Landschaft noch aussieht, und das ganz<br />
besonders in <strong>die</strong>ser andrängenden Winterkälte,<br />
beginnt sich <strong>die</strong> weiße Holzkirche von South Strafford<br />
abzuzeichnen, mit ihrem schlanken, spitzen<br />
neuenglischen Kirchturm, wo puritanische Zimmermannsbaukunst<br />
gotischen Kirchenstil in <strong>die</strong>se<br />
Wälder gebracht hat, und das erheblich post festum,<br />
wahrscheinlich sogar erst nach den Napoleonischen<br />
Kriegen.<br />
<strong>Die</strong> eigentlich schmalbrüstige, beinahe fragile<br />
hölzerne Kirche, spitzbogig befenstert auf dem allseitig<br />
abfallenden Hügel, der freigehalten war bis<br />
auf einige halbhohe schöne Bäume, Obstbäume<br />
offensichtlich, aber jetzt in der Kälte zur Unkenntlichkeit<br />
entlaubt, und unten am Fuße, am Anfang<br />
des im Rasen kaum erkennbaren Kirchsteigs, ein<br />
ebenso weißes Holzhaus, mit gelb lasierten Lisenen,<br />
wie Laubsägearbeit, wie ein Spielzeug beinahe,<br />
es ist wohl das Pfarrhaus. Der Mittelbalkon<br />
und <strong>die</strong> symmetrische Holzarchitektur erinnern<br />
entfernt an Palladios Vicenza, kommen aber ohne<br />
einen einzigen Stein aus. Eines der oberen Fenster<br />
ist beleuchtet. Doch hier zu klingeln und unangemeldet<br />
um Eintritt zu bitten wäre sehr unamerikanisch<br />
in einem Land, in dem bei aller Lieblichkeit<br />
und Verhaltenheit der Landschaft das trespassing,<br />
das ungebetene Eintreten oder auch nur das Betreten<br />
eines fremden Stückes Boden, zu den Dingen<br />
gehört, <strong>die</strong> man besser nicht tut. <strong>Die</strong> Kirche und<br />
der schlanke, in der Dämmerung nun schon angestrahlte<br />
Turm, talauf und talabwärts weithin sichtbar,<br />
sind selbst in der angehenden Winternacht<br />
noch so etwas wie ein Lichtblick, in ihrer Zartheit<br />
Schutz erflehend und zugleich Schutz und versprechend.<br />
Weihnachtsauktion in Orford, draußen an der<br />
Hauptstraße, <strong>die</strong> nur deshalb wichtig und Haupt-<br />
straße ist, weil da der größte Fluss des Landstrichs<br />
das Tal bildet. Grell blendet <strong>die</strong> niedrig stehende<br />
Dezembersonne auf dem schütteren Schnee. An<br />
einer Straßenkreuzung und einer Brücke über den<br />
Connecticut River, der hier <strong>die</strong> Landesgrenze bildet,<br />
hat sich so etwas wie ein geschlossenes Dorf<br />
gebildet, mit kleinen Häuschen und nicht viel größeren<br />
Scheunen, überall <strong>die</strong> amerikanische Ausgabe<br />
der verdächtigen ochsenblutfarbenen falufärg<br />
an den Schalungen der Holzhäuser. Und hier nun<br />
Pickups, doch <strong>die</strong>se endlich einmal an einem richtigen<br />
Ort, und auch sonst manche Autos, <strong>die</strong> mehr<br />
Erdkrumen an den Reifen und innen auf dem<br />
Gummiboden haben und verschmierte Fenster, als<br />
der Städter es gewohnt gewesen wäre. Neben dem<br />
typisch amerikanischen Wagen auffällig viele Volvos,<br />
Kombis natürlich, mit Anhängerkupplung,<br />
und sogar, seht her, einen ebensolchen Mercedes.<br />
<strong>Die</strong> Hänger stehen nebenbei, sorgfältig aufgereiht,<br />
alle mit dem offenen Heck zur Straße gerichtet;<br />
Strohreste und Tiermist auf den Anhängerböden<br />
und auf der Straße.<br />
<strong>Die</strong> Weihnachtsauktion, zu der aus dem ganzen<br />
großen Umkreis <strong>die</strong> Leute kommen, ist eine Vieh -<br />
auktion. Von altersher. An einem der meist strahlenden<br />
Tage vor Weihnachten, in <strong>die</strong> eisige Kälte<br />
hinein, <strong>die</strong> dem Vieh aber nicht schadet. <strong>Die</strong> Rinder<br />
tragen ihren dicken Winterpelz und sind wie<br />
überall in den Staaten das Leben im Freien ge -<br />
wohnt. Winterlich ist auch der Aufzug der Besucher,<br />
sie laufen in ihren dicken, gewürfelten Lumberjacks<br />
umher, mit denen sie während der letzten<br />
Wochen zur Jagd gingen, rot und in anderen<br />
schreienden Farben, nicht um das Wild zu erschrecken,<br />
sondern zur Warnung für <strong>die</strong> anderen Jäger.<br />
Da passiert in einer jeden Jagdsaison etwas, Un -<br />
glück genug für eine Woche Valley News, aber das<br />
gehört nun einmal dazu.<br />
In eine der Scheunen ist ein Ring eingebaut, mit<br />
einem Podium für den Auktionator und seinen<br />
Assistenten, der kassiert, ringsum hinter den rohen<br />
Stangen sitzen <strong>die</strong> Farmer, Verkäufer und Käufer.<br />
In, wie gesagt, Lumberjacks und mit dicken Mützen,<br />
Ohrenklappen lose herabfallend. Gespanntes<br />
Schweigen unter den Anwesenden. Der Versteigerer<br />
erklimmt gerade, indem er <strong>die</strong> soeben im Kreise<br />
vorgeführte Färse oder den Jungstier wohlwollend<br />
und melodisch anpreist, seinen Auftakt und trommelt<br />
dann wie eine ununterbrochen angeschlagene<br />
Glocke seine Zahlenketten über Rinder und Menschen.<br />
Geboten wird in das Zahlenstakkato, in das<br />
kaum verständliche, hinein mit einem Fingerzeig,<br />
den der Unkundige jederzeit übersehen hätte. Hat<br />
er nun gekauft oder hat er nicht? Wir werden es nie<br />
erfahren. Wir müssten nur draußen bei den<br />
Anhängern lauern, später, wenn <strong>die</strong> Tiere wieder<br />
abgefahren werden.<br />
Aber da gibt es nicht nur <strong>die</strong> Tiere, den Auktionator,<br />
<strong>die</strong> Verkäufer und Käufer. <strong>Die</strong> Weihnachtsauktion<br />
von Orford war längst im ganzen Landkreis<br />
und darüber hinaus eine Attraktion geworden, zu<br />
der man einfach fuhr. Auf der Dorfstraße gehen
www.awi-bremerhaven.de<br />
vielleicht mehr Zuschauer als Farmer auf und ab,<br />
und <strong>die</strong> Zuschauer tragen ebenso <strong>die</strong> dicken, grellbunten<br />
Lumberjacks und verwegen schlampig aufgesetzten<br />
Wintermützen. Auch sie waren mit ihren<br />
Volvo-Kombis da. Zwischen den Pkw-Anhängern<br />
für <strong>die</strong> Tiere sind Buden aufgestellt; da gibt es Hot<br />
dogs und heißen Punsch. Heißen Punsch aber<br />
garantiert ohne Alkohol, denn Alkohol ist hier<br />
etwas Böses, und der heiße Punsch so gefährlich,<br />
wie amerikanisches Familienkino ebenso garantiert<br />
ohne Sex. Wer will, geht wieder in <strong>die</strong> Auktion<br />
rein, da ist es wärmer und riecht nach Stall, von den<br />
Rindern, <strong>die</strong> aufgetrieben wurden, und noch mehr<br />
von den Nachbarn, <strong>die</strong> sich im Ring drängen.<br />
Noch bevor <strong>die</strong> Wintersonne hinter dem Waldhang<br />
da drüben versank, ging <strong>die</strong> Auktion zu Ende.<br />
Da gab es noch ein Aufstieben von störrischen, nun<br />
den Wildfremden überlieferten Rindern, das Aufrauschen<br />
der Motoren, alles so von zwei bis sechs<br />
Li tern Hubraum, mit dem süßlichen Aroma des<br />
noch kalten, schlechtverbrannten amerikanischen<br />
Benzins, und dann war alles wieder vorbei.<br />
Nach <strong>die</strong>sen Stunden der Freude in der Winterkälte<br />
von New Hampshire, an der Brücke nach<br />
Vermont hinüber, gleich am andern Flussufer,<br />
kehrte in kürzester Zeit wieder Ruhe ein, so, als<br />
wäre in <strong>die</strong>sen Wäldern nie etwas Derartiges gewesen;<br />
so schnell, wie in den Vereinigten Staaten Feste<br />
und Feierlichkeiten enden, ein Hauch, ein Rauschen,<br />
und da war nichts mehr als nur ein verlasse-<br />
ner Platz mit kleinen Häusern, <strong>die</strong> aus <strong>die</strong>sem Jahrhundert<br />
stammen könnten oder auch aus dem letzten,<br />
oder was immer wir als letztes bezeichnen.<br />
Darüber nur <strong>die</strong> rasch wegsinkende Sonne, ebenfalls<br />
viel früher am Tag, als dem Anreisenden aus<br />
dem nördlichen Europa geläufig. Du bist hier<br />
immerhin – bei all <strong>die</strong>ser Winterkälte – auf der geographischen<br />
Breite von Neapel, da sinkt <strong>die</strong> Sonne<br />
schon schneller, mein Lieber, das hast du wohl nie<br />
gelernt, nicht wahr? Dafür haben wir hier, vielleicht<br />
hast du es schon einmal gemerkt, das schönere<br />
Licht. Ein Licht wie über dem Mittelmeer,<br />
wenn das Wetter es will.<br />
<strong>Die</strong> Menschen, <strong>die</strong> wir hier getroffen haben, hätten<br />
Farmer sein können oder auch Ärzte mit Praxen<br />
in den großen Städten draußen, <strong>die</strong> hier einen Hof<br />
hatten, vielleicht geerbt oder aus Liebhaberei er -<br />
worben. Sie hießen dann gentleman farmers, und<br />
<strong>die</strong> meisten, <strong>die</strong> wir als richtige Farmer eingeschätzt<br />
hatten, jene mit den absolut echten und<br />
sogar schmierigen Lumberjacks, besaßen auf dem<br />
Hof ihre vielleicht zwanzig Stück Vieh, erlesenes<br />
schottisches Hochland (keine texanische Massenware),<br />
aber für Montag bis Freitag einen sicheren<br />
Arbeitsplatz als Computertechniker oder Mechaniker<br />
in einem der versteckten Dörfer, vielleicht<br />
auch eineinhalb Autostunden entfernt in der Landeshauptstadt<br />
Manchester oder dort, wo vor einer<br />
Generation <strong>die</strong> Textilindustrie zugrunde gegangen<br />
war und Reihen nutzlos gewordener Klinkerbau-<br />
Schwindende Idylle: Untersuchungsgegenstand des Stiftung Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung<br />
73
74<br />
ten hinterlassen hatte. Und mit dem Geld bezahlten<br />
sie <strong>die</strong> falufärg für den Hof und kauften ein<br />
schönes altes Stück für <strong>die</strong> Einrichtung.<br />
Auch das ist Neuengland, schwierige Heimat.<br />
Von seiner Scholle allein lebt hier niemand mehr.<br />
Dann und wann triffst du in den weithin verstreuten<br />
und sich unermesslich ausdehnenden<br />
Dörfern, <strong>die</strong> hier ohne Unterschied ihrer Größe<br />
township heißen, am vermeintlichen Mittelpunkt<br />
kaum mehr als ein Town House und einen General<br />
Store mit Postamt; vielleicht gerade noch <strong>die</strong> Schu -<br />
le. Weitab davon und seltsamerweise meist ohne<br />
Kapelle oder Kirche der Friedhof. Viel zu groß und<br />
viel zu einsam, so scheint es, für derart wenige Einwohner.<br />
Jetzt, vor Weihnachten, stehen da vor<br />
manchen Grabsteinen neu aufgerichtete kleine<br />
Sternenbanner, und wenn der Wanderer <strong>die</strong> In -<br />
schrift liest, dann sieht er, der Grabstein über dem<br />
Sternenbanner ist hundertvierzig Jahre alt und<br />
erinnert mit schlankem, lakonischem Spruch an<br />
jemand aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg,<br />
gestorben im 24. Jahr seines Lebens. Officer and<br />
gentleman. Mehr nicht, nur das. Trauer ist hier, so<br />
scheint es, ebenso zurückhaltend wie das Land<br />
ringsum selbst, das ihm Heimat war, und der Tod<br />
in dem jungen Land da noch viel unverständlicher.<br />
Hoch oben über den Flusstälern, auf den Terrassen<br />
der Waldgebirge, trifft der Wanderer immer<br />
wieder völlig unerwartet auf Lichtungen. Seltsam<br />
ausgewachsene, verwilderte Obstbäume stehen auf<br />
dem verbuschten, verkrauteten Feld, und wer<br />
genauer hinsieht, erkennt vielleicht im hohen Gras<br />
granitene Fundamente einstiger Häuser. Das kann<br />
einem auf einer Höhe von acht- oder neunhundert<br />
Metern über dem Meeresspiegel begegnen. Dem<br />
entspräche in den Alpen dem Klima nach ein Dorf<br />
in doppelter Höhe, knapp unter zweitausend<br />
Meter, wo es kaum noch Einzelhöfe gibt. Eine<br />
kleine Umfrage bestätigt, ja, das alles war einmal<br />
besiedelt, mit kleinen Höfen, <strong>die</strong> sich alles selbst<br />
erzeugten, und unten im Tale hatten sie Mühlen,<br />
an den Hängen ihre Granitbrüche, deren Reste du<br />
heute noch sehen kannst. Von dem Granit übrigens<br />
wurden <strong>die</strong> Paläste und Hochhäuser New<br />
Yorks und Bostons verkleidet und <strong>die</strong> Straßen<br />
gepflastert, ehe der Beton seinen Siegeszug antrat.<br />
Als der Westen geöffnet wurde, <strong>die</strong> Weite über <strong>die</strong><br />
Appalachen zum Mississippi hin, da leerte sich <strong>die</strong>ses<br />
karge Land binnen einer Generation. <strong>Die</strong> Siedler,<br />
<strong>die</strong> in den amerikanischen Westen hinauszogen,<br />
waren nicht, wie du als Leser deutscher<br />
Jugendbücher von 1880 vielleicht annimmst,<br />
frisch angekommene Einwanderer aus Europa.<br />
Das waren zuallererst <strong>die</strong> zähen Bauern von hier,<br />
<strong>die</strong> unter König Georg I., dem Deutschen, aus<br />
Wales ausgewandert waren oder aus Schottland.<br />
Der Wald, den du hier siehst, <strong>die</strong>ses schier unendliche<br />
Gewoge von Nadelbäumen, von zuckertragendem<br />
Ahorn, Hochlandbuchen, Wassererle und<br />
Felsenbirne und dem <strong>die</strong> arktische Kälte ankündigenden<br />
Birkenbestand, der Wald mit dem grünen<br />
Schmelz drüber und der grauen Seitenansicht, all<br />
<strong>die</strong>ses Urweltliche, Urwaldähnliche, besteht erst<br />
wieder seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Dann<br />
nämlich waren <strong>die</strong> verlassenen Hofstätten der <strong>ersten</strong><br />
weißen Siedler endlich vollständig aufgegeben<br />
und hatte sich den wenigen daheim Gebliebenen<br />
<strong>die</strong> weitere Bewirtschaftung als endgültig sinnlos<br />
erwiesen.<br />
Der Wald hat sich <strong>die</strong>ses nördliche Neuengland<br />
zurückerobert, von Norden nach Süden. Land in<br />
den grünen Bergen, Vermont, ist mehr als nur der<br />
Name eines Bundesstaates, ist es heute vielleicht so<br />
sehr wie einst nur in der Zeit seiner Gründung.<br />
Einsamer ist und einsamer wirkt <strong>die</strong>ses verlassene<br />
Land, als es jede Landschaft wäre, <strong>die</strong> unbesorgt<br />
fröhlich einen geraden und dem Volksglauben<br />
nach zukunftsverheißenden Gang der Geschichte<br />
hinter sich hat, wie wir das von fast überall sonst<br />
kennen.<br />
Durch den schütteren Novemberschnee führen<br />
kaum erkennbare, mit wenigen blassgelben und<br />
braunen Naturfarben-Markierungen ökologisch<br />
sehr korrekt bezeichnete Wanderwege durch <strong>die</strong><br />
grauen, entblätterten Laubwälder, in <strong>die</strong> Höhen<br />
des Mount Cardigan oder des Mount Moosilaukee,<br />
eine Tour, <strong>die</strong> an <strong>die</strong>sen kurzen Dezembertagen<br />
morgens rechtzeitig begonnen werden sollte.<br />
Wer auf dem Gipfel steht, in der Mitte <strong>die</strong>ser schier<br />
unzerstörbaren Zelle hohen Luftdrucks, sieht ferne<br />
draußen <strong>die</strong> Wolkenbänke rauchen und sich langsam<br />
verschieben, nach unten, in <strong>die</strong> tieferen Luftschichten<br />
wie abgeschnitten. Der Blick reicht in<br />
<strong>die</strong> Ebene hinunter zum Atlantischen Ozean und<br />
auch weit hinein ins Inland, über Hügel und Hügel<br />
und nicht endenwollende Bergketten. <strong>Die</strong> Täler zu<br />
Füßen öffnen sich, das eine oder andere schwarze<br />
Auge von Gebirgssee blinkt, spiegelblank gefroren<br />
in den schneearmen, eisigen Wochen.<br />
Wer hier länger Umschau gehalten und seinen<br />
Pulsschlag endlich beruhigt hat, dem erklingt nun<br />
in <strong>die</strong>se Ruhe hinein ein Ton aus <strong>die</strong>ser Natur, ein<br />
Klang wie ein Orgelpunkt, Einbildung vielleicht<br />
und dennoch präsent vor den Sinnen wie <strong>die</strong> Sphärenmusik<br />
der Alten. Es ist der Klang <strong>die</strong>ser Landschaft.<br />
Da und dort in der Ferne dann doch eine<br />
Lichterpyramide, der geschmückte Baum vor einer<br />
Farm mitten in den Wäldern. Auch wenn unten <strong>die</strong><br />
Straße den Fluss entlang zieht und Fernlaster<br />
geräuschlos ihren Weg nehmen, auch wenn den<br />
Himmel Kondensstreifen zerfurchen, hier oben ist<br />
es, als wäre das Land noch nicht entdeckt und<br />
würde gerade jetzt darauf warten, endlich entdeckt<br />
zu werden. Oder aber: endlich wieder allein zu<br />
sein. Der Mensch ist hier immer nur ein Eindringling.<br />
Seine Spur verwischt sich jedes Mal, und jedes<br />
Mal erscheint alles wieder wie unbetreten.<br />
Im Hinuntergehen weht von irgendwoher ein<br />
Fetzen Musik, den der Wind heraufträgt, mehrstimmig<br />
gesungen, a capella, bestimmt eine Platte,<br />
was denn sonst? Aber es ist <strong>die</strong> Färbung von<br />
Gefühl, <strong>die</strong> hier Weihnachtslieder trägt, <strong>die</strong>se<br />
Mischung von Studentenrenaissance und etwas<br />
Händel, frisch und unsentimental vorgetragen wie
englische Choräle allemal, vielleicht Adeste fideles,<br />
mit der unnachahmlichen Lateinaussprache, <strong>die</strong><br />
<strong>die</strong> Englischsprechenden für normal halten. On the<br />
first day of Christmas my true love gave to me – zwölf<br />
Tage und zwölf Nächte wie in alten Zeiten dauern<br />
<strong>die</strong>se Weihnachten des Liedes, viel braucht der<br />
Liebste für so viele Tage zum Schenken, und viel<br />
haben <strong>die</strong> Kinder auswendig zu lernen und zu singen,<br />
bis <strong>die</strong>ser Zauber wieder vorbei ist. Aber das ist<br />
ja der Zauber: Twelve golden rings ...! Der Blizzard,<br />
der dem stabilen Spätherbstwetter ein Ende macht,<br />
passt zur Wildnis, <strong>die</strong> 5 <strong>die</strong>ses Land immer noch<br />
ist. Wieder werden einige unvorsichtige Autofahrer<br />
aus den Ballungsräumen mit ihren Sommerreifen<br />
auf der Autobahn liegengeblieben sein. Ein<br />
Glück, wenn es für eine dumme Hausfrau oder den<br />
naseweisen 28-jährigen Handelsgehilfen nicht mit<br />
dem Erfrierungstod endet. <strong>Die</strong> Straßen sind zu, auf<br />
eine Weise überfroren, <strong>die</strong> Kälte beißt, wie es sich<br />
im wohltemperierten alten Europa niemand träumen<br />
ließe, <strong>die</strong> Schulen schließen vor den Schneestürmen<br />
sicherheitshalber einige Tage, ehe <strong>die</strong><br />
eigentlichen Weihnachtsferien beginnen. So ist das<br />
hier immer. Etwas Schnee, und dann in allen<br />
Nachrichten und Köpfen gleich <strong>die</strong> Schnee<strong>katastrophe</strong>.<br />
<strong>Die</strong> Bären haben inzwischen längst ihre<br />
Höhlen bezogen, Winterschlaf überdeckt alles.<br />
Ein Weihnachtsmorgen in <strong>die</strong>sen Waldtälern<br />
Neuenglands, einige Zoll Schnee auf den Feldern,<br />
im Sonnenlicht werfen <strong>die</strong> Äste ihre Schneelast<br />
voller Glitzer ab. Das ist <strong>die</strong> richtige Feierstunde.<br />
<strong>Die</strong> eine, auf <strong>die</strong> das Land hier ein ganzes Jahr<br />
gewartet zu haben scheint. Noch immer treten <strong>die</strong><br />
Menschen so fröhlich vors Haus an <strong>die</strong>sem <strong>ersten</strong><br />
Feiertag, wie es schon der alte James Fenimore<br />
Cooper beschrieben hat in seinem „Lederstrumpf“,<br />
und vielleicht auch selber gemacht. Das<br />
waren, da einer ja meist von den glücklichen Tagen<br />
seiner Jugend schreibt, noch <strong>die</strong> Feste im längstvergangenen<br />
18. Jahrhundert, für ihn schon Jahrzehnte<br />
entfernt – und wie viele für uns? Offenbar<br />
viel weniger, als es den Anschein hat.<br />
In Cooperstown, im Upstate New York, ist er<br />
begraben. Erst nach seinem Tode haben sie das<br />
Dorf nach ihm benannt. Es liegt, wie es sich gehört,<br />
am Otsego-See. Dort sieht es genauso aus, wie es<br />
der alte Cooper in seinen Geschichten beschreibt.<br />
Viel stärker ist er da, als wenn er sich versucht, über<br />
<strong>die</strong> Prärien zu schreiben. <strong>Die</strong>se halb schlafende<br />
Waldlandschaft, der Kälte und der Dunkelheit<br />
zugewendet, mit den verstohlen umherschleichenden<br />
Indianern darin, das ist Cooper. Mit Ausnahme<br />
der edlen Wilden und des Kampfes auf<br />
Leben und Tod zwischen gut Englischgesinnten<br />
und Franzosenfreundchen in <strong>die</strong>sem Krieg, der<br />
damals schon ein Weltkrieg war, ist alles beim alten<br />
geblieben. Und in seiner Beschreibung hat er uns<br />
<strong>die</strong> Augen geöffnet.<br />
Einer der kältesten Tage des Jahres, und der fröhlichste.<br />
Sam, der Neger aus <strong>die</strong>sen Seiten des<br />
„Lederstrumpfs“, hatte vor lauter Kälte graue<br />
Backen, als er voller Eifer in der <strong>ersten</strong> Morgen-<br />
sonne den Weihnachtsschlitten anspannte. Bis<br />
zum Bauch standen <strong>die</strong> dampfenden Pferde im<br />
frisch gefallenen Schnee. Heute lebt Sam sicherheitshalber<br />
nicht mehr hier, und kaum einer seiner<br />
möglichen Nachkommen. <strong>Die</strong> eisigen Backen<br />
haben wir noch heute, wenn wir den morgendlichen<br />
Vorgarten da durchqueren. Ein Glück, dass<br />
der Motor des im Freien geparkten Autos <strong>die</strong> ganze<br />
Nacht über elektrisch geheizt war, so wie das <strong>die</strong><br />
meisten hier halten. Der fröhlichste Tag des Jahres.<br />
Vorbei mit den nächtlichen Wehen. Jetzt ist er da,<br />
jetzt, bei helllichtem Tag kann gefeiert werden. Wir<br />
werden feiern – und wahrhaft, wir tun es!<br />
Obwohl das Land hier eine Wiege <strong>die</strong>ser Nation<br />
ist, ist es vom übrigen Amerika so abgeschieden in<br />
seiner Fröhlichkeit und seiner diskreten Trauer,<br />
dass <strong>die</strong> Klugen und <strong>die</strong> Begüterten aus den ganzen<br />
USA meinen, hier könnten sie ihre Heranwachsenden<br />
unbesorgt herschicken, damit <strong>die</strong>se ungestört<br />
etwas Schliff bekämen und eine anständige Erziehung.<br />
Ohne dabei auf schlechte Gedanken zu<br />
kommen. Und es spricht für <strong>die</strong> Klugheit <strong>die</strong>ser<br />
Väter und Mütter, <strong>die</strong> das vielleicht selbst schon<br />
durchgemacht haben zu ihren Zeiten, dass sie <strong>die</strong>ses<br />
Land für ein gutes Land halten, wert, den Hintergrund<br />
zu liefern für <strong>die</strong> prägenden Jahre ihrer<br />
Kinder. So fern von allem anderen, als käme das<br />
Verbrechen niemals hierher. Aber es kommt, verlasst<br />
euch drauf, und wir wissen es.<br />
Trotzdem: Vielleicht sollte man, wenn abermals<br />
200 Jahre vergangen sind seit jenem Augenblick,<br />
da <strong>die</strong>ses Land im hellen Licht der Geschichte<br />
stand, wieder herkommen und nachsehen, ob es<br />
noch immer das ist, was es so gut und so lange war<br />
und was es heute noch ist: Landschaft des Wartens<br />
und versteckten Heranreifens, eine halb verborgene<br />
Welt mit langsamem Puls und ganz anders als<br />
vieles andere, das gleich nebenan einem aufstößt.<br />
Weihnachtslandschaft vielleicht.<br />
Das überlassen wir aber besser dem, der sich dann<br />
hier umsieht, wie gesagt, 200 Jahre nach uns.<br />
75
76<br />
Ein zorniges Rütteln reißt mich aus dem Schlaf.<br />
Verstört schrecke ich hoch, um mich gleich wieder in<br />
meinen zerbeulten Sitz fallen zu lassen. Im <strong>ersten</strong><br />
Moment meines Erwachens weiß ich weder, wo ich<br />
bin noch warum ich mich in <strong>die</strong>sem alten, baufälligen<br />
Bus befinde. Ein penetranter Geruch streift<br />
meine Nase und verursacht in mir eine leicht irritierende<br />
Übelkeit. Das ist wirklich typisch für <strong>die</strong>se<br />
russischen Leute: Knurrt erst einmal der Magen,<br />
packen sie auch schon ihr mit Knoblauch durchsetztes<br />
Proviant aus oder aber <strong>die</strong> legendären, vom Öl<br />
triefenden Piroggen, gefüllt mit Kraut oder Kartoffeln.<br />
<strong>Die</strong> ganz Hartgesottenen bringen sich <strong>die</strong><br />
Nationalsuppe Borschtsch mit, der einem Wackelpudding<br />
ähnlich bei jeder Kurve mal nach links, mal<br />
nach rechts überzuschwappen droht.<br />
Ich versuche, ruhig zu bleiben und drücke mich<br />
noch tiefer in meinen Sitz. Einen Schal um meinen<br />
Mund gehüllt, atme ich so flach wie möglich, um ja<br />
nicht das Duftkonglomerat in mich aufzunehmen,<br />
das im Bus sein Unwesen treibt. Verschiedene Gerüche<br />
von extravaganten Speisen vermischen sich mit<br />
dem Duft nach kaltem Schweiß, der <strong>die</strong> Reisenden<br />
wie eine zweite Haut umgarnt. Ein jeder muss sich<br />
hier zusammenreißen. Wie Teile einer großen<br />
menschlichen Symbiose kauern wir Schulter an<br />
Schulter auf unseren durchgesessenen Sitzpolstern<br />
und schlagen uns <strong>die</strong> Zeit tot. Während in den hinteren<br />
Sitzreihen russische Popmusik aus einem billigen<br />
Discman ertönt, kämpft sich <strong>die</strong> ältere Dame<br />
neben mir durch Marx’ Kommunistisches Manifest.<br />
Tief über das Buch gebeugt, hüpfen ihre durch eine<br />
Hornbrille blickenden Augen von Zeile zu Zeile.<br />
Dabei liest sie so andächtig, als ob sie eine Bibel vor<br />
sich hätte. <strong>Die</strong> Frau ist so mit dem Buch verwoben,<br />
dass ich sie einfach stören muss.<br />
„Entschuldigen Sie“, frage ich provozierend.<br />
„Warum lesen Sie Marx? Er ist doch längst tot.“<br />
„Junge Dame. Ich muss doch bitten. <strong>Die</strong>ser große<br />
Mann“, sagt sie, „hat unser Land ans Para<strong>die</strong>s herangeführt.<br />
Wenn er nicht wäre, wärst du nicht.“<br />
„Das versteh ich nicht. Dass jemand durch ein so<br />
dünnes Buch unser großes Land ans Para<strong>die</strong>s führen<br />
kann? Das versteh ich nicht“, spiele ich ihr meine<br />
kindliche Dummheit vor.<br />
„Kleines, unwissendes Mädchen“, beginnt fast<br />
schon majestätisch <strong>die</strong> alte Dame vom Lande. „Karl<br />
Marx ist mit Lenin der größte Mensch, den <strong>die</strong> Welt<br />
gesehen hat. Viele reden doch nur über Gerechtigkeit“,<br />
beginnt sie ihren längeren Monolog. „Viele<br />
Skizzen<br />
Fremde Heimat<br />
Von Viktoria Baron<br />
reden, aber keiner tut sie. Und keiner versteht sie.<br />
Gerechtigkeit ist doch dann, wenn alle Menschen<br />
das Gleiche haben, das Gleiche sind. Das ist doch<br />
gerecht. In den Ländern des Kapitalismus, da wo wir<br />
gerade mit dir hinfahren, da ist es ganz anders. Alle<br />
reden von Freiheit. Alle sind dort in ihrer Freiheit<br />
gefangen. Doch was nützt uns <strong>die</strong> Freiheit, wenn sie<br />
Ungleichheit bedeutet? Was nützt uns <strong>die</strong> Freiheit,<br />
wenn es Millionäre gibt, <strong>die</strong> respektlos an Hausierern<br />
vorbeischlendern? Wenn es Milliardäre gibt, <strong>die</strong><br />
Hunderte Häuser besitzen und Hunderte Obdachlose<br />
mit einem höhnischen Blick vor ihren goldenen<br />
Toren beäugen. Ich frage dich, ist das gerecht? Nein,<br />
kleines Mädchen. Gerechtigkeit ist dort, wo <strong>die</strong><br />
Menschen das Gleiche haben. <strong>Die</strong> Gerechtigkeit ist<br />
dort, wo Menschen das Gleiche sind.“ „Aber liebe<br />
Frau“, versuche ich zu entgegnen. Aber sie ergreift<br />
wieder das Wort, ohne mir auch nur den Hauch<br />
einer Chance zu lassen. „Mädchen! In dem Land, in<br />
welches du fährst, wird es dir gut gehen, weil das<br />
Land reich ist. Deutschland wird dich mit Bananen,<br />
Kiwis und sonstigem nähren und dein Bauch wird<br />
voll sein. Voll Essen. Voll Glück. Und du wirst es vergessen.<br />
Du wirst vergessen, was ich dir gesagt habe.<br />
Du wirst denken, Deutschland, Europa ist schön.<br />
Du wirst <strong>die</strong> Gerechtigkeit vergessen. Denn du wirst<br />
in Ungleichheit, im falschen Para<strong>die</strong>s sein. Falsche<br />
Engel werden dich anlächeln. An das Falsche wirst<br />
du glauben. Ich aber lass mich vom Reichtum des<br />
Westens nicht blenden. Denn ich weiß, irgendwann<br />
wird das Proletariat noch einmal aufstehen. Sich vereinigen<br />
und <strong>die</strong> Gerechtigkeit in unserem Land und<br />
auf der ganzen Welt wiederherstellen.“ Der Monolog<br />
endet hier nicht. Es kommen noch viele<br />
Geschichten über Marx, Engels und natürlich<br />
Lenin, dem Retter unserer Nation. Ich weiß gar<br />
nicht, wie lange <strong>die</strong>se Dame geredet hat. Auf jeden<br />
Fall lange genug, dass wir plötzlich an der ukrainisch-polnischen<br />
Grenze angekommen sind.<br />
Auf einmal steht der Busfahrer auf und beginnt <strong>die</strong><br />
Ansprache, <strong>die</strong> ich mein ganzes Leben lang nicht<br />
vergessen werde. „Also, liebe Reisende. Jetzt sind wir<br />
an der Grenze. Und wie <strong>die</strong> Grenze zwei Seiten hat,<br />
so habt ihr jetzt zwei Möglichkeiten. Wollt ihr wie<br />
Tiere behandelt werden oder als Menschen durchfahren?“<br />
Was sollte das bedeuten? Im ganzen Bus<br />
wird es laut. Alle scheinen darüber zu diskutieren, als<br />
was sie durchfahren wollen. Es war absurd. Ein wohl<br />
noch nie über <strong>die</strong> Grenze Gereister schreit in den Bus<br />
hinein: „Was heißt das? Als Tiere oder als Menschen?“<br />
Der Bus bebt vor Lachen. Eine noch dümmere Frage
kann sich hier niemand mehr vorstellen. Der<br />
Busfah rer – sogar er muss lachen – fasst sich dann<br />
wieder und sagt: „An der Grenze sind <strong>die</strong> Re geln ganz<br />
einfach. Derjenige, der zahlt, ist derjenige, der durchfährt.<br />
Derjenige, der nicht zahlt, ist der Dum me, das<br />
Tier. Konkret: Wir werden durchgefilzt bis zu den<br />
Unterhosen. Unsere Taschen werden aufgemacht.<br />
Auf lange, weiße Tische wird der Inhalt der Taschen<br />
gekippt und <strong>die</strong> Grenzwärter werden, wohl wissend,<br />
dass in den Taschen nichts ist, jede Ja cken ta sche<br />
durchstöbern, jedes Schächtelchen aufmachen und<br />
dann <strong>die</strong> entsetzten Blicke der Reisenden genießen.“<br />
Nach <strong>die</strong>ser Ansprache grölen wir alle los. Viele pa -<br />
cken eifrig nach ihren Portemonnaies, um <strong>die</strong> Euro-<br />
Scheine herauszuholen und zu signalisieren, dass sie<br />
<strong>die</strong> Grenze wie Menschen passieren wollen. Auch<br />
ich bin bereit zu zahlen. Doch wie das immer so ist,<br />
gibt es auch Ausnahmen, <strong>die</strong> sich vehement dagegen<br />
sträuben, auch nur einen Cent an <strong>die</strong> Grenzwärter<br />
zu zahlen. Natürlich versuchen wir, sie zu überzeugen.<br />
Ihnen klarzumachen, dass wenn sie nicht bereit<br />
sind zu zahlen, es bis zu sechs Stunden dauern kann,<br />
bis wir weiterfahren können. Ein Glück, dass alles<br />
glatt läuft. Schon nach fünfzehn Minuten passiert<br />
unser Bus <strong>die</strong> Grenze. Wir heilfroh, dass es so schnell<br />
ging. <strong>Die</strong> Grenzwächter überglücklich, das Klingeln<br />
der Münzen vernommen zu haben. Damit ist <strong>die</strong><br />
nächste Flasche Wodka schon mal sicher.<br />
Da es mir nicht gelingen will, <strong>die</strong> Zeit schneller verstreichen<br />
zu lassen, beobachte ich meine Umgebung<br />
und sauge jedes kleine Geräusch auf. Unaufhörlich<br />
brummt der Motor wie ein kleines Sägewerk und<br />
gibt ab und zu kleine Seufzer von sich, <strong>die</strong> in der weiten<br />
Ferne verhallen. Der Uhr nach zu urteilen,<br />
haben wir mittlerweile 55 Stunden Fahrt hinter uns.<br />
An Schlaf ist überhaupt nicht zu denken, da der Bus<br />
ein Schlagloch nach dem anderen passiert und von<br />
einer Kurve in <strong>die</strong> nächste prescht. Das alles wäre ja<br />
gar nicht so schlimm, wenn nachts <strong>die</strong> Heizung und<br />
tagsüber <strong>die</strong> Klimaanlage funktionieren würde.<br />
Doch das Besondere an russischen Bussen ist, dass es<br />
oftmals genau umgekehrt funktioniert. An heißen<br />
Nachmittagen wird <strong>die</strong> erbarmungslose Sonne durch<br />
<strong>die</strong> Heizung unterstützt. In den Nächten, in denen<br />
wir in Decken gehüllt vor Kälte zittern, streift uns<br />
dann der kühle Hauch der Klimaanlage. Es ist, als ob<br />
man tagsüber in Bächen zerfließt, um nachts wieder<br />
zu einem riesigen Eisklumpen zu gefrieren.<br />
Unvermittelt schaue ich nach draußen. Das Einzige,<br />
was sich meinen Augen bietet, ist der Anblick<br />
ei ner rußschwarzen Nacht. Sie ist durchtränkt von<br />
schwe ren Wassertropfen, <strong>die</strong> Perlen gleich den<br />
Boden bedecken und ihn zum Schimmern bringen.<br />
Es könn ten meine Tränen sein, <strong>die</strong> sich dort klagend<br />
ergießen. Denn so stark und mutig wie ich tue bin<br />
ich gar nicht. Panik überfällt mich. Eine Panik, <strong>die</strong><br />
sich wie eine Ge pardin auf leisen Sohlen anschleicht,<br />
um ihr Opfer dann blitzartig am Hals zu packen und<br />
zu würgen. Im Moment bin ich das hilflose Opfer.<br />
Allein auf dem Weg in ein unbekanntes Land, in<br />
eine mir fremde Zukunft.<br />
Vor genau achtzehn Jahren wurde ich, Sofia, in<br />
Kasachstan geboren. Schon früh wurde mir <strong>die</strong> russische<br />
Mentalität tagtäglich injiziert, um ja nicht<br />
meine Wurzeln zu vergessen. Zu früh erfuhr ich, was<br />
es heißt, <strong>die</strong> strenge russische Erziehung zu genießen.<br />
Nicht, dass ich eine grauenhafte Kindheit verlebt<br />
hätte oder mich draußen auf dem Hof hätte<br />
abplagen müssen. Nein, meine Kindheit hätte<br />
eigentlich besser nicht sein können. Dennoch gab es<br />
Situationen, <strong>die</strong> eben mit ein paar Schlägen auf den<br />
Po, anstatt mit harten Worten, gelöst wurden. So<br />
zum Beispiel als ich eines Winterabends zu spät nach<br />
Hause kam und zudem den Einkauf nicht erledigt<br />
hatte. Obwohl ich mich herausreden wollte und vorgab,<br />
<strong>die</strong> Zeit und den Einkauf vergessen zu haben,<br />
regnete es prompt ein paar Hiebe auf den Po. Doch<br />
ich muss zugeben, dass meine Eltern in Sachen<br />
Be strafung noch sehr gutherzig zu mir waren. In<br />
unserem Dorf sind auch ganz andere Methoden in<br />
Umlauf. <strong>Die</strong> Klassiker: der Gürtel oder das Verweilen<br />
in der Ecke. Sollte es einen mal richtig übel erwischen,<br />
so wird Salz in eine Ecke gestreut, worauf das<br />
Kind sich mit blanken Knien nieder stützen muss.<br />
Ob man <strong>die</strong>se Erziehungsmethoden nun für richtig<br />
hält oder nicht, effektiv sind sie auf jeden Fall. Nur<br />
selten wagt man es dann wieder, sich gegen seine<br />
Eltern etwas zuschuldenkommen zu lassen.<br />
Obwohl ich in einem Land geboren wurde, das<br />
durch und durch russisch ist, bin ich dennoch keine<br />
Russin. Denn Hunderte Jahre zuvor wurden meine<br />
Vorfahren aus ihrer Heimat Deutschland vertrieben<br />
und dem harten Leben in Kasachstan ausgesetzt. Sie<br />
besaßen kein Quartier. Waren der Bewirtschaftung<br />
der Felder nicht mächtig. Und sie hatten keine<br />
Ahnung, wie sie mit den eisigen Temperaturen im<br />
Winter und der stechenden Hitze im Sommer<br />
zurechtkommen sollten. Ein jeder von ihnen war ein<br />
aus Porzellan gefertigter Krug, der von außen fest<br />
und solide war. Doch sobald man hineinschaute, sah<br />
man <strong>die</strong> ansteigende Hoffnungslosigkeit, <strong>die</strong> das<br />
Gefäß bald würde nicht mehr fassen können. Vielleicht<br />
ist das auch der wahre Grund, warum ich<br />
gerade in <strong>die</strong>sem zerbeulten und so typisch sowjetischen<br />
Bus sitze und mich auf dem Weg nach<br />
Deutschland befinde. Einem Land, das womöglich<br />
meine wahre Heimat ist. Doch was bedeutet Heimat?<br />
Und dann noch wahre Heimat? Ist es der Ort,<br />
wo man geboren wurde? Der Platz, wo <strong>die</strong> eigene<br />
Familie ist? Oder der Fleck, wo man sich wohl fühlt?<br />
Mittlerweile bin ich eine erwachsene Frau. Zumindest<br />
denke ich das. Wer traut sich denn schon hier<br />
aus meinem Dorf ganz alleine, ohne Familie, in ein<br />
fremdes Land aufzubrechen,<br />
um womöglich nie wiederzukehren? Alle hier haben<br />
sie Angst, den Schritt ins Ungewisse zu wagen. Es<br />
gibt nur wenige Mutige, <strong>die</strong> ihr Hab und Gut<br />
packen und ihrer Heimat den Rücken kehren. <strong>Die</strong><br />
meisten von ihnen werden weiterhin das gepflegte<br />
Dorfleben führen, so wie unsere Nachbarn Petrowitsch.<br />
Sie ist Buchhalterin, <strong>die</strong> tagtäglich <strong>die</strong> Stra-<br />
77
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pazen der Marschrutkafahrt auf sich nimmt, um in<br />
<strong>die</strong> Stadt zu kommen. Er Sportlehrer in der Dorfschule,<br />
dem Lyzeum Nr. 30. Schon lange ist es so,<br />
dass viele <strong>die</strong> Dorfgrenze überschreiten und in <strong>die</strong><br />
nächstgelegene Stadt Zelinograd fahren. Entweder<br />
weil sie dort arbeiten oder aber gewisse Einkäufe<br />
erledigen müssen. Dennoch spielt sich das Hauptgeschehen<br />
für <strong>die</strong>se Leute hier im kleinen Dorf Thälman<br />
ab. Viele haben ein eigenes Haus, das sie selber<br />
gebaut haben. Alle besitzen einen Stall mit einer<br />
Kuh, mit vielen Hühnern und Hennen und den<br />
dazugehörenden Küken. Für russische Verhältnisse<br />
sind <strong>die</strong> Dorfleute wohlhabend. Und vor allem sehr<br />
selbstständig. Man hat seine eigene Milch, aus dem<br />
Käse und Rahm hergestellt wird. Man hat seine eigenen<br />
Eier, <strong>die</strong> von den fleißigen Hennen gelegt werden.<br />
Und man backt sein eigenes Brot, welches das<br />
im Geschäft bei weitem übertrifft.<br />
Als ich noch klein war, habe ich meiner Mutter oft<br />
beim Melken zugeschaut. Ich sehe sie jetzt noch.<br />
Wie sie da im schlecht beleuchteten Schuppen sitzt.<br />
Auf einem kleinen Holzhocker und ständig versucht,<br />
dem peitschenden Schwanz der Kuh auszuweichen,<br />
der abwechselnd mal nach links, dann<br />
nach rechts schwingt. Stets trägt sie ein abgetragenes,<br />
rötliches Kopftuch, eine mit blauen Punkten<br />
durchsetzte Schürze und schwarze, abgenutzte<br />
Gummistiefel. Nie beklagt sie sich über ihre Arbeit.<br />
Das breite Lächeln, mit dem sie alles erledigt, klebt<br />
ihr stets wie eine Briefmarke im Gesicht.<br />
Obwohl ich zu meinem Land eine tiefe Verbundenheit<br />
spüre, bin ich dennoch in der Lage, meine<br />
Landsleute zu kritisieren. Deswegen auch meine<br />
Flucht aus <strong>die</strong>sem liebenswürdigen, aber dennoch so<br />
tristen und hoffnungslosen Leben. An jeder Ecke<br />
schreit <strong>die</strong> Perspektivlosigkeit mir geradezu ins<br />
Angesicht, um dann anschließend ihren Hohn über<br />
mich zu ergießen. Überall liegen <strong>die</strong> Arbeitslosigkeit,<br />
der Alkoholismus und <strong>die</strong> Korruption auf der<br />
Straße. Man muss sich nur noch bücken, um mit ihr<br />
zu verwachsen. Zwar habe ich einen Schulabschluss.<br />
Könnte hier auch durchaus ein Studium beginnen.<br />
Doch soll ich mein ganzes Leben in <strong>die</strong>ser Einöde<br />
verbringen? In meinem ganzen Leben nur Thälman<br />
und Zelinograd gesehen haben? Um mich irgendwann,<br />
alt und verschrumpelt, zu fragen, was ich in<br />
meinem Leben erreicht habe?<br />
Plumps. Ein scharfes Bremsen lässt den Bus tanzen<br />
und meinen Kopf gegen den Vordersitz knallen.<br />
Ganz benommen schaue ich auf. Im Bus herrscht<br />
rege Betriebsamkeit. <strong>Die</strong> Reisenden kramen ihre<br />
Taschen hervor. Ein Gedränge entsteht, weil jeder<br />
zuerst den Bus verlassen will. Wir sind da. In<br />
Deutschland, <strong>die</strong>sem Land aller Träume. Es fällt mir<br />
schwer, aufzustehen, da mein ganzer Körper von der<br />
Fahrt so steif ist, dass mir alles weh tut. Ich bin <strong>die</strong><br />
Letzte, <strong>die</strong> den Bus verlässt. Mit Gepäck überladen,<br />
strauchle ich <strong>die</strong> Bustreppe hinunter und erblicke in<br />
der Menge meine Tante. Mit einem strahlenden<br />
Gesicht kommt sie mir entgegen. Sie drückt mich,<br />
küsst mich und heißt mich herzlich willkommen in<br />
der Metropole Deutschlands: München.<br />
Nach dutzenden Küssen und Umarmungen fragt<br />
sie mich endlich, ob ich denn gut angekommen bin.<br />
Was soll ich ihr sagen? Soll ich ihr was sagen? Dass<br />
ich gelernt habe, Gerechtigkeit als Gleichheit zu verstehen;<br />
dass ich nicht „wie ein Tier“, sondern als<br />
Mensch <strong>die</strong> ukrainisch-polnische Grenze passiert<br />
habe, dass Lenin… Nein, dass alles konnte ich meiner<br />
Tante einfach nicht erzählen. Ich wollte es nicht.<br />
Sie würde mich ja eh nicht verstehen. Dafür lebt sie<br />
schon zu lange hier in Deutschland. Nein: ab jetzt<br />
beschließe ich, dass ich in einer neuen Stadt, in<br />
einem neuen Land eine neue Sofia bin. <strong>Die</strong> alte Sofia<br />
habe ich hinter der Grenze gelassen. Einfach so. Ab<br />
jetzt bin ich Europäerin. Basta.<br />
Also sage ich meiner Tante, dass <strong>die</strong> Fahrt gut gewesen<br />
ist. Dass wir eine tolle Klimaanlage im Bus hatten.<br />
Und das wir an der Grenze gar nicht aufgehalten<br />
wurden. Indem ich all <strong>die</strong> Strapazen einfach weglasse,<br />
fühle ich mich viel besser. So muss sich wohl<br />
auch meine Tante hier fühlen: keine ausgefallenen<br />
Klimaanlagen, kein Essensgestank, keine „Mensch<br />
oder Tier“-Fragereien. Ab jetzt wollte ich so sein wie<br />
sie, so denken wie sie. Und es sollte mir gelingen.<br />
Das Ganze mit Deutschland – dort leben, dort<br />
vielleicht arbeiten oder stu<strong>die</strong>ren, war ja zuerst alles<br />
nur ein pures Hirngespinst: Eines Tages rief meine<br />
Tante an, <strong>die</strong> mittlerweile schon seit 13 Jahren in<br />
Deutschland lebt. Sie fragte mich, was ich nach der<br />
Schule mit meinem Leben anfangen wolle. Ob ich<br />
konkrete Zukunftspläne hätte? Und natürlich hatte<br />
ich sie zu <strong>die</strong>sem Zeitpunkt noch nicht. Ich befand<br />
mich damals mitten in meiner Schullaufbahn und<br />
vermied es, mir Gedanken um mein späteres Leben<br />
zu machen. Ich hatte ganz einfach Angst davor.<br />
Wollte das alles so weit wie möglich von mir herschieben<br />
und meine Zukunft erst dann planen,<br />
wenn es wirklich sein musste. Doch meine Tante war<br />
sehr hartnäckig. Sie wollte mich unbedingt von <strong>die</strong>sem<br />
Dorfleben befreit wissen. Sie meinte immer,<br />
dass ich Potential hätte. Dass aus mir was werden<br />
könnte. Und dass es in Deutschland sehr gute Universitäten<br />
gebe.<br />
Damals konnte ich über ihren Vorschlag nur la -<br />
chen. Wie konnte mir meine Tante nur solch einen<br />
ab surden Vorschlag machen, wo sie doch genau<br />
weiß, wie sehr ich an meinem Zuhause hänge und<br />
unter welch krankhaften Heinwehattacken ich leide.<br />
Selbst ein Schulausflug für ein paar Tage war mir<br />
derart verhasst, dass ich jedes Mal abgemagert nach<br />
Hau se kam, weil ich vor lauter Heimweh nichts es -<br />
sen konnte. Nächtelang dachte ich über ihren Vorschlag<br />
nach, zu ihr nach Deutschland zu kommen.<br />
Dort zu stu<strong>die</strong>ren. Und so vernünftig ihre Idee auch<br />
war, sträubte sich dennoch alles in meinem Inneren<br />
gegen <strong>die</strong>sen Schritt. Er war mir einfach zu groß.
Und jetzt stehe ich hier. In München. Müde, ausgelaugt,<br />
tot.<br />
Wir haben uns nur wenige Schritte von der Bushaltestelle<br />
entfernt. Obwohl ich so benommen bin,<br />
höre ich plötzlich schrille Schreie. Es kommt mir<br />
vor, als befände ich mich in einem Fußballstadion.<br />
Dutzende, vielleicht Hunderte Männer grölen auswendig<br />
gelernte Parolen. Doch Moment: Es sind<br />
zwei Gruppen. Sie schreien aneinander an. Mit<br />
einem großen Fragezeichen im Gesicht schaue ich<br />
meine Tante verständnislos an. „Wer sind <strong>die</strong>?<br />
Warum schreien <strong>die</strong> so?“ „Oh, Sofia. Es tut mir so<br />
Leid. Es tut mir so Leid, dass das erste, was du hier<br />
siehst, eine Demonstration von Rechtsradikalen<br />
ist.“ „Was heißt rechtsradikal? Meinst du, <strong>die</strong> sind so<br />
wie Hitler? Gegen Ausländer? Gegen mich?“ „Nein,<br />
<strong>die</strong> sind nicht gegen dich, Sofia. <strong>Die</strong> protestieren<br />
einfach. Gegen Arbeitslosigkeit.“ „Und warum steht<br />
dann auf den Plakaten Deutschland den Deutschen?<br />
Warum grölen <strong>die</strong> Gebt uns unsre Arbeitsplätze wieder,<br />
Schickt sie doch nach Hause? Meinen <strong>die</strong><br />
mich?“ „Sofia, hör auf. Du hattest eine lange Fahrt.<br />
Lass uns jetzt schnell zu mir nach Hause gehen.“<br />
Und sie fasst mich fest an der Hand und schleift<br />
mich zu ihrem Auto. Aber ich will nicht. Ich will <strong>die</strong><br />
Wahrheit wissen. Vor allem: Wer sind <strong>die</strong>se anderen?<br />
Auf der gegenüberliegenden Seite? Auch sie schreien<br />
und fuchteln mit ihren selbstgemachten Transparenten<br />
herum. Ich höre nur Wortfetzen wie „Weg mit<br />
euch“, „Braune Masse“, „Für Toleranz, Gegen<br />
Rechts“. Sind das vielleicht <strong>die</strong> Guten? Ich reiße<br />
mich los und renne trotz meiner Müdigkeit der<br />
Masse entgegen. Doch bevor ich dort bin, sehe ich<br />
plötzlich eine Horde von Polizisten, <strong>die</strong> mich aufhalten<br />
wollen.<br />
Ich habe keine Chance gegen sie. Sie sind zu viele.<br />
Aber ich habe eine Chance, wenigstens von ihnen<br />
<strong>die</strong> Wahrheit zu erfahren. Also frage ich, was <strong>die</strong><br />
ganze Menge hier soll und warum alle so schreien.<br />
Ein breites Grinsen macht sich auf den Gesichtern<br />
der Polizisten breit. Hab ich was Falsches gefragt?<br />
Ist es etwa mein brüchiges Deutsch, dass so zur<br />
Erheiterung beiträgt? „Eine Demo wie jede andere.<br />
Eine kleine Nazi-Demo. Nichts Besonderes eben.“,<br />
antwortet mir einer <strong>die</strong>ser grünen Männer. „Nichts<br />
Besonderes?“, schießt es mir wie ein Blitzgewitter<br />
durch den Kopf. <strong>Die</strong>se komischen schwarzen Lederstiefel.<br />
<strong>Die</strong>se abartigen Parolen. Und das<br />
Schlimmste: <strong>Die</strong>se vor Hass triefenden Fratzen, <strong>die</strong><br />
unaufhörlich grölen und einen Fuß vor den anderen<br />
setzen. Das alles soll also nichts Besonderes sein? Reiner<br />
Alltag etwa? Also bei uns sieht Alltag anders aus.<br />
Starr vor Entsetzen blicke ich wieder in <strong>die</strong> Menge.<br />
Das soll Deutschland sein? Ein Land des Friedens,<br />
in dem heutzutage noch Nazis rumlaufen dürfen?<br />
Ein Land der Gleichberechtigung, in dem rassistische<br />
Äußerungen auf freier Straße ohne Konsequenzen<br />
gemacht werden können? Es ist absurd. So habe<br />
ich mir meine Ankunft wirklich nicht vorgestellt.<br />
Fliegende Flaschen, <strong>die</strong> wie Mini-Ufos <strong>die</strong> Luft<br />
durchstreifen, kreuzen mein Sichtfeld. Das Komische<br />
ist, dass nicht <strong>die</strong> Nazis damit schmeißen, sondern<br />
<strong>die</strong>, <strong>die</strong> ich eigentlich für <strong>die</strong> Guten gehalten<br />
habe. Es ist, als ob <strong>die</strong> beiden Gruppen <strong>die</strong> Rollen<br />
getauscht hätten. Während <strong>die</strong> Rechtsradikalen nur<br />
wie wild herumbrüllen, versuchen <strong>die</strong> anderen, mit<br />
in <strong>die</strong> Menge geworfenen Flaschen und Steinen <strong>die</strong><br />
Nazis zu verletzen.<br />
Vor meinen Augen verschwimmt alles zu einem<br />
riesengroßen Klumpen. Ich spüre, wie meine Beine<br />
langsam nachgeben. Höre das Pochen in meinem<br />
Kopf, das dem meines Herzens gleicht. Obwohl sich<br />
vor meinen Augen alles so undeutlich abzeichnet,<br />
sehe ich, am Rand eines Gehsteigs, einen schwarzen,<br />
zusammengekrümmten Fleck. Ich meine, eine ältere<br />
Dame zu erkennen. Mit meinem Finger auf sie deutend,<br />
stammele ich: „Dort. Da. Dort liegt jemand.<br />
Eine Dame. Sie kann nicht aufstehen. Sie müssen<br />
ihr helfen.“ Einer der Polizisten, der gerade neben<br />
mir steht, folgt mit seinem Blick meinem Zeigefinger.<br />
„Tatsächlich“, höre ich ihn antworten. Und<br />
schon rennt er mit einem Kollegen der älteren Dame<br />
entgegen, <strong>die</strong> hilflos auf der Straße liegt und nicht<br />
fähig ist, aus eigener Kraft aufzustehen. Ich kann es<br />
nicht fassen. Kein Mensch bei <strong>die</strong>ser Demonstration<br />
fühlt sich verpflichtet, ihr zu helfen. Sie liegt mitten<br />
in einem Scherbenhaufen. Scherben, <strong>die</strong> von den<br />
Mini-Ufos stammen. Scherben, welche <strong>die</strong> Hand<br />
der Dame aufgerissen haben.<br />
Plötzlich fasst mich eine Hand von hinten. Ich<br />
drehe mich um und erblicke meine Tante. Mit entsetzten<br />
Augen starrt sie mich an. Unfähig, etwas zu<br />
sagen, reißt sie mich in ihre Arme. Sie umarmt mich,<br />
küsst mich. Nachdem sie fertig ist, ist mein ganzes<br />
Gesicht von ihren Tränen benetzt. „Komm, Sofia,<br />
lass uns gehen. Es war ein langer Abend.“ Widerstandslos<br />
füge ich mich ihrem Willen. Wir steigen<br />
ins Auto und fahren zu meiner Tante nach Hause.<br />
Auf dem Weg wechseln wir kein Wort. Wir beide<br />
wissen: <strong>Die</strong> richtigen Worte für einen Eintritt ins<br />
vermeintlich europäische Para<strong>die</strong>s gibt es nicht.<br />
Zu verharmlosen, was ich gesehen, wird sich meine<br />
Tante nicht trauen. Das weiß ich. <strong>Die</strong> Wahrheit<br />
darüber zu sagen, was ich über <strong>die</strong>se Demonstration<br />
– soll das etwa so weitergehen? – denke, das kann ich<br />
meiner Tante auch nicht antun. Das Schweigen ist<br />
für uns wie ein Schützengraben, was uns vor den<br />
Bomben der Demonstration schützt. Aus ihm<br />
herauszukriechen, etwas zu sagen, trauen wir uns<br />
beide nicht.<br />
In ihrer Wohnung angekommen, erwartet mich<br />
das nächste Übel. Noch bevor ich aussteige, sehe<br />
ich, dass eine große lächelnde Menschenmenge<br />
mich mit Blumen und Geschenken vor Tantes<br />
Tür erwartet. Aber lächeln kann ich nicht. Wie<br />
soll ich das können? Wie kann ich es wollen? Aber<br />
dann erinnere ich mich an mein eigenes Versprechen.<br />
An das, was ich beschlossen habe, als ich<br />
in München angekommen bin. Ja, ich bin eine<br />
neue Sofia – bin ich?<br />
79
80<br />
Niemals mehr habe ich <strong>die</strong>ses Gefühl abgeschält<br />
bekommen, das sich vielleicht nicht erst an <strong>die</strong>sem<br />
schlickigen Abend als alles endete bemerkbar<br />
machte, sondern, womöglich, viel früher: Als Taran<br />
mich unruhig machte oder sogar schon zur Zeit<br />
jenes lichtabgedunkelten Kindsommers, auf der<br />
Rückbank des Fiats von Bebe, immer auf dem Weg<br />
zur Küste.<br />
Auch da war Radio und möglich, es sind <strong>die</strong> Stimmen<br />
aus dem Nichts, <strong>die</strong> dann ein Leben lang nicht<br />
mehr aufhören zu soufflieren.<br />
Zischende Schnalzer und das Anhalten von Atem<br />
mitten im Wort und man muss in <strong>die</strong> Hände klatschen<br />
und all das herumscheuchen, bis Erschöpfung<br />
eintritt und der kataklystische Singsang kapituliert,<br />
und dann kann man dem Ganzen das Genick brechen<br />
oder Spitzen klöppeln.<br />
Da ist Toff, der Zwetschge ausschenkt, in der Flasche<br />
ein schwimmender Eisklumpen, weil Februar.<br />
Zwetschge tränt in <strong>die</strong> Gläser.<br />
Sechs Uhr und Ladenschluss bei Coop’s Grocery<br />
bringt kalte Luft und Aki und Zita und einen, den<br />
kenne ich nicht. Wieder Zwetschge, was das Gehör<br />
wattiert und <strong>die</strong> Augen von innen beschlägt.<br />
Ich sage nichts und Aki und Zita sprechen mit Toff<br />
über den Kampf, der andre sagt auch nichts und ich<br />
schiebe mir einen Beutel Tabak zwischen Zahnfleisch<br />
und Oberlippe und horche auf das Schweigen,<br />
das eintritt; was gibt es schon zu sagen darüber,<br />
dass Kid nach siebenjährigem Pausieren und dann<br />
gegen Cyclo, <strong>die</strong>se polierte, blutdurstige Visage,<br />
gegen einen Kampf also, der schon im Vornherein<br />
entschieden ...<br />
Ein Sturz Vögel, gegen Westen abdrehend,<br />
irgendwo am linken Horizontausschnitt und <strong>die</strong><br />
blaue Stunde, <strong>die</strong> der schwarzen weicht.<br />
Josie taucht auf, wird mit zotigen Ausrufen<br />
begrüßt und beginnt an dem Radiogerät rumzuschrauben,<br />
das Toff aus der Küche gebracht hat.<br />
Radio Nord also, als Josie es um fünf vor acht<br />
gelungen ist, das Radio in Schräglage auf einem<br />
Barschwamm und <strong>die</strong> Antenne, gestützt von einer<br />
Flasche Grasovska und Gin, <strong>die</strong> richtige Frequenz<br />
mit einem zum Schraubenzieher umfunktionierten<br />
Zitronenmesser einzustellen.<br />
Und gerade noch rechtzeitig fängt das Radio <strong>die</strong><br />
Story<br />
Radio Nord<br />
Von Corinna Sigmund<br />
<strong>ersten</strong> Wellen, eine zerfetzte Einmarschhymne,<br />
Opus 3, was ich gewußt habe, und das Geschrei der<br />
Leute und all der Applaus löscht Toffs Klitsche und<br />
ich bin mit Kid und wir laufen über <strong>die</strong> Mole zum<br />
Strand runter, dass der Sand stiebt und entsetzt kreisende<br />
Möwen und Kid, mit gut 20 Metern Vorsprung,<br />
breitet mitten im Endsprint <strong>die</strong> Arme aus,<br />
beschreibt einen scharfen Zirkel und ahmt das Kreischen<br />
der Möwen nach, während er sich auf mich<br />
stürzt, der ich, Zurückgebliebener, ihn einhole.<br />
Und von der Promenade brüllt Stieger mit seiner<br />
verfluchten Stoppuhr fuchtelnd auf uns, Blagen,<br />
runter, zetert, weil er <strong>die</strong> Zeit nicht nehmen konnte.<br />
Ich wusste, dass <strong>die</strong> Geschichte schlecht enden<br />
würde, als Wochen später Stieger mit Kätzchen in <strong>die</strong><br />
Kabine kam und sie Kid holten, der mir gerade auf<br />
einem Kassettenrecorder den Tap-Song vorspielte,<br />
und, ja Kid, es ist Zeit, Kätzchen wird sich in<br />
Zukunft um dich kümmern, ab morgen gehst du<br />
steil.<br />
<strong>Die</strong> Stille nach dem Verebben des Lärms im Stadion<br />
wird umso fühlbarer, als sie getragen wird vom<br />
körnigen Räuspern des Frequenzsuchers, den Josie<br />
mit millimeterkurzen Tarierbewegungen immer<br />
wieder besänftigt.<br />
Es ist nicht mehr Kätzchen, der Kid <strong>die</strong> Schultern<br />
massiert, es ist Prospero, <strong>die</strong>ses feiste Schwein, der<br />
ihm erst Recht den Rest gegeben hat.<br />
Allein lief ich weiter <strong>die</strong> Mole runter, allein trainierte<br />
mich Stieger weiter, meine Zeiten wurden<br />
besser und <strong>die</strong> Führhand, aber nicht <strong>die</strong> Möwenschreie<br />
und auch nicht der Kopf.<br />
Kätzchen war mit Kid abgehauen, und sonst nur<br />
gut verpackte Menschen auf den Straßen, also ich<br />
vom Center nach Haus, von zuhaus zum Center und<br />
zwischendurch Opus 3 und <strong>die</strong> Bücher, <strong>die</strong> Kid in<br />
seinem Spind vergessen hatte. Thomas, Miller und<br />
alles von Fjodor; zwischen den Seiten fand ich als<br />
Einmerker gebrauchte Passagen aus Woyzeck und<br />
Frühlingserwachen.<br />
Radio Nord sagt über Kid, dass er geschwächt in<br />
<strong>die</strong> zweite Runde geht, dass <strong>die</strong> Deckung nicht optimal<br />
und Cyclo beweglich, dass Kid auch zu defensiv<br />
und unkonzentriert, kurz, dass es <strong>die</strong> Ankündigung<br />
einer peinlichen Blamage, wenn nicht schlimmer...<br />
Toff, sage ich, gib mir Zwetschge.<br />
Aber selbst in <strong>die</strong>ser Vision Kids als Verlierer, <strong>die</strong><br />
später in Hochglanz in allen einschlägigen Journa-
len abgepaust sein wird, bleibt er immer noch ganz<br />
prometheischer Fackelträger, so wie ich ihn zwei<br />
Jahre nach seinem Abzug mit Kätzchen im Ring wiedertraf,<br />
sein fallendes, kantiges Gesicht gnadenlos,<br />
das pazifische Blau der Augen ungebrochen.<br />
Vergangenheit.<br />
Vergangenheit, dass er mich in <strong>die</strong>ser Nacht<br />
schlug, wie mich noch nie zuvor jemand geschlagen<br />
hatte und ich, unfähig, mich zu wehren – nicht<br />
gegen seine Schläge, aber gegen <strong>die</strong> Schönheit seines<br />
Körpers und den Schliff seines Blicks, der mich zu<br />
sehr erinnerte an Möwen oder Dylan Thomas oder<br />
irgendetwas in dem Stil.<br />
Nur noch ein winziges gefrorenes Eisauge<br />
schwimmt in der Flasche, und ich blicke in <strong>die</strong>se<br />
blinde Pupille, trinke Zwetschge und hör zu, wie<br />
Kid links und rechts auf <strong>die</strong> Fresse bekommt.<br />
Nach dem Kampf, bei dem ich fiel und Kid aufstieg<br />
– oder war es umgekehrt – gab ich Stieger <strong>die</strong><br />
Handschuhe und verließ das Center und hörte beim<br />
Laufen an der Mole nicht mehr auf Stiegers Stimme,<br />
sondern auf <strong>die</strong> anderen, <strong>die</strong> der Vögel und <strong>die</strong>ses<br />
inneren Radios, das immer lauter wurde, und rannte<br />
ihnen nach wie auch <strong>die</strong>sem einzigen Wort, das Kid,<br />
von Kätzchen damals an mir und meinem auseinandergenommenen<br />
Körper vorbeigeschleift, fast flüsterte:<br />
Oke?<br />
Und wenn ich renne, dann ist es <strong>die</strong>ses Wort, das<br />
mich bremst, indem ich mich verfange, oke, ho-ke,<br />
ke-ke, ai-ai und <strong>die</strong> Stoppuhren laufen ab, bevor ich<br />
ankomme und ich halte nur noch brösligen Sand in<br />
den Händen.<br />
Radio Nord sagt, sein Comeback wird ihm das<br />
Genick... und der Empfang bricht ab, weil Toff den<br />
Grasovska umgestoßen hat und <strong>die</strong> Provisorie der<br />
Antenne hinüber und der Kampf endet in Toffs<br />
Kneipe mit einem Rauschen, aus dem ich irgendwann,<br />
womöglich, Spitzen klöppeln werde.<br />
81
82<br />
Frederick Pollack<br />
Kopfverletzung<br />
Nach einem Jahr der angemessenen Pflege<br />
kehrt der Soldat zu seinen Leuten heim.<br />
Sie wurden auf <strong>die</strong> nächtlichen Schreie vorbereitet,<br />
den Abwehrreflex, <strong>die</strong> gelegentlichen<br />
Ausbrüche. Abgesehen von den Rückblenden<br />
träumt er von hajjis auf den Fluren<br />
seiner sonst vergessenen Highschool,<br />
<strong>die</strong> Allahu Akbar schreien, wenn sie zustechen.<br />
Er zieht wieder in sein altes Zimmer.<br />
Sein Bruder schläft auf dem Ausziehbett<br />
im Wohnzimmer. Seine Schwester kommt<br />
mit ihrem Ehemann. Alle wollen,<br />
daß der Soldat mit ihnen betet,<br />
auf den Knien vorm TV;<br />
er ist auch willig, aber schwach.<br />
<strong>Die</strong> Hitze draußen ist wie in der Wüste,<br />
plus <strong>die</strong> Feuchte; <strong>die</strong> Aircondition<br />
klirrt am Fenster. Sie schauen ihre Priester im TV,<br />
und manchmal schaut der Priester<br />
auch vorbei. Er muss behutsam sein,<br />
der „Warum hat Gott uns das angetan“-Fragen gewärtig,<br />
<strong>die</strong> einem entgleiten können. Er will<br />
den Soldaten heilen,<br />
als Zeugen vor zehntausend Leuten (<strong>die</strong> Anfälle<br />
von „Ausdrücken“ sind ein Problem); unterdessen<br />
spricht er von heiligem Krieg und geheimem Segen.<br />
Aus der Kirche kommen Leute,<br />
um zu beten; doch das Zimmer<br />
ist verwahrlost, sehr heruntergekommen,<br />
und es stinkt. Es gab ein Mädchen,<br />
ungetraut, das bei seinem einzigen Besuch nur weinte.<br />
Der Soldat schläft den ganzen Tag.<br />
Wenn Ma bei ihrem Zweitjob ist<br />
und der Kleine in der Bibelstunde, sieht er<br />
gern <strong>die</strong> Autos ihre Runde drehen<br />
(ab und zu <strong>die</strong> Explosionen, selber schuld, verdammt,<br />
denn an ihren Reifen ist nichts auszusetzen).<br />
Sie bringen ihn, wo er vor Göttern und Verrückten sicher ist.<br />
(deutsch von Matthias Falke)
Wo einmal Berge waren<br />
Fotos: Vivian Stockman, Text: Phylis Geller<br />
„Wenn das amerikanische Volk sehen könnte, was ich gesehen habe,<br />
hätten wir eine Revolution in <strong>die</strong>sem Land: Wir tragen in den Appalachen<br />
unsere Berge ab.“<br />
Robert Kennedy jr.<br />
Vor unseren Augen geschieht<br />
in den Appalachen (USA) eine<br />
der größten Umwelt- und Menschenrechts-<br />
Katastrophen in der Geschichte der Landes.<br />
Familien und ganze Dorfgemeinden werden<br />
durch Überflutungen, Erdrutsche und Sprengungen<br />
von ihrem Land vertrieben: durch <strong>die</strong><br />
Folgen eines Kohle-Abbaus,<br />
genannt Mountaintop<br />
Removal (Entfernung der<br />
Bergkuppen). Eine lebendige<br />
Kultur und einige der
ältesten Berge der Welt werden hier vernichtet,<br />
um für <strong>die</strong> USA „billige Energie“ bereitzustellen.<br />
An Kohle verschwenden <strong>die</strong> wenigsten Amerikaner<br />
auch nur einen Gedanken. Wir reden vielmehr<br />
über unsere Abhängigkeit vom ausländischen<br />
Öl; politisch diskutiert wird vor allem<br />
über Bio-Kraftstoffe, Windfarmen und Solarenergie.<br />
Und nur wenige von uns wissen, dass<br />
<strong>die</strong> Hälfte der elektrischen Energie des Landes<br />
aus Kohle entsteht. Manche meinen sogar, dass<br />
unsere Kohlevorräte noch für <strong>die</strong> nächsten 200<br />
Jahre reichen werden. Kohle spiele also eine größere<br />
Rolle in der Zukunft als andere Energiequellen.<br />
Aber: Kohle ist der schmutzigste fossile Brennstoff.<br />
Jede einzelne Maßnahme im Bergbau und<br />
in der Weiterverarbeitung belastet Luft und<br />
Wasser mit Emissionen. Von den Auswirkungen<br />
auf <strong>die</strong> menschliche Gesundheit ganz abgesehen,<br />
produziert <strong>die</strong> Kohleverbrennung doppelt
so viel CO 2 wie Erdgas und trägt damit erheblich<br />
zur globalen Erwärmung bei.<br />
<strong>Die</strong> größten Kohlevorkommen unseres Kontinents<br />
liegen in den Bergen von Virginia, West<br />
Virginia, Kentucky, Tennessee und Pennsylvania.<br />
Seit 150 Jahren werden <strong>die</strong> Berge von den<br />
Bergbaugesellschaften ausgeweidet, ausgebeutet<br />
(wie <strong>die</strong> Menschen). Heute<br />
haben wir einen neuen Bürgerkrieg<br />
in den Appalachen,<br />
und <strong>die</strong> Front geht quer durch <strong>die</strong> Familien und<br />
<strong>die</strong> Dörfer: <strong>Die</strong> einen brauchen <strong>die</strong> Jobs im<br />
Bergbau, und <strong>die</strong> andern protestieren gegen <strong>die</strong><br />
Zerstörung ihrer Heimat.<br />
Kohle wird sowohl unter Tage als auch im Tagebau<br />
gefördert. Während der Untertage-Abbau<br />
allmählich an Bedeutung verlor, wurde der<br />
Tagebau immer wichtiger. Heute bietet uns der<br />
technische Fortschritt<br />
schnellere und billigere Mög-
lichkeiten, an <strong>die</strong> Kohle zu kommen. Seit den<br />
80er Jahren trägt man also <strong>die</strong> Berge einfach ab,<br />
man nennt es Mountaintop Removal oder kurz<br />
MTR.<br />
Während der Ölkrisen von 1973<br />
und 1979 kam MTR durch <strong>die</strong><br />
gestiegene Nachfrage nach Kohle in<br />
Schwung. Nachdem seit den 90er<br />
Jahren schärfere Gesetze gegen <strong>die</strong><br />
Verbrennung von hoch schwefelhaltiger Kohle<br />
in Kraft waren, wurde MTR großflächiger angewandt,<br />
um <strong>die</strong> relativ schwefelärmere Kohle in<br />
den oberflächennahen Flözen abzubauen.<br />
MTR wurde weitgehend eine Sache<br />
von Maschinen und schwerem<br />
Gerät; damit können Bergbauunternehmen<br />
jetzt leichter auch an<br />
abgelegene Kohlelager gelangen,<br />
<strong>die</strong> bei früheren Abbaumethoden
unerreichbar waren. Weil MTR mit sehr viel<br />
weniger Arbeitskräften auskommt als der Untertagebau,<br />
gingen in <strong>die</strong>ser Branche zwischen<br />
1990 und 1997 etwa 10000 Jobs verloren. In<br />
den armen und unterentwickelten Landstrichen<br />
haben Bergarbeiter kaum alternative Beschäftigungsmöglichkeiten.<br />
Zuerst kommen <strong>die</strong> Bulldozer<br />
und reißen auf den Bergen<br />
alle Bäume und Pflanzen aus.<br />
<strong>Die</strong> Bäume werden entweder an Sägewerke verkauft<br />
oder einfach den Abhang hinunter ins Tal<br />
gerollt. <strong>Die</strong> Humusschicht wird entfernt und<br />
manchmal für eine spätere Wiederurbarmachung<br />
aufbewahrt. Dann sprengen <strong>die</strong> Bergleute<br />
<strong>die</strong> bis zu 350 Metern hohe Bergkuppe ab.<br />
Der dabei entstehende Staub enthält Schwefelverbindungen,<br />
<strong>die</strong> Häuser<br />
(durch Korrosion) und <strong>die</strong>
Gesundheit der Menschen gefährden.<br />
<strong>Die</strong> von der Kohleschicht abgesprengte Schicht<br />
aus Humus und Gestein wird Abraum genannt.<br />
Der Abraum wird oft in riesigen Massen in das<br />
tieferliegende Tal geschüttet (das heißt dann<br />
„Talfüllung“) und begräbt Bäche und Flüsse<br />
unter sich.<br />
Ein Schaufelbagger entfernt<br />
sodann <strong>die</strong> Kohle, <strong>die</strong> danach<br />
mit Schwer-LKWs zum<br />
Waschen transportiert wird. <strong>Die</strong> schlammigen<br />
Rückstände (auch Kohlen-Maische genannt)<br />
enthalten chemische Umweltgifte und Schwermetalle.<br />
Millionen Tonnen <strong>die</strong>ser Kohleschlamm-Rückstände<br />
werden in offenen<br />
Becken gespeichert, innerhalb einfacher Erddämme,<br />
<strong>die</strong> bei starkem Regen aufweichen und<br />
brechen.<br />
<strong>Die</strong>ser MTR-Tagebau wird in<br />
der Nähe von Schulen und
Wohnhäusern betrieben, manchmal ununterbrochen<br />
24 Stunden pro Tag. <strong>Die</strong> Menschen<br />
müssen sich mit dem fortwährendem Lärm der<br />
Sprengungen abfinden, mit verschmutzter Luft<br />
und schmutzigem Wasser und der dauernden<br />
Bedrohung durch Dammbrüche und Überschwemmungen.<br />
<strong>Die</strong> Fälle von Krebs-, Hautund<br />
Lungenerkrankungen nehmen hier<br />
beträchtlich zu. In <strong>die</strong>ser<br />
Gegend ist ein Haus oft der einzige<br />
Vermögenswert, aber MTR<br />
hat zahllose Häuser bereits irreparabel beschädigt.<br />
Wenn <strong>die</strong> Bewohner dann umziehen wollten,<br />
haben sie nichts Wertvolles mehr zu verkaufen.<br />
Wenn <strong>die</strong> Bergbauunternehmen alle Kohle aus<br />
dem Berg geholt haben, versuchen sie, <strong>die</strong> komplizierten,<br />
aber ineffektiven Gesetzen zu befolgen,<br />
nach denen <strong>die</strong> Landschaft für eine spätere<br />
Nutzung wiederhergerichtet<br />
werden soll. <strong>Die</strong> Unternehmen<br />
pflanzen Gras und Buschwerk
an, oder sie bauen Industrieparks und Flugplätze.<br />
<strong>Die</strong> Pflanzen stammen aus einem völlig<br />
anderen Habitat und sind wertlos für <strong>die</strong> einheimische<br />
Fauna, und <strong>die</strong> Bauten sind nur für<br />
wenige Menschen von irgendeinem Nutzen.<br />
<strong>Die</strong> Zerstörung der Wasserläufe, der Täler und<br />
der Landwirtschaftsflächen ist allerdings nicht<br />
rückgängig zu machen. <strong>Die</strong> Anwohner sagen<br />
dazu nur noch: „<strong>Die</strong>se Wiederherstellung ist wie<br />
Lippenstift auf einer Leiche.“<br />
Manchmal wird behauptet, moderne und teure<br />
Technologie ermögliche eine „saubere Kohle“,<br />
also <strong>die</strong> Verminderung der Schwefeldioxid-,<br />
Stickoxid- und Quecksilber-Emissionen. Aber<br />
bisher gibt es keine Anlage mit <strong>die</strong>ser Technologie,<br />
und <strong>die</strong> meisten neugebauten Anlagen werden<br />
gleich überhaupt ohne sie gebaut.<br />
<strong>Die</strong> Bergbauunternehmen schlagen uns außerdem<br />
<strong>die</strong> CCS-Technologie vor (Carbon Capture<br />
and Storage), also CO 2 -Abscheidung und -Spei-
cherung in verlassenen Schächten unter der<br />
Erde. Den Nachweis jedoch, dass hier keine<br />
Schadstoffe entweichen und in <strong>die</strong> Landschaft<br />
gelangen können, hat bisher niemand erbracht.<br />
In den Tagebauten von West-Virginia und Kentucky<br />
sind durch MTR heute bereits 600000<br />
Hektar gesunder Boden vernichtet und ungezählte<br />
weitere Flächen<br />
beschädigt. <strong>Die</strong> Umweltbe-<br />
hörde der USA schätzt, dass bis zum Jahr 2012<br />
etwa 5700 Quadratkilometer Wald in den<br />
Appalachen durch MTR verschwinden. Allein<br />
in West-Virginia sind durch <strong>die</strong> Abraum-Füllung<br />
von 4000 Tälern mehr als 1300 Fluss-Kilometer<br />
belastet, speziell im lebenswichtigen<br />
Oberlauf der Flüsse, <strong>die</strong> den Staaten im Südosten<br />
der USA das Trinkwasser liefern sollen.<br />
1977 verabschiedete der Kon-
gress das Gesetz zur Reinhaltung der Gewässer<br />
(Clean Water Act), das der Industrie verbietet,<br />
„Abfälle“ in Flüssen zu deponieren. Aber im Jahr<br />
2002 verfügte <strong>die</strong> Bush-Regierung in einer<br />
„Änderungsdirektive“ des Präsidenten, dass der<br />
Abraum aus MTR kein Abfall im<br />
Sinne des Gesetzes sei. Seitdem<br />
nützen <strong>die</strong> Bergbauunternehmen<br />
<strong>die</strong>se Ausnahmeregelung,<br />
alles in Flüsse zu werfen, was sie<br />
nicht mehr gebrauchen können.<br />
Im August 2007 schlug <strong>die</strong> Regierung eine weitere<br />
Ausnahme vom Clean Water Act vor.<br />
Dadurch soll <strong>die</strong> „Abstandszone“ gekippt werden,<br />
<strong>die</strong> einen 31-Meter-Mindestabstand zwischen<br />
Kohleabbau und Wasserläufen<br />
vorschreibt. In der<br />
Vergangenheit haben <strong>die</strong><br />
Unternehmen sich eine solche<br />
Ausnahmegenehmigung regel-
mäßig durch einen einfachen Antrag besorgt. In<br />
Zukunft wären jetzt alle Hindernisse beseitigt<br />
zwischen den Unternehmen und der vollständigen<br />
Beerdigung der Flüsse in den Appalachen.<br />
Beim heutigen Tempo der Landschafts -<br />
zerstörung sind <strong>die</strong> Appalachen in 50 Jahren<br />
unbewohnbar.<br />
Aber es besteht Hoffnung, <strong>die</strong> Stimmung dreht<br />
sich. Viele Anwohner bleiben nicht länger<br />
tatenlos angesichts der Zerstörung ihres Eigentums<br />
und der Gefahr für ihre Familien. Das<br />
ganze Land ist heute von der Sorge um den Klimawandel<br />
ergriffen und setzt sich für saubere<br />
und nachhaltige Energie ein.<br />
<strong>Die</strong> Zahl der Anträge für Kohlekraftwerke<br />
in den USA ist seit kurzem von 150 auf 129<br />
zurückgegangen. Auch das ist ein Ergebnis<br />
öffentlicher Aktionen und erfolgreicher<br />
Klagen vor Gericht.
REZENSIONEN<br />
Wir kommen zum Wetter<br />
Man kennt sie aus einem Nachrich ten -<br />
magazin: <strong>die</strong>se szenischen Einstiege in<br />
<strong>die</strong> Story. Sagen wir mal: über <strong>die</strong> Mafia,<br />
dann lautet der erste Satz: „Leise knirsch -<br />
te der Kies in der Auffahrt zur Villa Lombroso<br />
...“ oder „<strong>Die</strong> 17000 Kerzen in der<br />
Sala Turca beleuchteten eine gespensti -<br />
sche Szene ...“ oder so ähnlich.<br />
Und obwohl man sie eigentlich über<br />
hat, gibt es sie immer noch, nicht nur in<br />
Zeit schriften, sondern nun auch in Bü -<br />
c h e r n .<br />
Was allerdings dann keine Überraschung<br />
mehr wäre, wenn das Buch aus<br />
lauter Zeitschriftenartikeln zusammen -<br />
ge setzt wäre.<br />
Das Buch von Fred Pearce das wetter<br />
von morgen. wenn das Klima zur bedrohung<br />
wird (Kunstmann Verlag, Mün -<br />
chen 2007) weckt <strong>die</strong>sen Verdacht. Es<br />
beginnt mit „<strong>Die</strong>se Geschichte beginnt<br />
mit einem schwedischen Che miker, der<br />
in dem sonnenlosen nordischen Winter<br />
an einem Weihnachtsabend bedrückt in<br />
seinem Arbeitszimmer saß. Gerade war<br />
seine Ehe mit seiner schönen Assistentin<br />
Sofia zerbrochen.“ Der Chemiker spielt<br />
dann zwar keine große Rolle mehr, aber<br />
im inszenierten Einstieg putzt er (zusammen<br />
mit der schö nen Sofia) ungemein.<br />
Bücher zur Katastrophe<br />
Es sind insgesamt 37 „Geschichten“,<br />
<strong>die</strong> so beginnen, und ihre Überschriften<br />
könnten ebensogut aus Ma ga zin artikeln<br />
genommen sein: „<strong>Die</strong> Heizung aufdrehen<br />
– Ein kritischer Blick auf den Klimawandel“,<br />
„Das Schelf –<br />
Wenn in der Antarktis der Korken gezogen<br />
wird“, „Wat sind Watt – <strong>Die</strong><br />
unausgeglichene Energiebilanz der<br />
Erde“ (man hatte <strong>die</strong> ses Titel-Rezept<br />
zuletzt bei Sabine Chris ti ansen auszuhalten).<br />
Wer es also, bei durchgehend ernst -<br />
zunehmendem Inhalt, gern mit leich ter<br />
Kost hält, wird mit dem Buch vermutlich<br />
zufrieden sein. Er darf sich dann aber<br />
auch nicht über einen unverhofft<br />
komischen Satz beschweren: „Nicht<br />
so rasch wurde hingegen eine Verbindung<br />
zwischen den Heinrich-Ereignissen<br />
und dem Dansgaard-Oeschger-<br />
Zyklus her ge stellt, was durchaus verständlich<br />
ist.“ Durchaus verständlich.<br />
Pearce, der bisher vor allem für Periodika<br />
wie den Boston Globe und Ecologist<br />
schreibt, macht aus dem Klimawandel<br />
ein leichtes Allerlei aus<br />
„Events“. Er macht ihn – in einer<br />
schlimmen Bedeutung des Wortes –<br />
interessant.<br />
In der Reihe C.H.Beck Wissen haben<br />
der Klima-Berater der Bundeskanzlerin<br />
und Direktor des Potsdam-Instituts<br />
für Klimafolgenabschätzung,<br />
Hans Joachim Schellnhuber, und sein<br />
Kollege Stefan Rahmstorf, ein nur etwa<br />
140 Seiten star kes Taschenbuch he -<br />
rausgegeben (Der Klimawandel,<br />
Mün chen 2007), das je doch alles versammelt,<br />
was der kundige Zeitgenosse über<br />
<strong>die</strong> Erderwärmung wissen muss. Was <strong>die</strong><br />
Lektüre so angenehm wie ergiebig macht:<br />
Hier wird der Klimawandel weder hochdramatisiert,<br />
noch heruntergespielt.<br />
Gegenüber derartigen Me<strong>die</strong>nberichten<br />
wird dem Leser sogar ausdrücklich Skepsis<br />
empfohlen.<br />
Der Untertitel (Diagnose - Prognose -<br />
Therapie) gibt dem Inhalt eine schlüssige<br />
und gedanklich saubere Gliederung. Es<br />
werden zuerst <strong>die</strong> Fakten präsentiert und<br />
dann erst daraus Vorausschauen abge lei -<br />
tet und aufgestellt.<br />
Relativ ausführlich befassen sich <strong>die</strong><br />
Autoren mit den bei Naturwissen schaft -<br />
lern nicht gerade beliebten Gerechtig -<br />
keitsfragen, wenn etwa eine reine Laissezfaire-Strategie<br />
durchgespielt wird :<br />
Beispielsweise könnte grundsätzlich abwar -<br />
ten, wie sich <strong>die</strong> weltweiten Klimawirkungen<br />
entfalten und dann, bei klar identifizierbaren<br />
Schadensereignissen, <strong>die</strong> Betroffenen für ihre<br />
Ver luste kompensieren. Manche Ökonomen<br />
ar gumentieren etwa, dass es wesentlich günsti -<br />
ger wäre, <strong>die</strong> Bevölkerungen der vom steigenden<br />
Mee resspiegel bedrohten Südseeinseln auf<br />
Kos ten der Industrieländer nach Australien<br />
oder Indonesien umzusiedeln, statt <strong>die</strong> Wirt -<br />
schaft durch Beschränkungen für Treibhausgasemissionen<br />
zu belasten. Dabei werden jedoch<br />
<strong>die</strong> sozialen und ethischen Probleme vergessen,<br />
und <strong>die</strong> Gefahr ist groß, dass mit solchen Überlegungen<br />
eine geopolitische Pandorabüchse<br />
geöffnet wird.<br />
Es gibt den beiden Autoren zufolge<br />
gegenüber dem Klimawandel eine irrationale<br />
Haltung (Ignorieren) und zwei<br />
denkbare Lösungen: Anpassung oder<br />
Ver meidung. Beide haben heute ihre An -<br />
hänger. <strong>Die</strong> Anpasser sind besonders da -<br />
ran zu er kennen, dass sie – am liebsten in<br />
Talkshows – vortragen, es genüge, einfach<br />
<strong>die</strong> Deiche um einen oder zwei Me -<br />
ter höherzubauen. Gegenwärtig scheinen<br />
sie eher auf dem Rückzug zu sein.<br />
Was aber auch damit zusammenhängt,<br />
dass das Thema insgesamt, IPCC und<br />
Bali hin oder her, allmählich wieder aus<br />
den Me<strong>die</strong>n verschwindet, weil <strong>die</strong> Ver-<br />
95
meidung der Erderwärmung als zu mühselige<br />
Anstrengung erscheint.<br />
Überhaupt bietet das Buch stellenweise<br />
Anlass zu globalem Pessimismus. Ein<br />
Blick auf <strong>die</strong> Tabelle 5.1 mit den Ände -<br />
rungen der Treibhausgasemissionen im<br />
Vergleich zu den Kyoto-Verpflichtungen<br />
sei deshalb nur wirklich starken Naturen<br />
ge ra ten: Es gibt unter den 23 aufgeführten<br />
Staaten acht Staaten, <strong>die</strong> ihre Verpflichtung<br />
eingehalten oder übertroffen<br />
haben: Wirtschaft darniederliegt: Es sind<br />
<strong>die</strong> Staaten des ehemaligen Ostblocks,<br />
deren Wirtschaft seit dem Zusammenbruch<br />
des Kommunismus darniederliegt:<br />
Bulgari en, Estland, Litauen, Polen,<br />
Rumä ni en, Russland, Slowakei und <strong>die</strong><br />
Tsche chi sche Republik. Andere, <strong>die</strong><br />
Industriestaaten des „Wes tens“, haben<br />
entweder ihre Ver pflich tung nicht eingehalten<br />
(etwa Lu xem burg und Deutschland)<br />
oder ihre Emissionen sogar noch<br />
erhöht (Belgien, Dänemark, Finn land<br />
Kanada, Liechtenstein, <strong>die</strong> Niederlande,<br />
Neuseeland, Norwegen, oder Ös -<br />
terreich). Ein Zeugnis, das Reduktions -<br />
ziel tatsächlich erreicht zu haben, kann<br />
keinem Land ausgestellt werden.<br />
Eine mögliche Therapie-Hoffnung er -<br />
kennen <strong>die</strong> Autoren im Handel mit Emissions-Zertifikaten,<br />
allerdings mit einem<br />
entscheidenden Zusatz:<br />
Klimagerechtigkeit kann eigentlich erst ent -<br />
stehen, wenn mit jeder erteilten Lizenz<br />
für CO 2-Ausstoß zugleich auch <strong>die</strong> da -<br />
mit verbundene „Koh len stoff schuld“<br />
mit allen potentiellen Schä digungs -<br />
folgen registriert wird. Der Handel mit<br />
Verschmutzungsrechten muss zu einem<br />
verallgemeinerten und vereinheit lich -<br />
ten Zertifika tesystem erweitert werden,<br />
das <strong>die</strong> Kehrseite der Entschädigungs -<br />
pflichten verbucht. Erst dann können<br />
<strong>die</strong> Kapitalströme fließen, <strong>die</strong> für <strong>die</strong><br />
An passung an das Unvermeidliche not -<br />
wen dig sind.<br />
Wie sich guter Journalismus<br />
und sachliche Information ge -<br />
winnbringend ver bin den las sen,<br />
zeigt Elizabeth Kolbert in ihrem<br />
Buch Vor uns <strong>die</strong> Sintflut. Depe -<br />
schen von der Klimafront (flüssig<br />
übersetzt von Thorsten Schmidt,<br />
er schienen 2006 im Berlin Verlag,<br />
dann auch von der Bonner<br />
Bundes zentrale für politische Bildung<br />
über nommen).<br />
<strong>Die</strong> Referenz adresse der Autorin<br />
ist um einiges seriöser als bei<br />
96<br />
anderen Journalisten: Sie schreibt vor<br />
allem für den New Yor ker. Daher fehlt<br />
ihren Kapiteln auch jede auf den schnellen<br />
Ef fekt gezielte Schnörkelei. „Na tur“<br />
und „Men sch“ sind ihre Großkapitel,<br />
und darin fin den sich dann Orts angaben<br />
(„Shishmaref, Alas ka“), Spe zies-<br />
Nennungen („Schmet ter ling und<br />
Kröte“), ein weiter histo ri scher Rückblick<br />
(„Der Fluch über Ak kad“), eine<br />
Analyse des Kyoto-Proto kolls, spe ziell<br />
der Einstellung der USA.<br />
Elizabeth Kolbert baut ihre Reportage<br />
auf tatsächlich geführten Interviews mit<br />
Politikern und Wissenschaftlern auf, vor<br />
allem auf Ge sprä chen mit Menschen, <strong>die</strong><br />
<strong>die</strong> negati ven Fol gen des Kli ma wandels<br />
bereits als täg liche Erfah rung erleben:<br />
Sie unterhält sich mit um ge sie delten<br />
Inuit in Alaska oder mit Glet scher -<br />
beobachtern in Island und mit Klima-<br />
Experten, <strong>die</strong> sich noch darüber wundern,<br />
dass wie Wirklichkeit so gar pes si -<br />
mis ti sche Prognosen über trof fen hat.<br />
Hier ein Beispiel für den ruhigen Ton,<br />
mit dem <strong>die</strong> Autorin auch beunruhigen -<br />
de Zahlen vorträgt (und den viele<br />
Rezen senten als beispielhaft hervorhoben),<br />
und <strong>die</strong> Anbindung der Information<br />
an einen bereisten Ort:<br />
Im <strong>ersten</strong> Jahr, in dem <strong>die</strong> Kohlendioxidwerte<br />
am Mauna Loa ganzjährig erhoben wurden, lag<br />
<strong>die</strong>ser Mittelwert bei 316 ppm (Teile pro Milli -<br />
on). Im folgenden Jahr bei 317 ppm, was Keeling<br />
zu der Feststellung veranlasste, <strong>die</strong> An nah -<br />
me, <strong>die</strong> Meere würden das überschüssige Koh -<br />
len dioxid absorbieren, sei vermutlich falsch.<br />
1970 erreichte <strong>die</strong> Konzentration 325 ppm, und<br />
1990 wurden 354 ppm gemessen. Im Sommer<br />
2005 belief sich <strong>die</strong> Kohlendioxidkonzentration<br />
auf 378 ppm, und mittlerweile dürfte sie 380<br />
ppm erreicht haben. Steigt sie weiterhin mit <strong>die</strong>ser<br />
Rate, dann wird sie um das Jahr 2050 (und<br />
damit 2850 Jahre eher, als von Arrhenius vorhergesagt)<br />
500 ppm erreichen – was fast einer Verdopplung<br />
gegenüber dem Niveau vor der Industrialisierung<br />
entspricht.<br />
Oder <strong>die</strong>ser Auszug aus einem<br />
Gespräch mit einem Inuit, einem Jäger,<br />
der 800 Kilometer nördlich des Polar -<br />
kreises lebt:<br />
„Wir dachten einfach: Na gut, es wird halt ein<br />
bisschen wärmer“, erinnerte er sich. „Zunächst<br />
war es ja ganz angenehm, wärmere Winter zu<br />
haben. Aber jetzt geht alles so schnell. Was wir<br />
Anfang der neunziger Jahre kommen sahen, war<br />
nur ein fader Vorgeschmack dessen, was an Veränderungen<br />
eingetreten ist.“<br />
„Wir sind vielleicht am stärksten von den Folgen<br />
der globalen Erwärmung betroffen“, fuhr<br />
Keogak fort. „Unsere Lebensweise, unsere Sitten<br />
und Bräuche, sogar unsere Familien. Unsere<br />
Kinder haben vielleicht keine Zukunft. Ich<br />
meine, alle jungen Leute. Es betrifft ja nicht nur<br />
<strong>die</strong> Arktis. Es wird überall auf der Erde passieren.<br />
<strong>Die</strong> ganze Welt verändert sich zu schnell.“<br />
Das einzige, was für einige Leser das<br />
Interesse an dem Buch mindern könnte<br />
(oder umgekehrt erhöhen), ist <strong>die</strong> –<br />
natürlicherweise – ein wenig auf <strong>die</strong><br />
USA eingeengte Sicht der Reporterin.<br />
Und doch ist ihr Hinweis darauf, dass<br />
das noch immer nicht funktionierende<br />
Star-Wars-System den amerikanischen<br />
Steuerzahler bereits 1000 Milliarden<br />
Dollar gekostet, gut zu wissen, wenn<br />
man gleichzeitig erfährt, dass <strong>die</strong> US-<br />
Regierung sich bislang sträubt, jährlichnur<br />
zehn Milliarden pro Jahr für <strong>die</strong> Klimaforschung<br />
bereit zustellen.<br />
Nun gibt es ja nicht nur Bücher zum<br />
Thema, sondern auch eine ganze Reihe<br />
guter Websites. Zwei davon sollen hier<br />
kurz vorgestellt werden.<br />
<strong>Die</strong> eine ist Germanwatch. <strong>Die</strong> Organisation<br />
„engagiert sich für Nord-Süd-<br />
Gerechtigkeit und den Erhalt der Le -<br />
bensgrundlagen. Dabei konzentrieren<br />
wir uns auf <strong>die</strong> Politik und Wirtschaft<br />
des Nordens mit ihren weltweiten Aus
wirkungen.“ (www.germanwatch.org)<br />
<strong>Die</strong> Or ganisation hat zwei außer ge -<br />
wöhnlich gut re cherchierte und zuverlässig<br />
dokumentierte deutschsprachige<br />
Berichte zum Kli mawandel ins In ternet<br />
gestellt. Der ei ne be fasst sich mit den<br />
Aus wir kungen des Klimawandels auf<br />
Deutsch land (mit Exkurs NRW), der<br />
andere hat als Titel China und der globale<br />
Klimawandel: <strong>die</strong> doppelte Herausfor -<br />
derung. Beide sind kostenlos, auch für<br />
Nich-Fachwissen schaftler eine ergiebige<br />
Lektüre und reich mit zusammenfas sen -<br />
den Ta bellen und Grafiken versehen.<br />
<strong>Die</strong> zweite erwähnenswerte Website ist<br />
englischsprachig: Arctic Climate Impact<br />
Assessment (www.acia.uaf.edu), eine<br />
Ein richtung des Arktisches Rates. Der<br />
ganze Report (aus dem Jahr 2005) ist<br />
über tausend Seiten dick und si cher nur<br />
für direkt damit be fasste Wissenschaftler<br />
lesbar. Was aber machbar ist: Man lädt<br />
sich nur das Kapitel 18 her unter, das den<br />
Titel „Summary and Synthesis of the<br />
ACIA“ trägt (Seite 989 bis 1020 des<br />
Berichts).<br />
<strong>Die</strong>ses Kapitel gibt eingangs eine Zu -<br />
sam menfassung der Ergebnisse des ge -<br />
sam ten Reports, hier vor allem <strong>die</strong> von<br />
Wis senschaftlern und Einhei mischen<br />
ge machten Beobachtungen zum Klima -<br />
wandel in der Arktis, ge -<br />
folgt von einer Untersu -<br />
chung der veränder -<br />
tenUV-Strahlung. Da -<br />
nach werden <strong>die</strong> dessen<br />
praktischen Aus -<br />
wirkungen <strong>die</strong>ser Ver än -<br />
derungen be schrie ben,<br />
und zwar unterteilt nach<br />
den Folgen für <strong>die</strong> Um -<br />
welt, das Le ben der Menschen<br />
und <strong>die</strong> Wirt schaft.<br />
In einem weiteren Ab -<br />
schnitt werden <strong>die</strong>se Folgen<br />
dann auch noch vier<br />
Regionen differenziert,<br />
wo bei zur Region 1 auch<br />
Tei le Eu ro pas gehören<br />
(u.a. Nord skan di na vi en).<br />
Hier werden nun zum Teil<br />
überra schende, gelegent -<br />
lich sogar positive Ent -<br />
wicklungen be ob ach tet.<br />
Ein Beispiel: Das Halten<br />
von Rentierherden, eine<br />
sowohl wirtschaftlich wie<br />
kulturelle wesentliche Tä -<br />
tigkeit dort, ist heute weitgehend<br />
moto risiert, es findet<br />
mit Motor schlitten<br />
statt, und weil nun der<br />
Schnee immer später fällt, muss auch das<br />
Einfangen der Herden verschoben werden,<br />
oft bis in Mitte November; außerdem<br />
ist <strong>die</strong> Schneedecke dünner als früher,<br />
weshalb <strong>die</strong> Fahrt mit den<br />
Motorschlitten über raues Terrain<br />
gefährlich wird. Andererseits verspricht<br />
man sich von der Erwärmung einen kürzeren<br />
Winter und damit einhergehenden<br />
wohltuenden Auswir kun gen auf <strong>die</strong><br />
Gemüt und körperliche Gesundheit der<br />
Bevölkerung. Welche <strong>die</strong> ser widersprüchlichen<br />
Folgen überwiegen wird,<br />
kann heute noch niemand sagen.<br />
Ein wahres Vademecum ist das 2007<br />
bei Kiepenheuer & Witsch erschienene<br />
Pa per back Der UN-Weltklimareport. Be -<br />
richt über eine aufhaltsanme Katastrophe.<br />
Herausgegeben wurde es von Michael<br />
Mül ler (Staatssekretär im Bun des um -<br />
welt minis terium), seinem Assistenten<br />
Harald Kohl und Ursula Fuen tes, der<br />
Leiterin der deut schen Delegation beim<br />
IPCC. Der mit 428 Seiten umfangreiche<br />
Band ent hält eine gelungene Mi -<br />
schung aus wissen schaft lichen Fakten,<br />
aktuellen Be richten und Kommentaren.<br />
Hier lohnt sich eine ge nauere Be -<br />
schreibung.<br />
Der Kern des Buches ist eine kommentierte<br />
und zwangsläufig zusammenfas -<br />
s e n d e<br />
Wie dergabe des 4. Sachstandsbe richts<br />
des IPCC, und zwar <strong>die</strong> Tagungen von<br />
Paris, Brüssel und Bangkok (alle im Jahr<br />
2007), auch nach Arbeitsgruppen I, II<br />
und III un terteilt. Ein paar Zahlen, um<br />
ein Bild vom Umfang und von der<br />
Objektivität der Arbeiten zu geben:<br />
„Von etwa 80.000 Datenreihen aus 577<br />
Stu<strong>die</strong>n wur de ein Teilsatz von etwa<br />
29.000 Da ten reihen ausgewählt. <strong>Die</strong>se<br />
entsprachen folgenden Kriterien: 1.<br />
1990 oder später endend, 2. einen Zeit -<br />
raum von mindestens 20 Jahren<br />
umspannend und 3. ei ne signifikante<br />
Verände rung in <strong>die</strong> eine oder andere<br />
Richtung auf weisend,“<br />
<strong>Die</strong> Pariser Arbeits grup pe I leg te da bei<br />
<strong>die</strong> wissen schaft li chen Grund la gen, nach<br />
denen jetzt an der Realität einer durch den<br />
Menschen verursachten Klima än derung<br />
kaum noch jemand zweifeln kann. In<br />
ihren Er läuterungen be schreiben Hans<br />
Joachim Schellnhuber und Stefan<br />
Rahmstorf <strong>die</strong>se Tatsache und den kommenden<br />
Anstieg des Meeresspiegels als<br />
gesicherte Erkenntnis. Durchweg wird<br />
<strong>die</strong> Wahr scheinlichkeit eines Er eig nisses<br />
differenziert angegeben; sie reicht in sie -<br />
ben Stufen von „extrem<br />
unwahrscheinlich“ (weniger als 5 Prozent)<br />
bis zu „ex trem wahrscheinlich“ und<br />
„praktisch si cher“ (über 55 bzw. 99 Prozent).<br />
<strong>Die</strong> Brüsseler Arbeitsgruppe II behandelte<br />
Auswirkungen und Anpassungs -<br />
stra tegien. <strong>Die</strong> konkreten Folgen werden<br />
auf geschlüsselt nach den Bereichen<br />
Was ser (Ausbreitung von Dürregebieten),<br />
Öko systeme (Aussterben von<br />
Arten), Nah rungsmittel und Wald<br />
(Rückgang von Ern teerträgen), Küstenzonen<br />
(Überflutung küstennaher Sied -<br />
lungs gebiete), Ge sundheit (positive und<br />
negative Aus wir kungen) sowie Industrie,<br />
Siedlung und Gesellschaft. <strong>Die</strong>se<br />
sachliche Einteilung wird anschließend<br />
von einer Darstellung nach Regionen<br />
komplettiert (wobei Af ri ka „aufgrund<br />
seiner vielfachen Bean spru chungen und<br />
niedrigen Anpassungskapazität [als]<br />
einer der verwundbarsten Kon tinente“<br />
beschrieben wird.<br />
<strong>Die</strong> Arbeitsgruppe III (Bangkok, Mai<br />
2007) hatte <strong>die</strong> „Bekämpfung“ des Klimawandels<br />
als Thema.<br />
Kurzer Exkurs: Ich meine, der Aus -<br />
druck „Bekämpfung“ ist auf mehrfache<br />
Weise in der Sache falsch und po litisch<br />
irre füh rend. Falsch ist er, weil der Klima-<br />
97
Anzeige<br />
Kunsthalle<br />
Würth
wandel schon im Gang ist und noch<br />
dazu auf unumkehrbare Weise. Insbesondere<br />
ist er kein äußerer Feind an den<br />
Grenzen un serer Welt, eine Art Einbrecher,<br />
den man vertreiben („bekämpfen“)<br />
könnte, vielleicht mit noch mehr Energie-Aufwand,<br />
sondern wir selber haben<br />
ihn geschaffen und schaffen ihn weiterhin.<br />
Politisch in <strong>die</strong> Irre führt der Ausdruck,<br />
weil er gerade <strong>die</strong>se aggressive<br />
Machbarkeit suggeriert. Ende des<br />
Exkurses.<br />
Innerhalb des Kapitels ist dann<br />
von der „Bekämpfung“ des Klimawandels<br />
nicht mehr <strong>die</strong> Rede,<br />
sondern allenfalls (und zutreffender)<br />
vom „Klimaschutz“. Ein -<br />
drücklich legt <strong>die</strong>ser Abschnitt<br />
dar, dass <strong>die</strong> notwendige Verminderung<br />
der CO 2 -Emissionen<br />
„nicht in ei nem Sektor oder mit<br />
einer Technologie allein angegangen<br />
werden“ kann; <strong>die</strong> dafür no -<br />
wendigen, lan ge und streitig dis -<br />
kutier ten Schlüsselsektoren werden<br />
aufgezählt und in einer<br />
Ta belle erläutert: Ener gieversor -<br />
gung, Ver kehr, Gebäude, In dus -<br />
trie, Land- und Forst wirt schaft<br />
so wie Abfall. Nur in ih rem<br />
Zusammenwirken besteht eine<br />
ge wisse Chance, <strong>die</strong> Treibhausgasemissionen<br />
zu vermindern<br />
und <strong>die</strong> Erderwärmung zu verlangsamen<br />
und auf mittlere Sicht<br />
zu sta bi lisieren. Das Fingerzeigen<br />
auf an dere Schuldige sollte da mit<br />
als das entlarvt sein, was es im mer<br />
schon war: Interessenvertretung.<br />
Wenn etwa der ADAC darauf<br />
hinweist, dass der Straßenverkehr nur zu<br />
12,5 Prozent am CO 2 -Aufkommen be -<br />
teiligt ist (der Energiesektor aber zu 40<br />
Pro zent), dann be<strong>die</strong>nt etwa der Einwand<br />
gegen ein ge ne relles Tempolimit<br />
nur noch <strong>die</strong> eigene Kundschaft auf Kosten<br />
der Allgemeinheit.<br />
Mit schöner Klarheit wird hier auch<br />
zum angeblichen Ausweg aus dem<br />
Dilem ma durch mehr Kern kraft wer ke<br />
festge stellt:<br />
Schlagzeilen und Behauptungen, das das IPCC<br />
Atomkraft als Lösung der Klimafrage propagiert<br />
habe, sind falsch. Zweifellos ist <strong>die</strong> nukleare<br />
Stromerzeugung vergleichsweise emissionsarm.<br />
Dich das IPCC macht durch <strong>die</strong> neutrale Gegenüberstellung<br />
der begrenzten Potenziale für den<br />
Ausbau der Kernenergie und den Hinweis auf <strong>die</strong><br />
Probleme der nuklearen Entsorgung, der Verbreitung<br />
von Waffen und der Sicherheit von<br />
Kernkraftwerken einerseits und <strong>die</strong> großen Po -<br />
tenziale für den Ausbau Erneuerbarer Energien<br />
andererseits deutlich genug, dass Atomkraft<br />
nicht als Lösung der Klimafrage angesehen werden<br />
kann.<br />
Wirtschaftsminister Glos kennt <strong>die</strong>sen<br />
Text natürlich, befürwortet aber weiterhin<br />
den Ausbau oder <strong>die</strong> längere Laufzeit<br />
der Kernkraftwerke. In wessen Interesse?<br />
Eine eigenes Kapitel über <strong>die</strong> Klima-<br />
Enquête des Deutschen Bundestags<br />
vom Dezember 1990 zeigt, sozusagen<br />
wieder Willen, wie wenig seitdem<br />
erreicht wurde. Das Ziel,<br />
<strong>die</strong> Treibhausgase um 30 Prozent bis zum Jahr<br />
2005 zu verringern, wurde 1990 gemeinsam von<br />
CDU/CSU, FDP und der SPD im Bundestag<br />
be schlossen. Damals gehörten <strong>die</strong> Grünen dem<br />
Bun des tag nicht an. Beim Klimaschutz gab es ei -<br />
ne große Übereinstimmung zwischen den Re gie -<br />
rungsfraktionen und den oppositionellen Sozial -<br />
demokraten, <strong>die</strong> noch weitergehende Maßnahmen<br />
wollten. Anders war das in der Zeit der<br />
rot-grünen Bundesregierung. Alle 18 Gesetze<br />
und Intiativen zum Klimaschutz, von der öko -<br />
logi schen Steuerreform bis zum Erneuerbare-<br />
Energien-Gesetz, wurden von der CDU/CSU<br />
und FDP im Bundestag abgelehnt und – wo sie<br />
es konnten – erst einmal im Bundesrat blockiert.<br />
Mit anderen Worten: Wir waren in<br />
Deutschland schon mal weiter in der<br />
De batte über den Klimawandel. Aber, so<br />
erläutert das Kapitel, „im Zuge der deut -<br />
schen Einigung und des Wirtschaftsabschwungs<br />
gerieten <strong>die</strong>se Vorschläge und<br />
Programme in den Hintergrund. (...)<br />
Mit te der neunziger Jahre machte Kohl<br />
eine radikale Kehrtwende gegen mehr<br />
Umwelt- und Klimaschutz.“ Und <strong>die</strong><br />
Aussichten, <strong>die</strong>ses Gemeinsamkeit<br />
wie der zu erreichen, sind beim<br />
derzeitigen Dauer-Hickhack über<br />
Kinder kram-Themen nicht eben<br />
rosig.<br />
Erwähnenswert ist in <strong>die</strong>sem<br />
Band auch ein<br />
Text von Franzjosef Schaf hausen,<br />
Der Emissionshandel, das unbe -<br />
kannte Wesen. Er erklärt das the o -<br />
retische Konzept, <strong>die</strong> in zwischen<br />
ge machten Erfah run gen und den<br />
künf tigen Handlungsbedarf.<br />
Zuletzt muss aber noch ein völlig<br />
überflüssiger Artikel in dem<br />
Buch erwähnt werden, <strong>Die</strong><br />
Zukunft der Klimafor schung<br />
(Autorin ist <strong>die</strong> am tie rende<br />
Forschungsministe rin). Es sieht so<br />
als spräche sie über das Thema,<br />
nämlich so:<br />
Der Klimawandel stellt uns vor große<br />
Herausforderungen. In Forschung und<br />
Innovation liegen <strong>die</strong> Schlüssel, <strong>die</strong>ser<br />
Herkulesaufgabe zu begegnen. Es ist das<br />
Ziel des BMBF, der komplexen und langfristigen<br />
Herausforderung des Klimawandels<br />
mit einem differenzierten und<br />
strategisch angelegten Forschungskonzept<br />
entgegenzu tre ten. Das BMBF baut auf <strong>die</strong><br />
In novationskraft von Unter neh men, politischen<br />
Institutionen, vi talen Regionen und Kommunen<br />
und al ler verantwortlichen Bürgerinnen und<br />
Bürger, gemeinsam Lösungen zu entwickeln, um<br />
so <strong>die</strong> nötigen Erfolge bei der Eindämmung des<br />
Klimawandels zu erreichen.<br />
Hier hat wohl der Redenschreiber einen<br />
alten, schon damals alten Text über Glo -<br />
balisierung, Energieknappheit, Jugendgewalt,<br />
<strong>die</strong> Maul-und Klauen-Seuche oder<br />
sonst ein Übel hergenommen und an den<br />
richtigen Stellen stattdessen „Klimawandel“<br />
eingesetzt? Oder steht im Keller des<br />
Ministeriumseine sinnfrei rotierende<br />
Text-Ma schi ne? Merke: Eine Politik, <strong>die</strong><br />
eine solche Un sprache in <strong>die</strong> Welt setzt,<br />
darf sich nicht wundern, wenn ihr keiner<br />
mehr zuhört.<br />
Und doch: Von allen hier besprochenen<br />
Büchern ist Der UN-Weltklimareport<br />
99
Seit der Odyssee stehen Seereisen für<br />
das Wagnis des Unbekannten, den sträf -<br />
li chen Übermut des Menschen, aber<br />
auch für <strong>die</strong> Rückkehr nach Itha ka, an<br />
den Ort der Geborgenheit, „reich an<br />
dem, was du auf deiner Fahrt gewannst“,<br />
wie es beim griechischen Dichter Kavafis<br />
heißt. Aber der moderne Mensch kennt<br />
kein Ithaka mehr, - nur noch Irrfahrten,<br />
auf denen er sich blindlings fortbewegt.<br />
Von einer solchen ziellosen Odyssee<br />
handelt Blindlings, der jüngste und tiefsinnigste<br />
Roman von Claudio Magris.<br />
Wenn Leser und Schriftsteller Reisende<br />
sind, dann ist der durch alle Wasser der<br />
Weltliteratur gesegelte Magris ein See -<br />
fahrer, der an <strong>die</strong> Möglichkeit der Rückkehr<br />
zweifelt. Als Kind des 20. Jahrhunderts,<br />
das den grausamen Schatten der<br />
Ideologien und den Untergang der Illu -<br />
sio nen mitbekam, kann Magris keine<br />
klassische Reise mehr erzählen, sondern<br />
nur noch ihr Scheitern. Den Bericht <strong>die</strong> -<br />
ser Irrfahrt legt er einem Verrückten in<br />
den Mund, einem der zahllosen Opfer<br />
der unsichtbaren Geschichte: Salvatore<br />
Cippico, dessen kommunistischer Glau -<br />
be ihn in <strong>die</strong> Lager der halben Welt verschlug,<br />
von Dachau bis Goli Otok, der<br />
Todesinsel, auf der Tito stalintreue Ge -<br />
nossen einsperren ließ. Von Freund und<br />
Feind verfolgt strandet er schließ lich in<br />
<strong>die</strong> Verrücktheit.<br />
In Cippicos Wahnbericht, der vom<br />
Arzt einer Irrenanstalt aufgezeichnet<br />
wird, hallen <strong>die</strong> Stimmen anderer unter -<br />
gegangener Opfer der Historie wider:<br />
insbesondere <strong>die</strong> des dänischen Abenteurers<br />
Jørgen Jørgensen, der Anfang<br />
des 19. Jahrhunderts als selbsternannter<br />
Köni g in Island kurzfristig <strong>die</strong> Werte der<br />
Aufklärung einführen wollte und von<br />
den Engländern als Sträfling nach Tas -<br />
ma nien deportiert wurde, „<strong>die</strong> höllische<br />
Alternative hier unten zur Hölle dort<br />
oben.“ Ironie und Grausamkeit der Ge -<br />
schichte: Jorgensen wird in Hobart<br />
Town eingekerkert, der Stadt, <strong>die</strong> er Jah -<br />
re zuvor als Kolonisator gegründet hatte.<br />
Warum werden Menschen Opfer ihrer<br />
Ideale? Magris sucht eine Antwort im<br />
Mythos der Argonauten, der immer wie -<br />
der in Cippicos Monolog einfließt. <strong>Die</strong><br />
Parabel Jasons, der auf der Suche nach<br />
100<br />
REZENSION<br />
<strong>Die</strong> Revolution und ihre Missionare<br />
Claudio Magris, Reisender und Gedächtniskünstler<br />
dem Goldenen Vlies das Licht der grie -<br />
chischen Ratio in <strong>die</strong> barbarische Kol -<br />
chis bringt und so Medeas Tragö<strong>die</strong> auslöst,<br />
zeigt den unlöslichen Widerspruch<br />
einer Vernunft auf, <strong>die</strong> sich allzuoft mit<br />
Blut befleckt. Das ist für Magris kein<br />
Grund, sich von der Vernunft los zu -<br />
sagen und einem leichtfertigen Nihi lis -<br />
mus zu erliegen. <strong>Die</strong> Revolution bleibt<br />
wahr, „trotz ihrer Missionäre“, auch<br />
dann noch, wenn Menschen wie Cippico<br />
im Fleisch wolf der Weltgeschichte<br />
zermalmt werden. So ist Blindlings vor<br />
allem ein Epos über <strong>die</strong> Unterdrückten<br />
und schon Verschwundenen der Ge -<br />
schichte, wie jene Aborigines, <strong>die</strong> „im<br />
Aus sterben“ groß sind.<br />
<strong>Die</strong> ganze Nachkriegsliteratur Europas<br />
ist von Geschichtspessimismus ge prägt.<br />
Man schrieb nach Auschwitz weiter, um<br />
nicht im Schweigen un terzugehen. Und<br />
auch Magris’ Roman liest sich wie eine<br />
Klage, <strong>die</strong> nichts verklärt –<br />
am wenigsten <strong>die</strong> lügenhafte,<br />
dem Le ben stets<br />
fremde Literatur. Seine<br />
Klage ist aber – und das ist<br />
das Besondere und Angsterregende<br />
an seinem Buch<br />
– zeitlich nicht definiert,<br />
sie be gnügt sich nicht da -<br />
mit, <strong>die</strong> Irr tümer des 20.<br />
Jahrhunderts zu verabso -<br />
lu tieren, je ne allzu be que -<br />
me lite ra rische Übung zu<br />
be treiben, womit man das<br />
Böse von sich weist, indem<br />
man es an zeigt. In Cippicos<br />
Mo nolog ist alles ge -<br />
genwärtig, <strong>die</strong> Zweifel<br />
kommen nicht zur Ru he,<br />
in ihm spuken <strong>die</strong> ver -<br />
gange nen und zu künf ti -<br />
gen Ge schich ten ei ner ge -<br />
schän deten Mensch heit.<br />
Auch der Protagonist<br />
von Grass’ Blechtrommel<br />
war „Insasse einer Heil -<br />
anstalt“ und seine Missbildung<br />
stand für <strong>die</strong><br />
unheilbare Wun de, <strong>die</strong><br />
der Nationalsozialismus<br />
in das deutsche Gewissen<br />
gerissen hatte. Der Lei-<br />
densschrei Cippicos kennt dagegen<br />
keine zeitlich oder räumlichen Grenzen,<br />
von Napoleon bis Tito, von Dachau<br />
nach Tasmanien, reist er durch <strong>die</strong> Weltgeschichte,<br />
um seine Zweifel zu sähen.<br />
Denn der Mensch ist brüchig und zerrt<br />
ebenjenen Schutz schild mit sich in den<br />
Abgrund, der ihn vor dem Untergang<br />
bewahren soll: <strong>die</strong> Idee des Guten, jenes<br />
dünner werdende Holz des Schif fes, das<br />
auch für das christliche Kreuz steht.<br />
Nicht am Guten zweifelt Magris, sondern<br />
am Menschen, der keine Kraft<br />
dafür hat und womöglich, so seine Be -<br />
fürchtung, nicht finden wird. Ist <strong>die</strong><br />
Menschheit vielleicht sogar schon unter -<br />
gegangen und wir lauschen nur noch<br />
dem Bericht eines letzten Versinkenden?<br />
Magris hält <strong>die</strong>se Option offen und<br />
überlässt seinen zehrenden Zweifel dem<br />
stummen Zu hörer, dem Arzt, dem Leser.<br />
Cippico sagt nichts aus, er setzt nur jenes<br />
„Frage zeichen, das alles hinter sich herzieht“,<br />
denn sein Misstrauen in <strong>die</strong><br />
Schrift, in <strong>die</strong> Geschichtsschreibung<br />
und Literatur ist groß. Zuletzt hofft er,<br />
daß seine Geschichte durch einen Speicherfehler<br />
für immer verloren geht –<br />
damit man sich durch ihre Aufzeichnung<br />
nicht si cher wähnt vor all den
anderen un sicht baren, gewalt ge -<br />
zeichne ten Ge schich ten, <strong>die</strong> das Leben<br />
der Men schen ausmachen.<br />
In bester literarischen Tradition und<br />
formal sehr originell schreibt Magris ei -<br />
nen Roman über Geschichten, <strong>die</strong> nicht<br />
erzählt werden können. Fern aller Selbst -<br />
verklärung eröffnet er der Litera tur so<br />
einen widersprüchlichen und wahr -<br />
heitsfordernden Weg: <strong>Die</strong> Proto kolle<br />
des Wahns, des Scheiterns und der Un -<br />
möglichkeit des Erzählens sind <strong>die</strong> letzte<br />
mögliche Erzählung. Magris po lypho -<br />
ner Roman ist das Gegenteil des Schweigen,<br />
denn immer noch behauptet er den<br />
Wert der Erinnerung, obgleich sie voller<br />
Schall und Wahn ist wie im Falle Cippicos.<br />
An Erinnerung kann man auch sterben<br />
wie jener sonderbare Ge dächtnis -<br />
künstler Funes in Borges’ Er zählung, der<br />
mit neunzehn verschied, weil er sich an<br />
MARGINALIE<br />
Der Innenminister hat<br />
keine Ahnung<br />
Tele<strong>die</strong>nste! Wenn ich <strong>die</strong>ses Wort<br />
schon höre! Es erinnert mich an <strong>die</strong>se<br />
alten Telespiele, in denen der Strich den<br />
Punkt jagte und das Ganze durch sehr<br />
eigenartige Töne untermalt wurde.<br />
Aber nein, Deutschland, der Bund<br />
(um genau zu sein) bezeichnet damit ein<br />
Netz, das eine Welt beinhaltet, <strong>die</strong> wahr -<br />
scheinlich niemand ausmessen kann.<br />
<strong>Die</strong> Realität dahinter sind Hallen voller<br />
Serverschränke, Klimaanlagen und<br />
Glasfaserkabeln, komplizierte Technik.<br />
Ich vermute, dass 90 Prozent der Internetnutzer<br />
eigentlich auch BTX dazu<br />
sagen könnten: DB-Fahrplan, Überweisungen<br />
tätigen, ein bisschen Shopping.<br />
Aber was kaum jemand sieht:<br />
Jeder, wirklich jeder einzelne PC wird<br />
dabei ein Teil des Internets, sobald er<br />
online ist.<br />
Um es auf den Punkt zu bringen: Das<br />
Internet schaltet man nicht ab, man<br />
reglementiert es nicht und man könnte<br />
es auch nicht reglementieren. Wer das<br />
glaubt, dem muss man sagen: Es ist eine<br />
Illusion. Das Internet lebt, es ist komplex<br />
und hat eine Eigendynamik. Achja,<br />
nebenbei: E-Mail und Usenet, Telnet-<br />
Bundestrojaner!<br />
buchstäblich alles erinnerte: Nicht nur<br />
den um 15.14 Uhr gesehenen Hund im<br />
Profil, sondern auch den eine Minute<br />
später von vorne gesehenen. Mit der Tatsache,<br />
dass Ver gessen für das Überleben<br />
not wendig ist, gibt sich Magris in Blindlings<br />
nicht zufrieden und ist bereit, den<br />
Wahn in Kauf zu nehmen, um <strong>die</strong> Wahrheit<br />
aller un sichtbaren und sinn losen Ge -<br />
schich ten zu behaupten. „Stumm wer -<br />
den wir in den Abgrund steigen“, schrieb<br />
Pave se in einem seiner letzten Gedichte.<br />
Claudio Magris hat sich in seinem verstörenden<br />
und großartigen Werk (dessen<br />
rhapsodischen Duktus von Rag ni Maria<br />
Gschwend virtuos ins Deut sche übertragen<br />
wurde), für das Spre chen entschie -<br />
den: „Ich erinnere mich nur an Worte,<br />
doch an <strong>die</strong> ganz genau, auch wenn ich<br />
mich nicht mehr daran erinnere, was sie<br />
sagen wollten.“ Piero Salabè<br />
server und FTP: Das ist alles jedesmal<br />
noch eine eigene Welt, abseits von<br />
www.google.de. Und in <strong>die</strong>ser Welt,<br />
<strong>die</strong> sem Welten gibt es keine Henkel<br />
zum Anfassen. <strong>Die</strong>se Welten sind wie<br />
ein Nebel.<br />
Super, sagt sich Meister Schäuble –<br />
dann können wir ja <strong>die</strong> PCs hacken und<br />
da nach verdächtigen Daten suchen.<br />
Dumm nur, das <strong>die</strong>se Denke nicht<br />
funktioniert.<br />
Meine Freundin Christl – 70 Jahre,<br />
spielt online Mahjongg und verschickt<br />
e-Cards an Verwandte. Mehr macht sie<br />
nicht. Andererseits könnte Herr Schäuble<br />
ja ihr geniales Würstlgulasch-Rezept<br />
klauen, der böse Knochen. Wie auch<br />
immer: 90 Prozent der Menschen,<br />
deren PCs nicht gerade sicher am Netz<br />
hängen oder deren Anwender sowieso<br />
alles anklicken, was per E-Mail kommt,<br />
haben auf Ihrem PC noch nicht einmal<br />
Pornofotos, gute Musik oder Baupläne<br />
für Atombomben. Bleiben zehn Prozent<br />
– Freaks wie ich.<br />
Ich bin zwar kein Terrorist, aber ich<br />
bin wie <strong>die</strong>se böse Brut ein durchgeknallter<br />
Mensch, der, seit er denken<br />
kann, vor dem Computer sitzt. Probleme<br />
wie Sonnenaufgang bei Arbeits -<br />
ende, Probleme mit Öffnungszeiten<br />
von Supermärkten und Dauerkunde bei<br />
der 24-h-Aral ums Eck sind mein<br />
Leben. Ich denke wie Windows, ich<br />
funktioniere wie eine Festplatte, ich<br />
höre, was <strong>die</strong> Maschinen sagen. Damit<br />
ver<strong>die</strong>ne ich mein Geld, okay. Andere<br />
Freaks knacken Firmennetzwerke, verbreiten<br />
illegale Inhalte und düpieren <strong>die</strong><br />
Industrie.<br />
Nehmen wir uns mal <strong>die</strong>se Kopierschutztechnologien<br />
vor. Wie lustig.<br />
DVD kommt auf den Markt. Millionen<br />
wurden in den DVD-Kopierschutz CSS<br />
gesteckt – ein schwedischer 15-Jähriger<br />
knackte es mit seinem Team innerhalb<br />
kürzester Zeit. Genauso ist es bei Videospielen,<br />
Musikdateien mit Digitalem<br />
Rechtemanagement, bei Premiere-De -<br />
codern und anderem Pay-TV-Kram.<br />
Anstatt zu verstehen, dass beim Thema<br />
IT <strong>die</strong> Welt in Nerds und Geeks (IT-<br />
Checker) einerseits und<br />
Wannabes, NooBz oder Lamer (Vollidioten,<br />
<strong>die</strong> es nicht blicken) andererseits<br />
gespaltet ist.<br />
Studenten programmieren Viren, werden<br />
zweifelhaft berühmt und erhalten<br />
dann überbezahlte Programmiererjobs<br />
bei Microsoft. Politiker dagegen haben<br />
noch nicht einmal ansatzweise einen<br />
Funken von Ahnung, was da draußen<br />
abgeht. Abgeht, so muss man es sagen.<br />
„Stattfinden“, „Tele<strong>die</strong>nste“, das ist alles<br />
spießiges, politisch korrektes Gerede,<br />
das keine Wahrheit mehr zutage fördert.<br />
Das Netz gehört den absoluten Outlaws,<br />
denen alles egal ist. Reputation<br />
aufbauen, 3l33t (eleet = eliteartig) sein,<br />
im Untergrund leben und allen Konzernen<br />
zeigen, dass sie es besser drauf<br />
haben.<br />
Irgendwann kommt dann auch mal<br />
<strong>die</strong> geliebte MI (Musikindustrie) auf<br />
den Trichter: Musik ohne Kopierschutz<br />
wird mehr gekauft als Musik mit<br />
Kopierschutz. Klar, denn Musik, <strong>die</strong> wie<br />
bei Apple I-Tunes nur auf einem speziellen,<br />
langweilig designten Gerät (iPOD)<br />
zu gebrauchen ist, muss man nach dem<br />
Kauf erst brennen, dann wieder rippen<br />
(aus der CD auslesen), um Musik zu<br />
erhalten, <strong>die</strong> auf jedem Player läuft –<br />
egal ob CD, MP3, DVD oder Handy.<br />
Doch zurück zum Thema, denn sonst<br />
bekomme ich noch Ausschlag. In <strong>die</strong>ser<br />
geschilderten Realität kommt nun ein<br />
Politiker daher und tönt: „Onlinedurchsuchung“,<br />
„Bundestrojaner“.<br />
Nachdem auch er verstanden hat, dass<br />
101
wir hier nicht von einem Gameboy oder<br />
einem Videospiel, sondern dem Internet<br />
sprechen, dass man also nicht einfach<br />
sagen kann: „Frau Meier von nebenan,<br />
PC auslesen, Klick – fertig!“, toppt<br />
er seine Blödheit (Pardon!) sogar noch<br />
mit „Remote Forensic Software“ – d.h.<br />
der Bundestrojaner soll „lokal auf dem<br />
Rechner installiert werden“ und „sei in<br />
jedem Fall eine Einzelanfertigung“.<br />
Super. Also für jeden Stasi-Mandanten<br />
ein eigenes Programm, das von jemandem<br />
auf den Rechner gespielt werden<br />
kann? Wer sowas für möglich hält, hat<br />
einen totalen Hirnschaden. Am besten<br />
dann doch per E-Mail, ganz offiziell,<br />
etwa so: „Hier ist das Umweltamt, anbei<br />
unser neuer Bildschirmschoner.“<br />
Der CCC (Chaos Computer Club –<br />
klingt etwas ökig, aber <strong>die</strong> Jungs sind leider<br />
verdammt fit) meint: „Bei den<br />
Äußerungen des Innenministers wird<br />
deutlich, dass es erheblich an technischem<br />
Sachverstand fehlt. (...) <strong>Die</strong> Professionalität<br />
der Behörde darf bezweifelt<br />
werden“. Einfach gesagt: Wer ein bisschen<br />
Ahnung hat, sieht sofort, welche<br />
Programme auf seinem Computer laufen.<br />
Selbst wenn es ein gut getarnter<br />
Virus ist: Mit entsprechender Schutzsoftware<br />
ist das Thema in Sekunden<br />
erledigt. Oder einfach eine externe Festplatte<br />
für <strong>die</strong> Flugpläne über Frankfurt,<br />
ein zweiter PC, der nicht am Internet<br />
hängt, etc. Außerdem findet sich garantiert<br />
irgendein Schüler, der in der Zeit<br />
zwischen Mittagessen und den Simpsons<br />
mal schnell ein Schutzprogramm<br />
dagegen schreibt. Einer meiner Lieblingsprogrammierer,<br />
der ein geniales<br />
Videoschnittprogramm kreierte, meint<br />
nur: „Proof that I had too much free<br />
time in college.“<br />
<strong>Die</strong> Chinesen müssen sich ja beömmeln<br />
vor Lachen. Schreiben einen kleinen<br />
Virus, knacken den Bundestag und<br />
haben alle Infos, <strong>die</strong> sie benötigen. Das<br />
Versprechen Chinas, damit aufzuhören,<br />
klingt fast wie ein „Versucht doch, uns<br />
zu stoppen!“ Wenn ich so etwas schon<br />
lese. „China verspricht, mit Hackerattacken<br />
aufzuhören“. Hallo? Jemand zu<br />
Hause? Das ist ja wie wenn man einen<br />
Kinderschänder fragen würde: „Bist Du<br />
jetzt brav? Sag ja, und Du darfst wieder<br />
als Pfarrer arbeiten.“ Unglaublich.<br />
Liebes Deutschland. Du bist so schön.<br />
Vor allem hier, im meinem Bayern.<br />
Schau, jeder hat Seiten, auf denen er<br />
blöd ist. Ich kann zum Beispiel nicht<br />
singen, Bremsbeläge wechseln oder flie-<br />
102<br />
www.ccc.de/press/releases<br />
können. Deshalb trällert bei mir mal<br />
Bushido, mal Christina Aguilera,<br />
Bremsbeläge wechselt mein ägyptischer<br />
Autodealer und fliegen tut <strong>die</strong> Lufthansa.<br />
Wenn es um IT-Security geht,<br />
dann fragen mich Firmen, weil ich<br />
genau das eben verstehe. Liebes<br />
Deutschland, frag doch mal jemand,<br />
wie man das macht. Und bitte, keine<br />
Klon-Berater wie McKinsey und Rolli<br />
Berger, sondern Leute mit echter Erfahrung.<br />
Du machst eh schon so viel falsch,<br />
weil deine Spezialisten von Ministern<br />
und Konsorten einfach mehr daran<br />
interessiert sind, Diäten einzustreichen,<br />
anstatt mal richtig was zu verändern.<br />
<strong>Die</strong> Terroristen wird freuen, dass du<br />
<strong>die</strong>sem Aufruf nicht nachkommst. Man<br />
könnte ja vielleicht alle Internetcafés<br />
schließen, denn da sind Terroristen<br />
gerne. Danach müsste man aber auch<br />
alle Mobiltelefone überwachen, denn<br />
<strong>die</strong> können ja heute wie jeder PC im<br />
gen. Aber ich suche mir Leute, <strong>die</strong> das Wurde der Redaktion zugespielt: Bundestrojaner, Modell<br />
Internet surfen. Uiuiui, das sind aber<br />
viele Geräte. Fragt doch mal <strong>die</strong> Schüler,<br />
<strong>die</strong> mit 15 schon mehr Ahnung haben<br />
als viele IT-Berater, und macht <strong>die</strong><br />
Schulen besser – weniger Mathematik<br />
und weniger Schnarchfächer, mehr praxisbezogenes<br />
Wissen. Denn schließlich<br />
ge winnt man mit Cosinus und Periodensystem<br />
in der Schultasche heute<br />
keinen Blumentopf mehr – hammerhartes<br />
Fachwissen muss herhalten,<br />
damit man heute etwas wird. Wie wäre<br />
es mit Unternehmensführung, Konversationstraining<br />
und Sicherheit? Das<br />
geht jeden etwas an, auch <strong>die</strong> Angestellten.<br />
Und <strong>die</strong> Politiker.<br />
Kurz: <strong>Die</strong> Pläne von Meister Schäuble<br />
sind ein totaler Witz. Das klappt nie.<br />
Nicht dass es unmöglich wäre, aber <strong>die</strong><br />
allein Herangehensweise ist komplett<br />
falsch – da braucht man Leute mit<br />
Ahnung. Leider sind <strong>die</strong> in der Politik<br />
selten geworden.
Stellen Sie sich vor, Sie gehörten einem<br />
Stadt- oder Gemeinderat an. Vor Ihnen<br />
liegt der Lebenslauf eines vielfach ver<strong>die</strong>nten,<br />
wenngleich nicht unumstrittenen<br />
Mannes. Der Lebenslauf – Sie sind<br />
ein aufgeklärter Genosse Ihrer Zeit und<br />
gehören darum dem gemäßigt fortschrittlichen,<br />
das heißt nach allgemeiner<br />
Auffassung dem einzig vernünftig-diskutablen<br />
Flügel Ihres Rates an – ist nicht<br />
alltäglich, in manchem vielleicht sogar<br />
merkwürdig, ja anstößig.<br />
- Der zu Ehrende, 1957 verstorben,<br />
war ein Kirchenmann, jahrzehntelang<br />
evangelischer Landesbischof in Bayern,<br />
der erste übrigens mit solcher Bezeichnung<br />
in seinem Amt.<br />
- Sein Verhältnis zum Nationalsozialismus,<br />
für ihn wie für viele seiner Generation<br />
<strong>die</strong> größte Ge wissensprüfung seines<br />
Lebens, war zu mindest zwiespältig. <strong>Die</strong><br />
Archivare Ihrer Stadtverwaltung (ich<br />
spreche Sie noch immer als Ratsmitglied<br />
an) berichten eilfertig von höchst<br />
anfechtbaren antisemitischen Äußerungen<br />
aus einer Zeit, als der Kandidat noch<br />
gar nicht Bischof seiner Landeskirche<br />
war und wir uns noch mitten in der Weimarer<br />
Republik befinden.<br />
- Sein Verhalten in Hitlers Diktatur,<br />
der Staatsmacht gegenüber, war ambivalent:<br />
verständnisvoll, ja hilfreich, sogar<br />
lebensrettend im Privaten, leisetreterisch<br />
und mit den Wölfen heulend in<br />
mancher öffentlichen Äußerung; aber<br />
dann auch wieder seltsam zäh.<br />
- In der Nachkriegszeit, als er neben<br />
dem katholischen „Amtsbruder“ Kardinal<br />
Michael von Faulhaber eine der<br />
wenigen übrig gebliebenen ethischen<br />
Instanzen in einer moralischen Ruinenlandschaft<br />
war, übte er in manchen sogar<br />
belegbaren Fällen allzu rasch politisches<br />
Vergeben und Vergessen, und vor allem<br />
– er reihte sich sofort ein in <strong>die</strong> antikommunistische<br />
Abwehrfront, in der er so<br />
weit ging, dass er noch lange nach 1945<br />
Sozialdemokraten und Kommunisten<br />
gleichsetzte; und gegen eine Abspaltung<br />
der bayerischen Protestanten von der<br />
CSU vor allem deshalb war, weil seiner<br />
Meinung nach dadurch automatisch <strong>die</strong><br />
SPD zur stärksten Partei in Bayern zu<br />
werden drohte.<br />
MARGINALIE<br />
Eine Petitesse und mehr als das<br />
Revisionismus hoch zwei<br />
Würden Sie einem solchen Manne mit<br />
Ihrer Stadtratsstimme zur Ehre der<br />
Umbenennung einer Straße auf seinen<br />
Namen verhelfen wollen? Würden Sie so<br />
weit gehen, einen Teil der altehrwürdigen,<br />
wenngleich auch selbst mit leicht<br />
anrüchiger Vergangenheit behafteten<br />
Arcisstraße zu München <strong>die</strong>sem Mann<br />
zu Ehren auf den Namen Meiserstraße<br />
umzutaufen?<br />
Selbstverständlich würden Sie das<br />
nicht tun.<br />
Und dabei hätten Sie voll und ganz<br />
Recht.<br />
Nur: das ist gar nicht das Problem.<br />
<strong>Die</strong>se Aufgabe hätten Sie niemals zu<br />
erfüllen gehabt.<br />
Ihre Aufgabe jetzt, im Jahr 2007, war<br />
<strong>die</strong> genau entgegengesetzte: Sie sollten<br />
eine Be-Nennung, <strong>die</strong> aus dem Kenntnis-<br />
und Bewusstseinsstand des Jahres<br />
1957 mit all den Idiosynkrasien und<br />
blinden Flecken von damals vorgenommen<br />
worden war, rückgängig machen –<br />
durch den höchst seltenen politischen<br />
Akt der Ent-Nennung einer öffentlichen<br />
Straße. Und zwar desselben Stücks, das<br />
vierzig Jahre zuvor <strong>die</strong>sen Namen nicht<br />
einfach deshalb bekommen hatte, weil<br />
eine Straße eben einen Namen braucht,<br />
sondern ausdrücklich in dem gesteigerten<br />
politischen Lebensgefühl, dass eine<br />
Stadt und deren Gesellschaft damit eine<br />
Person ehren wollten, in deren öffentlicher<br />
Schuld sie sich glaubten. So geschehen<br />
und vollzogen von der rot-grünen<br />
Mehrheit des Stadtrats der Landeshauptstadt<br />
München mit förmlichem<br />
Beschluss vom 18. Juli 2007.<br />
Aus der kurzen Münchner Meiserstra -<br />
ße, ehemals Teil der Arcisstraße, sollte an<br />
<strong>die</strong>sem Julitag 2007 etwas anderes werden.<br />
Was, das ist in <strong>die</strong>sem Rechtsakt<br />
noch nicht enthalten und soll künftigem<br />
Bedenken überlassen bleiben. So dass<br />
man im derzeitigen politisch-rechtlichen<br />
Zu stand zwar nicht mit akzeptiertem<br />
Terminus, jedoch zur besseren<br />
Kennzeichnung bis auf weiteres von der<br />
Ent mei serung einer Münchner Straße<br />
reden darf.<br />
Das Echo auf <strong>die</strong>se Stadtratsentscheidung<br />
war in der Münchner Öffentlichkeit,<br />
bei der lokalen Presse und bei den<br />
üblichen verdächtigen Leserbriefschreibern<br />
vor allem von einem gekennzeichnet:<br />
Man fragte sich überwiegend, ob<br />
aus heutiger historischer Sicht der evangelische<br />
Landesbischof Hans Meiser<br />
<strong>die</strong>se Ab-Erkennung ver<strong>die</strong>nt habe, man<br />
tauschte durchaus kontrovers Argumente<br />
aus, ob er in solchem Ausmaße<br />
An ti semit gewesen und ob ein Mann seiner<br />
Stellung, der nach dem Polenfeldzug<br />
Dankgebete für den Erfolg der deutschen<br />
Waffen habe sprechen lassen,<br />
noch tragbar sei. Man sammelte auf beiden<br />
Seiten, bei Befürwortern wie Gegnern<br />
des Antrags, Belege aus der Vita<br />
Hans Meisers, Belege, <strong>die</strong> ihn je nachdem<br />
be- oder entlasten sollten.<br />
Gewiss: mit einer großen reservatio<br />
men talis wies Münchens Oberbürgermeister<br />
Christian Ude in seiner bemerkenswerte<br />
Rede vor dem Stadtrat darauf<br />
hin, dass man <strong>die</strong> Bedingungen des Jahres<br />
1957, als unter dem sozialdemokratischen<br />
Oberbürgermeister Thomas<br />
Wim mer <strong>die</strong> Stadt München den Na -<br />
men Meiserstraße beschloss, sehr wohl<br />
berücksichtigen müsse. Und dennoch<br />
verlief <strong>die</strong> gesamte Diskussion de facto<br />
so, als hätte Münchens Stadtrat jetzt,<br />
2007, ganz neu zu entscheiden, ob es<br />
von nun an eine Meiserstraße geben solle<br />
oder nicht. Genau das war das Verfahren<br />
oder, wenn man will, der innere Mechanismus<br />
der Diskussion. Verkürzt ausgedrückt,<br />
ging es immer darum, ob Meiser<br />
durch seine Taten oder Unterlassungen<br />
<strong>die</strong>se Ehrung nun ver<strong>die</strong>nt oder verwirkt<br />
habe. Hauptargument dabei war Meisers<br />
Antisemitismus, und für ein gelassenes<br />
Abwägen des zeitgenössischen Um -<br />
felds und der Bedeutungsnuancen ist<br />
<strong>die</strong>ses Thema auch heute in der deutschen<br />
Öffentlichkeit (aus mancherlei<br />
gu ten Gründen) noch viel zu heikel. Da -<br />
zu kam, dass den Beschlussakten eine<br />
formal zwar Neutralität betonende, in -<br />
haltlich jedoch unmissverständliche<br />
Presseerklärung der Präsidentin der Israelitischen<br />
Kultusgemeinde für München<br />
und Oberbayern beilag. Welche<br />
Wir kung eine solche Verlautbarung von<br />
solcher Seite hat, auch wenn ihr in dem<br />
Verfahren keinerlei juristische Funktion<br />
zukommt, braucht wohl nicht betont zu<br />
werden.<br />
<strong>Die</strong> Frage bleibt: Ist <strong>die</strong> „Ent-Nennung“<br />
einer Straße kommunalpolitische<br />
Petitesse, Lokalposse – oder was? Das zu<br />
103
überlegen, reicht aber über München<br />
und den lokalpolitischen Anlass weit<br />
hinaus. Denn <strong>die</strong> Mentalität und <strong>die</strong><br />
Antriebe, denen man da begegnet (und<br />
denen man punktuell redliches Wollen<br />
durchaus zusprechen mag), dürften, wie<br />
auch aus anderen Beispielen zu ersehen,<br />
nicht auf eine bestimmte Stadt Deutschlands<br />
beschränkt sein. Schon bei der<br />
Cau sa Meiser/Entmeiserung ist München<br />
nur Nachahmungstäterin nach<br />
Neu endettelsau und Nürnberg, wobei<br />
de ren Voraussetzungen allerdings je -<br />
weils andere waren.<br />
Bei Ansätzen wie <strong>die</strong>sen handelt es sich<br />
allem Anschein nach um eine sehr spezifische<br />
Form von Geschichtsrevisionismus.<br />
Sie ist insofern interessant, als Entscheidungen<br />
aus der Nachkriegszeit<br />
über deren eigene Vergangenheit, und<br />
da besonders über <strong>die</strong> hochproblematische<br />
NS-Zeit samt Folgen, nun bereits<br />
ihrerseits als historisch betrachtet werden;<br />
als „historisch“ in jenem Sinne, dass<br />
jede Epoche das Recht hat, <strong>die</strong> Ge -<br />
schichte neu zu schreiben. Zu <strong>die</strong>sem<br />
zweifellos legitimen Recht, ohne das Ge -<br />
schichtsschreibung gar nicht existierte,<br />
gibt es freilich auch eine pervertierte<br />
Form, nämlich dass eine Generation<br />
meint, ihre eigenen Widersprüche und<br />
ihre Kritik in <strong>die</strong> dann offenbar noch als<br />
aktuell und akut (und somit als unmittelbar<br />
gefährlich) erlebte Vergangenheit<br />
zurückzuprojizieren und Geschichte<br />
nicht, wie sehr wohl zulässig, neu zu<br />
schreiben, sondern „umzuschreiben“.<br />
Heute Missliebiges wird wegretuschiert.<br />
Das Verfahren, wir wissen es, hat seine<br />
Vorbilder. <strong>Die</strong> rabiateste Ausprägung,<br />
zudem noch in symbolisch ritualisierter<br />
Form, war <strong>die</strong> altrömische damnatio<br />
memoriae: Karthago ihr dann eben nicht<br />
mehr leuchtendes süperbes Beispiel.<br />
Aber auch das 20. Jahrhundert böte dazu<br />
überzeugende Belege.<br />
Bemerkenswert an der Münchner Meiser-Auseinandersetzung<br />
des Sommers<br />
2007 war – und nur wegen der Übertragbarkeit<br />
des Vorgangs greifen wir<br />
noch einmal darauf zurück –, dass sich<br />
der Stadtrat und <strong>die</strong> Öffentlichkeit zwar<br />
<strong>die</strong> Argumente der Würdig- oder Un -<br />
würdigkeit Meisers heftig um <strong>die</strong> Ohren<br />
geschlagen haben (als könnte man damit<br />
seine eigene Entscheidung rechtfertigen),<br />
sie jedoch, abgesehen von einer<br />
kursorischen Erwähnung in der Rede<br />
des Oberbürgermeisters, niemals da -<br />
nach fragten, was ihre Stadt-Vorväter,<br />
den Stadtrat des Jahres 1957 unter SPD-<br />
Oberbürgermeister Thomas Wimmer,<br />
104<br />
denn bewogen habe, den an dem Evangelischen<br />
Landeskirchenamt Bayerns<br />
vor beiführenden Teil der Münchner Ar -<br />
cisstraße nach Hans Meiser zu benennen.<br />
Wie groß war <strong>die</strong> Erschütterung<br />
nach Meisers Ableben 1956 bei Rat und<br />
Bürgern der Stadt München, welchen<br />
Wünschen und Bedürfnissen folgte der<br />
Beschluss?<br />
<strong>Die</strong> Geschichte der Be-Nennung ist<br />
zumindest bis zu einem gewissen Grade<br />
<strong>die</strong> Geschichte einer Groteske, fast spiegelgleich<br />
dem jetzigen Ausgang. Forderungen,<br />
eine Straße nach Bischof Meiser<br />
zu benennen, wurden relativ bald nach<br />
Meisers Tod laut. <strong>Die</strong> Stadtverwaltung<br />
gedachte zunächst, in einem zentrumsfernen,<br />
eher wenig angesehenen Neubaugebiet<br />
eine Straße nach dem protestantischen<br />
Kirchenmann zu benennen.<br />
Ergebnis: Proteste, wie heute noch in<br />
den alten Zeitungen nachzulesen. Dann<br />
ein Antrag der Bayernpartei, <strong>die</strong> sich<br />
damals schon in heftigem Abwehrkampf<br />
gegen <strong>die</strong> CSU befand und ihr das<br />
Monopol auf <strong>die</strong> Verteidigung des wahren<br />
Bayerntums noch glaubte streitig<br />
machen zu können. Eine wichtige<br />
Straße in der Stadt, eine „erste Adresse“<br />
zudem, sollte in Meiserstraße umbenannt<br />
werden, ein Teil der Briennerstraße<br />
westlich der Propyläen. <strong>Die</strong> darin<br />
arglose Bayernpartei hatte<br />
nicht damit gerechnet,<br />
dass Anwohner mit solchen<br />
aufgezwungenen<br />
Adressänderungen im mer<br />
unzufrieden sind, und sich<br />
vor allem <strong>die</strong> Macht der<br />
hochmögenden Isar-<br />
Amper-Werke, des pro -<br />
minentesten Anliegers,<br />
nicht vor Augen geführt.<br />
<strong>Die</strong> Stadtchronik, auch <strong>die</strong><br />
Archivalien, sind über den<br />
weiteren Verlauf relativ<br />
schweigsam, immerhin so<br />
viel steht fest: Wenige Wo -<br />
chen später gab es einen<br />
gemeinsamen Antrag von<br />
fünf Rathausfraktionen,<br />
an der Spitze SPD und<br />
CSU, den südlichen Teil<br />
der Arcisstraße, gewissermaßen<br />
da, wo Meiser aus<br />
seinem Amtszimmer im<br />
Landeskirchenamt auf <strong>die</strong><br />
Straße hatte blicken können,<br />
im Meiserstraße um -<br />
zubenennen. Treuherzig<br />
führt <strong>die</strong> Beschlussvorlage<br />
noch an, dass es in <strong>die</strong>sem<br />
Hans Prähofer, Wie es war, 2005, Heimatbund Mühldorf<br />
Teil der Arcisstraße keine anderen Anlieger<br />
als den Staat und <strong>die</strong> Evangelische<br />
Kirche selbst gebe und somit nicht mit<br />
Anwohnerprotesten (sprich: wie an der<br />
Briennerstraße) ge rechnet werden<br />
müsse. Der Beschluss wurde während<br />
einer Marathonsitzung mit 60 (!) Tagesordnungspunkten<br />
ge fasst, im Protokoll<br />
<strong>die</strong>ser Sitzung ist keinerlei Wortmeldung<br />
wiedergegeben, nur <strong>die</strong> Tatsache<br />
selbst. Dem darauffolgenden Zeitungsbericht<br />
ist zumindest indirekt zu entnehmen,<br />
dass es im Plenum nicht einmal<br />
eine Diskussion zu <strong>die</strong>sem Punkt gegeben<br />
hat.<br />
So viel wortlose Ab- und Übereinstimmung,<br />
oder <strong>die</strong>s alles so selbstverständlich?<br />
Eine mögliche Antwort darauf führt<br />
uns allmählich wieder an den von uns<br />
beobachteten Geschichtsrevisionismus,<br />
<strong>die</strong>smal aber eines solchen vom Jahrgang<br />
1957. Den wahren Grund für <strong>die</strong>ses<br />
wortlose Einverständnis könnte man<br />
nämlich finden, wenn man sich <strong>die</strong> politische<br />
Konstellation <strong>die</strong>ser Zeit in Nachkriegsdeutschland<br />
und besonders im<br />
Nachkriegsmünchen ansieht. Nicht von<br />
ungefähr wurde <strong>die</strong> Vita Meisers damals<br />
verschiedentlich mit der überragenden<br />
Bedeutung seines gewissermaßen „Kollegen“<br />
vom anderen Gesangsbuch, des<br />
Kann man <strong>die</strong> Vergangenheit verschönern,<br />
wie man einen Luftschutzbunker sprengt?
katholischen Kirchenfürsten Kardinal<br />
Michael (von) Faulhaber, verglichen.<br />
Für Faulhaber, gestorben 1952, wurde<br />
sofort – der Münchenkenner kann es<br />
noch heute bestätigen – eine nicht unansehnliche<br />
Münchner Innenstadtstraße<br />
in Kardinal-Faulhaber-Straße umbenannt.<br />
Faulhaber sofort höchst prominent<br />
geehrt – und wo bleibt da im pari tä -<br />
ti sche n Denken der Zeit <strong>die</strong> Evan gelische<br />
Kirche Bayerns? Wohl möglich, dass da<br />
mancher eine Lücke, zumindest eine of -<br />
fene Stelle verspürte.<br />
Genau zu <strong>die</strong>ser Zeit war der Sozialdemokrat<br />
Wilhelm Hoegner, Chef der sog.<br />
Viererkoalition, bayerischer Ministerpräsident.<br />
Er hatte schon bald nach dem<br />
Krieg versichert, dass „jeder gute Christ<br />
ohne Bedenken Sozialdemokrat und<br />
jeder Sozialdemokrat … ohne Bedenken<br />
gläubiger Christ sein“ könne, und<br />
behielt <strong>die</strong>se Meinung stets bei. Auch<br />
hatte er durch einen damals eher ungewöhnlichen<br />
Schritt, nämlich einen parteilosen<br />
Vizepräsidenten des Evangelischen<br />
Landeskirchenamtes zum<br />
Staats sekretär zu machen, ganz offenbar<br />
zu zeigen versucht, dass sich <strong>die</strong> Evangelische<br />
Kirche nicht nur von der CSU vertreten<br />
fühlen musste.<br />
Was lag bei einer solchen politischen<br />
Gefühlslage näher, als dem soeben ver-<br />
Heftkritik<br />
Unaufgeregt anspruchsvoll<br />
DIE GAZETTE: Viel Text, wenige Bilder, keine<br />
hochgekochten Sensationen<br />
Anders als üblich gab es DIE GAZETTE zunächst<br />
online, seit 1998, und erst sechs Jahre später auch<br />
gedruckt. Und anders als viele sonstigen Zeit -<br />
schriftengründungen hat <strong>die</strong> Münchner, vom Literaturwissenschafter<br />
Fritz R. Glunk gegründete<br />
Vierteljahresschrift nicht blätternde Zuschauer als<br />
Zielgruppe im Sinn, sondern denkende Leser. Das<br />
bedeutet auf 106 Seiten viel Text, wenige Bilder,<br />
keine hochgekochten Sensationen.<br />
„Eigentlich vollkommen unverkäuflich“, wie der<br />
Journalist Peter Littger in der internen „Heftkritik“<br />
der aktuellen Nummer noch eins nachlegt. Er meint<br />
das als Kompliment, und es ist ihm beizustimmen.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Gazette</strong> ist das, was viele Diskurs-Plattformen<br />
nur simulieren (Littger erwähnt etwa das von ihm<br />
mitbegründete Cicero), ein Diskussionsorgan im<br />
altmodischen Sinn, anspruchsvoll und nicht ohne<br />
storbenen protestantischen Oberhirten<br />
Bayerns auch von seiten der Landeshauptstadt,<br />
dazu noch unter Führung<br />
derselben Partei wie <strong>die</strong> Staatsregierung,<br />
<strong>die</strong> gleiche Ehre zuteil werden lassen wie<br />
wenige Jahre zuvor Faulhaber? Den Zeitungen<br />
und Nachrufen jener Zeit ist zu<br />
entnehmen, dass Bischof Hans Meiser<br />
den Münchnern und Bayern in der letzten<br />
Phase seines Lebens vor allem wegen<br />
seines bei aller Kritik der Biographen<br />
offenbar hohen Charismas im Gedächtnis<br />
blieb, und <strong>die</strong> subjektive Erschütterung<br />
so manches Berichts ist auf ihre<br />
Weise durchaus glaubwürdig. Und gar<br />
nicht zu verschweigen ist, dass eine solche<br />
Ehrung auch für <strong>die</strong> Ehrenden politischen<br />
Ertrag versprach und – wie am<br />
damaligen Echo zu sehen – keineswegs<br />
nur versprach.<br />
<strong>Die</strong> zumindest partiellen Verstrickungen<br />
Meisers in das Un rechtsregime der<br />
NS-Zeit mögen bei der damaligen Be -<br />
wertung eine nur geringe Rolle gespielt<br />
haben, und damit befand er sich zu jener<br />
Zeit, 1957, zweifellos in wenn nicht<br />
guter, so doch gro ßer Zeitgenossenschaft.<br />
<strong>Die</strong>s alles ist, retrospektiv betrachtet,<br />
freilich nicht schön. Aber wann ist Ge -<br />
schichte schon „schön“? Und mit welcher<br />
Legitimation machen wir Spätergebore-<br />
nen uns an heischig, Ge schichte durch<br />
Umschreiben, Wegretuschieren wie<br />
dem Entfernen eines Namens von einer<br />
Straßentafel, zu „verschönern“?<br />
Aber damals, 1957, in einer Welt, in<br />
der <strong>die</strong> Überlebenden von 1945 gerade<br />
auf der Höhe ihrer Schaffenskraft waren<br />
und <strong>die</strong> Mitte der Gesellschaft bildeten,<br />
war es politisch zumindest nicht unvorteilhaft,<br />
für den, nach damaliger Lesart,<br />
ver<strong>die</strong>nten Kirchenmann auf solche<br />
Weise Verständnis zu zeigen und <strong>die</strong>s<br />
über <strong>die</strong> Benennung symbolisch zu<br />
bekräftigen.<br />
So wie der Beschluss einer hochweisen<br />
Obrigkeit 2007 den Beifall vieler gefunden<br />
hat, <strong>die</strong> wohlmeinend sind, aber ent -<br />
weder nicht <strong>die</strong> Voraussetzungen oder<br />
nicht <strong>die</strong> Zeit haben, solche alten Akten<br />
nachzulesen; es ist der Beifall da rüber,<br />
dass man sich hier von einem Stück Vergangenheit<br />
befreit, das viele von uns<br />
anfangen, als Makel zu empfinden.<br />
Verschönerung aber sollte auf Lebensbereiche<br />
wie auf das Aufstellen von<br />
Ruhebänkchen durch den Verschönerungsverein<br />
beschränkt bleiben. Denn<br />
schon als Selbstverschönerung, vulgo<br />
Kosmetik, wird sie in vielem fragwürdig.<br />
Den Spiegel reichen wir gerne.<br />
Anton Stahlberg<br />
Überraschungen. Mag man Julian Nida-Rümelins<br />
Beitrag über „Gerechtigkeit in Europa“ noch als Teil<br />
des etablierten bundesrepublikanischen Dialogs<br />
sehen, so fällt der kluge und zynische Beitrag des<br />
kenianischen Autors Binjawanga Wainaina über <strong>die</strong><br />
wohlgemeinten Initiativen der Ersten Welt zur Rettung<br />
der Dritten („Biogas, Aufziehradio, One Laptop<br />
Per Child“) schon aus dem Rahmen. „Der Internationale<br />
Währungsfonds wird dazu lächeln.“<br />
Man nehme dazu <strong>die</strong> Aufzählung von Matthias<br />
Horx' 100 Top-Trends von 2004, <strong>die</strong> sich von selbst<br />
verreißt, oder Zé do Rock, wie er in seinem quasideutschen<br />
Idiom Witziges und Ernstes aus Kuba<br />
berichtet, oder <strong>die</strong> brisante Rekonstruktion eines<br />
Geheimtreffens von Dissidenten und Regimespitzen<br />
mitten in der DDR, 1976 und kurz nach der<br />
Ausweisung Biermanns: Das Ergebnis ist rund,<br />
spannend und formal in einer unaufgeregten<br />
Ästhetik zwischen dem seligen Transatlantik und<br />
Datum angesiedelt. Ein Gewinn.<br />
(Michael Freund/DER STANDARD, Wien; Printausgabe,<br />
6. November 2007)<br />
105
106<br />
Autoren und Fotografen<br />
Michael Müller ist Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium<br />
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit<br />
und u.a. Vorsitzender der Enquête-Kommission „Schutz des<br />
Menschen und der Umwelt“.<br />
Dr. Frank Holl, Dr. phil., Literaturwissenschaftler und Historiker.<br />
Seit 1994 Kurator einer internationalen Ausstellungsreihe zu<br />
Alexander von Humboldt (u.a. in Havanna , Carácas, Berlin,<br />
Bogotá, Quito, Lima und Madrid)3. Preis der Georg-Agricola-<br />
Gesellschaft zur Förderung der Geschichte der Naturwissenschaften<br />
und Technik.<br />
<strong>Die</strong>trich Krusche war bis 1997 Professor für interkulturelle Hermeneutik<br />
an der Ludwig-Maximilians-Universität München.<br />
Lebt als freier Autor in Frankreich.<br />
Nico Stehr ist Inhaber des Karl Mannheim Lehrstuhls für Kulturwissenschaften<br />
an der Zeppelin University Friedrichshafen.<br />
Autor u.a. von Wissenspolitik (2003), Biotechnology (2004), <strong>Die</strong><br />
Moralisierung der Märkte (2007).<br />
Hans von Storch ist Direktor des Instituts für Küstenforschung<br />
des GKSS Forschungszentrums in Geesthacht und Professor am<br />
Meteorologischen Institut der Universität Hamburg. Mit Nico<br />
Stehr Autor von Klima - Wetter - Mensch (1999).<br />
Henry Fair lebt als freier Fotograf in New York (Harper’s, National<br />
Geographic). www.industrialscars.com, www.jhenryfair.com<br />
Torsten Mertz, Diplom-Geograph und Redakteur, tätig bei der<br />
Münchner Agentur akzente, <strong>die</strong> Unternehmen zum Thema<br />
Nachhaltigkeit berät, Autor von Schnellkurs Ökologie (2006).<br />
Professor Dr. Karl-Friedrich Wetzel lehrt an der Universität<br />
Augsburg am Lehrstuhl für Physische Geographie und Quantitative<br />
Methoden.<br />
Ulrich Frey ist der Autor von Der blinde Fleck – Kognitive Fehler<br />
in der Wissenschaft und ihre evolutionsbiologischen Grundlagen<br />
(Dissertation 2007)<br />
Impressum<br />
DIE GAZETTE Verlags GmbH<br />
Postfach 44 02 11, 80751 München, Tel. +49-89-360 39 666<br />
Fax +49-89-360 39 667, www.gazette.de und www.gazette.at<br />
HERAUSGEBER: Dr. Fritz R. Glunk (Glunk@gazette.de)<br />
REDAKTION: Linda Benedikt, Nikolai Podak, Dr. Edda Ziegler<br />
(redaktion@gazette.de)<br />
ART DIRECTOR: Manfred Adams<br />
SCHLUSSKORREKTUR: Eva Wendel, assesso.me<strong>die</strong>nprojekte<br />
REDAKTIONSBEIRAT: Eva Herold-Münzer, Volker Isfort,<br />
Andreas Odenwald, Christiane Wimmer, Frank T. Zumbach<br />
CONSULTING: Günter P. Elfe, Hubertus Fulczyk, Dr. Gernot Sittner<br />
ANZEIGENLEITUNG: Lutz Boden, MMG Me<strong>die</strong>nhaus München,<br />
Klausingweg 2, 80797 München<br />
Tel. +49-89-97 34 19 59, Fax +49-89-97 34 19 61.<br />
boden@me<strong>die</strong>nhaus-muenchen.de<br />
Leoluca Orlando, heute Parlamentsabgeordneter in Rom, 1985<br />
bis 2000 Bürgermeister von Palermo, Autor von Ich sollte der<br />
nächste sein (2003, in dt. Sprache) und Leoluca Orlando racconta<br />
la mafia ( 2007).<br />
Yvanka B. Raynova ist Direktorin des Instituts für axiologische<br />
Forschungen (philosophische und interdisziplinäre Werteforschung).<br />
Dr. Wendelin Wiedeking ist Vorstandsvorsitzender der Dr. Ing.<br />
h.c. F. Porsche AG., Autor u.a. von Anders ist besser. Ein Versuch<br />
über neue Wege in Wirtschaft und Politik (2006).<br />
Dr. Oskar Holl ist lebt als freier Rundfunk- und Fernsehjour -<br />
nalist, Filmemacher und Me<strong>die</strong>nberater in München.<br />
Viktoria Baron, geb. 1984 in Kasachstan, freie Autorin, träumt<br />
von der Anstellung bei einer großen deutschen Wochenzeitung.<br />
Corinna Sigmund ist Mitglied im write club im Münchner Café<br />
Jasmin. Mehrere Artikel in der Süddeutschen Zeitung.<br />
Frederick Pollack ist Lyriker und u.a. Autor von The Adventure<br />
und Happiness; lebt in Washington, D.C.<br />
Vivian Stockman, freie Fotografin,Bachelor in Environmental<br />
Communications an der Ohio State University. Mehrere Aus -<br />
stellungen. www.globalwarmingsolution.org.<br />
Phylis Geller lebt in Washington, D.C., freie Filmemacherin,<br />
mehrere Preise, produzierte zuletzt den Dreiteiler The Appala -<br />
chians für PBS (Public Broadcasting System).<br />
Philipp Schneidenbach ist Journalist und freier Berater für<br />
Benchmarks und Audits sowie Me<strong>die</strong>nrepräsentanz.<br />
www.schneidenbach.de<br />
Anton Stahlberg, langjähriger Korrespondent österreichischer<br />
Me<strong>die</strong>n für München und Süddeutschland, lebt jetzt abwechselnd<br />
in München und St. Johann im Haselried, Südtirol<br />
Das nächste Heft der GAZETTE, Nummer 16 / Winter 2007/2008, erscheint am 15. Dezember 2007.<br />
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Prof. Dr. Dr. Frederic Vester, Biokybernetiker, Umwelt-<br />
und Zukunftsforscher, hat seine Überlegungen, wie das<br />
komplexe Geschehen, seine Folgen und <strong>die</strong> Abhilfen<br />
einsichtig gemacht werden können, in <strong>die</strong>ser CD-ROM mit<br />
seinem Szenario Zeitbombe Klimawandel anschaulich<br />
gemacht. Der Aufbau des Szenarios wird von einem<br />
Sprecher kommentiert und ist mit Animationen, Fotos und<br />
Sound illustriert.<br />
Schritt für Schritt zeigt Frederic Vester <strong>die</strong> Vernetzung der<br />
an <strong>die</strong>sem Vorgang beteiligten Faktoren, ihre sich selbst -<br />
verstärkenden Auswirkungen auf das Klimageschehen und<br />
<strong>die</strong> Wechselwirkungen mit den menschlichen Aktivitäten.<br />
Damit wird erstmals <strong>die</strong> Komplexität der Abläufe in einer<br />
auch für Laien verständlichen Art und Weise dargestellt.<br />
Doch selbst für Experten dürften <strong>die</strong> hier einmalig im<br />
Systemzusammenhang dargestellten Faktoren und ihre<br />
Dynamik neue Erkenntnisse bringen.<br />
Buch und Gestaltung: Frederic Vester<br />
Redaktion: Dipl. Geol. Gabriele Harrer<br />
Sprecher. Harry Täschner<br />
Musik: Hannes Vester<br />
Herausgeber: Malik Management Zentrum St. Gallen AG
Chronoswiss<br />
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