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die vermeidbare katastrophe die ersten warnzeichen ... - Die Gazette

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D, AU: 8 Euro, CH: 14 Fr<br />

<strong>die</strong> <strong>Gazette</strong><br />

DAS POLITISCHE KULTURMAGAZIN NUMMER 16 / WINTER 2007/2008<br />

Thema Klimawandel<br />

Es wird wärmer<br />

DIE VERMEIDBARE KATASTROPHE<br />

Michael Müller<br />

Alexander von Humboldt als Klimaforscher<br />

DIE ERSTEN WARNZEICHEN<br />

Frank Holl<br />

Nicht bloß technische Lösungen<br />

DEM WANDEL EIN SCHNIPPCHEN SCHLAGEN<br />

Nico Stehr, Hans von Storch<br />

Wo steht Deutschland?<br />

OFF-ROAD-WAGEN UND CO2 Interview mit Wendelin Wiedeking


D, AU: 8 Euro, CH: 14 Fr<br />

<strong>die</strong> <strong>Gazette</strong><br />

DAS POLITISCHE KULTURMAGAZIN NUMMER 16 / WINTER 2007/2008<br />

Thema Klimawandel<br />

Es wird wärmer<br />

DIE VERMEIDBARE KATASTROPHE<br />

Michael Müller<br />

Alexander von Humboldt als Klimaforscher<br />

DIE ERSTEN WARNZEICHEN<br />

Frank Holl<br />

Nicht bloß technische Lösungen<br />

DEM WANDEL EIN SCHNIPPCHEN SCHLAGEN<br />

Nico Stehr, Hans von Storch<br />

Wo steht Deutschland?<br />

OFF-ROAD-WAGEN UND CO2 Interview mit Wendelin Wiedeking


Editorial<br />

Es wird schöngeredet. Selbst „Katastrophe“ ist ei ne<br />

Beschönigung. Der Klimawandel ist kei ne Katastrophe.<br />

Ein<br />

Tsunami ist eine Katastrophe: Man geht (wenn man<br />

noch kann) in <strong>die</strong> Berge, da nach kehrt man zurück,<br />

<strong>die</strong> Überlebenden begraben <strong>die</strong> Toten, bauen <strong>die</strong><br />

Häuser wieder auf, und das Leben geht weiter wie<br />

zuvor. <strong>Die</strong> Erderwärmung je doch bleibt, unumkehrbar.<br />

Sie wird ein anderes Leben erzwingen.<br />

Aber <strong>die</strong>se Wahrheit wagt kaum jemand auszusprechen.<br />

Im April des Jahres, im publizistischen Lärm<br />

um das Klima, forderte zwar eine große Boulevard-<br />

Zeitung <strong>die</strong> Re duktion des CO 2 -Ausstoßes um 80<br />

Prozent (bis 2050, so Andreas Troge vom Bundes-<br />

Umweltamt), und andere Blätter schlugen Alarm,<br />

wir hätten „nur noch 12 Jah re Zeit“. Kon kreter wurden<br />

<strong>die</strong>se Forderungen nicht und <strong>die</strong> prak tischen<br />

Folgen für unsern Alltag erst recht nicht.<br />

Nur verschämt, nur leise, und nur ein einziges Mal<br />

redete Angela Merkel davon, dass auch „ein Weniger“<br />

denkbar sei; im UN-Weltklimareport (siehe Re -<br />

zension Seite 95 in <strong>die</strong>ser Ausgabe) lesen wir wenigstens<br />

metaphorisch vom „Virus der Maßlosigkeit“,<br />

der „zum Tode führen kann“; Der 4. Sachstandsbericht<br />

des IPCC, dessen Ergebnisse gerade in Valencia<br />

zusammengefasst wurden, spricht schon mal von<br />

(nicht näher ausgeführten) „Verbraucher vor lieben“,<br />

<strong>die</strong> „den Möglichkeiten zur Emis si ons min derung<br />

entgegenstehen“; und an an derer Stelle kaum deutlicher<br />

von „Änderungen im Le bens stil“, <strong>die</strong> „zur Minderung<br />

des Klimawandels bei tra gen können“.<br />

Wer da genau hinhört, spürt, um welche unangenehme<br />

Wahrheit hier herumgeredet wird: um <strong>die</strong><br />

Erkenntnis nämlich, dass unser Le bens stan dard<br />

nicht zu halten sein wird, auf den ganzen Planeten<br />

hin gesehen schon aus Gerechtigkeitsgründen nicht.<br />

<strong>Die</strong>s aber ohne falsche Rücksicht aus zu sprechen<br />

bleibt derzeit denen vorbehalten, <strong>die</strong> im mer schon<br />

als notorische Nörgler denunziert werden konnten,<br />

Klaus Michael Meyer-Abich zum Beispiel, der sich<br />

wünscht, wir sollten uns „in einer politischen<br />

Öffentlichkeit da rüber klarwerden, dass es unanständig<br />

ist, durch un sere Autofahrerei, unsere<br />

Urlaubsfliegerei, unsern viel zu hohen Wärmebedarf<br />

<strong>die</strong> Lebensgrundlagen der ärmeren Länder zu zerstören“.<br />

Dr. Bjørn Lomborg, der Kopenhagener<br />

Klimawandel-Skeptiker, würde ihm widersprechen.<br />

Er näm lich hält es für richtig, <strong>die</strong> ganze Welt ebenso<br />

reich zu ma chen wie New York, „damit <strong>die</strong> Menschen<br />

überall sich so etwas leisten können wie hö here<br />

Deiche und Air con ditio n“. Lomborg ist gerngesehener<br />

Gastredner auf hohen Symposien (so beim 6.<br />

Europe an Business Summit in Brüs sel im Februar<br />

2008 zum Thema „Greening The Econo my - New<br />

Energy for Business“), Meyer-Abich nicht.<br />

Zweifellos hat inzwischen ein weltweiter Bewusstseinswandel<br />

eingesetzt. Ihn zu befördern hat sich<br />

<strong>die</strong>se Ausgabe der GAZETTE vorgenommen, <strong>die</strong><br />

deshalb erstmals einen entsprechenden Themen-<br />

schwerpunkt enthält.<br />

Den potenziell wichtigsten Beitrag dazu hat Mi -<br />

cha el Müller geschrieben, Parlamentarischer Staatssekretär<br />

im Berliner Umweltministerium. Er nennt<br />

klar <strong>die</strong> beunruhigende Ausgangslage und <strong>die</strong> notwendigen<br />

Maßnahmen. Man kann sich nur wünschen,<br />

dass der Autor und sein Minister <strong>die</strong>se Sicht<br />

der Dinge ohne Zeitverlust (und ohne dass <strong>die</strong> In -<br />

dustrie ihnen Knüppel zwischen <strong>die</strong> Beine wirft)<br />

auch in tatsächliche Politik umsetzen.<br />

Frank Holl belegt in seinem Text, dass wir schon<br />

lange den Menschen als Verursacher des Klimawandel<br />

hätten erkennen können: spätestens seit Alexander<br />

von Humboldt den Anrainern des Valencia-Sees<br />

in Venezuela erklärte, sie seien selbst schuld am Ab -<br />

sinken des Seewasserspiegels, weil sie <strong>die</strong> umliegenden<br />

Wälder abgeholzt hätten.<br />

<strong>Die</strong>trich Krusche betrachtet <strong>die</strong> sogenannte internationale<br />

Gemeinschaft, <strong>die</strong> als Gemenge souveräner,<br />

egoistischer, ja imperialer Staaten unfähig ist,<br />

im vorliegenden Fall wirklich ge mein same Be -<br />

schlüsse zu fassen, wenn damit Ver pflichtungen drohen.<br />

Ändern wird sich darin wenig, solange Su per -<br />

mächte es aktiv darauf anlegen, <strong>die</strong> Organisation der<br />

Vereinten Nationen zu entmachten.<br />

<strong>Die</strong> drei darauffolgenden Expertenbeiträge befassen<br />

sich mit der falschen Annahme, es gäbe für jedes Problem<br />

eine einfache technische Lösung (Nico Stehr,<br />

Hans von Storch), mit den übertriebenden Hoffnungen,<br />

<strong>die</strong> sich auf das Allheilmittel Biokraftstoffe<br />

richten (Thorsten Mertz) sowie mit der Aufstellung<br />

von Modellen und Szenarien (geschrieben für all<br />

<strong>die</strong>, <strong>die</strong> gern handkehrum das Eintreten von Klima-<br />

Prognosen bezweifeln). Nur scheinbar im Widerspruch<br />

dazu steht der letzte Beitrag in <strong>die</strong>ser Reihe:<br />

eine Analyse typischer Fehler, <strong>die</strong> auch (und gerade)<br />

Wissenschaftlern in ihrer Ar beit unterlaufen.<br />

Zum Thema gehört auch <strong>die</strong> Bildstrecke über <strong>die</strong><br />

Zerstörung ganzer Landschaften auf der Su che nach<br />

billigerer Energie und eine Sammel re zen sion einiger<br />

neuerer Publikationen zum Klimawandel.<br />

Es fällt nach alldem nicht leicht, sich noch eine<br />

begründete Hoff nung auf eine menschenwürdige<br />

Zu kunft für alle Bewohner <strong>die</strong>ses Planeten zu be -<br />

wahren. Sogar <strong>die</strong> in Bali vereinbarte Fortsetzung des<br />

Kyoto-Protokolls ist für manchen kein Anlass zur<br />

Freude: Es sei „zu wenig zu spät“, schrieb <strong>die</strong> Zeitschrift<br />

Foreign Po licy (im September 2007). Und in<br />

Nature (Oktober 2007) erklärte Steve Rayner von<br />

der Universität Oxford: „Es gibt keine Anzeichen,<br />

dass irgendjemand bis 2012 seine Verpflichtung er -<br />

füllen wird“; er sehe daher nicht ein, warum man ein<br />

neues Ab kommen verabreden wolle, dessen noch<br />

ehrgeizigere Ziele ab sehbar wieder niemand erreichen<br />

wird. Hans Joachim Schellnhuber, Berater der<br />

deutschen Bundeskanzlerin, erkennt im Kyoto-Protokoll<br />

im merhin den Einstieg in völkerrechtlich verbindliche<br />

Klima-Abkommen.<br />

<strong>Die</strong> chinesische Verwünschung „Mögest du in in -<br />

teressanten Zeiten leben!“ hat uns offenbar erreicht.<br />

Fritz Glunk


Szenen vom Ende des Jahrtausends<br />

Exterritorium<br />

»Der Krieg nimmt all jenen <strong>die</strong> Heimat,<br />

<strong>die</strong> nicht in <strong>die</strong>se oder jene Nationalgeschichte,<br />

in <strong>die</strong>se oder jene Gemeinschaft<br />

hineingeboren wurden. Wer aus der<br />

großen kollektiven Erzählung ausgestoßen,<br />

wer in Acht und Bann getan wurde,<br />

sich also seinen Verstand und seine<br />

Unabhängigkeit bewahrt hat, allein der<br />

besitzt noch Individualität. Doch dafür<br />

bezahlt er einen hohen Preis: Er verliert<br />

<strong>die</strong> Heimat.« László Végel<br />

László Végel<br />

Exterritorium<br />

Szenen vom<br />

Ende des Jahrtausends<br />

László Végel<br />

Exterritorium<br />

Aus dem Ungarischen von Akos Doma<br />

192 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag<br />

Euro 18,80 / sFr 41,60<br />

DAAD Spurensicherung 20, hg. vom Berliner Künstlerprogramm des DAAD<br />

ISBN 978-3-88221-111-5<br />

Göhrener Straße 7 – 10437 Berlin – www.matthes-seitz-berlin.de


THEMA<br />

KLIMAWANDEL<br />

THEMEN<br />

INTERVIEW<br />

DOKUMENTATIONEN<br />

REPORTAGE<br />

SKIZZEN<br />

STORY<br />

LYRIK<br />

GALERIE<br />

REZENSIONEN<br />

MARGINALIEN<br />

HEFTKRITIK<br />

7 - 14<br />

15<br />

20<br />

26<br />

31<br />

34<br />

40<br />

43<br />

49<br />

52<br />

56<br />

61<br />

65<br />

71<br />

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95<br />

100<br />

101<br />

103<br />

105<br />

106<br />

106<br />

Editorial<br />

Fundsachen<br />

<strong>Die</strong> aufhaltsame Katastrophe Michael Müller<br />

Wie der Klimawandel entdeckt wurde Frank Holl<br />

Internationale Unordnung <strong>Die</strong>trich Krusche<br />

<strong>Die</strong> alltägliche Hybris Nico Stehr, Hans von Storch<br />

Bio-Energie: <strong>Die</strong> Hoffnung ist grün Torsten Mertz<br />

Modelle, Szenarien und Prognosen Karl-Friedrich Wetzel<br />

Ich vereinfache jetzt mal Ulrich Frey<br />

Der italienische Filz Leoluca Orlando<br />

EU: Wertegemeinschaft oder Rechtsordnung Yvanca B. Raynova<br />

mit Dr. Wendelin Wiedeking<br />

Wie wollen wir 2020 leben? (2. Teil)<br />

Poesiealbum der Electrizität<br />

Weihnachtslandschaften Oskar Holl<br />

Fremde Heimat Viktoria Baron<br />

Corinna Sigmund Radio Nord<br />

Frederick Pollack Kopfverletzung<br />

Wo einmal Berge waren (Text von Phylis Geller)<br />

Bücher zum Klimawandel<br />

Blindlings Claudio Magris<br />

Der Innenminister hat keine Ahnung Philipp Schneidenbach<br />

Revisionismus hoch zwei Anton Stahlberg<br />

Unaufgeregt anspruchsvoll Michael Freund (Der Standard)<br />

Autoren<br />

Impressum<br />

NUMMER 16 / WINTER 2007/2008<br />

Titel: Gasvulkane bei Turbaco in Kolumbien<br />

(nach einer Zeichnung von Alexander von Humboldt, 1810)


Als Spion auf Görings Schloß<br />

Orgien – Intrigen – Attentate<br />

Olympia in Berlin 1936, prominente Gäste<br />

aus aller Welt strömen herbei. Der Spanienkrieg<br />

steht bevor, <strong>die</strong> Bündnisse formieren<br />

sich in Erwartung des kommenden<br />

Weltkriegs. Der norwegische Marathonläufer<br />

Roar Trögesen gelangt ins Zentrum<br />

der Macht und soll <strong>die</strong> Pläne der deutschen<br />

Regierung um Hitler ausspionieren.<br />

Schauplatz <strong>die</strong>ses Romans ist Herman Görings<br />

Karinhall, das riesige »germanische<br />

Jagdschloß« in der Schorfheide nahe Berlin.<br />

Um den drogensüchtigen Hausherren<br />

schart sich ein Bestiarium aus Industriellen,<br />

Politikern und Militärs. Im Verlauf des<br />

tagelangen Jagdfests im militärisch abgeschirmten<br />

Revier um das Schloß geraten<br />

alle gesellschaftlichen Regeln aus den Fugen.<br />

Wird der Spion Roar Trögesen seinen<br />

Auftrag ausführen können?<br />

Carl-Henning Wijkmark<br />

<strong>Die</strong> Jäger auf Karinhall<br />

Roman<br />

Aus dem Schwedischen von Paul Berf<br />

Mit einem Nachwort von<br />

Steve Sem-Sandberg<br />

400 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag<br />

€ 22,80 / sFr 40,50<br />

ISBN 978-3-88221-896-1<br />

Göhrener Straße 7 – 10437 Berlin – www.matthes-seitz-berlin.de


Fundsachen<br />

Am Schwarzen Brett<br />

Kartoffeln kochen<br />

Eine indische Soziologin (der Name ist der Redaktion<br />

bekannt) stieß bei einer internen Stu<strong>die</strong> über ein<br />

deutsches High-Tech-Unternehmen auch auf <strong>die</strong>ses<br />

Stück „graue Literatur“, einen im Un ter nehmen kursierenden<br />

längeren Witz, den sie in der Stu<strong>die</strong> unredigiert<br />

wiedergibt:<br />

Warum es bei N.N. nicht so richtig läuft:<br />

So bereitet man in einem kleinen Startup eine Kartoffel<br />

zu:<br />

Man heizt einen neuen, hochwertigen Herd auf<br />

200 Grad. Man legt eine große Folien-Kartoffel<br />

hinein und wendet sich in den folgenden 45 Minuten<br />

einer produktiven Aufgabe zu. Dann wird überprüft,<br />

ob <strong>die</strong> Kartoffel gar ist. Man nimmt <strong>die</strong><br />

gekochte Kartoffel aus dem Herd und serviert sie.<br />

So bereitet man bei N.N. eine Kartoffel zu: Man<br />

gründet ein Projektteam und bestimmt einen<br />

Owner für den Kartoffel-Task.<br />

Der Owner schlägt beim Management vor, eine<br />

Kartoffel zuzubereiten. Das Management lehnt ab,<br />

weil man ja schließlich seit Firmengründung noch<br />

nie eine Kartoffel zubereitet hat, und verlangt eine<br />

Machbarkeitsstu<strong>die</strong> für Kartoffelzubereitung und<br />

einen Nachweis eines positiven Kartoffel-Nutzen-<br />

Effektes für <strong>die</strong> Firma.<br />

Der Owner entwirft eine Powerpoint-Präsentation,<br />

<strong>die</strong> genauestens alle Einzelheiten des Projektes<br />

definiert. Leicht zu begreifende Passagen und einfach<br />

zu verstehende Tatsachen müssen dabei in<br />

Management-Newspeech übersetzt werden, damit<br />

sie dem Zielpublikum verständlich gemacht werden<br />

können.<br />

Der Owner geht mit besagter Präsentation in zahlreiche<br />

Meetings und packt damit das Management<br />

und <strong>die</strong> Verantwortlichen in ihrer Denke. Es darf<br />

nicht vergessen werden, anschließend <strong>die</strong> Präsentation<br />

per Mail-Verteiler an alle anwesenden und<br />

nichtanwesenden Beteiligten und Unbeteiligten zu<br />

verschicken. .<br />

Das Team aligned sich daraufhin und sucht 6<br />

Monate nach einem TS 16949 zertifizierten Kartoffellieferanten<br />

und findet keinen. Als Konsequenz<br />

wird ein ISO zertifizierter Rübenlieferant gezwungen,<br />

Kartoffeln zu liefern. Da er keine Kartoffeln im<br />

Programm hat, kauft er sie von einem unzertifizierten<br />

Kartoffelhändler und schlägt 25% auf den Preis<br />

auf.<br />

Der Rübenlieferant wird beauftragt, den Herd auf<br />

200 Grad vorzuheizen. Man verlangt, dass der Lieferant<br />

zeigt, wie er den Knopf auf 200 Grad gedreht<br />

hat, und erwartet, dass er Informationsmaterial des<br />

Herdherstellers beibringt, aus dem hervorgeht, dass<br />

der Herd richtig geeicht ist.<br />

Man überprüft das Informationsmaterial und veranlasst<br />

dann den Lieferanten, <strong>die</strong> Temperatur mit<br />

Hilfe eines zertifizierten Temperaturfühlers zu überprüfen,<br />

und weist den Lieferanten an, <strong>die</strong> Kartoffel<br />

in den Herd zu legen und <strong>die</strong> Zeituhr auf 45 Minuten<br />

zu stellen.<br />

Man veranlasst den Lieferanten, den Herd zu öffnen,<br />

um zu zeigen, dass <strong>die</strong> Kartoffel richtig platziert<br />

wurde, und erbittet eine Stu<strong>die</strong>, <strong>die</strong> beweist, dass 45<br />

Minuten <strong>die</strong> ideale Garzeit für eine Kartoffel <strong>die</strong>ser<br />

Größe ist.<br />

Nach 10 Minuten wird eine Prüfung verlangt, ob<br />

<strong>die</strong> Kartoffel vielleicht schon gar ist.<br />

Nach 11 Minuten wird eine Prüfung verlangt, ob<br />

<strong>die</strong> Kartoffel vielleicht schon gar ist.<br />

Nach 12 Minuten wird eine Prüfung verlangt, ob<br />

<strong>die</strong> Kartoffel vielleicht schon gar ist.<br />

Man wird ungeduldig mit dem Lieferanten<br />

(warum dauert es so lange eine einfache Kartoffel zu<br />

kochen?) und verlangt einen aktualisierten Gar-Statusreport<br />

alle 5 Minuten.<br />

Nach 35 Minuten kommt man zu dem Schluss,<br />

dass <strong>die</strong> Kartoffel fast fertig ist.<br />

Man gratuliert dem Lieferanten, dann informiert<br />

man den Management Circle über das hervorragende<br />

Arbeitsergebnis, das erzielt wurde, obwohl<br />

man mit einem unkooperativen Lieferanten zusammenarbeiten<br />

musste. <strong>Die</strong> Mitarbeiter schlagen sich<br />

gegenseitig für einen Good-Cooperation-Award<br />

vor.<br />

7


8<br />

Nach 40 Minuten Garzeit nimmt man auf Verlangen<br />

der Kaufleute [d.h. der Controlling-Abteilung,<br />

A.d.V.] hin <strong>die</strong> Kartoffel aus dem Herd, um eine<br />

Kosteneinsparung ohne Wert- und Qualitätsminderung<br />

der Kartoffel im Vergleich zu der ursprünglich<br />

angesetzten Garzeit von 45 Minuten zu realisieren.<br />

Man serviert <strong>die</strong> Kartoffel und wundert sich,<br />

wie zum Teufel es ein kleines Startup schafft, so eine<br />

gute, preiswerte Kartoffel kochen, <strong>die</strong> den Leuten<br />

offensichtlich besser schmeckt als <strong>die</strong> N.N.-Kartoffel.<br />

Zwischenzeitlich gibt es verschiedene Verbesserungsvorschläge<br />

des Managements:<br />

- Man könnte Rüben in Kartoffelform verwenden,<br />

um Kosten zu sparen.<br />

- Der fehlende Kartoffelgeschmack soll dann in<br />

einer Imageoffensive den Kunden als neues Qualitätsmerkmal<br />

dargestellt werden.<br />

- Es wird gefordert, bei 20% geringerer Gartemperatur<br />

im Herd <strong>die</strong> Garzeit um 20% zu verkürzen.<br />

- Man prüft, ob es nach einer Verlagerung des Herdes<br />

nach In<strong>die</strong>n noch möglich ist, <strong>die</strong> Kartoffeln in<br />

Deutschland heiß zu servieren...<br />

Bevor einer <strong>die</strong>ser Vorschläge umgesetzt werden<br />

kann, werden <strong>die</strong> Manager befördert, <strong>die</strong> gesamte<br />

Abteilung restrukturiert und umbenannt, und <strong>die</strong><br />

Welt wartet weiter auf <strong>die</strong> erste N.N.-Kartoffel.<br />

Der alltägliche Gift-Handel<br />

Der Kampf gegen eine gute Verordnung<br />

Schier unbemerkt auch von der deutschen Öffentlichkeit<br />

wurde im Dezember 2006 in Brüssel <strong>die</strong><br />

„REACH“-Verordnung verabschiedet, ein europaweites<br />

System der Registrierung, Bewertung und Zu -<br />

lassung von Chemikalien (REACH = Registration,<br />

Evaluation and Authorisation of Chemicals). Eine<br />

große Handelsnation hat versucht, <strong>die</strong>se Regulierung<br />

zu verhindern (Quelle: Mark Shapiro in Harper’s,<br />

Ok tober 2007):<br />

<strong>Die</strong> amerikanische Öffentlichkeit und <strong>die</strong> amerikanischen<br />

Me<strong>die</strong>n haben sich bisher kaum um das neue<br />

Chemikalienrecht der EU gekümmert.<br />

<strong>Die</strong> Bush-Regierung und <strong>die</strong><br />

Produzenten in den USA jedoch sind<br />

seit Jahren fixiert darauf. REACH ist<br />

mehr als schon wieder so ein ausländisches<br />

Verbot bestimmter Chemikalien,<br />

mit dem sich jetzt <strong>die</strong> Wirtschaft<br />

der USA herumschlagen muss.<br />

REACH greift <strong>die</strong> fundamentale<br />

Überzeugung an, dass es <strong>die</strong> Vereinigten<br />

Staaten sind, <strong>die</strong> entscheiden, was<br />

oder was nicht in all den Waren stecken<br />

darf, <strong>die</strong> in der ganzen Welt verkauft<br />

werden. Als demnach REACH<br />

in den Jahren 2003 bis 2006 im Europäischen<br />

Parlament diskutiert wurde,<br />

schlossen sich Regierung und Industrie<br />

der USA zusammen und betrie-<br />

ben mit noch nie dagewesenen Aufwand eine internationale<br />

Lobby-Tätigkeit, um das EU-Projekt aus der<br />

Welt zu schaffen oder wenigstens radikal auszudünnen.<br />

Den <strong>ersten</strong> Angriff startete ein Team diverser Wirtschafts-<br />

und Industrievertreter. Ein Memo aus der<br />

Europa-Asien-Abteilung des Außenministeriums<br />

verurteilte REACH als für <strong>die</strong> Industrie zu „kostspielig,<br />

belastend und kompliziert“. Das Handelsministerium<br />

gab bekannt: Falls <strong>die</strong> Chemikalien eine derart<br />

starre Überprüfung durchlaufen müssten, „würden<br />

Hunderttausende Amerikaner ihre Jobs verlieren“.<br />

Der amerikanische Handelsbeauftrage Robert Zoellick<br />

[seit Juli 2007 Präsident der Weltbank] übergab<br />

der Welthandelsorganisation ein Protestschreiben:<br />

REACH sei nichts anderes als ein „außer-tarifliches“<br />

Handelshemmnis für Exporteure nach Europa. Eine<br />

Delegation aus Beamten des Außenministeriums<br />

und zwei Vorstandsmitgliedern von Dow Chemical<br />

flog nach Athen, um <strong>die</strong> Griechen zu bearbeiten, <strong>die</strong><br />

damals <strong>die</strong> EU-Präsidentschaft innehatten. Colin<br />

Powell höchstpersönlich schickte an alle Botschaften<br />

der USA weltweit ein siebenseitiges Telegramm, das<br />

be sagte, REACH „könnte Hindernisse für den Handel<br />

errichten“ und würde <strong>die</strong> amerikanische chemische<br />

Wirtschaft durch verhinderte Exporte zig<br />

Mil liarden Dollar kosten. Gleichzeitig entsandte Wa -<br />

shington Sonderbotschafter in <strong>die</strong> neuen EU- Mit -<br />

gliedsstaaten Ungarn, Polen, Estland und Tschechien<br />

(früher kommunistische Länder, in denen das Um -<br />

weltbewusstsein weit weniger entwickelt war als in<br />

Westeuropa), um deren Unterstützung für <strong>die</strong> Regulierung<br />

innerhalb der EU zu schwächen mit der<br />

Behauptung, REACH würde <strong>die</strong> Exportchancen der<br />

Europäer auf dem Weltmarkt verringern. Das Außenministerium<br />

stellte zum Kampf gegen REACH ein<br />

Team aus besonders exportabhängigen Alliierten zu -<br />

sammen, und entsprechende Appelle, unter den<br />

„Handelspartnern der EU“ eine „koordinierte Kontakt-Strategie“<br />

zu entwickeln, gingen an Brasilien,<br />

In <strong>die</strong>n, Japan, Südafrika und andere. Bei den<br />

REACH-Beratungen im europäischen Parlament, <strong>die</strong><br />

ich selbst besuchte, entdeckte ich Lobbyisten nicht<br />

nur der amerikanischen und europäischen chemi-<br />

Der behinderte Siviani (9) aus Costa Rica<br />

UNICEF-Bild des Jahres 2005,


schen Industrie, sondern auch aus weiterverarbeitenden<br />

Chemie-Branchen wie Zement-, Automobil-,<br />

Textil-, und Pharma-Industrie. <strong>Die</strong> Lobbytätigkeit<br />

der USA war ein historischer Höhepunkt an Einmischung<br />

in europäische Angelegenheiten. Robert<br />

Donkers, der von der EU-Kommission 2003 in <strong>die</strong><br />

USA entsandt wurde, um den Amerikanern REACH<br />

zu erläutern, schlug mir vor, ich solle mit das einmal<br />

umgekehrt vorstellen: Europäische Regierungsvertreter<br />

fliegen in Washington ein und machen Stimmung<br />

gegen ein Gesetz, das gerade im Kongress beraten<br />

wird. „Das würde nicht durchgehen“, sagte er,<br />

„nach zehn Minuten wären wir draußen!“<br />

Kampfblatt<br />

Der Sozialstaat als Misserfolgsgeschichte<br />

In ihrer Broschüre Initiative Kompakt. Das kleine<br />

1x1 der Sozialen Marktwirtschaft baut <strong>die</strong> sogenannte<br />

„Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“<br />

(INSM) den Sozialstaat ab – mit falschen Zahlenspielen.<br />

Wo selbst <strong>die</strong> Frankfurter Allgemeine Zeitung<br />

2007 ein mittleres Netto-Einkommen von 59<br />

Prozent der Bruttosumme errechnet, behauptet <strong>die</strong><br />

INSM, von jedem Euro gehe mehr als <strong>die</strong> Hälfte an<br />

den Staat. Was liegt da näher, als <strong>die</strong> „erfolglose“<br />

Sozialhilfe abzuschaffen und <strong>die</strong> Bedürftigen sich<br />

selbst und dem Markt zu überlassen?<br />

Wir könnten uns zur Abwechslung einmal dazu<br />

durchringen, das Konzept der Marktwirtschaft auch<br />

wirklich umzusetzen – und nicht immer nur eine<br />

abgespeckte Variante davon. Mehr Marktwirtschaft,<br />

das hieße vor allem: weniger Staat. Doch<br />

warum eigentlich? Warum soll sich der Staat soweit<br />

es geht zurückziehen und dem Markt Platz machen?<br />

<strong>Die</strong> Antwort lautet: 5. Juli 2006, 5 Uhr 35. Das<br />

nämlich ist nach Berechnungen des Bundes der<br />

Steuerzahler exakt der Zeitpunkt, bis zu dem alle<br />

Deutschen ihr gesamtes Einkommen, das sie bis<br />

dahin in <strong>die</strong>sem Jahr erwirtschaftet haben, in Form<br />

von Steuern und Sozialabgaben an <strong>die</strong> Staatskassen<br />

abführen. Von den 365 Tagen des Jahres 2006 arbeiten<br />

wir also 186 Tage ausschließlich für den Staat –<br />

und nur 179 Tage fürs eigene Portemonnaie. Oder<br />

anders gerechnet: Von jedem einzelnen Euro Ver<strong>die</strong>nst<br />

geht mehr als <strong>die</strong> Hälfte an den Staat. Keine<br />

Frage, ohne Staat geht es auch nicht. Wir, <strong>die</strong> Gesellschaft,<br />

brauchen <strong>die</strong> Polizei, <strong>die</strong> Bundeswehr, Ämter<br />

und Behörden, <strong>die</strong> Justiz, Universitäten, Straßen<br />

und dergleichen mehr. Das alles kostet Geld. Was<br />

aber ist mit jenen Abermilliarden Euro, <strong>die</strong> der Staat<br />

und <strong>die</strong> Sozialkassen jedes Jahr von den Bundesbürgern<br />

und den Unternehmen einsammeln, nur um<br />

sie dann – im Namen der Gerechtigkeit – über Subventionen<br />

und Sozialleistungen wieder an <strong>die</strong> Bürger<br />

und Betriebe zurückzugeben? Ist <strong>die</strong>se Umverteilung,<br />

wie Ökonomen das Ganze nennen,<br />

überhaupt noch sinnvoll?<br />

Machen wir <strong>die</strong> Probe aufs Exempel: Das deutsche<br />

Sozialbudget hat sich seit 1960 von damals rund 33<br />

Milliarden Euro auf mittlerweile fast 696 Milliarden<br />

Euro erhöht. <strong>Die</strong>ses Geld fließt in <strong>die</strong> Renten-,<br />

Kranken-, Pflege-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung,<br />

es wird ausgegeben für Beamtenpensionen,<br />

Altershilfen für Landwirte, <strong>die</strong> Entgeltfortzahlung<br />

bei Krankheit, Kindergeld, Erziehungsgeld,<br />

soziale Entschädigungen, Wohngeld, Jugendhilfe<br />

und Sozialhilfe.<br />

Jahr für Jahr gibt Deutschland mehr und mehr<br />

Geld dafür aus, <strong>die</strong> Risiken des Lebens abzusichern<br />

und abzufedern. Mit Erfolg? Mitnichten! <strong>Die</strong> Rentenversicherungen<br />

hangeln sich von Monat zu<br />

Monat; <strong>die</strong> Pflegeversicherung ist ein finanzielles<br />

Desaster; das deutsche Gesundheitssystem verschlingt<br />

Milliarden, gilt aber nach internationalen<br />

Maßstäben als ineffizient; <strong>die</strong> Arbeitslosigkeit ist<br />

trotz ABM, Frühverrentung und all der anderen<br />

Programme gestiegen und gestiegen; und <strong>die</strong> Förderung<br />

der Familie über Kinder-und Erziehungsgeld<br />

hat alles Mögliche bewirkt – nur nicht den dringend<br />

benötigten Anstieg der Geburtenrate und der Frauenerwerbstätigkeit.<br />

Politik als Marken-Ware<br />

Man muss sie nur richtig verkaufen<br />

Eine Umfrage aus der Münchner Dissertation Politische<br />

Kommunikation. Analyse und Perspektiven<br />

eines sich verändernden Kommunikations-Genres<br />

von Hans Peter Ketterl, M.A. (Neuere Deutsche Literatur,<br />

Wintersemester 2003/2004) zu der Frage, wie<br />

man Politik richtig vermarktet::<br />

1. Wie beurteilen Sie <strong>die</strong> Möglichkeit, eine Partei<br />

wie eine Produkt-Marke zu führen?<br />

Olaf Scholz (SPD): Eine Partei unterliegt anderen<br />

Gesetzen als eine Produkt-Marke, ihre Führung<br />

erfolgt nach politischen Urteilen und Abwägungen.<br />

Kommunikative Überlegungen fließen in <strong>die</strong>se<br />

Abwägungen ein.<br />

Laurenz Meyer (CDU): Mit Blick auf ein zeitgemäßes<br />

Politikmarketing ist <strong>die</strong> Wiedererkennbarkeit<br />

der „Marke CDU“ natürlich von zentraler Be -<br />

deu tung. <strong>Die</strong> CDU hat 2002 ihre Corporate<br />

Identity behutsam modernisiert (Logo etc.). Alle<br />

Verbände haben ein „Markenhandbuch“ erhalten,<br />

um <strong>die</strong> Einheitlichkeit dezentral erstellter Kommunikationsmittel<br />

zu gewährleisten.<br />

Dr. Thomas Goppel (CSU): Mit einer Marke verbinden<br />

Konsumenten idealer Weise verschiedene<br />

Eigenschaften. <strong>Die</strong>s gilt selbstverständlich auch für<br />

den Wähler im Bezug zu einer Partei.<br />

Steffi Lemke (Bündnis 90/<strong>Die</strong> Grünen): Eine Partei<br />

ist natürlich vielschichtiger und dynamischer als<br />

eine reine Produkt-Marke. Deshalb ist nur begrenzt<br />

möglich, eine Partei im klassischen als Marke zu<br />

betrachten. Allerdings sind klassische „Markeneigenschaften“<br />

wie Markenattraktivität, Abgrenzung<br />

zu anderen Marken, ein Logo und ein corporate<br />

design auch für Parteien notwendig.<br />

9


10<br />

Cornelia Pieper (FDP): Politisches Marketing darf<br />

nicht dazu führen, dass <strong>die</strong> Inhalte einer politischen<br />

Partei dem Marketingkonzept untergeordnet werden.<br />

Es ist aber nur konsequent, nach der Entscheidung<br />

über <strong>die</strong> politischen Inhalte das Produkt „politisches<br />

Programm“ wie eine Marke zu präsentieren<br />

und zu bewerben.<br />

Matthias Machnig (ehem. BBDO Consulting<br />

GmbH): Es gibt Überschneidungen, aber auch tiefgreifende<br />

Unterschiede.<br />

2. Gibt es Unterschiede bzw. wo sind Überschneidungen?<br />

Olaf Scholz (SPD): Politische Kommunikationsstrategien<br />

haben organisatorische und programmatische<br />

Voraussetzungen, <strong>die</strong> jeweils über <strong>die</strong> Formulierung<br />

programmatischer Grundsätze als auch über<br />

<strong>die</strong> Grundregeln guten Marketings hinausgehen.<br />

Eine Partei muss etwa bestimmte programmatische<br />

und organisatorische Voraussetzungen erfüllen,<br />

bevor sie kommunikationsfähig wird. Eine gute<br />

mediale Präsentation setzt ausführliche Programmarbeit,<br />

klare Strukturen, eindeutige Aufgabenverteilung<br />

und passende personelle Strukturen voraus. Sie<br />

erfordert <strong>die</strong> Koordination der Akteure und Handlungsebenen,<br />

<strong>die</strong> Konzentration auf wenige Gewinnerthemen<br />

und einen Instinkt für Kontroversen.<br />

Politikmanagement steht heute vor der Aufgabe,<br />

sowohl me<strong>die</strong>ngerechte und als auch politisch angemessen<br />

organisierte Parteien zu formen. <strong>Die</strong>se Aufgabe<br />

unterscheidet Politik grundlegend von Produkt-Marken.<br />

Laurenz Meyer (CDU): Als föderalistisch aufgebaute<br />

Partei kann <strong>die</strong> CDU ihren Untergliederungen<br />

beispielsweise – übrigens anders als <strong>die</strong> SPD – nicht<br />

„vorschreiben“, dass <strong>die</strong> Gestaltungsvorgaben der<br />

Bundesgeschäftsstelle immer 1:1 ungesetzt werden<br />

müssen. Das „Produkt“ – politische Konzepte und<br />

Überzeugungen, bei Wahlen auch der Spitzenkandidat<br />

– ist äußerst vielschichtig und darum schwieriger<br />

zu kommunizieren als z.B. ein Schokoriegel.<br />

Dr. Thomas Goppel (CSU): Eine Partei definiert<br />

sich nicht nur über Eigenschaften, sondern auch<br />

über ihre Grundwerte und -Überzeugungen sowie<br />

über <strong>die</strong> Personen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Partei in der Öffentlichkeit<br />

repräsentieren.<br />

Steffi Lemke /Bündnis 90/<strong>Die</strong> Grünen): <strong>Die</strong><br />

Unterschiede liegen vor allem in der Dynamik der<br />

„Produkte“. Tagespolitik, Gesetzesvorhaben etc.<br />

beeinflussen <strong>die</strong> öffentliche Wahrnehmung und <strong>die</strong><br />

Sympathiewerte von Parteien auch sehr kurzfristig.<br />

Politik muss also in der Lage sein, <strong>die</strong> Kommunikation<br />

sehr kurzfristig an aktuelle Situationen anzupassen.<br />

In der Führung von Produkt-Marken werden<br />

Kommunikationsänderungen meist als<br />

„Relaunch“ sehr langfristig vorbereitet. Eine Partei<br />

hat auch einen viel größeren und umfangreicheren<br />

Bedarf an interner Kommunikation.<br />

Cornelia Pieper (FDP): Ein entscheidender Unterschied<br />

ist <strong>die</strong> inner Konsistenz eines Produktes. Parteien<br />

passen ihr Programm nicht wie ein Produkt an<br />

geändertes Käuferverhalten an, sondern entscheiden<br />

hierüber aus demokratischem Weg.<br />

Matthias Machnig (ehm. BBDO Consulting<br />

GmbH): Politische Kommunikation muss den<br />

ästhetischen Regeln der Me<strong>die</strong>n Rechnung tragen,<br />

wenn sie das Ziel erreichen will, Sicherheit, Verlässlichkeit<br />

und Hoffnung zu vermitteln. <strong>Die</strong> Me<strong>die</strong>n<br />

behandeln Parteien dabei in ähnlicher Weise wie<br />

Markenprodukte. Bei politischen Parteien sind aber<br />

<strong>die</strong> Wertzusammenhänge zu beachten in denen sich<br />

<strong>die</strong>se befinden.<br />

Parteien und wirtschaftliche Marken greifen auf<br />

unterschiedliche Produkte zurück, <strong>die</strong> wieder unterschiedliche<br />

Themen betreffen. Aus <strong>die</strong>sem Grund<br />

müssen auch Antworten unterschiedlich besetzt<br />

werden. Ziel der politischen Kommunikation ist es,<br />

<strong>die</strong> Deutungshoheit zu <strong>die</strong>sen Themen zu erlangen.<br />

Dazu ist auch für Parteien modernes Marketing notwendig.<br />

<strong>Die</strong> kommunizierten Grundimages der<br />

Parteien sind Orientierungspunkte für Menschen.<br />

Grundsätzlich ist politische Kommunikation<br />

schneller und steht einer weitaus kritischeren<br />

Öffentlichkeit gegenüber als Produkt-Kommunikation.<br />

Ziel moderner politischer Kommunikation muss<br />

es sein, <strong>die</strong> Instrumente weiter zu schärfen und<br />

Wahlkämpfe als Teil der Demokratie besser zu<br />

sehen. Kommunikationsarbeit in <strong>die</strong>sen sollte nicht<br />

kulturkritizistisch reduziert werden, sondern als<br />

Mittel <strong>die</strong>s auf moderne Weise anschaulich zu<br />

machen. Ohne Kommunikation ist Politik nicht zu<br />

vermitteln – aber Politik ist mehr als das. Vermittlung<br />

politischer Entscheidungen ist in einer Demokratie<br />

notwendig.<br />

3. Wo sind generell Unterschiede zur wirtschaftlichen<br />

Kommunikation? Wo Überschneidungen?<br />

Olaf Scholz (SPD): Das ist ein Thema für Kommunikationsspezialisten<br />

und Marketing-Fachleute,<br />

nicht für einen Politiker.<br />

Laurenz Meyer (CDU): Parteien haben weitaus<br />

geringere finanzielle Spielräume für sämtliche „paid<br />

media“-Aktivitäten. Dafür erhalten Parteien weitaus<br />

mehr „free media“, d.h. ihre Positionen und ihr<br />

Spitzenpersonal werden im redaktionellen Teil der<br />

Me<strong>die</strong>n ungleich stärker berücksichtigt.<br />

Dr. Thomas Goppel (CSU): Siehe vorherige Frage<br />

Steffi Lemke (Bündnis 90/<strong>Die</strong> Grünen): Wirtschaftliche<br />

Kommunikation ist auf den Verkauf von<br />

Produkten ausgerichtet. Politische Kommunikation<br />

hingegen ist zweiteilig: zum einen ist sie auf <strong>die</strong> Legitimation<br />

des politischen Handelns ausgerichtet,<br />

d.h. sie muss für Verständnis und Unterstützung für<br />

konkrete Veränderungen z. B. im Gesetzgebungsverfahren<br />

werben.<br />

Überschneidungen mit wirtschaftlicher „Produkt-<br />

Werbung gibt es allerdings in den turnusmäßig wiederkehrenden<br />

Wahlkämpfen. Hier geht es natürlich<br />

um den größten „Marktanteil“ am Wählermarkt.<br />

Jede Partei strebt nach soviel Wählerstimmen wie<br />

möglich. Grundsätzlich zielt Parteienkommunika-


tion vielmehr auf einen Dialog mit den „Kunden“,<br />

also den Wählerinnen und Wählern. Ziel ist also eine<br />

zweiseitige, annähernd symmetrisch Kommunikation<br />

sowohl bei interner, als auch externer Kommunikation.<br />

Hier liegt der größte Unterschied zur, leider<br />

noch allzu oft anzutreffenden TOP-DOWN<br />

(einseitig asymmetrischen) Kommunikation in der<br />

wirtschaftlichen Kommunikation.<br />

Cornelia Pieper (FDP): Politische Kommunikation<br />

kann für sich kein exklusives Wahrnehmbarkeitsfenster<br />

bei den Bürgerinnen und Bürgern beanspruchen.<br />

Politische Kommunikation steht deshalb<br />

mit wirtschaftlicher Kommunikation im Wettbewerb<br />

um das Interesse der Menschen. Klar ist aber,<br />

dass politische Kommunikation erheblich weniger<br />

finanzielle Mittel zur Verfügung hat.<br />

Matthias Machnig (ehm. BBDO Consulting<br />

GmbH): <strong>Die</strong> Budgets für politisches Marketing<br />

sind vergleichsweise niedrig und das Produkt „Politik“<br />

sowie seine Macher sind schwer im Zaum zu<br />

halten. <strong>Die</strong> Herausforderung, täglich schnell und<br />

flexibel in einer heterogenen Me<strong>die</strong>nlandschaft zu<br />

reagieren, unterscheidet politische Kommunikation<br />

von der Marken-Kommunikation. <strong>Die</strong><br />

schnelle Abfolge von Ereignissen und handelnden<br />

Personen schafft eine wahrscheinlich einzigartige<br />

Wettbewerbssituation. Parteien können in <strong>die</strong>sem<br />

Umfeld finanziell und organisatorisch in keiner<br />

Weise mit der wirtschaftlichen Kommunikation<br />

mithalten.<br />

Wir sind schon da<br />

Privatarmeen<br />

Das US-Verteidigungsministerium hat der privaten<br />

Sicherheitsfirma Blackwater Personenschutz-Aufträ -<br />

ge im Irak und in Afghanistan übertragen (Kosten<br />

insgesamt: etwa eine Milliarde US-Dollar). Nach der<br />

Erschießung von 17 Zivilisten durch Blackwater-<br />

Angestellte verlangte der Irak Ende Oktober, <strong>die</strong><br />

Firma solle das Land verlassen. Der Journalist Jeremy<br />

Scahill nennt Blackwater „<strong>die</strong> mächstigste Söldner-<br />

Ar mee der Welt“. Der Blackwater-Gründer Erik<br />

Prince hält dagegen: „Ich bin Amerikaner und arbeite<br />

für Amerika“ (und gern sagte er auch noch „Unser<br />

Blut ist rot, weiß und blau“, in den Farben der amerikanischen<br />

Flagge). Auch beim Hurrikan Katrina<br />

über New Orleans 2005 war Blackwater aktiv.<br />

Jeremy Sca hill erklärt in einem Interview mit Bill<br />

Moyers, wie das abging (http://www.pbs.org/moyers):<br />

Jeremy Scahill: Also, ich war in New Orleans kurz<br />

nach dem Hurrikan Katrina. Und ich schaute<br />

sozusagen durch ein Fenster in eine mögliche<br />

Zukunft. Sehen Sie, ich stand da an einer Stra -<br />

ßenecke an der Bourbon Street, im Französischen<br />

Viertel. Und ich redete gerade mit zwei Polizisten,<br />

<strong>die</strong> aus New York gekommen waren, um zu helfen.<br />

Und das war nur einige Tage nachdem der Hurrikan<br />

zugeschlagen hatte. Und da rast <strong>die</strong>ser Wagen neben<br />

uns daher. Kein Nummernschild dran, ein<br />

Kleinwagen. Und dann steigen da drei mas sige Kerle<br />

aus. Und sie haben M-4-Sturm gewehre, kugel -<br />

sichere Westen und Khaki-Hosen, Wrap-around-<br />

Sonnenbrillen, Baseball mützen. Und sie kommen<br />

zu uns her und fragen <strong>die</strong> Poli zisten: „Wo sind <strong>die</strong><br />

übrigen Blackwater-Leute?“ Ich drehe mich er -<br />

schrocken zu ihnen um, ich hörte nicht mal <strong>die</strong><br />

Antwort, ich konnte einfach nicht glauben, was ich<br />

da hörte: „Wo sind <strong>die</strong> übrigen Blackwater-Leute“<br />

Dann steigen sie wieder ein und rasen davon. Und<br />

ich fragte den Polizisten: „Wieso Blackwater? Sind<br />

das nicht Kerle im Irak und in Afghanistan?“ Und sie<br />

sagten: „Klar, <strong>die</strong> sind hier auf Schritt und Tritt.“<br />

Also sagte ich: „Ich würde gern mit ihnen reden. Wo<br />

sind sie?“ Und sie sagten: „Gehen Sie einfach <strong>die</strong><br />

Straße entlang, rauf oder runter“, was so viel hieß<br />

wie überall. Also ging ich etwas weiter ins<br />

Französische Viertel hinein, und tatsächlich traf ich<br />

auf weitere Blackwater-Leute. Ich redete mit ihnen,<br />

und sie sagten mir, sie wären hier, um Verbrechen<br />

und Plünderungen zu ver hindern.<br />

Bill Moyers: Wer hatte sie angefordert?<br />

Jeremy Scahill: Ja, das ist der interessante Teil. Erik<br />

Prince schickte sie da hin, ohne dass er schon einen<br />

Auftrag hatte. Ungefähr 180 Blackwater-Leute wur -<br />

den hingeschickt. Sie waren noch vor der<br />

(Katastrophenschutzbehörde) FEMA da. Sie waren<br />

auf jeden Fall vor der FEMA da, also bevor es über -<br />

haupt irgendeine wirkliche Rettungs maß nah me<br />

gab.<br />

Bill Moyers: Hatte das Prince das so entschieden?<br />

Jeremy Scahill: Prince schickt sie erst einmal hin.<br />

Innerhalb einer Woche hatte Blackwater dann vom<br />

Heimatschutz-Ministerium einen Vertrag über <strong>die</strong><br />

Erbringung von Sicherheitsmaßnahmen innerhalb<br />

New Orleans. Irgendwann hatte Blackwater dann<br />

sechshundert Leute im Einsatz da unten, von Texas<br />

über Mississippi bis ans Meer. Sie nahmen 420000<br />

Dollar pro Tag ein. Ein paar von den Leuten waren<br />

zwei Wochen vorher noch im Irak gewesen, zum<br />

Schutz des amerikanischen Botschafters. Und jetzt<br />

sind sie plötzlich in New Orleans. Sie sagen mir, sie<br />

sehen das als ein Urlaub an. Einer beschwerte sich<br />

bei mir sogar darüber, dass da überhaupt nichts los<br />

sei. Und dann sagten sie mir auch noch, sie bekämen<br />

350 Dollar pro Tag und dazu eine Tagespauschale.<br />

Bill Moyers: Vom Heimatschutz-Ministerium?<br />

Jeremy Scahill: Sie wurden von Blackwater bezahlt.<br />

Als ich dann den Vertrag von Blackwater und dem<br />

Heimatschutz-Ministerium bekam, stellte sich<br />

heraus, dass Blackwater dem amerikanischen<br />

Steuerzahler 950 Dollar pro Mann im Hurrikan-<br />

Gebiet in Rechnung stellte.<br />

Bill Moyers: Ein Gewinn von 600 Dollar.<br />

11


12<br />

Jeremy Scahill: Also, <strong>die</strong> Rechnungsstellung bei<br />

solchen Sachen ist immer kompliziert. Und Erik<br />

prince und seite Leute sind richtig toll, wenn sie ihre<br />

Grafiken da aufmalen, verstehen Sie, und sagen: Da<br />

gibt es aber noch <strong>die</strong>ses Detail und <strong>die</strong>se Kleinigkeit.<br />

Dann veranlasste das Heimatschutz-Ministerium<br />

eine interne Überprüfung mit dem Ergebnis, dass<br />

das <strong>die</strong> kostengünstigste Lösung war für den<br />

Steuerzahler, und das zu einem Zeitpunkt, wo <strong>die</strong><br />

ärmeren Bewohner von New Orleans beschimpft<br />

wurden dafür, wie sie <strong>die</strong> 2000-Dollar-Gutscheine<br />

benützten, <strong>die</strong> <strong>die</strong> FEMA ausgegeben hatte (und <strong>die</strong><br />

nicht einmal immer akzeptiert wurden).<br />

Unsere Autobahnen<br />

Es war nicht alles schlecht unter Hitler<br />

Noch ein Argument für <strong>die</strong> Apologeten des NS-Re -<br />

gimes: Alwin Seifert (1890 - 1972), Professor und<br />

Natur-Architekt (bevor es <strong>die</strong>sen Beruf gab), setzte<br />

sich im Dritten Reich für eine „landschaftsgerechte“<br />

Autobahn mit „deutscher“ Begrünung ein und wurde<br />

dafür vom Generalinspekteur für das Autobahnwesen,<br />

Fritz A. Todt, 1940 zum „Reichslandschaftsanwalt“<br />

ernannt. Nach 1945 plä<strong>die</strong>rte er – u.a. als Professor<br />

an der TH München – für eine giftfreie und<br />

ökologische Landwirtschaft und weiterhin für naturnahe<br />

Landschaftsgestaltung. Hier der bisher unveröffentlichte<br />

Ernennungsbrief von Fritz A. Todt:<br />

Mein lieber Herr Seifert!<br />

Zu Ihrem heutigen 50. Geburtstag [am 31. Mai<br />

1940] übersende ich Ihnen sowohl als<br />

Generalinspekteur für das deutsche Straßenwesen<br />

als auch persönlich meinen herzlichsten<br />

Glückwunsch.<br />

Ich erinnern mich dabei des Tages kurz nach meiner<br />

Ernennung zum Generalinspektor, als ich, von<br />

einem guten Rat geleitet, in der Technischen<br />

Hochschule München als Schwarzhörer in Ihrer<br />

Vorlesung saß und im Verlauf <strong>die</strong>ser Stunde <strong>die</strong><br />

Überzeugung gewann, daß Sie der Mann sind, der<br />

mir bei der Durchführung der nicht ganz leichten<br />

Ausgabe, beim Bau der Reichsautobahnen, helfen<br />

wird.<br />

Wir haben in der seither vergangenen Zeit in der<br />

Art, wie es zwischen offenen und aufrichtigen<br />

Männern üblich ist, zusammengearbeitet. Keiner<br />

von uns Beiden hat immer zu allem, was der Andere<br />

dachte, „ja“ gesagt, – aber gerade dadurch war Ihre<br />

Mitarbeit so besonders wertvoll.<br />

Wenn heute das deutsche Volk s e i n e<br />

Reichsautobahnen als etwas besonders Schönes<br />

preist, wenn das Ausland immer wieder anerkennt,<br />

daß <strong>die</strong>se Straßen nicht nur schnell und sicher,<br />

sondern auch landschaftlich so wunderbar schön<br />

geworden sind, wenn, von den Autobahnen<br />

ausgehend, auf das Gesamtgebiet der Bautechnik<br />

sich <strong>die</strong> Überzeugung durchgesetzt hat, daß über<br />

dem rein materiell technischen Zweck der höhere<br />

kulturelle Wert der Anlage steht, so gebührt Ihnen<br />

an <strong>die</strong>sem großen Erfolg der Hauptanteil. Sie haben<br />

als richtiger Anwalt der Deutschen Landschaft Ihre<br />

Ansicht immer mutig und ohne den Kampf zu<br />

scheuen vertreten. Sie haben sich in den<br />

Landschaftsanwälten eine treue Schar Mitarbeiter<br />

erzogen, deren Anteil zuletzt auch beim<br />

Festungsbau sich außerordentlich bewährt.<br />

Wenn ich Ihnen heute meinen Dank als<br />

Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen<br />

für Ihre Mitarbeit an den Straßen des Führers<br />

ausspreche, so nehme ich damit einen Teil des<br />

Dankes vorweg, den später einmal das deutsche<br />

Volk dem Manne gegenüber empfinden wird, der in<br />

der Zeit gewaltigen technischen Bauschaffens als<br />

Anwalt darüber gewacht hat, daß der Ingenieur<br />

beim Schaffen seiner Werke ehrfurchtsvoll <strong>die</strong><br />

Landschaft berücksichtigt. In Anerkennung <strong>die</strong>ser<br />

treuen Mitarbeit ernenne ich Sie zum<br />

Reichslandschaftanwalt des Generalinspektors für<br />

das deutsche Straßenwesen.<br />

Wir alle wünschen, daß Ihre kämpferische<br />

Arbeitskraft weiter erhalten bleibt zum Nutzen<br />

unseres herrlichen deutschen Vaterlandes.<br />

Heil Hitler!<br />

gez. Ihr F. Todt.<br />

<strong>Die</strong> Folter im Liedgut<br />

Wo man singt<br />

1902, im Krieg der USA gegen <strong>die</strong> Philippinen, komponierte<br />

Albert Gardner, der damals in Truppe B der<br />

1st U.S. Cavalry <strong>Die</strong>nst tat, <strong>die</strong>ses Lied zur Melo<strong>die</strong> der<br />

Battle Hymn of the Republic (oder auch zu deren Persiflage-Version<br />

„John Brown’s body lies a-mouldering in<br />

the grave“). Es ist der einzige Fall, dass <strong>die</strong> sonst eher<br />

verschwiegene militärische Folter in einem Lied festgehalten<br />

wurde (es handelt sich hier um <strong>die</strong> sogenannte<br />

„Wasserkur“, bei der dem Opfer durch einen Schlauch<br />

schmutziges Wasser geschüttet wird):<br />

Get the good old syringe boys and fill it to the brim.<br />

We’ve caught another nigger and we’ll operate<br />

on him.<br />

Let someone take the handle who can work it<br />

with a vim,<br />

Shouting the battle cry of freedom.<br />

Chorus:<br />

Hurrah Hurrah We bring the Jubilee<br />

Hurrah Hurrah The flag that makes him free<br />

Shove in the nozzel [sic] deep and let him taste<br />

of liberty<br />

Shouting the battle cry of freedom.<br />

Gute Vorsätze<br />

Der Weg in <strong>die</strong> Katastrophe<br />

<strong>Die</strong> Beschlüsse der Bundesregierung und anderer Gremien<br />

zum Klimawandel von 1989 bis heute (zitiert<br />

nach aktuell, Das Lexikon der Gegenwart, verschie-


dene Jahrgänge):<br />

Jahrbuch 1990: <strong>Die</strong> Durchschnittstemperatur auf<br />

der Erde wird bis Mitte des nächsten Jh. um 1,5 - 4,5<br />

Grad C steigen. (...) Im Mai 1989 beschlossen in<br />

Helsinki/ Finnland rd. 90 Staaten einen Stopp der<br />

FCKW-Produktion bis zum Jahr 2000. (...)<br />

Am wirksamsten wäre eine Einschränkung der<br />

CO 2 -Emissionen. (...) Politiker forderten Anfang<br />

1989, Tropenwälder, <strong>die</strong> CO 2 binden, nicht mehr<br />

durch Brandrodung zu zerstören und wiederaufzuforsten.<br />

1991: <strong>Die</strong> CDU/CSU/FDP-Regierung beschloß<br />

im Juni 1990 eine Verminderung des CO 2 -Ausstoßes<br />

in der BRD um 25 % bis 2005.Neue Techniken<br />

und Maßnahmen sowie <strong>die</strong> Förderung Erneuerbarer<br />

Energien sollen <strong>die</strong>s ermöglichen. (...)<br />

1992: Zur Eindämmung der Klimaveränderung<br />

muß laut Enquete-Kommission [des Deutschen<br />

Bundestages] der Ausstoß von Kohlendioxid (CO 2 ),<br />

insbes. im Energie- und Verkehrsbereich bis 2050<br />

weltweit halbiert werden (Verringerung gegenüber<br />

1987; 10,25 Mrd. t). <strong>Die</strong> BRD solle <strong>die</strong> Kohlendioxid-Emissionen<br />

bis 2005 um 30% vermindern.<br />

(...)<br />

Anfang 1991 plante <strong>die</strong> Bundesregierung, den<br />

Ausstoß von CO 2 mit Hilfe einer neu einzuführenden<br />

Abgabe um 25% bis 2005 zu vermindern.<br />

1993: Nach Modellrechnungen der Enquete-Kom -<br />

mission zum Schutz der Erdatmosphäre des Deutschen<br />

Bundestages müßte der weltweite CO 2 -Ausstoß<br />

bis 2005 um 25% gegenüber 1987 verringert<br />

werden, damit eine Temperaturveränderung verhindert<br />

wird. Um lediglich eine globale Redizierung von<br />

5 - 6% zu bewirken, müßten <strong>die</strong> USA und Japan 30%<br />

ihrer Emissionen einsparen, <strong>die</strong> EG 25% und <strong>die</strong><br />

Staaten Osteuropas 20%. (...) <strong>Die</strong> EG hatte bereits<br />

1991 beschlossen, <strong>die</strong> Kohlendioxidemissionen bis<br />

2000 auf den Stand von 1990 zu stabilisieren (...)<br />

1994: <strong>Die</strong> CDU/CSU/FDP-Regierung strebte bis<br />

2005 eine weitere Verminderung um bis zu 30% an.<br />

Das Bundeswirtschaftsministerium hielt <strong>die</strong>ses Ziel<br />

1993 (...) für unrealisierbar.<br />

1995: [keine neuen Reduzierungspläne]<br />

Ein CO 2 -Emittent am arktischenTatort (Automobilwerbung 2007)<br />

1996: Industrieländer blockieren Fortschritte: <strong>Die</strong><br />

Teilnehmerstaaten der UNO-Konferenz (Berlin,<br />

März/April 1995) faßten keine verbindlichen<br />

Beschlüsse für den Klimaschutz ab dem Jahr 2000.<br />

(...) Ein Entwurf für <strong>die</strong> Minderung weltweiter<br />

CO 2 -Emissionen wurde auf <strong>die</strong> Konferenz 1997 in<br />

Kyoto/Japan verschoben. Bis 2000 ist eine Senkung<br />

der Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre<br />

auf dem Niveau von 1990 angestrebt, was bereits auf<br />

der <strong>ersten</strong> Klima-Konferenz in Rio de Janeiro/Brasilien<br />

beschlossen wurde.<br />

1997: Bei weiterer Untätigkeit der verantwortlichen<br />

Industrieländer könnte es nach einem im<br />

Dezember 1995 vorgelegten Bericht des Intergovernmental<br />

Panel on Climate Change (IPCC; Zwischenstaatlicher<br />

Ausschuß über Klimawandel) im<br />

Jahr 2100 wie folgt aussehen: <strong>Die</strong> Temperatur wird<br />

um bis zu 3,5 Grad C gestiegen sein, der Meeresspiegel<br />

um bis zu 1 m. (...)<br />

In einer 1995 vorgelegten Untersuchung für das<br />

Bonner Wissenschaftsministerium kam das Prognos-Institut<br />

in Basel zu dem Ergebnis, daß auch<br />

Deutschland seine (1992 auf der UNO-Umweltkonferenz<br />

in Rio da Janeiro/Brasilien zugesagte)<br />

Verpflichtung, <strong>die</strong> Kohlendioxid-Emissionen bis<br />

zum Jahr 2005 um 25% zu mindern, nicht werde<br />

erfüllen können. (...) <strong>Die</strong> Kohlendioxid-Emissionen<br />

sänken lediglich um 4%.<br />

1998: Während der Konferenz des UN-Klimasekretariats<br />

im März 1997 in Bonn erreichten <strong>die</strong> Teil-<br />

13


14<br />

nehmer aus 150 Industrie- und Entwicklungsländern<br />

keine konkreten Beschlüsse, doch vertraten <strong>die</strong><br />

Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) eine<br />

gemeinsame Position: Bis zum Jahr 2015 sollen in<br />

der EU 15% weniger Treibhausgase produziert werden<br />

als 1990.<br />

1999: <strong>Die</strong> CDU/CSU/FDP-Bundesregierung hält<br />

an ihrem Ziel fest, den Kohlendioxid-Ausstoß in<br />

Deutschland bis 2005 gegenüber 1990 um 25% zu<br />

reduzieren.<br />

2000: <strong>Die</strong> rot-grüne Bundesregierung bekräftigte<br />

Ende 1998, dass sie wie das CDU/CSU/FDP-Kabinett<br />

den Kohlendioxid-Ausstoß in Deutschland bis<br />

2005 gegenüber 1990 um 25% reduzieren will. (...)<br />

Ohne Einbußen in der Lebensqualität wird<br />

Deutschland seinen Kohlendioxid-Ausstoß 1990-<br />

2005 nur um 13-15% statt der geplanten 25% reduzieren<br />

können. Das ergaben im November 1998<br />

vorgelegte Stu<strong>die</strong>n des Ölkonzerns Esso, der Baseler<br />

Prognos und des Energiewirtschaftlichen Instituts<br />

der Universität Köln.<br />

2001: Bundesumweltminister Jürgen Trittin<br />

(Bündnis 90/<strong>Die</strong> Grünen) (...) geht von Schätzungen<br />

aus, nach denen ohne weitere Maßnahmen<br />

Deutschland sein selbstgestecktes Klimaschutz-Ziel<br />

für 2005, <strong>die</strong> Reduktion des CO 2 -Ausstoßes um<br />

25% gegenüber 1990, um rund 100 Mio t verfehlen<br />

wird. (...)<br />

2002: <strong>Die</strong> rot-grüne Bundesregierung verabschiedete<br />

im Oktober ein umfangreiches Klimaschutz-<br />

Programm. Es soll gewährleisten, dass Deutschland,<br />

wie 1995 versprochen, seinen CO 2 -Ausstoß bis<br />

2005 um 25% gegenüber und seiner 1997 übernommenen<br />

Verpflichtung gerecht wird, den Ausstoß<br />

der sechs relevanten Treibhausgase bis<br />

2008/2012 um 21% zu senken.<br />

2003:<strong>Die</strong> konservativ-liberale Bundesregierung<br />

hatte 1995 das Ziel verkündet, den deutschen Kohlendioxid-Ausstoß<br />

bis 2005 gegenüber dem Vergleichsjahr<br />

1990 um 25% auf 760 Mio t zu reduzieren.<br />

<strong>Die</strong> rot-grüne Bundesregierung sprach Ende<br />

2001 nur noch davon, <strong>die</strong> Verpflichtung aus dem<br />

Kyoto-Protokoll erfüllen zu wollen, bis 2008/2012<br />

den Ausstoß von Treibhausgasen um 21% zu senken.<br />

2004: [keine neuen Reduzierungspläne]<br />

2005: Da der Kohlendioxid-Ausstoß seit 2000<br />

etwa stagnierte, musste <strong>die</strong> rot-grüne Bundesregierung<br />

im Oktober 2003 einräumen, dass das 1995<br />

von damaligen Bundeskanzler Kohl (CDU) verkündete<br />

Ziel, den Kohlendioxid-Ausstoß bis 2005<br />

gegenüber 1990 um 25% zu senken, nicht mehr zu<br />

schaffen sei.<br />

2006: <strong>Die</strong> rot-grüne Bundesregierung formulierte<br />

im Oktober 2003 vor dem Bundestag das Ziel, <strong>die</strong><br />

dt. Treibhausgasemissionen bis 2020 um 40% zu<br />

senken, wenn sich <strong>die</strong> gesamte EU zu einer Senkung<br />

um 30% verpflichte.<br />

2007: [keine neuen Reduzierungspläne]<br />

2008: In einer Regierungserklärung vor dem Bundestag<br />

verkündete <strong>die</strong> Bundesregierung im April<br />

2007 einen Achtpunkteplan, wonach der dt. Treibhausgasausstoß<br />

bis 2020 um 40% gegenüber 1990<br />

reduziert werden soll. Trotz der weltweiten Bemühungen,<br />

<strong>die</strong> Verbrennung fossiler Brennstoffe und<br />

den damit verbundenen Kohlendioxid-Ausstoß zu<br />

begrenzen, wuchs er auch 2005 (letztverfügbarer<br />

Stand) weiter an, und zwar weltweit um ca. 2,5%<br />

gegenüber 2004 auf 29,2 Gigatonnen (Gt). <strong>Die</strong><br />

Emissionen lagen damit um fast 27% über dem<br />

Stand von 1990.<br />

Zum Vergleich: In den fünf Jahren zwischen 1990<br />

und 1995 sank der deutsche CO 2 -Ausstoß aus der<br />

Verbrennung fossiler Brennstoffe – vor allem durch<br />

<strong>die</strong> Stilllegung der ostdeutschen Industrie – um 10,5<br />

Prozent, im den fünf Jahren danach noch um 3,3<br />

und in den darauffolgenden fünf Jahren 2001 bis<br />

2005 nur noch um 0,3 Prozent.<br />

Kunst-Protest<br />

Terrakotta-Soldat mit Maske<br />

In der Ausstellung der chinesischen Terrakotta-Armee<br />

im Oktober 2007 im Britischen Museum sprang Martin<br />

Wyness, 49, über <strong>die</strong> Barriere und hängte mehreren<br />

Figuren eine Atemmaske vor das Gesicht (Foto unten),<br />

bevor er von Sicherheitskräften überwältigt wurde.<br />

„Ich habe es getan, weil ich zwei Töchter habe und sehr,<br />

sehr besorgt bin über den Klimawandel, speziell wegen<br />

China.” Er bekam ein le benslanges Hausverbot für das<br />

Museum.


Thema Klimawandel<br />

<strong>Die</strong> Erde hat Fieber. Der Klimawandel<br />

ist das stärkste Virus, das <strong>die</strong> Menschheit in <strong>die</strong><br />

öko logische Selbstzerstörung treibt. Damit stehen<br />

wir an einem Wendepunkt. Zwar hat im letzten<br />

Jahrhundert ein gewaltiges Wachstum einem Teil<br />

der Welt großen Wohlstand, hohe Lebensqualität<br />

und mehr Demokratie gebracht. Das ging jedoch<br />

zu Lasten der Natur, plünderte <strong>die</strong> Ressourcen aus<br />

und führte zu einer stetigen Erwärmung der Atmo -<br />

sphäre, <strong>die</strong> sich in den letzten Jahr zehnten drama -<br />

tisch beschleunigt hat. <strong>Die</strong>ser Weg kann nicht<br />

weitergegangen werden. <strong>Die</strong> Party auf Kos ten der<br />

Dritten Welt, der Natur und künftiger Genera -<br />

tionen ist vorbei. <strong>Die</strong>ses Zeitalter der Ex pansion<br />

muss beendet werden, künftig geht es um Qualität.<br />

Damit rückt in unserer endlichen und schnell<br />

zusammenwachsenden Welt <strong>die</strong> ökologische<br />

Modernisierung ins Zentrum der nationalen,<br />

europäischen und internationalen Politik. Drei<br />

Gründe sind besonders hervorzuheben:<br />

Erstens: Wir nähern uns einer Naturschranke, <strong>die</strong><br />

nur um den Preis einer Katastrophe überschritten<br />

werden kann. Das ist der Kern der<br />

Herausforderung aus dem vom Menschen<br />

verursachten Klimawandel, der schneller und<br />

härter kommt als erwartet. In den nächsten 100<br />

Jahren werden <strong>die</strong> globalen Temperaturen<br />

wahrscheinlich um drei Grad Celsius steigen. Was<br />

das heißt, macht der geschichtliche Vergleich klar:<br />

In den letzten 200000 Jahren schwankten <strong>die</strong><br />

Temperaturen zwischen den Tiefstwerten einer<br />

Eiszeit, <strong>die</strong> bei rund 10 Grad Celsius lagen und<br />

unser Land zu einer einzigen Eistundra machten,<br />

und den Warmzeiten von rund 16 Grad, wahrlich<br />

blühende Landschaften, <strong>die</strong> mit dem Para<strong>die</strong>s oder<br />

Garten Eden beschrieben wurden, lediglich in<br />

einer Bandbreite von 6 Grad. Ein Plus von 3 Grad,<br />

aus dem nach pessimistischen Szenarios des<br />

Weltklimarates sogar 6 Grad werden könnten,<br />

packt auf eine Warmzeit gleichsam eine zweite<br />

Warmzeit drauf. Das ist in Geschwindigkeit und<br />

Eine Party auf Kosten der Zukunft<br />

<strong>Die</strong> aufhaltsame Katastrophe<br />

Der Autor, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit in Berlin,<br />

wendet sich hier gegen <strong>die</strong> Illusion eines bloß noch quantitativen Wirtschaftswachstums. Er plä<strong>die</strong>rt angesichts verschärfter<br />

weltweiter Ungerech tigkeiten für einen europäischen „New Deal“, eine auch sozialverträgliche Entwicklung.<br />

Von Michael Müller<br />

Höhe ein gefährliches Experiment mit der<br />

Zerbrechlichkeit der Erde.<br />

Beschleunigt durch <strong>die</strong> Globalisierungsprozesse<br />

und <strong>die</strong> nachholende Industrialisierung großer<br />

Teile der Welt werden <strong>die</strong> Grenzen des quanti -<br />

tativen Wachstums erreicht. Dabei stehen große<br />

und bevölkerungsreiche Staaten erst am Beginn<br />

der industriellen Entwicklung. Bald werden statt<br />

der 6,7 Milliarden Menschen rund neun<br />

Milliarden auf unserer ungleichen, überbevöl -<br />

kerten und verschmutzten Erde leben. Jährlich<br />

kommen rund 75 Millionen dazu. <strong>Die</strong>ses<br />

Bevölkerungswachstum entfällt nahezu<br />

ausschließlich auf <strong>die</strong> Entwick lungs- und<br />

Schwellenländer. Dort brauchen <strong>die</strong> Menschen<br />

mehr Energie und Rohstoffe, um ein menschen -<br />

würdiges Leben führen zu können. Kurz: Der<br />

Handlungsbedarf wächst rasant, denn mit der<br />

Teilung der Welt in Arm und Reich werden soziale<br />

Ungleichheiten explosiv, zugleich erreicht <strong>die</strong><br />

Umweltzerstörung eine neue Qualität.<br />

<strong>Die</strong> Überlastung der Stoffkreisläufe betrifft zwar<br />

<strong>die</strong> ganze Welt, doch <strong>die</strong> armen Regionen können<br />

sich gegen <strong>die</strong> Öko-Krise viel weniger schützen als<br />

<strong>die</strong> Hauptverursacher, <strong>die</strong> Industriestaaten auf der<br />

nördlichen Erdhalbkugel. Der Klimawandel<br />

erhöht vor allem in der Dritten Welt, insbesondere<br />

in Afrika, den Druck zur Migration, was aber auch<br />

dazu führt, dass <strong>die</strong> wohlhabenden Länder, in<br />

denen <strong>die</strong> Angst vor den Fremden und das<br />

Misstrauen gegen <strong>die</strong> Armen wachsen, ihre<br />

Grenzen schärfer kontrollieren und sich<br />

abschotten.<br />

Zweitens: <strong>Die</strong> Endlichkeit in der Nutzung der<br />

erschöpflichen Rohstoffe wird deutlich. Vieles<br />

spricht dafür, dass wir uns dem Scheitelpunkt der<br />

Ölförderung nähern. Der „Peak Oil“ bezeichnet<br />

den Zeitpunkt, an dem <strong>die</strong> Ölförderung ihren<br />

höchsten Stand erreicht und – erst langsam, aber<br />

unaufhaltsam – zurückgeht. <strong>Die</strong> Bundesanstalt für<br />

Geowissenschaften geht davon aus, dass <strong>die</strong><br />

15


16<br />

Spitzenförderung zwischen 2010 und 2030<br />

erreicht wird. Das Ende des Ölzeitalters wird<br />

sichtbar: eine Herausforderung an <strong>die</strong><br />

Weltgemeinschaft. Wenn nicht frühzeitig<br />

Konsequenzen aus der Endlichkeit gezogen<br />

werden, drohen massive Verteilungskonflikte, aus<br />

denen sogar Ressourcenkriege werden können.<br />

Nicht nur Gas und Öl werden knapp und teuer,<br />

auch Rohstoffe wie Platin, Beryllium, Naobium<br />

oder seltene Erden, <strong>die</strong> eine hohe Bedeutung für<br />

<strong>die</strong> High-Tech-Produktion haben, werden rasant<br />

aufgezehrt. <strong>Die</strong> massenhafte Bereitstellung billiger<br />

Ressourcen ist nicht länger das Schmiermittel des<br />

Industriezeitalters, das einem Teil der Welt<br />

Wohlstand und wirtschaftlichen Erfolg gebracht<br />

hat, oftmals durch einen ökologischen<br />

Kolonialismus, der <strong>die</strong> Abhängigkeiten verstärkt<br />

und <strong>die</strong> Unterschiede verfestigt hat. Mit der<br />

zunehmenden Knappheit nehmen <strong>die</strong><br />

Auseinandersetzungen zu, schnellen <strong>die</strong> Preise in<br />

<strong>die</strong> Höhe, brechen massive Verteilungskonflikte<br />

auf, können <strong>die</strong> Kosten bei Öl schon bald <strong>die</strong> 100<br />

US-Dollar erreichen.<br />

Drittens: <strong>Die</strong> Welt dreht sich. Erstmals beginnt<br />

der Süden <strong>die</strong> Entwicklung der Erde zu prägen –<br />

sowohl durch <strong>die</strong> wachsenden Folgeprobleme bei<br />

der Ernährung und Wasserversorgung, <strong>die</strong> in einer<br />

neuen Dimension von Migration münden<br />

können, als auch durch <strong>die</strong> explosive<br />

wirtschaftliche Dynamik der großen und<br />

bevölkerungsreichen Schwellenländer. Zu beiden<br />

Trends ein Beispiel: Nach den Aussagen des<br />

Weltklimarates droht in Afrika mit verschiedenen<br />

Ursachen eine Halbierung der Ernteerträge, wenn<br />

dort <strong>die</strong> Temperatur um mehr als 2 Grad Celsius<br />

gegenüber 1990 an steigt. Derzeit erhöhen sich in<br />

weiten Teilen Afrikas <strong>die</strong> Temperaturen bereits um<br />

0,3 Grad Celsius pro Dekade. 18 Prozent der<br />

dortigen Bevölkerung leiden an Hunger und<br />

Unterernährung. Und in China wurden allein<br />

2005 so viele Stromerzeugungskapazitäten neu<br />

errichtet, wie in unserem Land insgesamt<br />

vorhanden sind. Daraus erwächst eine neue<br />

Qualität der Umweltzerstörung.<br />

China ist mit seinen 1,3 Milliarden Menschen<br />

nicht nur <strong>die</strong> Werkbank der Welt, sondern wird<br />

wahrscheinlich 2009 zum weltweit größten<br />

Emittenten von Kohlendioxid werden. Allerdings<br />

entfällt heute auf einen Chinesen nicht einmal ein<br />

Fünftel des CO 2-Ausstoßes, für den ein Bürger der<br />

USA verantwortlich ist: 3,66 im Vergleich zu<br />

19,47 Tonnen Kohlendioxid (2004). In<strong>die</strong>n, das in<br />

<strong>die</strong> Rolle des globalen <strong>Die</strong>nstleisters rückt, hatte in<br />

den letzten 15 Jahren ein Energiewachstum von<br />

fast 100 Prozent. Dadurch ist das Land zu einem<br />

der stärksten Emittenten von Treibhausgasen<br />

aufgestiegen. Aber noch immer leben rund 70<br />

Prozent der Inder in großer Armut, mit weniger als<br />

zwei Dollar pro Tag.<br />

Thema<br />

<strong>Die</strong>se Gefahren haben viel mit der Einrichtung<br />

der Welt zu tun, der Verteilung von Macht und<br />

Herrschaft, dem Verständnis von Freiheit und<br />

Fortschritt, der Verteilung von Reichtum und<br />

Vermögen. Vor allem aber ist <strong>die</strong> Moderne von<br />

Naturvergessenheit geprägt. <strong>Die</strong> bedingungslose<br />

Entfaltung der Produktivkräfte wurde lange Zeit<br />

als Voraussetzung für <strong>die</strong> Vorwärtsbewegung der<br />

Gesellschaft gesehen. <strong>Die</strong>ser Weg gerät an<br />

Grenzen. <strong>Die</strong> Fakten sind eindeutig:<br />

Heute entfallen allein auf <strong>die</strong> 1,4 Milliarden<br />

Menschen, <strong>die</strong> in den entwickelten<br />

Industriegesellschaften leben, rund 70 Prozent der<br />

kommerziellen Nutzung von Energie und<br />

Rohstoffen. Rund 80 Prozent der bisherigen<br />

Belastungen mit anthropogen verursachten<br />

Treibhausgasen gehen auf ihr Konto. So haben sich<br />

allein <strong>die</strong> Kohlendioxid-Emissionen von 1900 bis<br />

heute von rund 250 Mio. Tonnen auf über 30<br />

Milliarden Tonnen verhundertfacht. Nun<br />

verschieben sich <strong>die</strong> Verhältnisse. Auf <strong>die</strong> OECD-<br />

Staaten entfallen 52 Prozent der Kohlendioxid-<br />

Emissionen. Vor allem in Asien sind <strong>die</strong><br />

Zuwachsraten enorm. Dagegen entfallen auf <strong>die</strong><br />

fast 1 Milliarde Afrikaner nur vier Prozent der<br />

energiebedingten CO 2 -Freisetzungen.<br />

Bei einem kleiner werdenden Kuchen<br />

an Ressourcen wird sich mit der nachholenden<br />

Industrialisierung <strong>die</strong> Nachfrage schnell<br />

verdoppeln und verdreifachen. Um ihren<br />

Wohlstand zu steigern, greifen <strong>die</strong><br />

Schwellenländer massiv auf <strong>die</strong> begrenzten<br />

Rohstoffe und Energiereserven zu, wie das der<br />

Norden der Erde seit langem vormacht. In der<br />

Schere zwischen der Verteidigung des Status quo<br />

und dem Bemühen um ein schnelles Aufholen<br />

wird es schwer, den Klimawandel zu stoppen und<br />

Ressourcen zu schonen.<br />

Das zeigt, wie eng ökonomische, soziale und<br />

ökologische Fragen miteinander verwoben sind.<br />

<strong>Die</strong> Interdependenzen der zusammenwachsenden<br />

Welt machen wie nie zuvor <strong>die</strong> Verwundbarkeit<br />

der menschlichen Sicherheit deutlich. Was ist zu<br />

tun, damit <strong>die</strong> Menschheit sich einer<br />

zukunftsweisenden Form unserer Zivilisation<br />

zuwendet? Sie muss illusorische<br />

Wachstumsträume aufgeben, einen sozial- und<br />

umweltverträglichen Pfad einleiten und mehr<br />

Wirtschafts- und Lebensqualität auf einem sozialund<br />

naturverträglichen Weg erreichen. Das<br />

bisherige Modell von Wachstum kann keine<br />

Zukunft haben:<br />

- Es zehrt <strong>die</strong> natürlichen Grundlagen der<br />

Wirtschaft immer schneller auf. <strong>Die</strong> Schäden<br />

steigen exponentiell. Durch <strong>die</strong>sen<br />

Substanzverlust verliert auch <strong>die</strong> Wirtschaft ihre<br />

Zukunftsfähigkeit. <strong>Die</strong> externen Kosten steigen zu<br />

Lasten der Gesellschaft und der Zukunft.


Klimawandel<br />

- <strong>Die</strong> zunehmenden Knappheiten belasten <strong>die</strong><br />

Lebenschancen künftiger Generationen und<br />

engen deren Gestaltungs- und Freiheitsraum<br />

massiv ein.<br />

- Schließlich baut sich immer komplexer und mit<br />

weitreichenden Folgen eine Katastrophe auf, <strong>die</strong><br />

immer schwieriger abzuwenden wird.<br />

An <strong>die</strong>sem Limes stellt sich <strong>die</strong> Frage, ob <strong>die</strong><br />

Menschheit bei <strong>die</strong>sen Herausforderungen<br />

handelt, bevor uns <strong>die</strong> verheerenden Folgen der<br />

noch aufhaltbaren Katastrophe einholen. Erneut<br />

geht es, wie Norbert Elias <strong>die</strong> wichtigste Aufgabe<br />

für eine humane Zivilisation beschrieben hat, um<br />

<strong>die</strong> soziale Bändigung von Gewalt. „Make poverty<br />

history, make conflicts and wars history, make<br />

environment destruction history, make human<br />

abuse history“, definierten 1945 <strong>die</strong> Vereinten<br />

Nationen <strong>die</strong> Aufgaben der Menschheit, <strong>die</strong><br />

unverändert aktuell sind. Aber viel Zeit bleibt<br />

nicht mehr.<br />

<strong>Die</strong> bisherigen Formen von Wachstum und<br />

Wohlstand können keine Zukunft haben. Das<br />

Doppelgesicht der Moderne wird deutlich: Das<br />

quantitative Wachstum war zwar der Treiber einer<br />

gewaltigen wirtschaftlichen Dynamik und ein<br />

Motor von Internationalisierung und Globa -<br />

lisierung, aber es ist nicht vereinbar mit der<br />

Endlichkeit der Erde und den Regenerations -<br />

fristen der Natur. Mit ihnen wird der ökologische<br />

Raubbau zur Achillesferse der modernen Welt.<br />

Wie in einem Brennglas zeigt sich das in dem vom<br />

Menschen verursachten Klimawandel. <strong>Die</strong><br />

Ergebnisse des Intergovernmental Panel of<br />

Climate Change (IPCC) sind eindeutig: <strong>Die</strong><br />

Erwärmung steigt auf bald 0,2 Grad Celsius pro<br />

Jahrzehnt und wird schon bald <strong>die</strong> kritische 2-<br />

Grad-Grenze erreichen.<br />

Doch ohne Gegenmaßnahmen wird der globale<br />

Temperaturanstieg mit einer sehr hohen<br />

Wahrscheinlichkeit um 3 Grad Celsius in <strong>die</strong>sem<br />

Jahrhundert gegenüber 1850 ansteigen. Schon<br />

heute ist eine Erwärmung um mindestens 1,3<br />

Grad Celsius nicht mehr zu verhindern <strong>Die</strong><br />

Wetterextreme werden in den nächsten drei bis<br />

vier Jahrzehnten weiter zunehmen. Sprunghaft<br />

kann sogar eine noch sehr viel größere<br />

Schadensdimension eintreten, wenn<br />

beispielsweise <strong>die</strong> massenhafte Freisetzung von<br />

Methan aus den auftauenden Permafrostgebieten<br />

den Klimawandel rasant beschleunigt. Ein anderes<br />

Beispiel ist das denkbare Wegrutschen der heute an<br />

Land gebundenen Eisschichten in den nördlichen<br />

und südlichen Polarzonen durch <strong>die</strong> Fließgewässer<br />

aus dem schmelzenden Gletschereis. Al Gore<br />

spricht von „tipping points“. Auf jeden Fall sind<br />

<strong>die</strong> Wechselwirkungen einer Vielzahl von<br />

Prozessen bisher nicht ausreichend bekannt und<br />

erforscht.<br />

Wenn nicht gegengesteuert wird, beziffert der<br />

Stern-Report, der <strong>die</strong> ökonomischen Folgen<br />

erforscht hat, <strong>die</strong> künftigen Einbußen durch <strong>die</strong><br />

Klimafolgen auf mindestens 5 Prozent des<br />

globalen Bruttoinlandsprodukts. Der frühere<br />

Chefökonom der Weltbank kann sogar einen<br />

Verlust bis zu 20 Prozent nicht ausschließen, wenn<br />

für Millionen von Menschen Hunger, Wasser -<br />

mangel, Unbewohnbarkeit und Überschwem -<br />

mungen eintreten. Auch der Weltklimarat zeigt<br />

auf: <strong>Die</strong> Kosten einer Stabilisierung des Klimas<br />

sind beträchtlich, aber sie sind tragbar. Verzö -<br />

gerungen sind nicht zu verantworten, denn sie<br />

kommen uns künftig sehr viel teurer. <strong>Die</strong><br />

Endlichkeit der Rohstoffe und <strong>die</strong> Überlastung der<br />

Stoffkreisläufe limitieren wirtschaftliches<br />

Wachstum. Damit kehren sich <strong>die</strong> Vorteile des<br />

quantitativen Wachstums um.<br />

Dabei ist <strong>die</strong> knappste Ressource nicht einmal<br />

Gas oder Öl. Knapp wird vor allem <strong>die</strong> Zeit, <strong>die</strong> ein<br />

Umbau braucht.<br />

Der innovative und effiziente Umgang<br />

mit den natürlichen Ressourcen wird zur<br />

Schlüsselfrage der nächsten Jahrzehnte. Im<br />

Jahrhundert der Ökologie wird er zum<br />

Überlebensgebot. Vor allem <strong>die</strong> Energiepolitik<br />

rückt ins Zentrum der Wirtschafts- und<br />

Gesellschaftspolitik. Notwendig ist ein neues<br />

Denken und Handeln im Umgang mit Energie<br />

Noch immer aktuell: ein Buch von 1972<br />

17


18<br />

und Rohstoffen – eine Frage der ökonomischen<br />

und ökologischen Vernunft und ein Gebot der<br />

Fairness gegenüber kommenden Generationen.<br />

<strong>Die</strong> drei großen Herausforderungen – der<br />

Klimawandel, <strong>die</strong> Knappheit der natürlichen<br />

Ressourcen und <strong>die</strong> nachholende<br />

Industrialisierung – machen eine<br />

Effizienzrevolution und den Übergang in eine<br />

solare Zivilisation zu zentralen Handlungsfeldern.<br />

<strong>Die</strong> Zeit billiger Ressourcen ist vorbei. Sie werden<br />

knapp und teuer. So schnell wie möglich muss mit<br />

ihnen effizient und schonend umgegangen<br />

werden. <strong>Die</strong>se Aufgabe geht weit über<br />

ökonomische und technische Fragen hinaus. Sie<br />

betrifft auch <strong>die</strong> soziale Sicherheit und unser<br />

Verständnis von Freiheit und Verantwortung.<br />

Deshalb ist ein „New Deal” notwendig.<br />

Nur mit einer „Neuausteilung der Karten“<br />

kommen wir aus den heutigen Sackgassen heraus,<br />

Teilkorrekturen reichen nicht mehr. <strong>Die</strong> Leitidee<br />

für Umbau und Erneuerung ist <strong>die</strong> nachhaltige<br />

Entwicklung, <strong>die</strong> vom Erdgipfel 1992<br />

vorgeschlagen wurde. Sie verbindet kulturelle<br />

Neuausrichtung, ökonomische Innovationskraft,<br />

eine ökologische Revolution und <strong>die</strong> Bekämpfung<br />

von Armut und Ungerechtigkeit miteinander, <strong>die</strong><br />

Wirtschafts- und Lebensqualität heute zu<br />

verbessern und <strong>die</strong> Lebenschancen künftiger<br />

Generationen zu bewahren. In der Dimension ist<br />

<strong>die</strong>ses Projekt vergleichbar mit der Idee des<br />

Wohlfahrtsstaates, <strong>die</strong> von Franklin Roosevelt<br />

1933 konkretisiert und umgesetzt wurde. Auch<br />

heute ist eine solch große Antwort notwendig. So<br />

wie <strong>die</strong> soziale Demokratie im letzten Jahrhundert<br />

den Menschen Stabilität, Sicherheit und Chancen<br />

gebracht hat, kann <strong>die</strong>s heute der ökologische New<br />

Deal.<br />

<strong>Die</strong> Nachhaltigkeit verbindet <strong>die</strong> sozialen,<br />

wirtschaftlichen und ökologischen Fragen des<br />

Umbaus und der Erneuerung miteinander<br />

verbinden. Heute ringen wir um <strong>die</strong>sen neuen<br />

Weg. Dabei ist der Übergang <strong>die</strong> schwierigste<br />

Aufgabe, denn wir erleben, dass <strong>die</strong> alte Ordnung<br />

nicht mehr funktioniert, <strong>die</strong> neue aber erst<br />

geschaffen wird. Das sind <strong>die</strong> Geburtsschmerzen<br />

einer neuen Epoche. Damit <strong>die</strong> Menschen den<br />

neuen Weg mitgehen, brauchen sie Sicherheit und<br />

Perspektive. Das erfordert eine Konkretisierung<br />

der Nachhaltigkeit. Vor allem Europa muss einen<br />

eigenständigen Weg gehen, der <strong>die</strong> großen Ideen<br />

der sozialen Demokratie nicht aufgibt, sondern<br />

weiterentwickelt. Mit einer Ökonomie, <strong>die</strong> vor<br />

allem auf kurzfristige Renditeziele setzt, aber <strong>die</strong><br />

Zukunftsaufgaben verdrängt, wird es keine gute<br />

Zukunft geben – auch nicht für <strong>die</strong> Wirtschaft,<br />

deren Substanz ausgezehrt wird.<br />

In der Globalisierung findet eine<br />

Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen<br />

wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Modellen<br />

statt. Während Nordamerika vor allem auf eine<br />

Thema<br />

liberale Marktwirtschaft setzt, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Gesellschaft<br />

zu einer Marktgesellschaft macht, versucht China<br />

mit einer staatlich gesteuerten Wachstumsstrategie<br />

den Wohlstand der traditionellen Industriestaaten<br />

auf- und einzuholen. Beide Systeme sind<br />

ökologisch und sozial nicht verträglich. Von daher<br />

verwundert es nicht, dass von China und USA ein<br />

starker Widerstand gegen ehrgeizige, aber<br />

notwendige Klimaschutzziele ausgeht.<br />

Westeuropa ist in den vergangenen<br />

Jahrzehnten mit dem Konzept der fairen und<br />

solidarischen Gesellschaft gut gefahren. <strong>Die</strong> soziale<br />

Marktwirtschaft verband ökonomische<br />

Leistungskraft mit einem sozialen<br />

Interessenausgleich. Auch Klimaschutz und<br />

Gerechtigkeit gehören zusammen. <strong>Die</strong><br />

Bewältigung der ökologischen Herausforderungen<br />

setzt ein weitergehendes Verständnis von<br />

Gerechtigkeit und Verantwortung voraus. Eu ro pa<br />

kann, wenn <strong>die</strong> EU den Weg des neuen New Deal<br />

geht, eine gestaltende Rolle in der Globalisierung<br />

einnehmen, <strong>die</strong> überall in der Welt geachtet wird.<br />

Große Teile der Welt richten hierbei <strong>die</strong> Hoffnung<br />

vor allem auf unser Land. Wir brauchen eine neue<br />

industrielle Revolution hin zu einer nachhaltigen<br />

Entwicklung: Energien ohne Treibhausgase.<br />

Heizung, Strom und Mobilität mit Hilfe der<br />

Sonnenenergie. Weg von Gas, Öl und Kohle. Eine<br />

Effizienzrevolution für Gebäude, <strong>die</strong> keine Energie<br />

verbrauchen. Saubere Autos. Deutschland kann<br />

und muss zur energie- und rohstoffeffizientesten<br />

Volkswirtschaft der Welt werden.<br />

Beim ökologischen New Deal müssen alle<br />

mitmachen – Wirtschaft, Gewerkschaften,<br />

Wissenschaft und Zivilgesellschaft. <strong>Die</strong> effiziente<br />

und integrierte Energieversorgung, eine<br />

umweltverträgliche Mo bilität und dauerhafter<br />

Klimaschutz sind mit sektoralen, internationalen<br />

und intergenerativen Verteilungskonflikten<br />

verbunden. Von daher bekommt der<br />

Umweltschutz heute nicht nur eine zentrale<br />

Bedeutung, er muss auch selbst neu geordnet<br />

werden. Entscheidend für <strong>die</strong> ökologische<br />

Modernisierung werden Sozialverträglichkeit und<br />

Innovationskraft werden:<br />

1. <strong>Die</strong> sozialen Auswirkungen der Umweltpolitik<br />

sind bis heute zu wenig thematisiert. Tatsache ist:<br />

Sozial schwächere Gruppen sind deutlich stärker<br />

von den Umweltbelastungen betroffen. Und sie<br />

tragen bisher auch den höchsten Anteil an der<br />

Finanzierung von Umweltschutzmaßnahmen.<br />

Von daher wird in Teilen der Bevölkerung der<br />

Umweltschutz häufig als Bedrohung ihrer<br />

Interessen empfunden. Je stärker <strong>die</strong><br />

Umweltgefahren werden, desto stärker wird seine<br />

Notwendigkeit akzeptiert, aber zugleich werden<br />

Einschnitte und Belastungen befürchtet. Der


Klimawandel<br />

Umbau kostet Geld und <strong>die</strong>se Kosten müssen<br />

aufgebracht werden. Von daher müssen <strong>die</strong> Lasten<br />

fair verteilt werden. <strong>Die</strong> ökologische Modernisie -<br />

rung ist eine soziale Aufgabe. <strong>Die</strong> Menschen<br />

werden sich darauf nur einlassen, wenn<br />

- das Verursacherprinzip gilt, es weg geht von den<br />

End-of-the-pipe-Technologien hin zu einem<br />

produktionsintegrierten Umweltschutz;<br />

- beispielsweise <strong>die</strong> Angebote der öffentlichen<br />

Verkehrssysteme flächendeckend und<br />

kostengünstig sind;<br />

- Arbeit und Umwelt miteinander verbunden<br />

werden, um <strong>die</strong> Beschäftigungsfrage offensiv<br />

aufzugreifen;<br />

- der öffentliche Sektor für <strong>die</strong> Daseinsvorsorge<br />

modernisiert wird und<br />

- an den Chancen der ökologischen<br />

Modernisierung alle Menschen teilhaben.<br />

2. <strong>Die</strong> ökologische Modernisierung braucht eine<br />

positive Neubestimmung der Idee des technischen<br />

Fortschritts. Wurde in den letzten Jahren <strong>die</strong><br />

Technik häufig als Feind der Natur gesehen, muss<br />

sie heute zum Verbündeten beim Schutz der<br />

natürlichen Lebensgrundlagen werden. <strong>Die</strong><br />

Ressourcen müssen gezielt auf <strong>die</strong> ökologischen<br />

Zukunftsfelder wie zum Beispiel<br />

Kreislaufwirtschaft, nachhaltige Mobilität,<br />

Effizienzrevolution oder Erneuerbare Energien<br />

einschließlich der Speicherung gelenkt werden.<br />

Auch bei den Akteuren und Trägern der<br />

Umweltpolitik werden <strong>die</strong> Karten neu gemischt.<br />

<strong>Die</strong> „Vertreter der Anklage“ verlieren an Bedeu -<br />

tung, weit wichtiger werden Konzepte der<br />

Innovationsbeschleunigung und der gerechten<br />

Verteilung von Chancen wie Lasten im Umbau -<br />

prozess. Selbst <strong>die</strong> Grünen werden an Bedeutung<br />

verlieren, wenn sie <strong>die</strong>se Neuorientierung nicht<br />

Generation Klimawandel: Textilwerbung<br />

hinbekommen. Um es mit Willy Brandt zu sagen:<br />

„Nichts kommt von selbst. Nur wenig ist von<br />

Dauer. Darum: Besinnt Euch auf Eure Kraft und<br />

darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und<br />

man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes<br />

bewirkt werden soll“. Nachhaltigkeit verbindet<br />

ökonomische Innovationskraft mit sozialer<br />

Gerechtigkeit und ökologischer Verträglichkeit.<br />

Sie gestaltet <strong>die</strong> Globalisierung, statt nur auf ihre<br />

Zwänge zu reagieren.<br />

Nachhaltigkeit ist ein regulatives Konzept mit<br />

klaren Prinzipien. <strong>Die</strong> zeitliche und sektorale<br />

Vernetzung ermöglicht eine dauerhafte und<br />

gleichzeitig vielfältige Entwicklung. <strong>Die</strong>se Vision<br />

bekommt durch <strong>die</strong> Herausbildung der Wissens -<br />

ökonomie einen konkreten Hintergrund. <strong>Die</strong><br />

Informations- und Kommunikations technologien<br />

ermöglichen neue Produktivität. Sie rücken <strong>die</strong><br />

kreativen Fähigkeiten des Menschen ins Zentrum.<br />

<strong>Die</strong> Neuordnung der Energie- und Ressourcen -<br />

wirtschaft wird möglich.<br />

In ein Bild gefasst: Bei der nachhaltigen<br />

Entwicklung geht es um ein neues Haus der<br />

Zivilisation. <strong>Die</strong> Ökologie ist das Fundament, <strong>die</strong><br />

soziale Gerechtigkeit gewährleistet <strong>die</strong> stabile<br />

Statik. Wie groß das Haus dann gebaut wird, liegt<br />

an den schöpferischen Kräften und am wissen -<br />

schaftlich-technischen Fortschritt. Nachhaltigkeit<br />

richtet sich nicht gegen Wachstum, sondern<br />

überführt es in eine neue Entwicklungsdynamik,<br />

in ein gezieltes Wachsen und Schrumpfen, das den<br />

Überlastungen, Begrenzungen und Ungleich -<br />

heiten unserer Welt gerecht wird. Der Schlüssel<br />

liegt in der Aufwertung der Zukunft. Mit <strong>die</strong>ser<br />

Orientierung verbindet Nachhaltigkeit soziale,<br />

ökologische und wirtschaftliche Ziele, Gegenwart<br />

und Zukunft, Nord und Süd<br />

miteinander. Sie braucht keine<br />

übergeordneten<br />

zentralisierten Institutionen,<br />

sondern lässt sich auf allen<br />

Ebenen und in allen Bereichen<br />

unmittelbar umsetzen.<br />

Nachhaltigkeit ist Weltinnen -<br />

politik, ein wichtiger Aus -<br />

gangs punkt für ein „region<br />

building“ zur Stärkung der<br />

Europäischen Union, wenn sie<br />

<strong>die</strong>ses Leitprinzip mit dem<br />

Lissabon-Prozess verbindet.<br />

Nachhaltigkeit ist von daher<br />

nicht nur Umweltschutz,<br />

sondern gehört ins Zentrum.<br />

Sie ist auch Wirtschafts-,<br />

Beschäftigungs-, Sozial- und<br />

Friedenspolitik. Nachhaltig -<br />

keit darf kein belie biges<br />

Plastikwort sein.<br />

19


20<br />

Alexander von Humboldt<br />

Wie der Klimawandel entdeckt wurde<br />

Vor mehr als 200 Jahren entwickelte der Südamerika-Reisende Alexander von Humboldt als erster <strong>die</strong> Idee des Klimawandels.<br />

Der schrumpfende Valencia-See, erklärte er den beunruhigten Anrainern, verliere deshalb sein Wasser, weil ringsumher <strong>die</strong> Wälder<br />

abgeholzt worden seien und sich dadurch das Klima verändert habe. Frank Holl bereitet derzeit für das Deutsche Museum in<br />

München eine große Ausstellung über Alexander von Humboldt vor.<br />

Er ist sicher eine der merkwürdigsten Na -<br />

turen, <strong>die</strong> es jemals gegeben hat“, schrieb Wilhelm<br />

von Humboldt im Jahr 1817 über seinen Bruder.<br />

Ei ne schillernde, aber auch unergründliche Gestalt<br />

war Alexander von Humboldt – ein Impulsgeber für<br />

Wissenschaft, Kunst und Politik. Auch war er wohl<br />

der erste, der sich – grundlegend und visionär – mit<br />

dem Einfluss des Menschen auf das Klima befasste.<br />

Nach seinem Tod 1859 allerdings geriet Hum -<br />

boldt in Deutschland erstaunlich schnell in<br />

Vergessenheit. Um <strong>die</strong> <strong>ersten</strong> Exemplare des<br />

zweiten Bandes seines Kosmos hatten sich im Jahr<br />

1847, wie sein Verleger Cotta schrieb, <strong>die</strong> Käufer<br />

noch „wirkliche Schlachten“ geliefert. Doch in der<br />

zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde es rasch<br />

still um den Forscher und seine Ideen. Woran lag es?<br />

Gleich zweifach trug ihn Deutschland damals zu<br />

Grabe: der aufkeimende Nationalismus begrub den<br />

Kosmopoliten, und <strong>die</strong> sich in immer weitere<br />

Disziplinen ausdifferenzierende Wissenschaftswelt<br />

beerdigte den kosmovisionären, transdisziplinären<br />

Denker.<br />

Während Humboldt in Hispano-Amerika als<br />

Vordenker der Unabhängigkeit und „wahrer<br />

Entdecker der Neuen Welt“, wie ihn Simón Bolívar<br />

bezeichnete, bis zum heutigen Tag unvermindert<br />

präsent ist, beginnt in Deutschland erst jetzt<br />

allmählich eine Rückbesinnung auf seine Weltsicht.<br />

Sein in Enzensbergers Anderer Bibliothek“ von<br />

Ottmar Ette und Oliver Lubrich neu heraus -<br />

gegebener Kosmos wurde 2004 – 160 Jahre nach<br />

Erscheinen – erneut zum Verkaufsschlager. Daniel<br />

Kehlmanns gut geschriebener, wenn auch schlecht<br />

recherchierter pseudo-historischer Hum boldt-<br />

Roman <strong>Die</strong> Vermessung der Welt aus dem Jahr 2005<br />

hat sich mittlerweile mehr als eine Million mal<br />

verkauft.<br />

Was fasziniert uns heute an Alexander von<br />

Humboldt? Es ist ein Facettenreichtum ohne -<br />

gleichen, der ihn einerseits als schräge Romanfigur<br />

zur Attraktion macht, andererseits aber auch als<br />

Vor- und Querdenker auf nahezu unzähligen<br />

Von Frank Holl<br />

Thema<br />

Gebieten zu einer unerschöpflichen Inspirations -<br />

quelle. <strong>Die</strong> Wieder-Entdeckung des Entdeckers hat<br />

begonnen.<br />

Mitten in einem relativ wenig<br />

gelesenen Werk, und dort auch noch an einer<br />

ziemlich versteckten Stelle, kommt Alexander von<br />

Humboldt zu einer verblüffenden Erkenntnis. Der<br />

Mensch verändere das Klima „durch Fällen der<br />

Wälder, durch Veränderung in der Vertheilung der<br />

Gewässer und durch <strong>die</strong> Entwicklung großer<br />

Dampf- und Gasmassen an den Mittelpunkten der<br />

Industrie“. <strong>Die</strong>se Feststellung findet sich in seinem<br />

1843 auf Französisch, und ein Jahr später auf<br />

Deutsch erschienenen Buch Central-Asien.<br />

Untersuchungen über <strong>die</strong> Gebirgsketten und <strong>die</strong><br />

vergleichende Klimatologie (S. 214). Wohl erst -<br />

malig in der Geschichte werden hier <strong>die</strong> anthropo -<br />

genen Einflüsse auf das Klima korrekt und zudem<br />

vollständig beschrieben. Zum <strong>ersten</strong> Mal nennt<br />

hier, soweit ich <strong>die</strong>s derzeit sehe, ein Mensch den<br />

anthropogenen Klimafaktor „Entwicklung großer<br />

Dampf- und Gasmassen“. Zwei Jahre später, im<br />

<strong>ersten</strong> Band seines Kosmos macht Humboldt erneut<br />

auf <strong>die</strong>ses Phänomen aufmerksam, in dem er von<br />

der „Vermengung [der Atmosphäre] mit mehr oder<br />

minder schädlichen gasförmigen Exhalationen“ als<br />

Klimafaktor spricht.<br />

Humboldt selbst misst seiner eigenen Analyse<br />

erstaunlicherweise relativ wenig Bedeutung bei. In<br />

seinem Werk Central-Asien schreibt er: „<strong>Die</strong>se<br />

Veränderungen [durch den Menschen] sind ohne<br />

Zweifel wichtiger als man allgemein annimmt; aber<br />

unter den zahllos verschiedenen, zugleich wirk -<br />

samen Ur sachen, von denen der Typus der Klimate<br />

abhängt, sind <strong>die</strong> bedeutsamsten nicht auf kleine<br />

Localitäten beschränkt, sondern von Verhältnissen<br />

der Stellung, Configuration und Höhe des Bodens<br />

und von den vorherrschenden Winden abhängig,<br />

auf welche <strong>die</strong> Civilisation keinen merklichen<br />

Einfluss ausübt.“


Klimawandel<br />

Damit hatte Humboldt zu seiner Zeit zweifellos<br />

vollkommen recht: Im Jahr 1843 beeinflusste <strong>die</strong><br />

Zivilisation in der Tat den „Typus der Klimate“<br />

noch nicht merklich. Seither jedoch ist <strong>die</strong> Welt -<br />

bevölkerung von 1,262 Milliarden auf 6,641<br />

Milliarden um mehr als das Fünffache angewach -<br />

sen. <strong>Die</strong> Industria li sierung, und vor allem <strong>die</strong><br />

Emission der Ausstoß an CO 2 – dessen Wirkung<br />

Humboldt noch nicht kennen konnte – hat sich<br />

inzwischen als bedrohlicher Klimafaktor erwiesen.<br />

Sein weltweiter durch Menschen verursachter<br />

Ausstoß ist seit Humboldts Be ob achtung um 1840<br />

bis heute auf das Mehrtausendfache angewachsen.<br />

<strong>Die</strong> Gesamtkonzentration von CO 2 in der Atmo -<br />

sphäre stieg seither von etwa 280 ppm auf etwa<br />

385 ppm an.<br />

Vermutlich hat kein anderer Wissenschaftler<br />

zuvor bis zu <strong>die</strong>sem Zeitpunkt eine derartig<br />

scharfsinnige Analyse des anthropogenen Einflusses<br />

auf das Klima geliefert. Sie ist Bestandteil einer<br />

umfassenden Wissenschaftskonzeption Alexander<br />

von Humboldts, <strong>die</strong> im Folgenden kurz erläutert<br />

werden soll.<br />

Alexander von Humboldt gilt heute als<br />

Vordenker der modernen Ökologie. Zwar kannte er<br />

den Begriff, den Ernst Haeckel erst 1866, kurz nach<br />

Humboldts Tod, geprägt hatte, noch nicht, aber er<br />

lieferte bereits 1799 hierfür eine korrekte Defini -<br />

tion: „Mein eigentlicher, einziger Zweck“, schrieb<br />

er damals, „ist das Zusammen- und Ineinander-<br />

Weben aller Naturkräfte zu untersuchen, den<br />

Einfluss der to ten Natur auf <strong>die</strong> belebte Tier- und<br />

Pflanzenschöpfung.“ Später, im Kosmos spricht er<br />

vom „ewigen Haushalte der Natur“. Er betrachtet<br />

sie als „eine allgemeine Verkettung nicht in einfach<br />

linearer Richtung, sondern in netzartig verschlun -<br />

genem Ge webe.“<br />

Heute bezeichnet man als Ökologie „ein Teilgebiet<br />

der Biologie, welches sich mit den Wechsel -<br />

beziehungen der Organismen untereinander und<br />

mit ihrer abiotischen Umwelt beschäftigt“<br />

(Wikipedia). Allerdings ging Humboldt bereits<br />

damals über <strong>die</strong>se enge Definition hinaus: zum<br />

einen, weil sich sein wissenschaftlicher Ansatz nicht<br />

auf eine einzige Disziplin wie <strong>die</strong> Biologie<br />

reduzieren lässt, zum anderen, weil der Mensch in<br />

Humboldts Wissenschaftskonzeption als ein<br />

politisch handelndes und mit der Umwelt inter -<br />

agierendes Wesen immer eine zentrale Rolle spielt.<br />

In einem weiteren Sinn allerdings wird der Begriff<br />

Ökologie oder „ökologisch“ heute in um welt poli -<br />

tischen Zusammenhängen verwendet. In <strong>die</strong>sem<br />

Kontext ist es durchaus sinnvoll, Humboldt als<br />

Ökologen oder Vordenker der Nachhaltigkeit zu<br />

bezeichnen. Auf eine bestimmte Disziplin jedoch<br />

kann man Humboldts Ansatz nicht reduzieren. Wie<br />

der Potsdamer Literaturwissenschaftler Ottmar<br />

Ette kürzlich festgestellt hat, ist Humboldts Ansatz<br />

<strong>Die</strong> Gartenlaube, September 1869. Privatsammlung München.<br />

nicht interdisziplinär, sondern vielmehr trans -<br />

disziplinär: Humboldt sucht den Dialog mit<br />

anderen Disziplinen nicht vom Standpunkt einer<br />

einzigen, eigenen Disziplin aus, sondern er<br />

verbindet <strong>die</strong> unterschiedlichsten Bereiche der<br />

Wissenschaft mit einander. Man könnte sein<br />

Konzept deshalb auch als transdisziplinäre Welt -<br />

wissenschaft beschreiben. Im Untertitel seines<br />

„Kosmos“ be zeichnet Humboldt selbst seine<br />

Konzeption als „Physische Weltbeschreibung“.<br />

In Humboldts Wissenschaftskonzeption<br />

nimmt das Klima eine zentrale Stellung ein. <strong>Die</strong><br />

Atmosphäre sah er als einen „Luft-Ocean“, auf<br />

dessen Grund <strong>die</strong> Menschen und alle anderen<br />

Landbewohner leben. Bereits 1831 lieferte Hum -<br />

boldt in seinen Fragmenten einer Geologie und<br />

Klimatologie Asiens, und später 1845, in seinem<br />

weitaus prominenteren Kosmos. Darin lieferte er<br />

1845 eine bis heute immer noch weitgehend<br />

akzeptierte Definition des Begriffs Klima: „Das<br />

Wort Klima bezeichnet [...] zuerst eine specifische<br />

Beschaffenheit des Luftkreises; aber <strong>die</strong>se Beschaf -<br />

fenheit ist abhängig von dem perpe tuir lichen<br />

Zusammenwirken einer all- und tiefbewegten,<br />

durch Strömungen von ganz entgegen gesetzter<br />

Temperatur durchfurchten Meeresfläche mit der<br />

wärmestrahlenden trockenen Erde: <strong>die</strong> mannig -<br />

faltig gegliedert, erhöht, gefärbt, nackt oder mit<br />

Wald und Kräutern bedeckt ist.”<br />

An anderer Stelle, ebenfalls in <strong>ersten</strong> Band des<br />

Kosmos, findet sich folgende Erklärung: „Der<br />

Ausdruck Klima bezeichnet in seinem allgemeins -<br />

ten Sinne alle Veränderungen in der Atmosphäre,<br />

<strong>die</strong> unsre Or gane merklich afficiren: <strong>die</strong> Tempera -<br />

Abschied vom Kosmos, Holzstich von Johann Carl Wilhelm Aarland<br />

nach einer Zeichnung von Wilhelm von Kaulbach<br />

21


22<br />

tur, <strong>die</strong> Feuchtigkeit, <strong>die</strong> Verändrungen des<br />

barome trischen Druckes, den ruhigen Luftzustand<br />

oder <strong>die</strong> Wirkungen ungleichnamiger Winde, <strong>die</strong><br />

Größe der electrischen Spannung, <strong>die</strong> Reinheit der<br />

Atmosphäre oder ihre Vermengung mit mehr oder<br />

minder schädlichen gas förmigen Exhalationen,<br />

endlich den Grad habitueller Durchsichtigkeit und<br />

Heiterkeit des Himmels; welcher nicht bloß wichtig<br />

ist für <strong>die</strong> vermehrte Wärmestrahlung des Bodens,<br />

<strong>die</strong> organische Ent wick lung der Gewächse und <strong>die</strong><br />

Reifung der Früchte, sondern auch für <strong>die</strong> Gefühle<br />

und ganze See len stimmung des Menschen.“<br />

Deutlich zeigt sich in <strong>die</strong>ser Definition <strong>die</strong><br />

Wechselwirkung zwischen Mensch und Umwelt.<br />

Verblüffenderweise kommt Humboldts Klima -<br />

begriff der modernen „systemanalytischen<br />

Klimadefinition“ sehr nahe. Für heutige Klima -<br />

forscher, wie beispielsweise für Martin Claussen,<br />

den Direktor des Potsdam-Instituts für Klima -<br />

folgenforschung, reicht <strong>die</strong> ältere, rein „meteoro -<br />

logische Klimadefinition“ nicht mehr aus. Er<br />

definiert Klima inzwischen über „den Zustand und<br />

das statistische Verhalten des Klimasystems“. <strong>Die</strong>ses<br />

System besteht aus verschiedenen Untersystemen,<br />

<strong>die</strong> miteinander in Wechselwirkung stehen: der<br />

Atmosphäre, der Hydrosphäre (Ozean, Flüsse,<br />

Seen, Regen, Grundwasser), der Kryosphäre<br />

(Eismassen, Schnee, Permafrost), der maritimen<br />

und terrestrischen Biosphäre und der Erdkruste.<br />

Humboldt sprach seinerzeit bereits von „der gegen -<br />

seitigen Einwirkung von Luft, Meer und Land“,<br />

und dass Fortschritte in deren Erforschung erst<br />

möglich seien, wenn „man sich von der gegen sei -<br />

tigen Abhängigkeit der zu ergründenden Er schei -<br />

nungen überzeugt hat“. (Kosmos Bd. 1, S. 304).<br />

Wichtigstes methodisches Instrument der<br />

Klimaforschung – sowohl der meteorologisch wie<br />

auch der systemanalytisch orientierten – war und ist<br />

<strong>die</strong> „statistische Methodik“, für <strong>die</strong> sich Humboldt<br />

zeitlebens eingesetzt hat. Auf Grund seiner<br />

Forderung nach der „mathematischen Betrachtung<br />

der Klimate“ (Kosmos Bd. 1, S. 341), nach dem<br />

Der Valencia-See in Venezuela, Lithographie, 1873,<br />

nach einem Aquarell von Anton Goering, Privatsammlung München.<br />

Thema<br />

globalen systematischen Sammeln und Auswerten<br />

von Messdaten, wurden, noch zu seinen Lebzeiten,<br />

in vielen Teilen der Welt meteorologische und erd -<br />

magnetische Messstationen eingeführt.<br />

Im Jahr 1817 erfand Humboldt zur Darstellung<br />

von Orten gleicher mittlerer Jahrestemperatur <strong>die</strong><br />

Isothermen, also Linien gleicher Temperatur. Er<br />

hielt sie für einen seiner wichtigsten wissenschaft -<br />

lichen Beiträge überhaupt und schrieb darüber,<br />

<strong>die</strong>ses System könne „vielleicht, wenn es durch<br />

vereinte Bemühungen der Physiker allmählich<br />

vervollkommnet wird, eine der Hauptgrundlagen<br />

der vergleichenden Klimatologie abgeben.“<br />

(Kosmos Bd. 1, S. 340). In der Tat sind <strong>die</strong> Isother -<br />

men bis heute <strong>die</strong> gängige kartographische Dar -<br />

stellung in der Klimageographie geblieben. Mit<br />

seinem Klimabegriff zeigt uns Humboldt heute<br />

einmal mehr, wie weit er mit seiner Sicht der Welt<br />

seiner Zeit bisweilen voraus war.<br />

Während seiner amerikanischen<br />

Forschungsreise (1799 bis 1804) waren es von den<br />

drei von ihm 1843 konstatierten anthropogenen<br />

Klimafaktoren notwendigerweise <strong>die</strong> <strong>ersten</strong> beiden,<br />

mit de nen sich Humboldt befasste: „Veränderung<br />

der Verteilung der Gewässer“ und „Fällen der<br />

Wälder“. Der dritte, nämlich „<strong>die</strong> Entwicklung<br />

großer Dampf- und Gasmassen an den Mittel -<br />

punkten der Industrie“, existierte zu <strong>die</strong>ser Zeit -<br />

mangels Industrialisierung - schlichtweg noch<br />

nicht.<br />

Über <strong>die</strong> Entwässerungskanäle, <strong>die</strong> <strong>die</strong> spanischen<br />

Kolonialisten im Hochtal von Mexiko gezogen<br />

hatten, schreibt Humboldt 1803 in sein Tagebuch:<br />

„<strong>Die</strong> Spanier haben das Wasser als Feind behandelt.<br />

Sie wollen anscheinend, dass <strong>die</strong>ses Neu-Spanien<br />

genauso trocken wie <strong>die</strong> Innenbezirke ihres alten<br />

Spaniens ist. Sie wollen, dass <strong>die</strong> Natur ihrer Moral<br />

ähnlich wird, und das gelingt ihnen nicht schlecht.<br />

(…) Man hat nicht verstanden, <strong>die</strong> beiden Ziele zu<br />

vereinen: <strong>die</strong> Sicherheit von Mexiko-Stadt und <strong>die</strong><br />

Bewässerung der Ländereien. Der Wassermangel<br />

macht das Tal unfruchtbar, ungesund, das Salz<br />

nimmt zu, <strong>die</strong> Lufttrockenheit vergrößert sich.“ Es<br />

ist der Wandel des lokalen Klimas, hervorgerufen<br />

durch menschliche Eingriffe in den Wasserhaushalt<br />

der Landschaft, vor dem Humboldt hier warnt.<br />

Mitten in <strong>die</strong>ser Stu<strong>die</strong> findet sich der programma -<br />

tische Satz: „Alles ist Wechselwirkung.“<br />

Vor allem während seiner Reise durch Venezuela<br />

beschäftigte befasste sich Humboldt intensiv mit<br />

dem Zusammenhang zwischen Wald und dem<br />

Wasserhaushalt einer Region. In den dortigen<br />

immensen Waldrodungen sah er im September<br />

1799 „ vielleicht ein[en] Hauptgrund der seit fünf<br />

Jahren so zunehmenden Dürre und des Vertrock -<br />

nens der Quellen in der Provinz Neu-Andalusiens.”<br />

Und er stellte fest: „Je länger (...) ein Land urbar


Klimawandel<br />

gemacht wird, desto baumloser wird es in der<br />

heißen Zone, desto dürrer, desto mehr den Winden<br />

ausgesetzt [...] deshalb gehen <strong>die</strong> Pflanzungen in der<br />

Provinz Caracas ein und häufen sich dafür<br />

westwärts auf unberührtem, erst kürzlich urbar<br />

gemachtem Boden.“<br />

<strong>Die</strong> besorgten Anwohner des im Nordwesten von<br />

Venezuela gelegenen Sees von Valencia wiesen den<br />

Forscher darauf hin, dass dessen Wasserspiegel in<br />

den letzten Jahren merklich abgesunken war.<br />

Humboldt notierte dazu in sein Tagebuch: „[D]ie<br />

Flüsse selbst sind jetzt wasserärmer. <strong>Die</strong> umliegen -<br />

den Gebirge sind abgeholzt. Das Gebüsch (monte)<br />

fehlt, um <strong>die</strong> Wasserdünste anzuziehen und den<br />

Boden, der sich mit Wasser getränkt, vor schneller<br />

Verdam pfung zu schützen. Wie <strong>die</strong> Sonne überall<br />

frei Verdampfung erregt, können sich nicht Quellen<br />

bilden. Unbegreiflich, daß man im heißen, im<br />

Winter wasserarmen Amerika so wüthig als in<br />

Franken abholzt (desmonta) und Holz- und<br />

Wassermangel zugleich erregt.”<br />

„Wälder (Pflanzen)„, stellt er fest, „bringen nicht<br />

nur Wasser hervor, geben eine große, neuerzeugte<br />

Wassermasse durch ihre Ausdünstung in <strong>die</strong> Luft,<br />

sie schlagen nicht nur, da sie Kälte erregen (indem<br />

sie der Atmosphäre Wärmestoff entziehen, den sie<br />

mit Sauerstoff verbunden, zurückgeben [...])<br />

Wasser aus der Luft nieder und vermehren den<br />

Nebel, sondern sie werden vornehmlich wohltätig<br />

dadurch, dass sie schattengebend <strong>die</strong> Verdünstung<br />

der durch periodische Regenschauer gefallenen<br />

Wassermasse verhindern. <strong>Die</strong> Verdünstung ist hier,<br />

wo <strong>die</strong> Sonne hoch steht, unbegreiflich schnell.“<br />

Vier elementare klimatische Funktionen des<br />

Waldes sind es, <strong>die</strong> Humboldt erkennt und<br />

analysiert:<br />

1. seine positive Wirkung auf <strong>die</strong><br />

Niederschlagsmenge durch Verdunstung von<br />

Wasser<br />

2. seine thermische Wirkung<br />

3. seine Funktion als Wasserspeicher und<br />

4. seine Pufferwirkung gegen durch<br />

Sonneneinstrahlung verursachte<br />

Bodenverdunstung, also Austrocknung des Bodens.<br />

Moderne Forschungen, z. B. <strong>die</strong>jenigen Peter<br />

Fabians, bestätigen <strong>die</strong>se Erkenntnisse. So weiß<br />

man heu te beispielsweise, dass <strong>die</strong> Wälder <strong>die</strong><br />

Atmosphäre mit mehr Wasserdampf anreichern als<br />

alle an deren Landflächen.<br />

Humboldt beließ es allerdings nicht bei <strong>die</strong>ser<br />

Analyse, sondern er warnte einige Jahre später in der<br />

publizierten Version <strong>die</strong>ser Stu<strong>die</strong>: in seiner<br />

Publikation: „Zerstört man <strong>die</strong> Wälder, wie <strong>die</strong><br />

europäischen Ansiedler aller Orten in Amerika mit<br />

unvorsichtiger Hast tun, so versiegen <strong>die</strong> Quellen<br />

oder nehmen doch stark ab. <strong>Die</strong> Flussbetten liegen<br />

einen Teil des Jahres über trocken und werden zu<br />

reißenden Strömen, sooft im Gebirge starker Regen<br />

fällt. Da mit dem Holzwuchs auch Rasen und Moos<br />

auf den Bergkuppen verschwinden, wird das<br />

Regenwasser in seinem Lauf nicht mehr auf -<br />

gehalten; statt langsam durch allmähliches<br />

Einsickern <strong>die</strong> Bäche zu speisen, zerfurcht es in der<br />

Jahreszeit der starken Regenniederschläge <strong>die</strong> Berg -<br />

hänge, schwemmt das losgerissene Erdreich fort<br />

und verursacht plötzliche Hochwässer, welche <strong>die</strong><br />

Felder verwüsten. Daraus geht hervor, dass <strong>die</strong> Zer -<br />

störung der Wälder, der Mangel an fortwährend<br />

flie ßenden Quellen und <strong>die</strong> Existenz von Torrenten<br />

[Sturzbäche] drei Erscheinungen sind, <strong>die</strong> in ur -<br />

säch lichem Zusammenhang stehen.”<br />

Als Folge des menschlichen Eingriffs in <strong>die</strong><br />

Landschaft nennt Humboldt in <strong>die</strong>sem Zu -<br />

sammen hang <strong>die</strong> Bodenerosion. Vor allem<br />

aber warnt er auch vor weiteren, gravierenden<br />

Auswirkungen auf spätere Generationen: „Fällt<br />

man <strong>die</strong> Bäume, welche Gipfel und Abhänge der<br />

Gebirge bedecken, so schafft man in allen Klima -<br />

zonen kommenden Geschlechtern ein zwiefaches<br />

Ungemach: Mangel an Brennholz und Wasser.“<br />

<strong>Die</strong>se Analyse, und vor allem deren damit ver -<br />

bundene Warnung, entfaltete rasch eine enorme<br />

Wirkung.<br />

Mit seinen Erkenntnissen zur<br />

Bedeutung des Waldes für den Wasserhaushalt, den<br />

Boden und das Klima stand Alexander von<br />

Humboldt nicht allein. Erste Gedanken dazu sind<br />

bereits von Theophrastos (372-288 v. Chr.), einem<br />

Schüler von Aristoteles, überliefert. Christoph<br />

Kolumbus war es, der während seiner vierten<br />

Amerika-Reise (9. Mai 1502 bis 7. November 1504)<br />

eine erstaunlich scharf sinnige Beobachtung machte.<br />

Überliefert wurde sie von dessen Sohn Fernando,<br />

und Humboldt war von ihr so beeindruckt, dass er<br />

sie in seinem Werk Central-Asien zitiert: „Der<br />

Admiral [Christoph Kolumbus] glaubte, der<br />

Ausdehnung und Dichtigkeit der Wälder auf den<br />

Gebirgen Jamaikas <strong>die</strong> Regen zuschreiben zu<br />

müssen, welche <strong>die</strong> Luft solange erfrischte, als er an<br />

den Küsten <strong>die</strong>ser Insel hinsegelte. Er bemerkt [...],<br />

dass ehemals auch auf den Canaren, auf Madeira und<br />

den Azoren <strong>die</strong> Wasserfülle so gross gewesen sei; aber<br />

dass seit der Zeit, wo man <strong>die</strong> Schatten gebenden<br />

Bäume abgehauen habe, <strong>die</strong> Regen daselbst viel<br />

weniger häufig geworden seien.“<br />

Bereits wenige Jahre vor Humboldts ameri ka ni -<br />

scher Reise, im Jahr 1797, führte der französische In -<br />

genieur Fabre <strong>die</strong> plötzlichen Fluten in den Alpen<br />

nach starken Regenfällen und das Versiegen von<br />

Quel len, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Flüsse speisen, auf <strong>die</strong> Rodungen<br />

und Entwaldungen der Hochalpen zurück. Auch<br />

der bedeutende Schweizer Forscher Horace-<br />

Bénédict de Saussure, dessen Arbeiten Humboldt<br />

kannte, be schrieb <strong>die</strong>ses Phänomen. Im Jahr 1827<br />

verwendete der französische Mathema tiker und<br />

Physiker Jean Baptiste Joseph Fourier in seiner<br />

23


24<br />

Analytischen Theorie der Wärme erstmals in der<br />

Geschichte den Begriff „Treibhauseffekt“ (l’effet de<br />

serre, wörtlich Glashauseffekt). Er beschrieb damit<br />

den temperaturerhaltenden Effekt der<br />

Erdatmosphäre, ohne allerdings, wie Humboldt<br />

einige Jahre später, den Menschen innerhalb <strong>die</strong>ser<br />

Atmosphäre als einen klimaverändernden Faktor zu<br />

erkennen.<br />

Humboldts Stu<strong>die</strong> zum Valencia-See<br />

erschien als Lieferung der Relation Historique<br />

(deutscher Titel: Reise in <strong>die</strong> Äquinoktialgegenden<br />

des Neuen Kontinents) im August 1819. Rasch<br />

wurden seine Erkenntnisse von anderen Forschern<br />

aufgegriffen. Sie beeindruckten, wie der deutschaustra<br />

lische Historiker Engelhard Weigl kürzlich in<br />

einer bemerkenswerten Rezeptionsstu<strong>die</strong> zu <strong>die</strong>sem<br />

Text nachwies, zunächst vor allem den jungen<br />

französischen Wissenschaftler Jean-Baptiste<br />

Boussingault. Sofort nahm er mit Humboldt<br />

Kontakt auf und reiste bald darauf, im Jahr 1821,<br />

auf dessen Empfehlung, als Bergbauingenieur nach<br />

Südamerika.<br />

Während ausgedehnter Forschungsreisen<br />

untersuchte Boussingault auch den See von<br />

Valencia. Wie Humboldt, scheiterte auch er beim<br />

Versuch, den Chimborazo zu besteigen. 1832<br />

kehrte er nach Frankreich zurück. 1837 publizierte<br />

er den vielbeachteten Aufsatz „Über den Einfluss<br />

der Urbarmachung auf <strong>die</strong> Ergiebigkeit der<br />

Quellen“: Darin heißt es: „<strong>Die</strong> Frage, ob der Acker -<br />

bau das Klima einer Gegend modificiren könne, ist<br />

sehr wichtig, und gegenwärtig häufig zur Sprache<br />

gebracht worden”. Was Humboldt als These<br />

formuliert hatte, konnte Boussingault nun<br />

beweisen: „Für mich steht fest, dass das Ausroden<br />

der Wälder in großem Um fange <strong>die</strong> jährliche<br />

Regenmenge <strong>die</strong>ser Gegend verringert.” Als Beleg<br />

nennt er zunächst Humboldts Stu<strong>die</strong> zum Lago de<br />

Valencia, aber er erweitert dessen Erkenntnisse<br />

durch dortige eigene Beobachtungen und<br />

Untersuchungen an anderen Seen in Südamerika.<br />

Seine Argumentation ergänzt er durch Was ser -<br />

stands messungen der Seen von Neuchâtel, Bienne<br />

und Morat, <strong>die</strong> Horace-Bénédict de Saussure<br />

vorgenommen hat, und durch Humboldts<br />

Beobachtungen im Aralo-Kaspischen Becken.<br />

Am Valencia-See allerdings war mittlerweile, wie<br />

Boussingault beobachtete, infolge der Unabhängig -<br />

keitskriege <strong>die</strong> Landwirtschaft zum Erliegen<br />

gekommen und der Wasserspiegel wieder deutlich<br />

angestiegen: „<strong>Die</strong> großen Anpflanzun gen“, schreibt<br />

er, „wurden verlassen, und der unter den Tropen so<br />

unaufhaltsam vordringende Wald hatte in kürzester<br />

Zeit einen großen Teil des Landes (...) wieder an<br />

sich gerissen.” Daraus schloss er, dass sich <strong>die</strong><br />

Nieder schlagsmenge einer regenarmen Region mit<br />

Hilfe von Wieder aufforstung beeinflussen lasse.<br />

Kurz darauf griffen der deutsche Agrarwissen -<br />

Thema<br />

schaftler und Botaniker Karl Fraas und der USamerikanische<br />

Staatsmann und Schrift steller<br />

George Perkins Marsh <strong>die</strong> Thesen von Humboldt<br />

und Boussingault auf: Ihre Stu<strong>die</strong>n im Mittel -<br />

meerraum führten zur Erkenntnis, dass durch <strong>die</strong><br />

Ausbreitung der Zivilisation von Persien, Meso -<br />

potamien, Palästina, Ägypten, Griechenland bis<br />

Italien ein landschaftszerstörerisches Potenzial<br />

entfaltet worden war. Sie stellten fest, dass <strong>die</strong><br />

„Entholzung” des Landes zu Bodenerosion, Anstieg<br />

der bodennahen Wärme und zu Verringerung der<br />

Niederschläge geführt hatte. Folge war eine<br />

zunehmende Desertifikation. Der wachsende<br />

Bedarf an landwirtschaftlich nutzbarem Boden<br />

gefährde, so warnte Fraas, <strong>die</strong> Zukunft Europas.<br />

<strong>Die</strong> Arbeiten <strong>die</strong>ser beiden Forscher, schreibt<br />

Engelhard Weigl, „signalisierten einen Wende -<br />

punkt in der Wahrnehmung des Kräfteverhältnisses<br />

zwischen Mensch und Natur.“ Zum <strong>ersten</strong>mal<br />

wurde man sich bewusst, dass nicht mehr der<br />

Mensch der Natur, sondern <strong>die</strong> Natur dem<br />

Menschen ausgeliefert war. Nachrichten von<br />

Dürre<strong>katastrophe</strong>n in Südafrika, In<strong>die</strong>n, Ägypten<br />

und Australien bestätigten <strong>die</strong> Warnungen von<br />

Fraas und Marsh. In Südaustralien initiierte, fünf<br />

Jahre nach der fürchterlichen Dürre von 1865, der<br />

Direktor des Botanischen Gartens von Adelaide,<br />

Richard Schomburgk, ein Freund Alexander von<br />

Humboldts, ein groß angelegtes Wiederauffors -<br />

tungs programm.<br />

Auch in den USA bezog man sich bei der<br />

Besiedlung und dem Versuch der Bewaldung der<br />

Great Plains auf Humboldt und Boussingault. So<br />

schrieb ein Regierungsbeauftragter 1849:<br />

„Das übermäßige Abholzen in einigen Teilen des<br />

Landes hat bis zu einem gewissen Grad zu einem<br />

Klimawandel und in großen Gebieten auch zu einer<br />

Änderung der Dürre- und Regenperioden geführt.<br />

Im Sommer, wenn dringend gelegentliche und<br />

leichte Regengüsse benötigt werden, ist <strong>die</strong> Luft zu<br />

trocken und enthält wochenlang nicht mehr als ein<br />

wenig Tau. In Bezug auf ausführliche und gut<br />

belegte Stu<strong>die</strong>n zur Waldrodung, zum Austrocknen<br />

von natürlichen Quellen, zum Klimawandel und<br />

zur Regelmäßigkeit von Niederschlägen werden<br />

dem Leser <strong>die</strong> Schriften von Humboldt, Kaemtz,<br />

Forbes, Boussingault und anderen Meteorologen<br />

empfohlen.“<br />

Auf Initiative des Journalisten Julius Sterling<br />

Morton wurde im Jahr 1872 in Nebraska der<br />

„Arbor Day“ verkündet. Morton hatte seit 1854 im<br />

baumarmen Nebraska eine kleine Farm bewirt -<br />

schaftet, wo er, vor allem als Erosionsschutz, Büsche<br />

und Bäume pflanzte. Anfang 1872 fasste er seine<br />

Erkenntnisse in seiner „Arbor Day-Resolution“<br />

zusammen. Noch im selben Jahr, am 10. April,<br />

setzten erstmals Bürger und Farmer in Nebraska<br />

mehr als eine Million junge Bäume. <strong>Die</strong> Idee wurde


Dr. Heinrich Berghaus' Physikalischer Atlas [...]<br />

zu Alexander von Humboldts Kosmos [...]. Gotha: Justus Perthes, 2. Auflage1852. Privatsammlung München.<br />

Klimawandel<br />

in vielen Ländern der Welt begeistert aufgegriffen.<br />

Auch in Deutschland werden heute jedes Jahr,<br />

zurückgehend auf <strong>die</strong> Initiative Mortons, am „Tag<br />

des Baumes“ mehrere Millionen Bäume gepflanzt.<br />

Trotz <strong>die</strong>ser Maßnahmen in den USA in der zwei -<br />

ten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen Zweifel an<br />

der Theorie des Zusammenhangs zwischen Wald<br />

und Klima auf. Grund dafür waren extreme<br />

Trocken heiten Mitte der 70er Jahre und um 1885.<br />

Im Jahr 1893 wurden <strong>die</strong> Bedingungen in manchen<br />

Regionen so schlecht, dass eine regel rechte Panik<br />

ausbrach und Tausende von Farmern ihr Land<br />

flucht artig verließen. Mit den geschei terten Ver -<br />

suchen der Wieder auffors tung geriet Anfang des 20.<br />

Jahrhunderts <strong>die</strong> Frage nach den Folgen mensch -<br />

lichen Handelns auf das Klima in Vergessenheit.<br />

Auch <strong>die</strong> Erkenntnisse des schwedischen Wissen -<br />

schaftlers Svante Arrhenius, dem „Vater“ der<br />

Theorie der globalen Erwärmung erfuhren erst in<br />

den letzten Jahren eine angemessene Bewertung. Im<br />

Jahr 1896 hatte er <strong>die</strong> Theorie veröffentlicht, dass<br />

<strong>die</strong> Anreicherung von CO 2 in der Atmosphäre <strong>die</strong><br />

Temperatur auf der Erde erhöhen könnte. Für ihn<br />

war <strong>die</strong> Zeitskala, auf der sich solche Veränderun -<br />

gen abspielen konnten, allerdings auf Zehn tau -<br />

sende von Jahren gestreckt. Eine Gefahr sah er in<br />

<strong>die</strong>sem Phänomen damals nicht.<br />

Erst in den 30er Jahren des vergangenen<br />

Jahrhunderts begannen Fach wissen schaftler erst -<br />

mals einen Zusammenhang zwischen dem Anstieg<br />

des CO 2 und der damals beobacheten Klima erwär -<br />

mung zu diskutieren. Und erst seit den 1950er<br />

Jahren wird <strong>die</strong> Gefahr einer anthropogenen Erwär -<br />

mung weltweit ernst genommen.<br />

Alexander von Humboldt war vermutlich der<br />

erste, der bereits vom Einfluss der durch <strong>die</strong><br />

Menschen verursachten „Gasmassen“ auf das Klima<br />

sprach. Dass das CO 2 – von ihm fälsch lich als<br />

„Kohlensäure“ bezeichnet – später als Hauptfaktor<br />

des anthropogenen Klimawandels identifiziert<br />

werden sollte, ahnte er allerdings nicht. Auch dass<br />

<strong>die</strong> Wälder, <strong>die</strong> mehr als 90 Prozent der lebenden<br />

Biomasse ausmachen, als Speicher für das CO 2<br />

wichtig sind, das sie bei der Photosynthese aus der<br />

Atmosphäre entnehmen, wusste Humboldt noch<br />

nicht. <strong>Die</strong> Bedeutung des Waldes für das Klima und<br />

für <strong>die</strong> künftigen Generationen allerdings hat er<br />

erkannt. Er war der erste, der <strong>die</strong> drei<br />

anthropogenen Klimafaktoren „Fällen der Wälder,<br />

Veränderung der Verteilung der Gewässer und (...)<br />

<strong>die</strong> Entwicklung großer Dampf- und Gasmassen“<br />

in ihrem Zusammenhang und in ihrer Wirkung<br />

richtig beschrieben hat. Andere Wissen schaftler,<br />

vor allem Boussingault, Fraas, Marsh, Schomburgk,<br />

und auch der anonyme Beauftragte der US-<br />

Regierung, haben <strong>die</strong> grund legende Bedeutung von<br />

Humboldts Erkenntnissen erfasst.<br />

Erst vor wenigen Jahren begann eine Würdigung<br />

der frühen Klimaforschung, für <strong>die</strong> Alexander von<br />

Humboldt das Fundament gelegt hatte. Er hat mit<br />

seinen Arbeiten „zum <strong>ersten</strong> Mal in der Geschichte<br />

eine weltweite Diskussion über <strong>die</strong> Gefährdung des<br />

Planeten Erde durch <strong>die</strong> Eingriffe des Menschen“<br />

(E. Weigel) entfacht.<br />

Es bleibt zu hoffen, dass <strong>die</strong>s nicht <strong>die</strong> letzte<br />

Diskussion war, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> Ideen Humboldts<br />

angestoßen wurde. In Deutschland hat <strong>die</strong> Wieder-<br />

Entdeckung des Entdeckers gerade erst begonnen.<br />

Für eine Überraschung ist er immer gut.<br />

„<strong>Die</strong> Isothermkurven der Nördlichen Halbkugel“ (Alexander von Humboldt)<br />

25


26<br />

Internationale Unordnung<br />

Sagten Sie „Verhandlungen“?<br />

Im Jahrhundert der Erderwärmung kommt <strong>die</strong> aus lauter souveränen Staaten zusammengesetzte Welt in eine bedrohliche Schieflage.<br />

<strong>Die</strong>se Staaten – insbesondere imperiale Großmächte – kennen seit jeher nichts außer ihrem Eigeninteresse. Wie können sie da,<br />

unter den aktuellen Bedingungen, notwendige globale Regelungen überhaupt vereinbaren?<br />

Das Klima auf dem Planeten Erde<br />

verändert sich ständig. Als es vom 15. Jahrhundert<br />

an in Europa kälter wurde, konnte man sich darauf<br />

einstellen. Mehr Holz zum Feuern, dickere Mäntel,<br />

Schlittschuhlaufen auf der Themse. Schon damals<br />

freilich trafen <strong>die</strong> Veränderungen <strong>die</strong> Armen härter<br />

als <strong>die</strong> Reichen. Auf dem Winterbild <strong>Die</strong> Heimkehr<br />

der Jäger von Pieter Brueghel dem Älteren, einem<br />

der <strong>ersten</strong> Winter-Bilder in der europäischen<br />

Malerei, kommen <strong>die</strong> Jäger mit leeren Händen<br />

zurück ins verschneite Dorf, entsprechend trist <strong>die</strong><br />

Stimmung. Aber der Vergleich trügt. Der Umwelt -<br />

wandel, der sich heute abzeichnet, erfasst den<br />

Planeten insgesamt, und er trifft auf eine andere,<br />

eine unumkehrbar vernetzte Menschen welt. Zwei<br />

Prozesse, Naturentwicklung und Geschichte,<br />

fusionieren in einer gemeinsamen Tendenz, der<br />

Globalisierung. <strong>Die</strong> Entscheidungen, <strong>die</strong> zu treffen<br />

sind, werden alle be treffen, der notwendige<br />

Einigungsprozess, <strong>die</strong> dabei fälligen Verhand -<br />

lungen, werden <strong>die</strong> Menschheit vor neuartige<br />

Probleme stellen.<br />

Das zentrale Ereignis im Klimawandel, der sich<br />

selbst verstärkende Vorgang der Temperatur -<br />

zunahme, wird sich nicht überall gleich auswirken<br />

sondern höchst variant. Wo genau es kühler, wo es<br />

wärmer werden wird und um wieviel, wo genau <strong>die</strong><br />

Niederschläge stärker, wo sie geringer sein werden,<br />

ist noch nicht genau vorhersagbar. Vage auch <strong>die</strong><br />

Prognose, dass <strong>die</strong> kastrophalen Ereignisse im<br />

Wettergeschehen, extrem starke Taifune und<br />

Hurrikans, exzessive Monsunregen, zunehmen<br />

werden, dass Meeresströmungen, zumal der<br />

Golfstrom, sich ändern können. Völlig ungewiss ist<br />

immer noch, ob, wann und in welcher Beschleu -<br />

nigung es zu einem Auftauen des Permafrostes<br />

kommen wird, wieviel CO 2 und Methan dabei<br />

freigesetzt werden, welche Funktion der<br />

Wolkenbildung zukommt und was passiert, wenn<br />

das in der Tiefsee gebundenen Methan frei wird.<br />

Etwas anderes dagegen steht fest. Unser Verhältnis<br />

zu unserer Welt wird ins Schaukeln geraten. <strong>Die</strong><br />

Routinen im Umgang mit Wetter und Jahreszeit,<br />

Von <strong>Die</strong>trich Krusche<br />

Thema<br />

damit auch großer Bereiche der Nahrungs mittel -<br />

gewinnung, werden an Stabilität verlieren, und das<br />

bisher selbstverständliche, gar nicht ins Bewusstsein<br />

genommene In-der-Welt-Gefühl wird zu krümeln<br />

beginnen. <strong>Die</strong> Einsicht, dass wir dabei sind, unseren<br />

blauen Planeten nicht nur als Lebensraum für<br />

zahllose andere Lebewesen sondern auch als unsere<br />

eigene Heimat zu ruinieren, wird unabweislich<br />

werden. Keine geschichtliche Erfahrung ist hier<br />

heranzuziehen. Auch <strong>die</strong> These Francis Fukuyamas<br />

von 1992, dass mit dem Sieg des Kapitalismus <strong>die</strong><br />

Geschichte zu einem Ende gekommen ist, hat sich<br />

überlebt. Der Begriff der Geschichte selbst muss<br />

geöffnet werden, damit ihm der Faktor der<br />

Umweltgeschichte hinzugefügt werden kann.<br />

Und noch etwas, das fest steht: <strong>Die</strong> Notwen -<br />

digkeit, schnell, allzu schnell, handeln zu müssen,<br />

sitzt uns im Nacken. <strong>Die</strong> Zeit, <strong>die</strong> für <strong>die</strong> kom -<br />

plexen Absprachen und Entscheidungen zwischen<br />

den Betroffenen des Klimawandels – uns allen –<br />

nötig ist, wenn das Chaos unzähliger Teilkonflikte<br />

nicht überhandnehmen soll, wird uns fehlen.<br />

Nein, <strong>die</strong> Katastrophe, <strong>die</strong> es zu vermeiden gilt, ist<br />

nicht der Untergang der Menschheit in einer neuen<br />

Sintflut, sondern <strong>die</strong>, dass auch im Klimawandel<br />

alles so weitergeht wie bisher. Denn verlängert man<br />

den bisherigen Verlauf der Geschichte in <strong>die</strong><br />

Zukunft, so fällt <strong>die</strong> Prognose leicht: An den<br />

bewohnbaren, den gesunden Orten der Erde, den<br />

„Bio-Orten“ heutiger Ausdrucksweise nach,<br />

werden dann <strong>die</strong>jenigen sitzen, <strong>die</strong> das meiste Geld<br />

haben, während der Rest der Menschheit mehr oder<br />

weniger erfolgreich ums Überleben kämpft, von<br />

den Trutzburgen des Überlebens im Luxus<br />

gewaltsam ferngehalten.<br />

<strong>Die</strong> Komplexität dessen, was zu<br />

verhandeln sein wird, hat mit der Überfülle der<br />

Veränderungen zu tun. <strong>Die</strong> fälligen Umsteu erun -<br />

gen, Umverteilungen, Umsiedlungen, Kompen -<br />

sationen und Ausgleichszahlungen werden <strong>die</strong><br />

jeweils Betroffenen in verschiedener Weise belasten.


Klimawandel<br />

Lassen wir <strong>die</strong> Unterschiede zwischen Arm und<br />

Reich innerhalb einer Gesellschaft einmal beiseite<br />

und konzentrieren uns auf das intergesellschaftliche<br />

Gefälle zwischen Arm und Reich.<br />

Offenbar überlagern sich hier zwei Aspekte<br />

menschlicher Evolution: der anthropologische und<br />

der machtgeschichtliche. Zum <strong>ersten</strong> Problem -<br />

komplex hat <strong>die</strong> Kulturanthropologie in den letzten<br />

Jahrzehnten Erhellendes gesagt. Jared Diamond hat<br />

in seinem Buch Arm und Rich. <strong>Die</strong> Schicksale<br />

menschlicher Gesellschaften (deutsch 2004) und in<br />

seinem neuesten Werk Kollaps (deutsch 2005) den<br />

Zusammenhang zwischen naturgegebenen Lebens -<br />

bedingungen und vor- bzw. früh geschicht lichen<br />

Schicksalen der verschiedenen Gruppen und<br />

Gesellschaften durchschaubar gemacht.<br />

Auf eben <strong>die</strong>se – ungleichen – Ausgangsbedin -<br />

gungen hat sich Weltgeschichte gleichsam drauf -<br />

gesetzt. Der Anstoß zur Globalisierung ging von<br />

Europa aus. <strong>Die</strong> Epoche, <strong>die</strong> euphemistisch als<br />

„Zeitalter der Entdeckungen“ bezeichnet wird,<br />

begann in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts<br />

und war durch Eroberung, Missionierung und<br />

Ausbeutung bestimmt. <strong>Die</strong> Folgen <strong>die</strong>ser Über -<br />

wälti gung werden aus der Entwicklung der betrof -<br />

fenen Gesellschaften niemals heraus zurechnen sein.<br />

Wo sie plötzlich hervorbrechen wie im islamis -<br />

tischen Terror heute, stiften sie Verwirrung und<br />

Entsetzen. Es ist im kollektiven Bewusstsein<br />

Europas/Nordamerikas nicht ausreichend präsent,<br />

dass mit dem faktischen Ende der Kolonial -<br />

herrschaft <strong>die</strong> Verstrickung des Abendlandes in <strong>die</strong><br />

Entwicklung der außer europäischen Kulturen<br />

nicht beendet ist.<br />

Auf eine Spätfolge <strong>die</strong>ser Verstrickung haben Ian<br />

Buruma und Avishai Margalit in ihrem Buch<br />

Occidentalism (2004) hingewiesen. Der Titelbegriff<br />

„Okzidentalismus“ steht dabei für Das Ressenti -<br />

ment der kolonial Überwältigten gegen all das, was<br />

ihnen von seiten ihrer Überwältiger zugefügt<br />

worden ist und was sie noch heute in der Ein -<br />

stellung „des Westens“ ihnen gegenüber zu<br />

erkennen meinen. Das bezieht sich nicht nur auf <strong>die</strong><br />

Anwendung militärischer und wirtschaftlicher<br />

Gewalt, sondern auch <strong>die</strong> kulturelle Dominanz.<br />

Dass <strong>die</strong>ses Ressentiment durchaus zwiespältig ist,<br />

sieht man an all dem, was vom Abendland<br />

zustimmend übernommen wurde: Naturwisssen -<br />

schaft, Technologie und vor allem <strong>die</strong> Errungen -<br />

schaften der modernen westlichen Medizin.<br />

Aus der Überwältigung durch „den Westen“, <strong>die</strong><br />

zu einer Entgleisung der eigenen Kultur entwick -<br />

lung führte, leitet sich heute der Anspruch auf<br />

„nachholende Entwicklung“ ab. Global wird <strong>die</strong>ses<br />

Problem dann, wenn es darum geht, wieviel<br />

Nachholung <strong>die</strong>se Gesellschaften sich angesichts<br />

des Klimawandels werden leisten können. Das<br />

Paradebeispiel dafür ist China – auch wenn China<br />

in seinen kulturellen Ausgangsbedingungen nicht<br />

Pieter Brueghel d. Ä., <strong>Die</strong> Heimkehr der Jäger (1565)<br />

benachteiligt und niemals als Ganzes kolonial<br />

geknebelt war. China will und kann „aufholen“, es<br />

hat <strong>die</strong> Menschen und <strong>die</strong> kulturelle Befähigung<br />

dazu, große Teile der Welt mit konkurrenzlos<br />

billigen Produkten zu versorgen. Aber um welchen<br />

Preis? Dass es sich mit seiner restriktiven Sozial -<br />

politik selbst gefährdet, mag Sache der Chinesen<br />

sein. Aber <strong>die</strong> Umweltbelastungen, <strong>die</strong> von Chinas<br />

technologisch rückständiger Industrie produziert<br />

werden, gehen nicht nur den Bürgern Chinas an <strong>die</strong><br />

Atemluft.<br />

Ganz neue Fragen stellen sich uns:<br />

Welche Bilder von der Gleichheit aller Menschen<br />

lassen sich mobilisieren? Welche Konzepte<br />

kultureller Differenz und Gleichwertigkeit sind<br />

bisher entwickelt worden? Welche Begründungen<br />

universaler Menschenrechte sind geeignet,<br />

kulturelle, religiöse Differenzen akzeptabel zu<br />

machen? Welche Rahmenbedingungen eignen sich<br />

für <strong>die</strong> Verhandlung <strong>die</strong>ser allseitigen<br />

Zusammenhänge?<br />

Jeder menschliche Verband handelt in seinem<br />

eigenen Interesse, aber <strong>die</strong> Unterschiede darin, wie<br />

es vertreten wird, sind erheblich. Sie ergeben sich<br />

aus den Erfahrungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> verschiedenen<br />

Gesellschaften im Umgang mit anderen<br />

Gesellschaften gemacht haben. Der erste Faktor, der<br />

ins Auge fällt, ist der Umfang bzw. <strong>die</strong> Häufigkeit<br />

von Außenkontakten.<br />

Japan zum Beispiel hat auf Grund seiner Inselund<br />

Randlage eine Geschichte relativ kurzer<br />

Episoden intensiver Außenkontakte und langer<br />

Perioden strikter Abgeschlossenheit. So hatte das<br />

Land bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wenig<br />

Anlass, sein eigenes Fremdheitsprofil gegenüber<br />

anderen Kulturen zu reflektieren, sich selbst als eine<br />

Kultur unter anderen zu verstehen und zu<br />

modellieren.<br />

Ähnliches gilt – erstaunlicherweise – für China,<br />

das „Reich der Mitte“. Hier haben ganz andere<br />

Gründe zu einem Selbstverständnis geführt, das<br />

Gedanken darüber, wie man auf andere wirkt,<br />

unnötig und daher unwahrscheinlich gemacht. <strong>Die</strong><br />

Unbefangenheit, ja Naivität, in der auch das<br />

gegenwärtige Regime seine imperialen<br />

Machtansprüche auslebt, sind verblüffend. <strong>Die</strong><br />

27


28<br />

ungebremste und nahezu unverhüllte Gewalt -<br />

anwendung gegen Minderheiten (z. B. <strong>die</strong> Falun-<br />

Gong), politischen Dissidenten im Inneren und<br />

benachbarten Kulturen (z. B. Tibet) gegenüber, <strong>die</strong><br />

Zensur des Internet, <strong>die</strong> weltweite Spionage (bis<br />

hinein in <strong>die</strong> Computer der Bundesrepublik und<br />

des amerikanischen Regierungsapparats), <strong>die</strong><br />

Unterstützung von skrupellos gewalttätigen<br />

Regimen (Sudan, Myanmar) aus energiepolitischen<br />

Gründen, das geradezu kindisch wirkende „Belei -<br />

digtsein“, wenn der Dalai Lama wieder einmal<br />

irgendwo in der Welt geehrt wird – all das konter -<br />

kariert den Anspruch, künftig eine, wenn nicht gar<br />

<strong>die</strong> Weltmacht sein zu wollen.<br />

Sicher, da sind <strong>die</strong> Wachstumswerte der<br />

Wirtschaft, an denen besonders westliche Experten<br />

sich berauschen. Aber ist eine „Weltmacht“ denkbar<br />

ohne Werte, <strong>die</strong> auch für andere attraktiv sind, ohne<br />

Programm für ein auch für den Rest der Welt<br />

gedeihliches Zusammenleben? Man vergleiche <strong>die</strong><br />

pax romana, <strong>die</strong> freiheitlichen Ideale Frankreichs,<br />

<strong>die</strong> liberalen und rechtsstaatlichen Prinzipien<br />

Englands. Dass <strong>die</strong>se Programme oft vorwandhaft<br />

eingesetzt wurden, sei eingeräumt. Aber eine<br />

„Weltmacht“, <strong>die</strong> nichts anderes vor sich herträgt<br />

als den Anspruch auf Herrschaft? Immerhin spricht<br />

einiges dafür, dass China das Problem erkannt hat.<br />

So hat es damit begonnen, im Ausland „Konfuzius-<br />

Institute“ zu eröffnen, und sich <strong>die</strong> Ausrichtung<br />

einer Olympiade gesichert. <strong>Die</strong> Sommerspiele 2008<br />

in Peking werden Aufschluss darüber geben, wie<br />

China sich künftig dem Rest der Welt präsentieren<br />

will.<br />

In dem Buch von Buru ma/Margalit wird<br />

auf einen Zusammenhang zwischen praktiziertem<br />

Kolonialismus und der Herausarbeitung universel -<br />

ler Menschenrechte hin gewiesen. Beides geschah<br />

gleichzeitig. Europa handelte imperial und<br />

kritisierte eben <strong>die</strong>s an sich selbst. Es setzte sich<br />

selbst absolut – und lernte dabei, sich selbst zu<br />

relativieren. Eben <strong>die</strong>se These belegt Walter Veit,<br />

ein in Melbourne lehrender Kulturwissenschaftler,<br />

in seiner Arbeit Topik einer besseren Welt (Georg-<br />

Forster-Stu<strong>die</strong>n XI, 2006). Er zitiert darin all <strong>die</strong><br />

Europäer, Missionare, Forschungsreisenden,<br />

Philosophen, <strong>die</strong> sich der Vereinnahmung der<br />

anderen Kulturen durch Europa widersetzt haben:<br />

Las Casas, Joseph Banks, Georg Forster, Diderot,<br />

um nur einige zu nennen. Von Georg-Christoph<br />

Lichtenberg (1742-1799) stammt der Aphorismus:<br />

„Der Amerikaner, den Kolumbus zuerst entdeckte,<br />

machte eine böse Entdeckung.“<br />

Folgt man <strong>die</strong>ser Spur, wird erkennbar, dass <strong>die</strong><br />

Herausarbeitung der Begriffe des „Naturrechts“<br />

(Grotius, Hobbes, Pufendorf, Thomasius, Wolff,<br />

Rousseau, Fichte, Schelling), des säkularen Staates<br />

als Ergebnis eines „gesellschaftlichen Vertrags“<br />

(Wilhelm von Occam, Marsilius von Padua,<br />

Thema<br />

Hobbes, Kant, Fichte), der „individuellen Freiheits -<br />

rechte“ (Kant, Schelling), aus zwei Traditions -<br />

strängen heraus erfolgte: der Binnengeschichte<br />

Europas und seiner selbstkritischen Verarbeitung<br />

der Begegnung mit anderen Kulturen. Eben <strong>die</strong>se<br />

Begriffe konnten von Freiheitskämpfern wie<br />

Mahatma Ghandi und Nelson Mandela, <strong>die</strong> beide<br />

Kulturen kannten, ihre eigene und <strong>die</strong> europäische,<br />

gegen Europa selbst ins Feld geführt werden.<br />

Begriffe wie „Terre des Hommes“, Organisationen<br />

wie „Cap Anamur“, „Médecins sans frontières“,<br />

„Ärzte für <strong>die</strong> Dritte Welt“ und politische<br />

Gruppierungen wie Attac gehen auf <strong>die</strong>selbe<br />

Tradition zurück.<br />

Das anthropologisch-ethische Postulat, dass <strong>die</strong><br />

Menschen sich untereinander – sei es in der<br />

gemeinsamen Gotteskindschaft, sei es in der<br />

Teilhabe an menschlicher Vernunft – als<br />

gleichwertig anerkennen müssten, hat in der<br />

Philosophie der Gegenwart eine pragmatische<br />

Wende genommen: hin zur Be schreibung eines<br />

angemessenen zwischenmenschlichen Handelns.<br />

Sie ergab sich aus der Sprech akttheorie, deren<br />

Entwicklung vor allem mit den Namen John L.<br />

Austin und John Searle verbunden ist. Ihre Anwen -<br />

dung auf eine allgemeine Theorie des kommuni -<br />

kativen Handelns (1980) hat Jürgen Ha bermas<br />

vollzogen. Für den komplexen Zusammenhang der<br />

Verhandlung des Klimawandels lassen sich daraus<br />

wenigstens zwei Fragestellungen übernehmen: (1)<br />

Worauf lässt sich der Konsens darüber gründen, in<br />

welchem Rahmen <strong>die</strong> Verhandlungen stattfinden<br />

sollen, und (2) welche Funktion kommt der global<br />

gewordenen Öffentlichkeit dabei zu?<br />

(1) Soweit ich sehe, gibt es einen weitgehenden<br />

Konsens darüber, dass nur <strong>die</strong> Vereinten Nationen<br />

den Verhandlungsrahmen abgeben können. Er<br />

gründet sich auf <strong>die</strong> seit 1945 erprobte<br />

Integrationskaft der UN und <strong>die</strong> rational<br />

unabweisliche Einsicht, dass alle Nationen und<br />

Gesellschaften vom Klimawandel betroffen sein<br />

werden. Wie wichtig <strong>die</strong>se Rahmengebung ist, lässt<br />

sich an den Widerständen dagegen ablesen. So<br />

haben <strong>die</strong> USA im Vorfeld der Versammlung aller<br />

Regierungschefs im September 2007, in der von<br />

172 Mitgliedern eine Fortsetzung des Kyoto-<br />

Prozesses beschlossen wurde, eine Konkurrrenz -<br />

versammlung etabliert, in der <strong>die</strong> Reduzierung des<br />

CO 2 -Ausstoßes von den größten Schadstoff -<br />

emittenten verhandelt werden soll – auf der Basis<br />

völliger Freiwilligkeit, in exklusiver Runde, dem<br />

Druck der Weltmeinung entzogen. <strong>Die</strong>se Taktik ist<br />

nur allzu gut verständlich. Da alle Staaten, alle<br />

Länder, Regionen, Kommunen, ja <strong>die</strong> allermeisten<br />

Privathaushalte von den Veränderungen betroffen<br />

sind, werden extrem multilaterale Verhandlungen<br />

zu führen sein und der Druck der globalen<br />

Mehrheit auf <strong>die</strong> einzige Weltmacht könnte extrem<br />

groß werden.


Klimawandel<br />

(2) In eben <strong>die</strong>sem Zusammenhang wird <strong>die</strong><br />

Bedeutung des Weltöffentlichkeit sichtbar. Ihre<br />

Einbeziehung ist das einzige gewalt- und<br />

repressionsfreie Druckmittel, das gegen jede Art<br />

von Einzelinteressen mobilisiert werden kann.<br />

Denn <strong>die</strong> Chance auf eine Lösung von Streitfragen<br />

durch „sachliche Argumente“ ist umso geringer, je<br />

willkürlicher, gewalttätiger und damit irrationaler<br />

eine Ausgangslage ist, <strong>die</strong> durch den Klimawandel<br />

verschärft wird.<br />

Dazu zwei Szenarien: (a) Ein „sich entwickelnder“<br />

Staat, der von einem korrupten (möglicherweise<br />

paranoiden) Herrscher geknebelt ist, verstreut seine<br />

flüchtenden Bürger über <strong>die</strong> – ihrerseits umwelt -<br />

geplagten – Nachbarländer. (b) Ein multiethnisches<br />

Land wird von einer korrupten Clique<br />

(sagen wir: einer Militärjunta) beherrscht, <strong>die</strong> sich<br />

zur Ausbeutung der Bodenschätze der Komplicen -<br />

schaft internationaler Konzerne versichert hat; <strong>die</strong><br />

rebellierende Minderheiten werden aus dem<br />

eigenen Staatsgebiet in Nachbarländer vertrieben,<br />

<strong>die</strong> dadurch (siehe Szenario a) ihrerseits unter<br />

Druck geraten. <strong>Die</strong> jeweiligen Verhandlungen<br />

können – wenigstens das – von den Repräsentanten<br />

der UN protokolliert und über das Internet der<br />

global gewordenen Öffentlichkeit präsentiert<br />

werden.<br />

Deutlich wird im Blick auf solche Szenarien auch,<br />

dass <strong>die</strong> Funktion des Sicherheitsrates in seiner<br />

bisherigen Zusammensetzung und unter<br />

Beibehaltung von „Vetomächten“ unbrauchbar, ja<br />

destruktiv geworden ist.<br />

Wesentlich konkreter, wenn auch nicht<br />

notwendig optimistischer, fällt eine Überschau aus,<br />

welche aktuell wirksamen Kulturfaktoren<br />

angesichts des Klimawandels als Blockaden, welche<br />

als Öffnungen zu begreifen sind.<br />

2001 zum epochemachenden Eklat geworden. Aber<br />

was geschah danach? <strong>Die</strong> Weltmacht, <strong>die</strong> bis dahin<br />

als Garant der Freiheitsrechte und Liberalität<br />

gegolten hatte, handelte ihrerseits manichäistisch.<br />

Auch hier brach lange Vorbereitetes durch, vor<br />

allem <strong>die</strong> latente Neigung bestimmter Gesell -<br />

schaftsteile der USA, sich als Nachfolger des Messias<br />

zu begreifen (in der „Battle Hymn of the Republic“<br />

heißt es: „As he <strong>die</strong>d to make men holy, let us <strong>die</strong> to<br />

make men free“). <strong>Die</strong> Regierung von George W.<br />

Bush be<strong>die</strong>nte sich des religiösen Fundamen ta -<br />

lismus, um einen Krieg beginnen zu können, für<br />

den es ganz andere Gründe gab – ein Täuschungs -<br />

manöver, das spektakulär misslungen ist.<br />

Guantánamo, Abu Ghraib, das Entgleisen der<br />

gesellschaftlichen Prozesse im Irak: Der katastro -<br />

phale Geltungsverlust der USA betrifft uns alle. Im<br />

Klimawandel brauchen wir einen Hegemon, der<br />

mit kulturellen Unterschieden umzugehen vermag.<br />

<strong>Die</strong> kulturelle Überhöhung der Gier. Auch <strong>die</strong><br />

zweite der hier angesprochenen Blockaden kann<br />

nicht ohne Bezugnahme auf <strong>die</strong> USA erörtert<br />

werden. Das ist kein Zufall (aber auch kein<br />

Ausdruck einer Amerikafeindlichkeit bei mir),<br />

sondern unvermeidlich: <strong>Die</strong> Möglichkeiten der<br />

Zukunft können nicht an den Werten der einzigen<br />

Weltmacht vorbei gedacht werden, sondern nur<br />

durch <strong>die</strong>se hindurch.<br />

Um Missverständnisse zu vermeiden: Immer<br />

schon, seit es Menschen gibt, waren <strong>die</strong><br />

Unterschiede zwischen den menschlichen<br />

Individuen größer als bei allen anderen Gattungen<br />

des Tierreichs, und Unterschiede zwischen arm und<br />

reich sind unvermeidlich. Aber seit dem „Sieg des<br />

Kapitalismus“ ist der Dynamismus der Geld -<br />

vermehrung außer Rand und Band geraten. Man<br />

vergleiche <strong>die</strong> Liste der Reichsten in der Welt von<br />

2006 mit denen davor und beachte <strong>die</strong> steigende<br />

Zahl derer, <strong>die</strong> im reinen Geldgewerbe tätig sind.<br />

Exzessive Unternehmer-Gewinne (wie bei Bill<br />

<strong>Die</strong> Unterteilung der Welt in gut und<br />

böse, gottgewollt und widergöttlich geht auf eine<br />

frühchristliche Sekte zurück, <strong>die</strong> Manichäer . Dass<br />

der Manichäismus in <strong>die</strong> Gegenwart ein brechen<br />

konnte, hat mit der Radikali sierung einer<br />

islamistischen Minderheit zu tun. Wie es dazu kam,<br />

hat Dan Diner in seinem Buch Versiegelte Zeit<br />

(2005) beschrieben. „Versiegelt“ bedeutet hier<br />

soviel wie „angehalten“ und bezieht sich auf <strong>die</strong><br />

Geschichtszeit. Gesellschaften, <strong>die</strong> sich so<br />

verhalten, als könnten sie den weltgeschichtlichen<br />

Wandel an sich vorbeiziehen lassen, bringen sich<br />

selbst in eine defensive und schließlich verzweifelte<br />

Lage. <strong>Die</strong> eigene Position wird absolut gesetzt, <strong>die</strong><br />

menschliche Solidarität mit „Ungläubigen“ negiert<br />

– bis hin zum Terror gegen <strong>die</strong> derzeitige Leitkultur<br />

und Weltmacht. Was sich in mehr oder weniger<br />

spektakulären Aktionen bereits seit den 90er Jahren<br />

des letzten Jahrhunderts andeutete, ist am 11. 9. Im Verhandlungsprozess: IPCC, Arbeitsgruppe II, Brüssel, April 2007:<br />

www.iisd.ca/climate/ipwg2/<br />

29


30<br />

Gates) sind eher Ausnahmen, <strong>die</strong> mit Ausnahme -<br />

produkten erklärbar sind. Geldvermehrung<br />

geschieht immer weniger durch gesellschaftlich<br />

relevantes Handeln (etwa durch Innovation oder<br />

Produktion) und immer mehr durch den Handel<br />

mit Geld. Grenzziehungen von seiten des Staates<br />

werden hier kaum vermeidbar sein, zum Beispiel<br />

durch andere rechtliche Rahmenbedingungen für<br />

Aktiengesellschaften und eine stärkere Kontrolle<br />

börsennotierter Fonds. Der deutsche Bundes -<br />

präsident, selbst ein Wirtschaftsmann, engagiert<br />

sich eben jetzt in <strong>die</strong>ser Sache.<br />

Aber wie soll das bisher Unmögliche möglich<br />

werden – zumal in den USA, der Geld-Kultur par<br />

excellence mit der symbolischen Camouflage durch<br />

das Bibelwort „An ihren Früchten sollt ihr sie<br />

erkennen“ und <strong>die</strong> Gleichsetzung der „guten<br />

Früchte“ mit einem bloßen Mehr an Kapital?<br />

In einer solchen Situation sind <strong>die</strong><br />

Möglichkeiten nicht offenen Türen oder gar<br />

Scheunen tore, sondern allenfalls Öffnungen, <strong>die</strong><br />

man daran bemerkt, dass ein Luftstrom spürbar<br />

wird.<br />

Wie Umfragen zeigen, gibt es Deutschland immer<br />

noch keine Mehrheit für einen kollektiv-einseitigen<br />

Verzicht. „Eine Umweltsteuer nur in Deutschland?!“<br />

„Und wenn <strong>die</strong> anderen dann nicht nachziehen?“<br />

„Wir, uns selber schwächen?!“ „Verzichten auf<br />

unsere Geltung in der Welt?!“ So gibt es bisher auch<br />

keine Mehrheit für Maßnahmen, <strong>die</strong> unsere<br />

Schlüsselindustrie, <strong>die</strong> Automobilbranche,<br />

benachteiligen könnten, <strong>die</strong> eben wieder ab gelehnte<br />

Geschwindigkeitsbeschränkung auf Autobahnen<br />

gehört dazu. Andererseits gibt es, wie z. B. <strong>die</strong> letzte<br />

Internationale Automobil-Ausstel lung gezeigt hat,<br />

einen deutlichen Trend zu umweltfreundlichen<br />

Autos hin, was ja den Verzicht des Einzelnen auf<br />

größere Motorenkraft, Schnelligkeit, spektakuläre<br />

Ausstattung und Ähnliches einschließt. Eine<br />

bemerkenswerte Um zeichnung des Selbstprofils:<br />

von „Ich bin stärker“ zu „Ich bin umweltbewusst“.<br />

Gut belegt ist auch, dass Energiesparprogramme, sei<br />

es beim Wohnungsbau, sei es bei der Hinwendung<br />

zu erneuerbaren Energien bereitwilliger angenom -<br />

men werden. Selbst <strong>die</strong> Bereitschaft, Preisaufschläge<br />

bei Fern-Flugreisen hinzunehmen, scheint zu<br />

wachsen. Als wollte man sich beim Flug in den<br />

exotischen Urlaub eines Begleiters entledigen: des<br />

schlechten Gewissens, das incognito mitreist. All das<br />

deutet auf Umschichtungen im Wertegefüge vieler<br />

Einzelner hin.<br />

Nach dem Tsunami im Dezember 2005<br />

war das Spendenaufkommen in den entwickelten<br />

Ländern enorm, größer als bei allen vergleichbaren<br />

Anlässen davor. War es einfach nur das Spektakuläre<br />

des Ereignisses, das <strong>die</strong>se Reaktion auslöste? Ich<br />

Thema<br />

glaube nicht. <strong>Die</strong> mediale Berichterstattung, zumal<br />

durch Bilder, <strong>die</strong> live zustandekamen, haben eine<br />

Art praktischer Beteiligung (ich meine gerade nicht:<br />

abstrakte Betroffenheit) ausgelöst, <strong>die</strong> der Wirkung<br />

einer Katastrophe in geographisch nächster Nähe<br />

ähnlich war. <strong>Die</strong>ser Nahholeffekt des Mediums<br />

Fernsehen könnte bei der Organisation des Klima -<br />

wandels eine konstruktive Rolle spielen: im Sinne<br />

einer globalen Dokumentation. Noch stärker, wenn<br />

auch anders, geschieht <strong>die</strong> Nahholung der Ferne<br />

durch das Internet. Fast sieht es so aus, als sei es in<br />

Reaktion auf <strong>die</strong> Umweltkrise entwickelt worden.<br />

Es ist nicht zentrisch, ja nicht einmal knotenhaft<br />

organisiert (vom technischen Aspekt der Knoten -<br />

bildung einmal abgesehen), sondern fraktal. Jeder<br />

einzelne Partizipant ist Sender und Empfänger,<br />

Ausgangspunkt und Zielpunkt der globalen<br />

Kommunikation zugleich. Alle Prozesse können<br />

allseitig-gleichzeitig aktiviert werden: Netze der<br />

Meinungsbildung und Entscheidungsketten,<br />

Linien der Expertise und Tableaus der Information.<br />

Wenn es etwas gibt, das sich heute in<br />

allen Kulturen gleichzeitig und in vergleichbarer<br />

Weise vollzieht, dann ist es <strong>die</strong> Zunahme des<br />

Anspruchs, über sich selbst verfügen zu können.<br />

Der Bereich, wo man das am besten beobachten<br />

kann, ist <strong>die</strong> Emanzipation der Frauen. Alle<br />

bedeutsamen Tendenzen der Kulturentwicklung<br />

der letzten Jahrhunderte konvergieren hier: <strong>die</strong><br />

Postulate der Gleichheit und Freiheit aller<br />

Menschen, <strong>die</strong> Differenzierung des individuellen<br />

Bewusstseins, <strong>die</strong> Möglichkeit der Geburten -<br />

kontrolle und <strong>die</strong> Teilnahme der Frauen an allen<br />

gesellschaftlichen Tätigkeiten. Aktuell wird <strong>die</strong>ser<br />

Prozess bei der Frage, wie der Kampf gegen <strong>die</strong><br />

Armut zu organisieren ist, brisant angesichts der<br />

Herausforderungen durch den Klimawandel.<br />

Entscheidend ist <strong>die</strong> Frage nach der Verteilung von<br />

Geldern an <strong>die</strong> Bedürftigsten, genauer: nach der<br />

Verteilungsstruktur. Dabei scheint mir ein Modell<br />

besonders einleuchtend und gut erprobt zu sein, das<br />

der sogenannten „Mikrokredite“, ein System, das .<br />

Muhammad Yunus entwickelt und dafür 2006 den<br />

Friedensnobelpreis bekommen hat. Sein Credo: Es<br />

komme darauf an, aus Menschen Unternehmer zu<br />

machen, Unternehmer ihres eigenen Lebens. Und<br />

wer für sein eigenes Leben Verantwortung<br />

übernehmen könne, könne es auch für <strong>die</strong><br />

Lebenswelt. Das Hoffnungspotenzial <strong>die</strong>ser<br />

pragmatischen Anthropologie: Da <strong>die</strong> Umwelt im<br />

Wandel ist, wandeln sich auch <strong>die</strong> Selbstentwürfe<br />

der einzelnen Menschen und, davon angestoßen,<br />

<strong>die</strong> Vorstellungen, wie sich Menschen aufeinander<br />

beziehen können.<br />

Falls <strong>die</strong> Beobachtung von Muhammad Yunus<br />

zutrifft, dass gegenwärtig besonders Frauen der<br />

Dritten Welt zu <strong>die</strong>ser Selbst- und Weltverantwort -<br />

lichkeit hinfinden, umso schöner.


Klimawandel<br />

Von der Befangenheit der Naturwissenschaften<br />

<strong>Die</strong> alltägliche Hybris<br />

Sind <strong>die</strong> Folgen des Klimawandels wirklich nur ein wissenschaftlich-technisches Problem? Oder ist das für <strong>die</strong>se Wissenschaft<br />

kennzeichnende lineare Denken, <strong>die</strong> „zwingende Lösung“, nicht eher der Irrweg, der eine soziale Gerechtigkeit verhindert?<br />

Antworten auf den ins Haus stehenden Klima -<br />

wandel müssen sich mit einer Reihe gegenwärtiger<br />

und auch in Zukunft relevanter gesellschaftlicher<br />

nationaler und globaler Herausforderungen stellen.<br />

Dazu gehören beispielsweise <strong>die</strong> Asymmetrien im<br />

Lebensstandard in und zwischen den Gesell schaften,<br />

den ökonomischen Aspirationen von Nord und Süd,<br />

von an Naturschätzen reichen und armen Ländern,<br />

demokratischen und autokrati schen politischen<br />

Regimen, sowie von Staaten mit völlig unter -<br />

schiedlicher demographischer Dyna mik, und nicht<br />

zuletzt von unterschiedlichen Überzeugungen von<br />

dem, was den Menschen heilig ist.<br />

Wir bezweifeln, dass im Kontext <strong>die</strong>ser Gemenge -<br />

lage, sowie angesichts nicht antizipierbaren<br />

Ereignisse und Entwicklungen in den Jahren nach<br />

der Kyoto-Vereinbarung eine konsensuelle, global<br />

wirksame Strategie zur nachhaltigen Begrenzung<br />

des Ausstoßes von Treibhausgasen entstehen wird.<br />

Ein sicherer Hinweis, der <strong>die</strong>se skeptische Fol ge -<br />

rung stützt, sind vergangene, fehlgeschlagene<br />

politische Bemühungen, das globale Klima<br />

nachhaltig vor den Folgen menschlichen Handels<br />

zu schützen.<br />

<strong>Die</strong> Implementation globaler Abkommen muss<br />

immer noch durch den Flaschenhals nationaler,<br />

regionaler und sogar kommunaler Kontingenzen.<br />

Es gibt keine globale politische Ordnung, <strong>die</strong> eine<br />

Umsetzung globaler Abkommen stützt und sogar<br />

mit entsprechenden Sanktionen ausgestattet<br />

erzwingen kann. Jedes politische System wird seine<br />

eigenen Reaktionen auf <strong>die</strong> Herausforderung des<br />

Klimawandels produzieren. <strong>Die</strong> damit verbundene<br />

unausweichliche Widersprüchlichkeit und<br />

Zerbrechlichkeit jedweden (aggregierten)<br />

Handelns ist unvermeidbar, und bildet <strong>die</strong><br />

fundamentalen Rahmenbedingungen für eine<br />

Antwort, auf Forderungen in bestimmter Weise<br />

und in einem gewissen Zeitraum auf den<br />

Klimawandel zu reagieren.<br />

<strong>Die</strong>se elementaren und ganz offensichtlich von<br />

vielen Widersprüchen gekennzeichneten<br />

Von Nico Stehr und Hans von Storch<br />

Handlungsbedingungen werden in der öffentlichen<br />

Klimadebatte immer noch nur unvollständig zur<br />

Kenntnis genommen. Teile werden sogar<br />

weitgehend tabuisiert.<br />

Welche Erkenntnisse kann man in <strong>die</strong>se politi -<br />

schen Debatten, Fehlentwicklungen und Sack -<br />

gassen einbringen, <strong>die</strong> eine Erforschung und Politik<br />

des Machbaren befördern und helfen welt anschau -<br />

lich gestütztes Wunschdenken, gerade auch in<br />

Kreisen der politisch wirksamen Klimaforschung,<br />

auf den Boden der Realität zu zwingen?<br />

<strong>Die</strong> Bundeskanzlerin Angela Merkel hat jüngst auf<br />

einer Tagung zur Klimapolitik gefordert, dass <strong>die</strong><br />

Menschen <strong>die</strong>ser Welt Mitte <strong>die</strong>ses Jahrhunderts<br />

pro Person im Durchschnitt nur noch zwei Tonnen<br />

Kohlendioxyd pro Jahr emittieren dürfen, um<br />

sicherzustellen, dass <strong>die</strong> katastrophalen Folgen des<br />

Klimawandels und Kriege um Ressourcen vermie -<br />

den werden. Andernfalls drohe eine Erderwärmung<br />

über den „kritischen Schwellenwert” von zwei Grad<br />

Celsius in 2050. Da der Durchschnittsbürger der<br />

Vereinigten Staaten gegenwärtig zwanzig Tonnen<br />

Kohlendioxid verursacht, während es in Deutschl -<br />

and elf Tonnen sind und in einem typischen Land<br />

der sich entwickelnden Welt natürlich sehr viel<br />

geringere Mengen, ist <strong>die</strong>ser Vorschlag zumindest<br />

eine Antwort auf <strong>die</strong> Frage nach einem gerechten<br />

Verschmutzungsanteil jedes Individuums der<br />

weiter wachsenden Menschheit. Für Deutschland<br />

bedeutet das von Merkel bis 2050 gesetzte Ziel<br />

beispielsweise eine Minderung von 82 Prozent und<br />

für <strong>die</strong> USA von 90 Prozent.<br />

<strong>Die</strong> Zahlen über <strong>die</strong> durchschnittliche Emission<br />

von Kohlendioxyd sind strittig. Wahrscheinlich<br />

liegen sie zur Zeit für Deutschland sogar über den<br />

genannten Wert von elf Tonnen pro Jahr und<br />

Person. Darüberhinaus sind <strong>die</strong> globalen Wert<br />

allen falls Aussagen über eine Kohlendioxyd<br />

Gerechtigkeitsquotienten. Aber selbst wenn sie<br />

stimmen würden, sind sie inkonsistent mit realis -<br />

tischen Erwartungen in der Zukunft. In 2050 wird<br />

es wahrscheinlich neun Milliarden Menschen<br />

31


32<br />

geben; heute sind es 6500000 Milliarden. Bei einer<br />

Emission von zwei Tonnen pro Person ergibt <strong>die</strong>s<br />

eine globalen Ausstoß von 18 Milliarden Tonnen.<br />

<strong>Die</strong>se Zahl wäre unzureichend, um das Klima zu<br />

stabilisieren.<br />

Demgegenüber steigen <strong>die</strong> tatsächlichen Emission<br />

von Kohlendioxyd weiter. Der Ausstoß wächst<br />

gegenwärtig auch in der Bundesrepublik. Wir sind<br />

derzeit eher auf dem weg zu 15 Tonnen als zu 2<br />

Tonnen pro Jahr und Person.<br />

Kurz, <strong>die</strong> globalen Bemühungen, den Ausstoß der<br />

Treibhausgase zu begrenzen, werden<br />

wahrscheinlich nur mäßigen Erfolg haben.<br />

Angesichts <strong>die</strong>ser Risiken wird unter Technik-<br />

Optimisten als Alter native zum herkömmlichen<br />

„Klimaschutz“ (Reduktion) an großflächige,<br />

technischen Möglichkeiten der Abmilderung des<br />

Klimawandels (etwa indem man <strong>die</strong><br />

Sonneneinstrahlung abmil dert oder Kohlendioxyd<br />

verstärkt im Meer ablagert) gedacht. Da <strong>die</strong>se<br />

Option, soweit man <strong>die</strong>s zur Zeit einschätzen kann,<br />

wohl kaum <strong>die</strong> erforderliche politische<br />

Unterstützung finden wird, kann eine in den<br />

kommenden Jahrzehnten tragfähige Klima politik<br />

nur heißen, dass man den Bemühungen um den<br />

„Klimaschutz“ in Forschung und in der Politik <strong>die</strong><br />

Komponenten Vorsorge und Anpassung als<br />

gewichtige Maßnahmen Hinzufügen muss.<br />

Aber warum wird <strong>die</strong> Strategie der Vorsorge in der<br />

Klimapolitik und in der Klimaforschung, d.h. das<br />

Nachdenken über eine Verminderung der Verletz -<br />

lichkeit der Gesellschaft, sowie ihrer Infrastruktur<br />

gegenüber den Folgen der Klima veränderung, in<br />

der Öffentlichkeit, aber auch in den Me<strong>die</strong>n und in<br />

der Politik weitgehend tabuisiert?<br />

Der amerikanische Oscar-Preisträger, ehemalige<br />

Vizepräsident und jetzt Friedensnobelpreisträger Al<br />

Gore machte schon vor fünfzehn Jahren kein Hehl<br />

aus seiner kompromisslosen Ablehnung einer<br />

Klimapolitik, <strong>die</strong> auf Anpassungsstrategien<br />

ausgerichtet ist. Eine solche Einstellung ist für Gore<br />

allenfalls Ausdruck einer intellektuellen und<br />

politischen Faulheit, schlimmer noch, eines<br />

„arroganten Glaubens an unsere Fähigkeit, unsere<br />

Haut doch noch zum richtigen Zeitpunkt zu<br />

retten”. <strong>Die</strong>se Überzeugung hat Gore erst jüngst in<br />

einer Diskussion seines Films „Eine unbequeme<br />

Wahrheit“ an der Columbia University in New York<br />

wiederholt. Wir müssen uns auf Minderung<br />

konzentrieren, so seine knallharte Forderung an <strong>die</strong><br />

Wissenschaft, <strong>die</strong> Politik und <strong>die</strong> Gesellschaft.<br />

Al Gores Überzeugung ist ein mehr oder weniger<br />

deutliches Echo einer einst sowohl im Alltag als<br />

auch in der Wissenschaft verbreiten klima determi -<br />

nistischen Anschauung. <strong>Die</strong> Natur - und hier<br />

insbesondere das Klima - seien auf Grund ihrer<br />

Thema<br />

einmaligen Macht und Einfluss auf das mensch -<br />

liche Leben für eine Unzahl von gesellschaftlichen<br />

Prozessen und regionalen Besonderheiten der<br />

Menschen verantwortlich. Das Klima sei eine<br />

Schicksalsmacht, Erfolge und vergebliches<br />

Bemühen ganzer Zivilisationen daher klima -<br />

gesteuert. Mit anderen Worten, man könne dem<br />

Einfluss des Klimas nicht entrinnen. Wenn man<br />

sich <strong>die</strong>se Sichtweise zu eigen macht, dann ist jeder<br />

Klimawandel, ob menschengemacht oder<br />

natürlich, ein Angriff auf <strong>die</strong> Grundlagen jeder<br />

Gesellschaft.<br />

Wissenschaftler und Philosophen haben bis vor<br />

nicht allzu langer Zeit <strong>die</strong>se nachhaltigen<br />

Wirkungen des Klimas auf <strong>die</strong> Entwicklung der<br />

Menschheit unterstrichen. Zwar ist der krude<br />

Klimadeterminismus in der Wissenschaft in<br />

Ungnade gefallen, was aber nicht heißen muss, dass<br />

<strong>die</strong>se Weltanschauung in der gegenwärtigen<br />

Diskussion abhanden gekommen ist. Insofern Gore<br />

und viele andere Beobachter des Klimawandels<br />

gegen Vorsorgemaßnahmen polemisieren, sind sie<br />

zumindest teilweise Opfer einer als überholt<br />

erkannten Denkschule, einer Ideologie.<br />

In <strong>die</strong>ser Denkschule grenzt es geradezu an Hybris,<br />

sich auszumalen, dass man dem Klima ein<br />

Schnippchen schlagen könne etwa durch technische<br />

Tricks, durch Vorsorgemassnahmen; Strategien<br />

<strong>die</strong>ser Art vermitteln also ein falsches Gefühl der<br />

Sicherheit. <strong>Die</strong> Anpassung an veränder liche<br />

klimatische Verhältnisse repräsentiert demnach <strong>die</strong><br />

alltägliche menschliche Hybris gegenüber der<br />

Macht der Natur. Wir denken, dass <strong>die</strong>se<br />

weltanschauliche Prämisse hinter der<br />

Bagatellisierung der Strategie der Anpassung und<br />

Vorsorge in der öffentlichen Diskussion um den<br />

Klimaschutz in der Wissenschaft, Politik und<br />

Gesellschaft steht. Es gibt aber weitere signifikante<br />

Gründe:<br />

Beginnen wir mit den Gründen, <strong>die</strong> sich der<br />

wissenschaftlichen Erforschung der Klima -<br />

veränderungen zurechnen lassen: <strong>Die</strong> bisherigen<br />

Bemühungen der Wissenschaft haben sich, auch<br />

angesichts der immer wiederkehrenden Zweifel, auf<br />

zwei Themen konzentriert: Erstens, es sollte<br />

bewiesen werden, dass es gegenwärtig – in<br />

historischen Dimensionen betrachtete – einmalige<br />

rapide globale Klimaveränderung gibt. Zweitens<br />

sollten Erkenntnisse gesammelt werden, <strong>die</strong><br />

unzweifelhaft beweisen, dass <strong>die</strong> beobachtete<br />

Veränderung des Klimas eine vom Menschen selbst<br />

verursachte Entwicklung ist. <strong>Die</strong>se Ziele hat <strong>die</strong><br />

junge Klimawissenschaft in wenigen Jahren<br />

realisiert, so dass man heute, wie <strong>die</strong> Berichte der<br />

IPCC zeigen, von einem umfassenden Konsens in<br />

der Klimawissenschaft sprechen kann. <strong>Die</strong> Klima -<br />

wissenschaft hat damit eine in ihrem eigenen<br />

Verständnis nach zentrale Funktion erfüllt: Es


Klimawandel<br />

wurde gezeigt, dass es einen menschengemachten<br />

Klimawandel gibt, und dass <strong>die</strong>ser sich derzeit<br />

entwickelt und in zukünftig auf absehbare Zeit<br />

stärker wird.<br />

Aus <strong>die</strong>sem Konsens der Klimawissenschaft<br />

ergeben sich aber keine unabdingbaren, evidenz -<br />

basierten Handlungsanweisungen – sehr zum<br />

Verdruss der Wissenschaft, aber auch der Politik<br />

und ihrem dominanten Verständnis der instru -<br />

mentellen Wirksamkeit ihrer Erkenntnisse. <strong>Die</strong><br />

Dynamik der Gesellschaft ist sehr viel komplexer als<br />

<strong>die</strong> des Klimas. <strong>Die</strong> Schwankungs zeiten und der<br />

Zeithorizonte der Natur korrespon<strong>die</strong>ren einfach<br />

nicht mit der Vielfalt der den Lebensabschnitten<br />

und Planungen der Gesellschaftsmitglieder. Der<br />

verhältnismäßig träge Zeithorizont der Klima -<br />

prozesse korrespon<strong>die</strong>rt zudem nicht mit dem der<br />

sehr viel kurzfristiger gedachten gesellschaftlichen<br />

Möglichkeiten und Randbedingungen.<br />

Daher ist jetzt eigentlich <strong>die</strong> Zeit gekommen für<br />

Fragen, was denn <strong>die</strong>ser Klimawandel in einer sich<br />

ohnehin radikal ändernden Welt bedeutet. Eine<br />

Frage an Wissenschaften jenseits der physikalisch<br />

orientierten Klimaforschung. Eine Frage auch an<br />

Klimawirkungsforscher, insbesondere auch an<br />

Sozialwissenschaftler, wie denn der globale<br />

Wandel, der ja weit mehr als Klimawandel ist, sich<br />

entwickeln kann, wieweit <strong>die</strong>s gesteuert oder<br />

befördert werden kann. <strong>Die</strong> bisherigen Vorschläge,<br />

<strong>die</strong> simplen Modelle der Klimaökonomen<br />

entspringen, versuchen, das Problem auf wenige<br />

existentielle Motive zu reduzieren, aber <strong>die</strong>s ist<br />

sicher zu naiv gedacht. Wir kennen <strong>die</strong> Zukunft<br />

gesellschaftlicher Verhältnisse vielleicht gerade in<br />

Umrissen – und mit den längerfristigen techno -<br />

logischen und politischen Verhältnissen ist es<br />

ähnlich – und aus <strong>die</strong>sen Konturen lassen sich<br />

keine definitiven Handlungsanweisungen ableiten.<br />

Der gesellschaftliche Stellenwert von Natur -<br />

wissen schaften und Technik sind ein wichti ger<br />

Grund, warum <strong>die</strong> Gesellschafts wissen schaften sich<br />

sperren, <strong>die</strong> Herausforderung „Klimawandel in<br />

einer sich wandelnden Welt“ aufzunehmen.<br />

Solange <strong>die</strong> Menschen wissenschaf ten (Norbert<br />

Elias) ihren bisherigen unter geord neten Status in<br />

der Gesellschaft behalten und ihr Einfluss<br />

systematisch unterschätzt wird, wird <strong>die</strong> Kompe -<br />

tenz zur Lösung der Klimaproblematik vor allem als<br />

eine naturwissenschaftlich-technische Antwort<br />

verstanden. Wir müssen uns darauf konzentrieren,<br />

so lautet eine <strong>die</strong>ser häufigen Antworten, über kurz<br />

oder lang radikal neue Energiequellen zu finden.<br />

Wie <strong>die</strong>se Bemühungen unsere existenziellen<br />

Grundlagen jetzt und in den kommenden Jahr -<br />

zehnten vor den sicheren Gefahren des jetzigen<br />

und vermutlich verschärften Gefahren eines<br />

zukünf ti gen Klimas schützen können, wird einfach<br />

verdrängt.<br />

ESA - AOES Medialab<br />

Einer, der alles sehen soll: Cryosat (Zeichnung)<br />

(Fehlstart Oktober 2005, nächster Start geplant für Anfang 2009)<br />

Das mangelnde Ansehen der Menschen wissen -<br />

schaften in der Gesellschaft und das parallel<br />

besonders ausgeprägte Selbstverständnis der Naturund<br />

Technikwissenschaften reduziert <strong>die</strong> Klima -<br />

problematik auf ein rein wissenschaftlichtechnisches<br />

Problem. <strong>Die</strong> Naturwissenschaften<br />

bieten auf dem Markt des öffentlichen Wissens ihre<br />

Diagnose an und sind davon befangen, dass <strong>die</strong>se<br />

Zustandsbeschreibung ganz präzise eine bestimmte<br />

Therapie erzwingt. Der Weg von der Erkenntnis zu<br />

den Handlungsmöglichkeiten ist danach eindeutig,<br />

linear und zwingend. Dass in <strong>die</strong>sem Zusammen -<br />

hang <strong>die</strong> Begrifflichkeit der Medizin, von der<br />

Amnesie direkt zur heilenden Therapie, eine<br />

hervorstechende Rolle spielt, überrascht nicht.<br />

Das besondere Ansehen der Naturwissenschaften<br />

und der Technik hat weiter zur Folge, dass <strong>die</strong><br />

Fehlschläge der von öffentlich sichtbaren Klima -<br />

forschern als zwingend angebotenen Therapie, <strong>die</strong><br />

mangelnde Resonanz des Wilderns in fremden<br />

Erkenntnisfeldern, als bedauerliche Zurück -<br />

gebliebenheit des Verstandes oder als pure<br />

Selbstsucht der Politik und der Gesellschaft<br />

angeprangert werden. Sollte weiter nicht auf den<br />

zwingenden Rat werden, dann ist <strong>die</strong>se<br />

Selbstsucht, so scheint es bisweilen, durch eine<br />

Eskalation der angenommenen Gefahrenmomente<br />

zu therapieren.<br />

Wir brauchen eine Umorientierung vom Vorrang<br />

der Natur- und Technikwissenschaften hin zu einer<br />

gesellschaftlich orientierten sozialen Kli ma wis -<br />

senschaft und der politischen Einsicht in das<br />

Machbare. Das Machbare ist eine gewisse<br />

Beschränkung der Freisetzung klimaschädlicher<br />

Treibhausgase, aber vor allem auch der Schutz der<br />

Gesellschaft vor einem sich rapide verändernden<br />

Klima.<br />

Nächste Doppelseite: Ein Bulldozer verteilt Petrolkoks im Gelände, Texas City, Texas (Foto: Henry Fair)<br />

33


34<br />

Bio-Energie<br />

<strong>Die</strong> Hoffnung ist grün<br />

Biokraftstoffe befinden sich gerade auf einer Achterbahnfahrt: vom vermeintlichen Klimaretter zum Buhmann des Jahres. Sie<br />

binden aber auch Aufmerksamkeit, und das verschleiert uns den Blick, so dass wir <strong>die</strong> Potenziale, <strong>die</strong> der Energie aus nachwachsenden<br />

Rohstoffen insgesamt innewohnen, kaum noch wahrnehmen. Was ist los auf dem Jahrmarkt der Bioenergien? Ein Überblick.<br />

Spätestens seit der Klimaschutz in aller<br />

Munde ist, erfahren nachwachsende Rohstoffe als<br />

Energielieferanten wachsende Aufmerksamkeit. <strong>Die</strong><br />

Idee, mit Pflanzen fossile Brennstoffe zu ersetzen,<br />

wirkt auf den <strong>ersten</strong> Blick bedingungslos überzeu -<br />

gend. Denn sie setzen in den Kraftwerken, Mo to ren<br />

und Heizungen lediglich <strong>die</strong> Menge Koh lendioxid<br />

(CO 2 ) frei, <strong>die</strong> sie der Luft zuvor entnommen haben.<br />

Und sie verringern <strong>die</strong> Abhängigkeit von den<br />

schrumpfenden Erdölreserven. Einen regelrechten<br />

Boom haben daher <strong>die</strong> Biotreibstoffe erfahren,<br />

versprachen sie der Verkehrsbranche ein Weiter-so<br />

mit deutlich weniger Nebenwirkungen als bisher.<br />

Und alle schienen zu profitieren: das Klima, <strong>die</strong><br />

Erdöl importierenden Staaten, <strong>die</strong> Bauern des<br />

Südens und des Nordens. Aber seit einigen Monaten<br />

müssen <strong>die</strong> jüngst noch als Retter begrüßten<br />

Biokraftstoffe als „Der grüne Tod“ oder „Klima -<br />

killer vom Acker“ massiv Prügel einstecken. Eine<br />

derart schnelle Degra<strong>die</strong>rung hat noch kaum ein<br />

ökologischer Hoffnungsträger erfahren.<br />

<strong>Die</strong> teils hysterische Kritik an den Biokraftstoffen<br />

lenkt den Blick auf <strong>die</strong> zahlreichen ökologischen<br />

und sozialen Risiken, <strong>die</strong> mit dem sich auswei -<br />

tenden und intensivierenden Anbau der nachwach -<br />

senden Rohstoffe einhergehen. Es sind alte<br />

Bekannte einer Landnutzung, <strong>die</strong> auf ihrem<br />

ökologischen Auge weitgehend blind ist und das<br />

soziale bewusst verschließt. Kennzeichen <strong>die</strong>ser<br />

Nutzung: <strong>die</strong> Zerstörung natürlicher Wälder,<br />

Moore und Grasländer, <strong>die</strong> Bodenerosion, der<br />

exzessive Wasserverbrauch und ein intensiver<br />

Dünger- und Pestizideinsatz. Nicht selten werden<br />

Ureinwohner oder Kleinbauern vertrieben; von den<br />

Verlusten der Biodiversität ganz zu schweigen.<br />

Dabei könnte <strong>die</strong> Bio-Energie sowohl aus ökolo gi -<br />

scher wie auch sozialer Sicht ein Paradebeispiel der<br />

Nachhaltigkeit sein: Sie setzt auf nachwachsende<br />

Rohstoffe und stärkt <strong>die</strong> regionale Wirtschaft. <strong>Die</strong><br />

katastrophalen Nebenwirkungen der Ölförderung<br />

treten hier gar nicht erst auf, und ausgetretener<br />

Bio<strong>die</strong>sel etwa ist für Gewässer oder Böden ungleich<br />

weniger umweltbelastend als herkömmlicher<br />

Von Torsten Mertz<br />

Thema<br />

<strong>Die</strong>sel. <strong>Die</strong> Energieproduktion aus Pflanzenmasse<br />

kennt zudem keine Abfälle, da alle Nebenprodukte<br />

als Viehfutter, als Dünger oder in der chemischen<br />

Industrie Verwendung finden.<br />

Das aktuelle schlechte Image hat <strong>die</strong><br />

Bioenergie vor allem dem Versagen der Biokraftstoffe in<br />

der Königsdisziplin zu verdanken: ihremBeitrag zum<br />

Klima schutz. <strong>Die</strong> maschinen- und düngeintensive<br />

Landwirt schaft, der Transport und <strong>die</strong> Verarbeitung der<br />

Rohstoffeverbrauchen einen erheblichen Teil der<br />

Energie, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Pflanzen selbst liefern. Hinzu kommt,<br />

dass als Folge der Stickstoffdüngungden Böden und<br />

Gewässern Treib hausgase entweichen. Lachgas (N 2 O)<br />

beispielsweise ist ein sehr starkes Klimagas - rund 300-mal<br />

klimawirksamer als CO 2 . Nach Berechnungen des<br />

Umweltbundesamtes ist daher beispielsweise Raps<strong>die</strong>sel<br />

nicht klimaneutral, sondernallenfalls zwischen 20 bis 80<br />

Prozent weniger klimabelastend. <strong>Die</strong> große Spanne<br />

resultiert einerseits aus unterschiedlichenenergetischen<br />

Nutzungsmöglichkeiten der anfallenden<br />

Nebenprodukte (ohne Betrachtung der Nebenprodukte<br />

wäre <strong>die</strong> Bio<strong>die</strong>sel-Bilanzerheblich schlechter); aber vor<br />

allem auch aus der großen Unsicher heit, wie viel N 2 O als<br />

Folge der Stickstoffdüngung frei wird.Internationale<br />

Wissenschaftler um den Chemie-Nobel preisträger Paul<br />

Crutzen haben sich jüngst getraut zu folgern, dass Biosprit<br />

garklimaschädlicher sei als seine Pendants aus Erdöl.<br />

Demzufolge setze Raps<strong>die</strong>sel 1,7-mal, Ethanol aus Mais<br />

1,5-mal so vieleTreibhausgase frei wie konventionelle<br />

Treibstoffe. Eine wahrlich vernichtende Bilanz!<br />

Aber Bioenergie ist weit mehr als Biotreibstoff – in<br />

ihrer Vielfalt liegt ihre Stärke: Je nach Rohstoff und<br />

Aufbereitung lässt sich aus Biomasse Festbrennstoff,<br />

Pflanzenöl, Biogas oder Biotreibstoff herstellen. Als<br />

Rohstoffe kommen zum einen Rückstände wie<br />

Restholz, Stroh oder organische Abfälle aus Land -<br />

wirt schaft, Industrie und Gewerbe infrage; zum<br />

anderen eigens zu <strong>die</strong>sem Zweck angebaute Energie -<br />

pflanzen, zum Beispiel Raps, Sonnenblumen,<br />

Zuckerrohr und -rüben, Soja und Ölpalmen sowie<br />

Getreide wie Mais oder Weizen.


Klimawandel<br />

Um Biomasse energetisch nutzen zu können,<br />

muss sie aufbereitet werden. Je nach Ausgangs -<br />

material und Endnutzung wird sie gehäckselt,<br />

gepresst, vergärt, vergast oder chemisch umgewan -<br />

delt (veresthert). Dann kann <strong>die</strong> Biomasse ihre<br />

Vorzüge ausspielen: Da sie sowohl als fester,<br />

flüssiger und gasförmiger Energieträger auftritt,<br />

lässt sie im Gegensatz zu anderen regenerativen<br />

Energien für alle Nutzungsformen (Wärme, Strom<br />

und Kraftstoffe) einsetzen. Und – das ist min -<br />

destens so entscheidend – sie ist gut lagerfähig, steht<br />

also zeitlich und räumlich flexibel zur Verfügung.<br />

Unter den heutigen Bedingungen ist das<br />

energetische Potenzial der Biomasse allerdings be -<br />

grenzt, wenngleich sie mit einem Anteil von etwa 70<br />

Prozent in Deutschland zur Zeit alle anderen<br />

regenerativen Energieträger in den Schatten stellt.<br />

Der Sachverständigenrat für Umweltfragen sieht<br />

den Biomasseanteil am Primärenergiebedarf bei<br />

maximal zehn Prozent bis zum Jahre 2030: „<strong>Die</strong> an -<br />

spruchsvollen politischen Ziele sind also allein mit<br />

in der Bundesrepublik Deutschland erzeugter<br />

Biomasse nicht zu erreichen“. Schon heutet zeigt<br />

sich, dass <strong>die</strong> vor allem der Pflanzensprit an seine<br />

Grenzen stößt: <strong>Die</strong> Hersteller leiden weltweit unter<br />

Überkapazitäten ihrer Anlagen und unter den<br />

hohen Rohstoffpreisen. <strong>Die</strong> Europäische Union<br />

reagierte sofort und gestattete den Bauern fortan<br />

wieder, Getreide auf bislang stillgelegten Äckern<br />

anzubauen. Jahrelang gab es für zehn Prozent der<br />

europäischen Ackerfläche eine Stilllegungsprämie,<br />

um das Überangebot an Getreide einzudämmen.<br />

Und plötzlich ist alles anders: von Überschüssen<br />

keine Spur mehr, und das Konjunktur- und Investi -<br />

tionsbarometer Agrar des Deutschen Bauern -<br />

verbandes steht so gut wie schon lange nicht mehr.<br />

Neben den schlechten Ernten in einigen großen<br />

Ländern treibt vor allem <strong>die</strong> Nachfrage <strong>die</strong> Preise:<br />

Der wachsende Appetit der Menschen in den<br />

Schwellenländern nach Fleisch und Milch produk -<br />

ten und der steigende Bedarf an Energie vom Acker.<br />

<strong>Die</strong> steigenden Preise machen bereits heute <strong>die</strong><br />

Konkurrenz deutlich, in <strong>die</strong> <strong>die</strong> Pflanzenenergie mit<br />

der Ernährung tritt. <strong>Die</strong> welt weite Ackerfläche ist<br />

begrenzt, während <strong>die</strong> Menschheit munter weiter<br />

wächst und ihr Konsum verhalten ändert.<br />

Wie am Auslaufen der Flächenstilllegung deutlich<br />

wird, steht <strong>die</strong> Agrarlandschaft unter einem ganz<br />

neuen Intensivierungsdruck: Wo man hinsieht,<br />

verdrängen Raps und Mais weniger umweltgefähr -<br />

dende Arten. Dennoch vermögen <strong>die</strong> beschränkten<br />

Ackerflächen in Deutschland nur einige wenige<br />

Prozent der heimischen <strong>Die</strong>selmenge bereitstellen.<br />

Daher greift Europa bereits heute massiv auf Im por -<br />

te zurück, und trotzdem ist das europäische Ziel,<br />

den Kraftstoffen bis 2010 mindestens 5,75-Prozent<br />

Biosprit beizumischen, noch lange nicht erreicht.<br />

Pflanzenöle sind auf dem Weltmarkt billiger zu<br />

beziehen als aus europäischer Landwirtschaft. Das<br />

Gleiche gilt für <strong>die</strong> Benzin-Alternative Ethanol,<br />

deren einheimische Produktion aus Zuckerrüben<br />

sich mit der aus südamerikanischem Zuckerrohr<br />

messen muss. Auf <strong>die</strong>se Weise dehnen wir unseren<br />

ökologischen Fußabdruck weiter auf <strong>die</strong> Länder des<br />

Südens aus: Für Palmöl, Sojabohnen, Mais und<br />

Zuckerrohr verschwinden Jahr für Jahr Millionen<br />

Hektar Urwälder, Savannen und Moore. Das<br />

Kohlendioxid, das durch <strong>die</strong> (Brand-)Rodungen<br />

und <strong>die</strong> Landnutzungsänderungen aus der<br />

Vegetation und den Böden in <strong>die</strong> Atmosphäre<br />

gelangt, wiegt <strong>die</strong> CO 2 -Einsparungen in den<br />

Motoren und Kraftwerken zumeist wieder auf.<br />

Besonders katastrophal ist <strong>die</strong> Klimabilanz bei den<br />

Palmölplantagen Südostasiens, <strong>die</strong> dort entstehen,<br />

wo zuvor tropische Moorwälder standen: Während<br />

eine Tonne Bioöl rund 2,2 Tonnen CO 2 aus Erdöl<br />

einspart, ist sie zugleich für 10 bis 30 Tonnen des<br />

Klimagases aus der Moorvernichtung<br />

verantwortlich.<br />

In seltener Einmütigkeit haben der<br />

deutsche Umwelt minister Sigmar Gabriel und<br />

Landwirtschafts minister Horst Seehofer <strong>die</strong><br />

Gefahren erkannt: „<strong>Die</strong> Vorteile der Bioenergie<br />

wie etwa der Beitrag zum Klima schutz dürfen<br />

nicht mit dem Preis von Umweltschäden bei der<br />

Erzeugung erkauft werden“, sagte Seehofer. Und<br />

Sigmar Gabriel unterstrich: „Es ist völlig in -<br />

akzeptabel, dass der tropische Regenwald<br />

großflächig gerodet wird, um billiges Palmöl zu<br />

erzeugen, das dann bei uns genutzt wird. So<br />

können wir unsere Klimabilanz zwar um ein paar<br />

Punkte verbessern, der Schaden für das Klima<br />

insgesamt ist aber im mens.“ <strong>Die</strong> Bundesregierung<br />

plant daher, <strong>die</strong> Steuervorteile für Biokraftstoffe<br />

an den Nachweis zu koppeln, dass <strong>die</strong>se durch<br />

nachhaltige Bewirtschaftung erzeugt werden. Ein<br />

Vorschlag für ein Zertifizierungssystem wollte sie<br />

bereits im Frühjahr 2007 vorstellen.<br />

Entwicklungshilfeorganisationen führen vor<br />

allem <strong>die</strong> Flächenkonkurrenz mit der Nahrungs -<br />

mittel pro duktion als Warnung an. Nicht erst seit<br />

<strong>die</strong> Getreide preise stei gen, lösen Slogans wie<br />

„Heizen mit Weizen“ eher spontane Abwehr<br />

als Begeis terung für neue Wärme konzepte aus.<br />

Und in der Tat schwin det dort, wo Biokraftstoffe<br />

angebaut werden, <strong>die</strong> Anbaufläche für Nah -<br />

rungsmittel. „Seit fast alles, was essbar ist, zu Treib -<br />

stoff verarbeitet werden kann“, wie es Lester<br />

Brown, Präsident des Earth Policy Institute in<br />

Washington, in Spiegel Special ausdrückte,<br />

verschwimmen also <strong>die</strong> Gren zen zwischen der<br />

Nahrungs mittel- und der Energieindustrie.<br />

Letztlich hänge es nur vom Ölpreis ab, ob <strong>die</strong><br />

nach wachsenden Rohstoffe zu Nahrungs mitteln<br />

oder zu Treibstoff verarbeitet werden, meint<br />

Brown. Für Stefan Tangermann, den OECD-<br />

35


36<br />

Direktor für Handel und Landwirtschaft, sind <strong>die</strong><br />

Folgen von mehr Mais im Tank mehr Hungernde<br />

in Entwick lungsländern.<br />

Aber ganz so einfach ist es auch wieder<br />

nicht: Wie Jürgen Trittin jüngst in der politischen<br />

ökologie treffend feststellte, sind akuter Hunger und<br />

Armut nicht unbedingt Folgen mangelnder<br />

Nahrungsmittelproduktion, sondern Resultat eines<br />

Verteilungsproblems. Somit müsse der Anbau von<br />

Energiepflanzen auch nicht zwangsläufig <strong>die</strong> Ver -<br />

sor gung beeinträchtigen. Vielmehr gingen Armut<br />

und Unterversorgung teilweise auf <strong>die</strong> landwirt -<br />

schaftliche Überproduktion der EU und der USA<br />

zurück: „Der Export hoch subventio nierter<br />

Lebensmittel in Entwicklungsländer zerstört <strong>die</strong><br />

einheimische Produktion“, erläutert Trittin. So<br />

gesehen müs se es also gar nicht von Nachteil sein,<br />

wenn <strong>die</strong> bis herigen landwirtschaftlichen Über -<br />

schüsse des Nor dens in <strong>die</strong> Tanks wanderten und<br />

steigende Rohstoffpreise den Bauern des Südens<br />

endlich wieder ein ausreichendes Einkommen<br />

bescherten. Wie aber eine arme städtische und <strong>die</strong><br />

marginalisierte ländliche Bevölkerung mit den<br />

steigenden Lebensmittelpreisen umgehen soll,<br />

erklärt der Ex-Umweltminister leider nicht.<br />

Tatsächlich zeigen <strong>die</strong> nachwachsenden Energie -<br />

träger einen Weg zu mehr Nachhaltigkeit und<br />

sozialer Gerechtigkeit auf: Pflanzen wie etwa <strong>die</strong><br />

tropische Ölnuss Jatropha lassen sich dezentral und<br />

ohne große Investitionen anbauen und nutzen,<br />

schützen vor Erosion und können so für viele<br />

Regio nen des Südens einen Weg aus der Armut<br />

darstellen. Vor allem denen, <strong>die</strong> bisher nicht an eine<br />

Energie-Infrastruktur angebunden sind oder sich<br />

Thema<br />

Energie-Im por te schlicht nicht leisten können,<br />

bieten nachwachsende Energien reelle Chancen.<br />

Jatropha etwa tritt nicht in Konkurrenz zur<br />

Nahrungsmittelproduktion oder zu intakten<br />

Ökosystemen. Das Öl ihrer haselnussgroßen<br />

Samen eignet sich unter anderem als Brennstoff für<br />

Lampen und Herde sowie als Treibstoff für<br />

Generatoren, Landmaschinen und Kraftfahrzeuge.<br />

Über den recht einfachen chemischem Vorgang der<br />

Verestherung lässt sich daraus auch Bio<strong>die</strong>sel<br />

herstellen. Nicht nur kleine dörfliche Entwick -<br />

lungs hilfeprojekte setzen auf Ja tropha. Einige<br />

Entwicklungs- und Schwellenländer widmen der<br />

Ölpflanze gar nationale Entwicklungspläne. Der<br />

Trend, der sich hier andeutet, entwickelt sich zum<br />

Test, ob <strong>die</strong> Kleinbauern des Südens tatsächlich<br />

vom Bioenergieboom profitieren können. <strong>Die</strong>s<br />

gelingt nur, wenn sie in ausreichendem Maße an der<br />

Wertschöpfung beteiligt werden. Und das<br />

wiederum wird voraussichtlich in den wenigsten<br />

Entwicklungsländern der Welt der Fall sein.<br />

Aus welcher Region und von welcher<br />

Pflanze auch immer <strong>die</strong> Bioenergie stammt, als<br />

Treibstoff für Kraftfahrzeuge ist ihre Nutzung am<br />

wenigsten effektiv. <strong>Die</strong> Nutzung biogener Brenn -<br />

stoffe im mobilen Bereich spart deutlich weniger<br />

CO 2 ein, als beispielsweise ihr Einsatz in effizienten<br />

Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen. Hier kommt<br />

Biogas ins Spiel, das einige der Probleme umgeht,<br />

<strong>die</strong> den Biokraftstoffen ein solch schlechtes Image<br />

bereiten. Während für Bio<strong>die</strong>sel und Ethanol nur<br />

ein Teil der Pflanze in nutzbare Energie übergeht,<br />

vergären Biogasanlagen <strong>die</strong> gesamte Biomasse zu<br />

methanhaltigem Gas, das dem Erdgas ähnelt. Alle<br />

Der kommende Öko-Energiehof:<br />

ganz rechts das Maschinenhaus, in der Mitte der isolierte Gärbehälter (Fermenter), links der Nachgärbehälter mit Gasspeicher-Haube.<br />

www.hofgut-holland.de


k.A.; www.ethanol-statt-benzin.de<br />

Klimawandel<br />

pflanzlichen Produkte sind dafür geeignet, nur zu<br />

holzig dürfen sie nicht sein: Grasschnitt, Silage<br />

(Gärfutter) oder Energiepflanzen. Biogas lässt sich<br />

darüber hin aus aus Gülle oder Festmist oder aus<br />

organischen Reststoffen aus der Landwirtschaft<br />

und der Lebensmittelindustrie gewinnen. Das<br />

wichtigste Argument für Biogas sind <strong>die</strong> Stoff -<br />

kreisläufe: Alle wichtigen Nährstoffe verbleiben bei<br />

der Vergärung im Restsubstrat, das anschließend<br />

wieder auf <strong>die</strong> Felder ausgebracht werden kann.<br />

Bisher wird landwirtschaftlich erzeugtes Biogas<br />

überwiegend in dezentralen Blockheizkraftwerken<br />

zu Strom und Wärme umgewandelt. Durch <strong>die</strong><br />

dezentrale Biogasgewinnung in landwirtschaft -<br />

lichen Betrieben verbleibt <strong>die</strong> Wertschöpfung<br />

weitgehend bei den Bauern. In der Chance für<br />

ländliche Regionen liegt aber zugleich auch ihre<br />

Grenze: Für <strong>die</strong> dabei anfallende Wärme finden sich<br />

in Hofnähe meist keine Abnehmer. So ist es<br />

sinnvoll, das Gas ins Erdgasnetz einzuspeisen und<br />

dorthin zu leiten, wo am meisten Strom und<br />

Wärme gebraucht werden – in <strong>die</strong> Städte. Seit<br />

Dezember 2006 fließt in Pliening bei München<br />

und in Straelen am Niederrhein das erste Biogas ins<br />

deutsche Gasnetz. Zwar sind Länder wie etwa<br />

Schweden oder <strong>die</strong> Schweiz Deutschland um einige<br />

Jahre voraus, aber <strong>die</strong> deutschen Versorger rüsten<br />

auf: Anfang 2007 gründete der Energieriese Eon<br />

eine Bioerdgas GmbH und glaubt, in wenigen<br />

Jahren Biogas in Erdgasqualität zu weltmarkt -<br />

fähigen Preisen herstellen zu können. Mit dem<br />

Einstieg der Konzerne in das Biogasgeschäft geht<br />

allerdings ein Stück des Charmes verloren: Es ist<br />

gerade der Vorteil der regional hergestellten<br />

Energie, dass regionale Biogasnetze in der Hand der<br />

Stadtwerke, Kommunen oder Produzenten <strong>die</strong>sen<br />

Unabhängigkeit von den großen Versorgern<br />

ermöglicht.<br />

Beim Privatkundengeschäft mit Biogas hat ein<br />

kleiner Anbieter aus Hamburg <strong>die</strong> Nase vorn:<br />

Erstmals seit September 2007 können End -<br />

verbraucher Biogas direkt über das Gasnetz<br />

beziehen. In fünf nördlichen Bundesländern bietet<br />

der Ökoenergievertreiber Lichtblick einen Mix aus<br />

Erd- und Biogas an. In den kommenden Monaten<br />

soll das Versorgungsgebiet auf weitere Bundes -<br />

länder ausgeweitet werden und nach Möglichkeit<br />

im kommenden Jahr ganz Deutschland abdecken.<br />

Zurzeit sei noch nicht ausreichend Biogas verfüg -<br />

bar, um den Bioanteil auf über fünf Prozent zu<br />

erhöhen. Geht es nach dem Institut für Energetik<br />

und Umwelt in Leipzig muss das nicht so bleiben:<br />

Bis 2020 könne der Erdgasverbrauch Gesamt-<br />

Europas bis hin zum Ural – „bei entsprechender<br />

Effizienzsteigerung“ – vollständig durch Biogas aus<br />

der Landwirtschaft ersetzt werden. Und das bei<br />

vollständiger Nahrungsmittelselbstversorgung,<br />

betont <strong>die</strong> Stu<strong>die</strong> „Möglichkeiten einer euro pä -<br />

ischen Biogaseinspeisungsstrategie“. Wenn das<br />

Biogaspotenzial in Europa ausgenutzt werde, ließen<br />

sich bis 2020 <strong>die</strong> CO 2 -Emissionen um zehn Prozent<br />

senken. Woher das Gas käme? Vornehmlich aus<br />

Osteuropa. Dort sollten sich <strong>die</strong> Bauern entlang der<br />

bereits bestehenden Erdgaspipelines auf Biomethan<br />

umstellen und das Gas in das Netz einspeisen. <strong>Die</strong> -<br />

sen Optimismus kann sonst aller dings niemand<br />

teilen. So kalkuliert etwa das Wuppertal Institut für<br />

Umwelt, Energie, Klima, dass Biogas 2030 lediglich<br />

rund zehn Prozent des heutigen deutschen<br />

Gasverbrauchs decken könnte.<br />

Konkurrenz um <strong>die</strong> Rohstoffe wird dem Biogas<br />

zukünftig verstärkt <strong>die</strong> sogenannte zweite<br />

Generationen der Biokraftstoffe machen: Mit dem<br />

Biomass-to-Liquid-Verfahren (BtL) lässt sich aus<br />

jedem kohlenstoffhaltigen Rohmaterial, also jedem<br />

Teil einer Pflanze, synthetischer Biosprit herstellen.<br />

In einem relativ aufwändigen Prozess entsteht über<br />

eine Reihe von Zwischenschritten (Vergasung und<br />

Verflüssigung) „SynFuel“, dessen Kraftstoff -<br />

eigenschaften sich bedarfsgerecht „designen“<br />

lassen, in Richtung Benzin oder <strong>Die</strong>sel etwa. Für <strong>die</strong><br />

Automobilindustrie ist synthetischer Kraftstoff<br />

ausgesprochen interessant: Er kann über <strong>die</strong><br />

vorhandene Tank infrastruktur in allen vorhan -<br />

Eigentlich waren wir schon mal so weit: damals ein Kadett mit Holzvergaser, heute ein Renault mit Ethanol<br />

37


40<br />

denen Verbrennungsmotoren eingesetzt werden.<br />

Seine kurzfristigen Vorteile werden allerdings<br />

überschätzt: <strong>Die</strong> Produktion befindet sich noch im<br />

Versuchsstadium, mit nennenswerten Mengen ist<br />

also vorerst nicht zu rechnen. Darüber, ob <strong>die</strong><br />

Biokraftstoffe der zweiten Generation einen<br />

deutlichen Umweltvorteil gegenüber fossilen<br />

Kraftstoffen haben, besteht keinesfalls Einigkeit.<br />

Negativ zu Buche schlagen der hohe technische<br />

Aufwand und der große Energiebedarf bei der<br />

Herstellung.<br />

Während das Publikum des Energiejahrmarkts<br />

nun gespannt beobachtet, ob <strong>die</strong> Achterbahn <strong>die</strong><br />

Der Klimawandel ist Gewissheit<br />

Bioenergie wieder nach oben oder weiter hinab<br />

trägt, darf das eigentliche Problem nicht aus dem<br />

Blick geraten: Es wird versucht, <strong>die</strong> herrschenden<br />

energiezehrenden Wirtschafts- und Konsum -<br />

verhältnisse zu konservieren und nur kosmetisch an<br />

<strong>die</strong> Erfordernisse des Klimaschutzes anzupassen.<br />

<strong>Die</strong>ser Versuch wird scheitern. Nur ein anderer Weg<br />

führt zu ernsthaftem Umwelt- und Ressourcen -<br />

schutz führt: eine Kombi nation aus Effizienz -<br />

revolution und Energiesparen. Erst wenn der<br />

Energiekonsum deutlich gesunken ist, lässt sich ein<br />

wesentlicher Anteil aus nachwach senden<br />

Rohstoffen decken. Und auch erst dann kann<br />

Biosprit zu einer ernsthaften Option werden.<br />

Modelle, Szenarien und Prognosen<br />

Noch immer gibt es Menschen, <strong>die</strong> am Klimawandel zweifeln oder ihn als vielleicht doch nicht so bedrohlich ansehen. Gern berufen<br />

sich <strong>die</strong>se Skeptiker auf <strong>die</strong> Unsicherheit wissenschaftlicher Vorhersagen. Zu Unrecht.<br />

Der Klimawandel ist durch <strong>die</strong> Verlei -<br />

hung des Friedensnobelpreises an den ehemaligen<br />

Vizepräsidenten der USA Al Gore und an das IPCC<br />

ein Dauerbrenner in den Me<strong>die</strong>n. Damit erlangt<br />

<strong>die</strong>ses Thema eine ähnliche Präsenz im kollektiven<br />

Bewusstsein wie in den frühen 80er Jahren das<br />

„Waldsterben“. Als Ursache dafür können verschie -<br />

dene öffentlichkeitswirksame Ereignisse angesehen<br />

werden, zum Beispiel <strong>die</strong> Beratungen zum aktuellen<br />

Report des IPCC und <strong>die</strong> Veröffentlichung der<br />

jeweiligen Berichte, der G8-Gipfel in Heiligen -<br />

damm mit dem Klima schwerpunkt und nun <strong>die</strong><br />

Verleihung des Nobel preises. Darüber hinaus sind<br />

das Wetter und das Klima bei uns sowieso viel -<br />

diskutierte Themen, <strong>die</strong> jetzt im Zusammen hang<br />

mit möglichen zukünf tigen Katastrophen noch<br />

einen zusätzlichen Reiz erfahren.<br />

Aber was hat es auf sich mit dem Klimawandel<br />

und den Prognosen, <strong>die</strong> in den Me<strong>die</strong>n verbreitet<br />

werden? Was bedeuten <strong>die</strong> Begriffe Klimawandel,<br />

Modelle, Szenarien und Prognosen? Mit welcher<br />

Genauigkeit lassen sich heute Veränderungen des<br />

Klimasystems nachweisen, und wie ist der Einfluss<br />

des Menschen auf <strong>die</strong>ses System zu quantifizieren?<br />

In <strong>die</strong>sem Beitrag sollen <strong>die</strong> einzelnen Begriffe<br />

erläutert und in knapper Form ein Überblick über<br />

den aktuellen Stand der wissenschaftlichen<br />

Kenntnis des Klimawandels gegeben werden.<br />

Von Karl-Friedrich Wetzel<br />

Thema<br />

Klimawandel – was bedeutet das? Unter<br />

Klima wird in der Wissenschaft der mittlere Zu -<br />

stand der Atmosphäre über einen längeren Zeit -<br />

raum in einem Gebiet verstanden. Der längere<br />

Zeitraum ist dabei auf meistens 30-jährige Be ob -<br />

ach tungsperioden bezogen. Das Klima hat sich in<br />

der Vergangenheit nie als etwas Konstantes<br />

dargestellt, es unterlag seit dem Beginn atmos phä -<br />

rischer Prozesse auf unserem Planeten dramatischen<br />

Veränderungen. <strong>Die</strong> Eiszeiten der jüngeren<br />

Erdgeschichte sind dafür <strong>die</strong> besten Zeugnisse.<br />

Auch in historischer Zeit haben Klimaänderungen<br />

stattgefunden, wie <strong>die</strong> größere Ausdehnung des<br />

Weinbaus während des Mittelalters oder <strong>die</strong> tiefen<br />

Lagen der Gletscherzungen in den Alpen noch im<br />

19. Jahrhundert an zeigen. Der deutliche Rückgang<br />

der Gletscher in na he zu allen Gebirgen der Welt,<br />

<strong>die</strong> zunehmende Erwärmung der Meere, <strong>die</strong><br />

Verschiebung von Vegetationszonen und Anbau -<br />

grenzen zeigen unzweifelhaft an, dass es aktuell auf<br />

der Erde wärmer wird. Daran gibt es in der Wissen -<br />

schaft keinen Zweifel mehr; der Klima wandel ist<br />

Realität.<br />

<strong>Die</strong> große wissenschaftliche Herausforderung ist,<br />

zu verstehen, warum sich das Klima im Laufe der<br />

Erdgeschichte ständig verändert hat. Bei den<br />

Ursachen werden heute zwei große Gruppen<br />

unterschieden: <strong>die</strong> extraterrestrischen Faktoren, <strong>die</strong>


Klimawandel<br />

vor allem in veränderten solaren Einstrahlungs -<br />

verhältnissen begründet sind und <strong>die</strong> terrestrischen<br />

Faktoren. Als wirksame terrestrische Faktoren<br />

können <strong>die</strong> atmosphärische Zusammensetzung, <strong>die</strong><br />

Absorptionseigenschaften von Atmosphäre und<br />

Erdoberfläche für solare Strahlung und <strong>die</strong><br />

ozeanische Zirkulation sowie <strong>die</strong> Wechselwirkung<br />

<strong>die</strong>ser Teilsysteme angesehen werden. Auf<br />

verschiedene terrestrische Faktoren hat der Mensch<br />

einen erheblichen Einfluss genommen. Dazu<br />

zählen <strong>die</strong> chemische Zusammensetzung der Atmo -<br />

sphäre und <strong>die</strong> Veränderung der Landoberflächen<br />

durch den Menschen.<br />

<strong>Die</strong> Klimaforschung hat bei der Untersuchung der<br />

einzelnen klimawirksamen Prozesse das große<br />

Problem, dass sich <strong>die</strong> Prozesse auf zeitlichen und<br />

räumlichen Skalen bewegen, <strong>die</strong> eine Analyse im<br />

Labor nicht erlauben. Man ist daher auf Unter -<br />

suchungen von Messdaten mit statistischen<br />

Methoden angewiesen, wobei <strong>die</strong> Zeitreihen mit<br />

zunehmender Länge immer unsicherer werden.<br />

<strong>Die</strong>s ist einerseits durch unterschiedlich Mess -<br />

verfahren begründet, <strong>die</strong> in der Vergangenheit<br />

angewendet wurden. Andererseits reicht <strong>die</strong><br />

Instrumentenperiode gerade 150 bis 200 Jahre in<br />

<strong>die</strong> Vergangenheit zurück. Für davor liegende<br />

Zeiträume ist man auf sog. Proxidaten angewiesen,<br />

<strong>die</strong> sich aus anthropogenen Aufzeichnungen<br />

(Ernteberichte, Steueraufkommen, Hochwasser<br />

und anderen) und aus erdgeschichtlichen Archiven<br />

(etwa aus Baumringanalysen, Mooren, See -<br />

ablagerungen, Eiskernen) ergeben und in<br />

Klimasignale überführt werden können. Auch hier<br />

ist festzustellen, dass mit zunehmender Länge des<br />

betrachteten Zeitraums <strong>die</strong> Unsicherheiten immer<br />

größer werden.<br />

Neben den statistischen Untersuchun -<br />

gen werden Computermodelle verwendet, um das<br />

globale Klima in Form von Simulationen stu<strong>die</strong>ren<br />

zu können.<br />

<strong>Die</strong> aktuellen Klimamodelle basieren auf<br />

Gleichungs systemen, mit denen <strong>die</strong> Vorgänge im<br />

Klimasystem auf der Grundlage der Hauptsätze der<br />

Thermodynamik und des Massenerhalts<br />

beschrieben werden. Wichtig sind hierbei <strong>die</strong><br />

atmosphärischen Prozesse, <strong>die</strong> ozeanische Zirku -<br />

lation und <strong>die</strong> Kopplung <strong>die</strong>ser Prozesse mit denen<br />

der Festländer. Um <strong>die</strong> Strömungs- und Transport -<br />

prozesse räumlich abbilden und somit <strong>die</strong> klima -<br />

relevanten Parameter berechnen zu können, werden<br />

<strong>die</strong> Atmosphäre und <strong>die</strong> Erdoberfläche in ein drei -<br />

dimensionales Gitternetz eingeteilt. Dabei ent -<br />

stehen würfelähnliche Raumgebilde mit Kanten -<br />

längen von 100 bis 200 km und Mächtigkeiten von<br />

100 m bis 10 km in Abhängigkeit von der Höhe. Da<br />

<strong>die</strong> Prozesse in der bodennahen Grundschicht<br />

besonders wichtig für <strong>die</strong> Modellierung sind, wird<br />

hier eine höhere vertikale Auflösung als in den<br />

oberen Schichten der Atmosphäre benötigt. <strong>Die</strong><br />

Berechnung im Modell erfolgt dann in diskreten<br />

Zeitschritten von 3 bis 5 Minuten. Es ist nicht<br />

schwer, sich vorzustellen, dass bei einer so groben<br />

Abbildung des Klimasystems viele wichtige<br />

kleinräumige Prozesse in der Atmosphäre<br />

unberücksichtigt bleiben. <strong>Die</strong>s wird als das Problem<br />

der subskaligen Prozesse bezeichnet, das durch<br />

entsprechende empirisch gewonnene Daten und<br />

daraus abgeleitete Parameter gelöst wird. Genau<br />

hier ist jedoch ein gewisser Schwachpunkt der<br />

Klimamodelle zu sehen, da eine Parametrisierung<br />

der subskaligen Prozesse bislang nicht für alle<br />

Gebiete der Erde mit der gleichen Genauigkeit<br />

vorliegten. Trotz der Einschränkungen stehen der<br />

Klimaforschung mit den Modellen mächtige<br />

Werkzeuge zur Verfügung, <strong>die</strong> ein besseres<br />

Verständnis des globalen Klimasystems erlauben<br />

und mit deren Hilfe das Klima vergangener und<br />

zukünftiger Zeiträume rekonstruieren bzw.<br />

vorhergesagt werden kann.<br />

<strong>Die</strong> verschiedenen Klimamodelle der einzelnen<br />

Forschergruppen unterscheiden sich demnach vor<br />

allem in den Parametrisierungen und in der<br />

räumlich-zeitlichen Diskretisierung. Im IPCC-<br />

Bericht wird den Unterschieden der einzelnen<br />

Modelle dadurch Rechnung getragen, dass der<br />

Mittelwert der verschiedenen Modellrechnungen<br />

genommen und damit der Fehler einzelner Modelle<br />

minimiert wird.<br />

Alle Klimamodelle benötigen für <strong>die</strong><br />

Berechnungen Vorgaben über <strong>die</strong> Ausgangs- und<br />

Randbedingungen. Dazu gehören <strong>die</strong> Zusammen -<br />

setzung der Atmosphäre unter Berücksichtigung<br />

der Spurengaskonzentrationen mit den Treibhaus -<br />

gasen CO 2 und Methan, <strong>die</strong> zukünftige Entwick -<br />

lung der anthropogenen Emissionen und <strong>die</strong> zu<br />

erwartende Veränderung der Landnutzungs -<br />

systeme. <strong>Die</strong> Vorgaben, auf deren Basis <strong>die</strong> Modelle<br />

das zukünftige Klima errechnen, werden Szenarien<br />

genannt. Insgesamt liegen 40 verschiedene<br />

Emissionsszenarien vor, <strong>die</strong> sich auf vier grund -<br />

sätzliche Szenarienfamilien zurückführen lassen.<br />

Den Szenarienfamilien liegen jeweils unter -<br />

schiedliche Annahmen über <strong>die</strong> zu künftige<br />

demographische Entwicklung und <strong>die</strong> sich<br />

verändernden ökonomischen und technologischen<br />

Verhältnisse zugrunde. Beispielsweise wird bei der<br />

Szenarienfamilie A1 von einem raschen<br />

Wirtschafts wachstum und einer weiter stark<br />

steigenden Weltbevölkerung bis zum Ende des 21.<br />

Jahrhunderts ausgegangen. Darüber hinaus werden<br />

soziale, kulturelle und politische Spannungen<br />

durch Ausgleich und Schulung minimiert und<br />

gleichzeitig effizientere Technologien weltweit<br />

eingeführt. Für <strong>die</strong> Klimamodellierung ist der<br />

zukünftige Ausstoß von Treibhausgasen, der sich<br />

bei drei Unterszenarien der A1-Familie bei sonst<br />

41


gleicher Entwicklung unterscheidet, eine<br />

wesentliche Voraussetzung. Beim A1F-Szenario<br />

werden als Energieträger fossile Brennstoffe<br />

angenommen, dagegen werden im A1T-Szenario<br />

hauptsächlich regenerative Energien verwendet,<br />

und A1B liegt mit seiner Prognose genau<br />

dazwischen. <strong>Die</strong> A2-Szenarien gehen von einer<br />

weniger homogenen globalen Entwicklung aus,<br />

vielmehr prägen hier starke regionale Unterschiede<br />

das Gesicht der zukünftigen Welt. Bei einem eben -<br />

falls hohen Bevölkerungswachstum und einer zwar<br />

heterogenen, aber dennoch starken wirtschaft -<br />

lichen Entwicklung sind besonders ungünstige<br />

Entwicklungen der Treibhausgasemissionen zu<br />

erwarten.<br />

Eine besonders günstige Entwicklung der<br />

Treibhausgasemissionen resultiert bei den B1-Sze -<br />

na rien aus einer geänderten Wirtschaftsstruktur hin<br />

zu einer <strong>Die</strong>nstleistungsgesellschaft, wobei eine den<br />

A1-Szenarien ähnliche demographische Entwick -<br />

lung angenommen wird. <strong>Die</strong> B2-Szenarien können<br />

als eine Mischung aus A1- und B1-Szenarien<br />

angesehen werden. Welches Szenario hat nun <strong>die</strong><br />

höchste Eintrittswahrscheinlichkeit? <strong>Die</strong>se Frage<br />

kann nicht beantwortet werden, und <strong>die</strong> Autoren<br />

der Stu<strong>die</strong>n weisen ausdrücklich darauf hin, dass<br />

alle Szenarien gleiche Eintrittswahrscheinlichkeiten<br />

haben.<br />

Wie verlässlich kann nun mit Szenarien und<br />

Klimamodellen das zukünftige Klima vorgesagt<br />

<strong>Die</strong> Abweichungen der global gemittelten bodennahen Temperaturen für den Zeitraum von<br />

1900 bis 2100 gegenüber dem Mittelwert der Referenzperiode 1980 bis 1999 in Grad Celsius.<br />

<strong>Die</strong> Modellsimulationen für ausgewählte Szenarien sind farblich dargestellt, <strong>die</strong> grau hinterlegten<br />

Flächen verdeutlichen <strong>die</strong> Modellunsicherheiten. Mit den grauen Balken im rechten Teil der<br />

Abbildung werden <strong>die</strong> maximalen Wertebereiche der Temperaturzunahme für <strong>die</strong> wichtigsten<br />

Szenarien auf Basis aller Klimamodelle dargestellt .<br />

42<br />

Thema<br />

werden und wie bedeutend ist der anthropogene<br />

Anteil an der Klimaänderung?<br />

<strong>Die</strong> Klimamodelle stellen den aktuellen<br />

wissenschaftlichen Kenntnisstand des globalen<br />

Klimasystems dar. Dass <strong>die</strong> Modelle realistische<br />

Werte liefern, zeigen Rückberechnungen des<br />

Klimas der vergangenen 100 Jahre (Abb. unten).<br />

<strong>Die</strong> aufgetretenen Ab weichungen der Simulationen<br />

gegenüber den beobachteten Messwerten liegen bei<br />

den Temperaturen im Bereich von wenigen zehntel<br />

Graden. Daher kann davon ausgegangen werden,<br />

dass auch <strong>die</strong> zu erwartenden Änderungen im<br />

realistischen Rahmen errechnet werden können.<br />

Allerdings werden <strong>die</strong> schon angesprochenen<br />

Modellunsicherheiten von den Unsicherheiten der<br />

zugrundeliegenden Szenarien überlagert und<br />

ergeben einen nicht genau abzuschätzenden Pro -<br />

gno sefehler. Um <strong>die</strong>sen Fehler deutlich zu machen,<br />

werden vom IPCC <strong>die</strong> aus den einzelnen Modellen<br />

gemittelten Vorhersagen zu sammen mit dem<br />

Schwankungsbereich in der Größenordnung von ±<br />

einer Standardabweichung der einzelnen Modelle<br />

angegeben. Wie <strong>die</strong> Abbildung zeigt wird damit das<br />

Maß der Unsicherheit deutlich wiedergegeben. Für<br />

den aktuellen 4. Bericht des IPCC wird für das Jahr<br />

2100 als Mittelwert der Temperaturerhöhung<br />

(gegenüber der Referenz periode 1980 bis 1999)<br />

über alle Modelle und Szenarien ein Wert von 2,8<br />

Grad Celsius angegeben. Dabei<br />

reicht <strong>die</strong> Spanne vom B1-Szenario<br />

mit 1,1 Grad Celsius Erhöhung im<br />

minimalen Fall bis hin zu 6,4 Grad<br />

Celsius maximaler Erhöhung beim<br />

ungünstigen A1FI Szenario. Schließ -<br />

lich wird für den Vergleich ein „Null -<br />

sze nario“ angenommen, bei dem ein<br />

so fortiges Einfrieren aller Emissio -<br />

nen auf dem Ni veau des Jahres 2000<br />

angenommen wird. Selbst un ter<br />

<strong>die</strong>ser unrealis ti schen Annahme ist<br />

bis zum Jahr 2100 mit einer<br />

Zunahme der globalen Tem peratur<br />

um 0,6 Grad Celsius zu rechnen, da<br />

das globale Klimasystem nur träge<br />

auf <strong>die</strong> inzwischen ge änderte<br />

Strahlungsbilanz reagiert.<br />

Der anthropogene An teil an der<br />

Klimaänderung kann mit Hilfe der<br />

Klimamodelle geschätzt werden,<br />

indem Fak toren wie zum Beispiel <strong>die</strong><br />

Treibhausgase auf vorindustriellem<br />

Ni veau ge halten werden. Durch <strong>die</strong> -<br />

ses Vorgehen kann <strong>die</strong> globale Erwär -<br />

mung in ei nen natürlichen und in ei -<br />

nen an thropogen verursa chten<br />

Anteil zerlegt werden. Dabei zeigt<br />

sich, dass durch <strong>die</strong> steigenden<br />

Treibhausgasemissionen vor allem


Klimawandel<br />

<strong>die</strong> räumlichen Verteilungsmuster der Temperatur -<br />

zunahmen in den niederen Breiten zu einem hohen<br />

Anteil erklärt werden können. Der Einfluss der<br />

natürlichen Variabilität ist vor allem in den höheren<br />

Breiten und hier an den Kontinenträndern hoch.<br />

<strong>Die</strong>s sind jedoch auch Gebiete, in denen <strong>die</strong><br />

Modellunsicherheiten vergleichsweise groß sind.<br />

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der<br />

Klimawandel mit ansteigenden globalen Tempera -<br />

turen eine Realität ist. <strong>Die</strong>ser Klimawandel lässt<br />

sich mit den vorliegenden Klimamodellen rechne -<br />

risch simulieren. Auf der Basis von Emissions -<br />

szenarien, <strong>die</strong> eine unterschiedliche demogra -<br />

phische, technologische und soziale Entwicklung<br />

der Welt annehmen, können mit Modellen<br />

Prognosen des zukünftigen Klimas vorgenommen<br />

werden. Dabei ist nach dem Mittel aller Simu -<br />

Wissenschaft und Technik haben sich<br />

seit der Mitte des letzten Jahrhunderts enorm<br />

entwickelt. Es gibt nichts, was nicht erfasst,<br />

gemessen, berechnet und damit kontrolliert wird.<br />

Einen Problembereich jedoch gibt es, den anthro -<br />

po genen Klimawandel, bei dem, durch seine<br />

Komplexität bedingt, nur ansatzweise klar ist, wie<br />

Ursachen und Wechselwirkungen miteinander<br />

verflochten sind.<br />

Einerseits scheinen der Klimawandel und seine<br />

Auswirkungen klar vor Augen zu stehen, seit der<br />

jüngste Report der IPCC <strong>die</strong> Welt aufgerüttelt hat.<br />

Bei einer „Business as usual“-Haltung würden unter<br />

anderem Bangladesh, <strong>die</strong> Großräume Kalkutta und<br />

Shanghai sowie <strong>die</strong> Niederlande und Teile Floridas<br />

durch das teilweise Abschmelzen der Polkappen<br />

überflutet werden. Über 100 Millionen Menschen<br />

wären dann heimatlos und auf der Flucht. Schon<br />

heute ist durch eine Rekord-Eisschmelze <strong>die</strong><br />

Nordwest-Passage nördlich von Amerika erstmals<br />

eisfrei.<br />

Andererseits weckt eine eisfreie Schiffspassage<br />

sofort <strong>die</strong> Hoffnungen und Begehrlichkeiten der<br />

Fehler im Umgang mit Komplexität<br />

Ich vereinfache jetzt mal<br />

Wie kann man überhaupt vernünftig über etwas so Hochkompliziertes wie das Klima sprechen, ohne dabei <strong>die</strong> Komplexität der<br />

Beschreibung unerlaubt zu reduzieren? Zum Beispiel durch Vereinfachungen, <strong>die</strong> aber als solche schon wieder Ungenauigkeiten<br />

und Fehler mit sich bringen können. Dass <strong>die</strong>s auch in den Naturwissenschaften eine, aber beileibe nicht <strong>die</strong> einzige Fehlerquelle ist,<br />

zeigt der folgende Beitrag.<br />

Von Ulrich Frey<br />

lationen auf Basis aller Szenarien mit einer mittleren<br />

globalen Temperaturerhöhung von ca. 2,8 Grad<br />

Celsius bis zum Ende des 21. Jahrhunderts zu<br />

rechnen. Nach aktuellem Kenntnisstand ist der<br />

anthropogene Anteil daran vor allem in den<br />

niederen Breiten sehr deutlich, obwohl hier <strong>die</strong><br />

bislang beobachtete Erwärmung im globalen<br />

Vergleich gering ausfällt. Eine klassische Fehler -<br />

abschätzung ist aufgrund des Prognose charakters<br />

der Modellierungen nicht möglich. Im Sinne einer<br />

Vorsorge ist entschiedenes Handeln dennoch<br />

dringend geboten, denn der größte Anteil an der<br />

globalen Klimaänderung ist sehr wahrscheinlich<br />

(„very likely“, so der Fachterminus) auf <strong>die</strong><br />

anthropogenen Treibhausgasemissionen<br />

zurückzuführen, wie es auch im neuesten IPCC-<br />

Report heißt.<br />

Transportwirtschaft, säen Klimawandelleugner mit<br />

gefälschten Zahlen und geschönten Kurven<br />

Zweifel. An ihrer Seite freut sich <strong>die</strong> deutsche Auto -<br />

industrie über Merkels merkwürdig ambivalente<br />

Haltung: Zwar wird <strong>die</strong> Bundes kanzlerin nicht<br />

müde, Klimaschutz einzufordern, widersetzt sich<br />

aber gleichzeitig einer starken CO 2 -Reduktion in<br />

der Autoindustrie.<br />

Solche Widersprüchlichkeiten sind nichts Neues.<br />

Auch der heute hochgelobte Al Gore, Vize-<br />

Präsident unter Bill Clinton, der 1992 mit seinem<br />

Ökobuch Earth in the Balance Schlagzeilen<br />

machte, muss sich <strong>die</strong>sen Vorwurf gefallen lassen.<br />

<strong>Die</strong> beiden mächtigsten Männer der Welt<br />

ratifizierten für <strong>die</strong> USA das Kyoto-Protokoll nicht<br />

und machten es damit zu einer Totgeburt. In <strong>die</strong>sem<br />

Sinne kann man auch <strong>die</strong> Ratifizierung des<br />

Abkommens durch Russland 2004 pessimistisch<br />

interpretieren: Mit dem Emissionshandel kommen<br />

dringend benötigte Devisen ins Land.<br />

Schon <strong>die</strong>se kleine Auswahl zeigt, dass es sich hier<br />

um eine extrem komplexe Problematik handelt, in<br />

der viele Akteure aus unterschiedlichen Motiva -<br />

tionen Entscheidungen treffen.<br />

43


44<br />

Noch etwas kommt hinzu. Neben der hohen<br />

Anzahl von Faktoren, <strong>die</strong> in politische Entschei -<br />

dungsprozesse hineinspielen, neben der<br />

Intransparenz der Gesamtsituation und den<br />

gegenläufigen Interessen werden komplexe<br />

Systeme, egal welcher Art, von Menschen oft mit<br />

inadäquaten Problemlösungsmethoden<br />

angegangen. Viele Simulationen und Versuche<br />

zeigen, dass es nur einige wenige, zudem eng<br />

begrenzte und oft fehlerbehaftete Methoden gibt,<br />

<strong>die</strong> Menschen (auch Wissenschaftler ) zur Lösung<br />

von Problemen in komplexen Systemen<br />

verwenden.<br />

Selbst wenn man also einen weltweiten Konsens<br />

zum Klimaschutz voraussetzte (den es nicht gibt),<br />

der eine Einigung auf <strong>die</strong> geeigneten Maßnahmen<br />

in der richtigen Dosierung zum angemessenen<br />

Zeitpunkt möglich machte (was schon aufgrund<br />

der Länderzahl unmöglich sein dürfte), selbst dann<br />

bleiben immer noch <strong>die</strong> Eigendynamik des Systems<br />

Klimawandel und <strong>die</strong> inhärent fehlerhaften<br />

Problemlösungsmethoden zu berücksichtigen, <strong>die</strong><br />

eine „Lösung“ von vornherein scheitern lassen<br />

könnten. <strong>Die</strong>s birgt eine nicht zu unterschätzende<br />

Gefahr für alle Versuche, den Klimawandel zu<br />

stoppen.<br />

Man kann Komplexität an der Vielzahl<br />

von Merkmalen erkennen. Schon im Begriff Klima<br />

treffen zahlreiche Merkmale zusammen, so etwa<br />

Niederschlagsmenge, Temperatur der Weltmeere,<br />

Windsysteme und vieles mehr. Es liegt zudem auf<br />

der Hand, dass neben der politischen Dimension<br />

der Problematik auch <strong>die</strong> ökologische, wirtschaft -<br />

liche und soziale Dimension berücksichtigt werden<br />

muss. <strong>Die</strong> schiere Größe der Welt und <strong>die</strong> Zahl der<br />

beteiligten Länder, <strong>die</strong> wiederum einzelne Bünd -<br />

nisse miteinander eingehen, deren Regierungen<br />

wechseln und in Fraktionen zerfallen, kommt noch<br />

hinzu.<br />

Komplexität zeigt sich auch durch Intransparenz,<br />

also <strong>die</strong> Unzugänglichkeit vieler Merkmale. Da her<br />

ist <strong>die</strong> Erhebung wissenschaftlicher Daten<br />

schwierig. <strong>Die</strong>se müssen oft über sogenannte<br />

Proxies, also Stellvertreter-Indikatoren erhoben<br />

werden und unterliegen Unsicherheit und Schwan -<br />

kungen. Deshalb wird meist mit Szenarien, also mit<br />

Wenn-Dann-Aussagen gearbeitet, mit denen<br />

mögliche Entwicklungskorridore vorgegeben sind,<br />

und <strong>die</strong>sen liegen jeweils politische Richtungs -<br />

entscheidungen zugrunde liegen.<br />

Nicht zu vernachlässigen ist auch <strong>die</strong> Dynamik,<br />

also <strong>die</strong> selbstständige Weiterentwicklung<br />

komplexer Systeme und <strong>die</strong> Vernetztheit, sprich <strong>die</strong><br />

gegenseitige Beeinflussung von Merkmalen.<br />

Ein Beispiel ist <strong>die</strong> abschmelzende Eisdecke in der<br />

Arktis. <strong>Die</strong>ser Prozess verläuft keineswegs linear,<br />

sondern das dunklere Meerwasser nimmt mehr<br />

Wärme auf als das vorher bestehende Eis. Das<br />

Thema<br />

beschleunigt den Prozess. Und trotz aller<br />

Berechnungen kam <strong>die</strong>s selbst für Experten<br />

überraschend.<br />

<strong>Die</strong> hochgradige Vernetzung führt auch dazu,<br />

dass Änderungen der Atmosphäre gleichzeitig<br />

Meeresströme, Windsysteme und damit auch<br />

landwirtschaftliche Nutzflächen betreffen. <strong>Die</strong>s<br />

wiederum kann unvorhergesehene soziale<br />

Auswirkungen zeitigen, wenn z. B. Hunger oder<br />

Überschwemmungen zu Migration und Bürger -<br />

krieg führen. Im Falle des Klimawandels handelt es<br />

sich um einen extrem vergrößerten Maßstab. So<br />

werden sich ganze Vegetationszonen und dazu gehö -<br />

rige Wettersysteme verschieben. Im schlimmsten<br />

Fall könnte der Nordatlantikstrom abreißen mit<br />

gravierenden Auswirkungen auf den Wärme haus -<br />

halt Europas. Bereits hier gilt es festzuhalten: In den<br />

meisten Fällen wird es sich um völlig<br />

unvorhersehbare Phänomene handeln.<br />

Andere Charakteristika komplexer Systeme<br />

werden erst bei menschlichen Eingriffen offen -<br />

sichtlich. Dazu zählen Probleme mit Zeitverzö ge -<br />

rungen nach Interventionen (und beim Klima -<br />

wandel geht es teilweise um Jahrhunderte und<br />

Jahrtausende), offene Kriterien der Zielerfüllung<br />

(was sind überhaupt <strong>die</strong> Ziele?) und <strong>die</strong> Proble -<br />

matik, auf mehrere Ziele gleichzeitig zu optimieren.<br />

Offen zu Tage treten <strong>die</strong> Streitigkeiten bezüglich<br />

des Klimaschutzes, wenn nicht mehr auf wissen -<br />

schaftlicher, dann auf politischer Ebene. Was hat<br />

höchste Priorität? Was muss wer wann errei chen?<br />

Nicht einmal ansatzweise ist hier Konsens zu<br />

erkennen. Und schließlich gibt das ungebremste<br />

Streben nach der Quadratur des Kreises zu denken:<br />

Wie lassen sich Wirtschaftswachstum und Nach -<br />

hal tigkeit verbinden? Wie passt der Billigflieger<br />

zum teuren Flugbenzin?<br />

Es gibt viele ernüchternde Berichte und<br />

wissenschaftliche Stu<strong>die</strong>n dazu, wie oft Menschen<br />

Probleme haben, mit komplexen Systemen<br />

umzugehen. Unfälle wie Tschernobyl, Three Mile<br />

Island, aber auch Simulationsläufe in Kernkraft -<br />

werken und Krankenhäusern belegen, wie schmal<br />

<strong>die</strong> Brücke beim Gang über den Abgrund ist. Das<br />

gilt auch dann, wenn mit Redundanz, Über -<br />

wachung usw. gearbeitet wird.<br />

Eindrucksvoll ist auch das Versagen bei dem<br />

Versuch der Steuerung ökologischer Systeme. Der<br />

Schutz des Yellowstone-Nationalparks ist seit etwa<br />

100 Jahren nicht mehr als eine Aneinanderreihung<br />

planerischer Misserfolge von Naturschutzexperten.<br />

Ein anderes (wissenschaftlich aufgearbeitetes)<br />

Beispiel ist der Versuch, seit 1900 <strong>die</strong> Blue-<br />

Mountains-Wälder in Oregon nachhaltig zu<br />

bewirtschaften. Auch <strong>die</strong>s ist katastrophal fehl -<br />

geschlagen und kann stellvertretend für viele andere<br />

misslungene Versuche stehen, Ökosysteme in den<br />

Griff zu bekommen.


Klimawandel<br />

Als weiterer Beleg kann <strong>die</strong> Einführung neuer<br />

Arten in bestehende Ökosysteme genannt werden.<br />

Eine Beschreibung der hundert schädlichsten<br />

Einführungen auf der Welt (siehe www.issg.org)<br />

liest sich wie ein Horror-Roman menschlicher<br />

Kurzsichtigkeit. <strong>Die</strong>se Daten geben also Grund,<br />

pessimistisch zu sein, zumal <strong>die</strong> Problematik des<br />

Klimawandels alle <strong>die</strong>se Beispiele sowohl an Größe<br />

und Be deutung der Aufgabe als auch an Komple -<br />

xität bei weitem übersteigt.<br />

Wir müssen uns also mit dem Gedanken vertraut<br />

machen, dass selbst bei einer in Bezug auf den<br />

Klimaschutz extrem großen Handlungsbereitschaft<br />

viele ungewollte negative Auswirkungen auftreten<br />

werden. Ein Beispiel: Das Gesetz zur Förderung<br />

erneuerbarer Energien (EEG) löste einen Boom bei<br />

erneuerbaren Energien aus und gilt als großer<br />

ökologischer Erfolg. Darunter fällt auch <strong>die</strong><br />

Förderung des Bio<strong>die</strong>sels zur CO 2 -Minderung.<br />

Durch globale wirtschaftliche Wirkungsketten<br />

führt <strong>die</strong>s aber dazu, dass für das billige Palmöl<br />

(„Kahlschlag<strong>die</strong>sel“) aus Südostasien Wälder durch<br />

Brandrodung vernichtet werden. Indonesien und<br />

Malaysia holzen dafür im irrwitzigen Tempo den<br />

verbleibenden Regenwald ab. Zusätzlich ist damit<br />

<strong>die</strong> CO 2 -Freisetzung größer, als wenn man auf<br />

Bio<strong>die</strong>sel von vornherein verzichtet hätte.<br />

Schwierig bis unmöglich wird es auch, langfris -<br />

tige oder verdeckte Folgen zu erkennen. Bereits klar<br />

ist, dass es zu massiven Zeitverschiebungen bei der<br />

Implementierung von Maßnahmen kommen wird,<br />

sich weltweite Koordination als extrem schwierig<br />

erweist und trotz aller Bekundungen nur wenige<br />

Mittel zur Verfügung gestellt werden. Optimale<br />

Voraussetzungen sind das nicht.<br />

Für mich sind nun einerseits <strong>die</strong> bereits began -<br />

genen Fehler interessant, <strong>die</strong> sich auf bekannte<br />

Denkmuster im Umgang mit komplexen Systemen<br />

zurückführen lassen; andererseits will ich<br />

versuchen, noch kommende Fehler zu prognos -<br />

tizieren. <strong>Die</strong>s geschieht durch Übertragung der aus<br />

der Forschung bekannten Fehler, <strong>die</strong> sich auch auf<br />

politische Aspekte des Klimawandels übertragen<br />

lassen. Hier sind einige der bekanntesten, <strong>die</strong> auch<br />

gern wiederholt werden.<br />

FEHLER 1: Menschen handeln leider meist<br />

nicht nach der Devise „Vorbeugen ist besser als<br />

Heilen“, denn eine unserer fatalsten Denk schwä -<br />

chen ist <strong>die</strong> Kurzsichtigkeit im Planen. Nur Proble -<br />

me in der Gegenwart erregen unsere Aufmerk sam -<br />

keit und veranlassen uns zu handeln. So versucht<br />

der Stern-Report <strong>die</strong> Kosten der Auswirkungen des<br />

Klimawandels zu schätzen und kommt zu dem –<br />

nicht überraschenden – Ergebnis, dass sofortiges<br />

Handeln etwa 1 Prozent des Weltinlandproduktes<br />

kosten wird. Heutige Untätigkeit wird später dage -<br />

gen mit etwa 5 bis 20 Prozent zu Buche schlagen.<br />

<strong>Die</strong>sen Gedanken hört man zwar inzwischen von<br />

vielen Politikern, umgesetzt hingegen wird er nicht.<br />

<strong>Die</strong>se Verhaltensweise ist bekannt: Fernwir -<br />

kungen und Schäden, <strong>die</strong> weit in der Zukunft<br />

liegen, werden nicht angemessen beurteilt. Statt -<br />

dessen küm mert man sich um vergleichsweise<br />

kleine Probleme in der Gegenwart; man arbeitet<br />

also Probleme nach Auffälligkeit und zeitlicher<br />

Nähe statt nach Wichtigkeit ab. <strong>Die</strong> aktuelle Kritik<br />

am Stern-Report erinnert zudem auffallend an <strong>die</strong><br />

Kritik, <strong>die</strong> nach 1972 an den Grenzen des Wachs -<br />

tums geübt wur de: Probleme könnten jederzeit<br />

durch technologischen Fortschritt und wirt schaft -<br />

liche, sowie politische An passungen gelöst werden.<br />

6,7 Milliarden Menschen mit immer knapperen<br />

Ressourcen wissen heute, dass kaum etwas davon in<br />

<strong>die</strong> Tat umgesetzt wurde. Und der Glaube an das<br />

Allheilmittel „Wirtschafts wachs tum“ scheint uns<br />

heute sogar naiv.<br />

In kleinerem Maßstab begegnen wir <strong>die</strong>sem<br />

Denkmuster beim Argument der zu hohen Kosten<br />

für erneuerbare Energien, deren Ausbau also<br />

wirtschaftlich unsinnig sei. Nicht bedacht wird<br />

dabei, dass ein Ausbau erst dann, wenn es wirt -<br />

schaftlich wäre (kurz vor dem Ende der fossilen<br />

Brennstoffe) daran scheitern wird, dass dann keine<br />

Energie mehr vorhanden ist, um alternative<br />

Quellen auszubauen.<br />

FEHLER 2: Aus Ökosystem-Stu<strong>die</strong>n ist bekannt,<br />

dass Menschen selbst bei vollständiger Information<br />

über das Problem oft mit Untätigkeit reagieren.<br />

Mitunter ist <strong>die</strong> Hoffnung einfach <strong>die</strong>, dass sich das<br />

Probleme von selbst auflöst. Auch <strong>die</strong>ses Verhalten<br />

findet man zur Genüge in der Klimawandeldebatte<br />

(aber ebenso, wie erwähnt, in den Grenzen des<br />

Wachstums bezüglich Ressourcenfrage und<br />

Geburtenkontrolle). So ist <strong>die</strong> CO 2 -Anreicherung<br />

durch Menschen seit den 50er Jahren bekannt, der<br />

erste IPCC-Bericht mit deutlichen Warnungen<br />

datiert von 1990 – viel ist bislang nicht geschehen.<br />

Das kann man nun natürlich vielen Faktoren (z.B.<br />

dem Druck der Wirtschaft, der Wählergunst)<br />

zuschlagen, und doch ist <strong>die</strong>ses Verhalten typisch<br />

für den Um gang mit komplexen Problemen.<br />

Als Beispiel dafür sollen Bill Clintons Aussagen<br />

<strong>die</strong>nen, der in mehreren Reden schon 1998 von<br />

mehr Toten durch Klimawandel, vom teilweisen<br />

Versinken Floridas durch einen Anstieg des Meeres -<br />

spiegels und einer extremeren Ausprägung und<br />

Häufung des El-Niño-Phänomens sprach. <strong>Die</strong>se<br />

Reden kann man heute – neun Jahre später nun als<br />

harte wissenschaftliche Fakten – fast wörtlich im<br />

IPCC-Bericht 2007 wiederfinden. Interessant auch<br />

<strong>die</strong> Verordnung zur Energieeffizienz von Haushalts -<br />

geräten in den USA, <strong>die</strong> bereits 1987 und 1992 vom<br />

Kongress verabschiedet, aber nie implementiert<br />

wurde. Allein dadurch würden <strong>die</strong> CO 2 -Emissio -<br />

nen um Prozent gesenkt und Millionen Dollar an<br />

Stromkosten gespart.<br />

FEHLER 3: Komplexe Systeme werden in ihrer<br />

tatsächlichen Komplexität unterschätzt, <strong>die</strong> eigene<br />

Kompetenz dabei überschätzt. Komplettiert wird<br />

45


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lseite


48<br />

Thema Klimawandel<br />

das von einer zugrundeliegenden Einfachheits -<br />

vermutung.<br />

Im Falle des Klimawandels fällt der Optimismus<br />

auf, mit dem Probleme angegangen werden.<br />

Hinter grund ist eine Wissenschafts- und Technik -<br />

gläubigkeit, <strong>die</strong> neue Technologien und zu<br />

erwartende Effizienzgewinne bereits als real ansieht.<br />

Allerdings ist bekannt, dass manche wissen -<br />

schaftliche Versprechungen sich um Jahrzehnte<br />

verschieben oder sogar nie eintreffen – siehe<br />

Kernfusion. Oft wird über<strong>die</strong>s auf effizientere<br />

Solarzellen im Versuchsstadium, auf Kernfusion als<br />

Allheilmittel oder „neue Techniken“ wie <strong>die</strong><br />

Solarthermie verwiesen. Das Problem: Alle <strong>die</strong>se<br />

hochgelobten Technologien befinden sich noch im<br />

Planungsstadium oder existieren lediglich als<br />

Prototypen – und das teilweise schon seit Jahr -<br />

zehnten. Dabei wird unterschätzt, wie zeitaufwän -<br />

dig, ressourcenintensiv und teuer eine Massen -<br />

produktion in Gang zu setzen ist; eine „Im Prinzip<br />

geht das“-Haltung ist hier zwar fehl am Platze, aber<br />

leider typisch.<br />

FEHLER 4: <strong>Die</strong>ses Denkmuster kennt jeder von<br />

uns: Altes und Vertrautes wird dem Neuen<br />

vorgezogen. Längst stimmt nicht mehr, dass<br />

Wirtschaftswachstum und CO 2 -Minderung<br />

unvereinbar sind. Umweltschutz verursacht nicht<br />

nur Kosten, sondern schafft im Gegenteil Arbeits -<br />

plätze. Mit <strong>die</strong>sem Argument stieß Jürgen Trittin<br />

noch oft auf Unglauben und Hohn; Sigmar Gabriel<br />

kann heute immerhin auf <strong>die</strong> neu geschaf fenen<br />

Arbeitsplätze der Solar- und Windindustrie hin -<br />

weisen. Wollen wir hoffen, dass es unser nächs ter<br />

Umweltminister wieder etwas leichter hat. <strong>Die</strong><br />

„neue“ Idee also ist: Einsparung von Energie durch<br />

effizientere Geräte, Heizungen und Dämmungen<br />

bedeutet der facto Wachstumspotenzial durch<br />

Ressourceneinsparung.<br />

Belassen wir es bei <strong>die</strong>sen vier Skizzen. Interessant<br />

wird der Versuch, weitere Fehler vorherzusagen.<br />

Welche Prognosen kann man jetzt schon stellen?<br />

Beginnen wir mit einigen gerade<br />

sichtbar werdenden Fehlern. Was vor unseren<br />

Augen bereits stattfindet, ist eine Art Realitäts -<br />

verleugnung, und sie wird noch stärker werden.<br />

Ein Anzeichen dafür ist <strong>die</strong> überaus erstaunliche<br />

Zahl der Reportagen, <strong>die</strong> sich mit den positiven<br />

Auswir kungen des Klimawandels beschäftigen. Da<br />

wird dumm-fröhlich über den jetzt möglichen<br />

Weinbau in Schweden schwadro niert, da freut sich<br />

<strong>die</strong> Schifffahrt über eine eisfreie Nordwest-Passage,<br />

da rechnet man bereits <strong>die</strong> neuen Flächen des<br />

Weizen anbaus in Kanada aus, usw. ad nauseam.<br />

Dass durch Migration, Überflutung und Krank -<br />

heiten (WHO-Schätzung: allein durch Hitzewellen<br />

über 150000 Tote pro Jahr) Katastrophen ohne<br />

Beispiel herein brechen werden, wird dagegen gerne<br />

verdrängt. Oder wie es Simon & Garfunkel sagten:<br />

Thema<br />

„Still a man hears what he wants to hear, and<br />

disregards the rest.“<br />

Unzweifelhaft werden sich auch einige Erfolge<br />

beim Klimaschutz einstellen. <strong>Die</strong>s wird dazu<br />

führen, dass das Gefühl herrscht, man habe „alles<br />

im Griff“ – wiederum ein typisches Verhalten.<br />

Gegenlautende Meinungen aus wissenschaftlichen<br />

Fachjournalen werden dabei wohl ungehört<br />

bleiben. Typisch ist übrigens auch, <strong>die</strong> bei einigen<br />

Teilproblemen erfolgreichen Maßnahmen auf<br />

andere, dafür ungeeignete Probleme auszudehnen.<br />

Meist folgt dann eine Wiederholung und massive<br />

Verstärkung der Maßnahmen; um so erstaunter<br />

wird man sein, wenn sich der gewünschte Erfolg<br />

nicht einstellt. Ein Beispiel aus der Ökologie ist <strong>die</strong><br />

Übertragung von Forstmethoden für den europä -<br />

ischen Wald auf <strong>die</strong> völlig anders gearteten ameri -<br />

kanischen Wälder.<br />

In naher Zukunft (in 10 bis 20 Jahren)<br />

dürften <strong>die</strong> negativen Folgen des Klimawandels<br />

bereits deutlich sichtbar geworden sein. Zu<br />

erwarten ist dabei eine massive Unterschätzung der<br />

Probleme. Wenn Probleme im Endstadium nicht<br />

mehr geleugnet werden können, werden unter<br />

anderem folgende Mechanismen immer wieder<br />

auftreten: an erster Stelle natürlich der Verweis auf<br />

Wissenschaft und Technik, <strong>die</strong> bald mit Lösungen<br />

aufwarten werden; dann der Hinweis, dass <strong>die</strong><br />

bereits geleisteten Anstrengungen bald Früchte<br />

tragen werden, nur erst noch greifen müssten.<br />

Eine weitere, recht sichere Vorhersage bezieht sich<br />

auf <strong>die</strong> Analyse eigener Fehler: Sie wird kaum statt -<br />

finden. Ebensowenig ist mit engmaschigen Kon -<br />

trollen zur Überprüfung zu rechnen, ob denn <strong>die</strong><br />

getroffenen Maßnahmen tatsächlich <strong>die</strong> ge wünsch -<br />

te Wirkung erzielen.<br />

Möglicherweise erscheinen <strong>die</strong>se Prognosen zu<br />

pessimistisch. Leider lassen Stu<strong>die</strong>n und Simula tio -<br />

nen kaum einen anderen Schluss zu. Denn es han -<br />

delt sich hier um einige der häufigsten mensch -<br />

lichen Denkschwächen, <strong>die</strong> man unabhängig von<br />

Bildungsstand oder Information immer wieder<br />

vorfindet.<br />

Wie, so lautet nun <strong>die</strong> naheliegende Frage, lassen<br />

sich denn <strong>die</strong>se Fehler nun vermeiden? Fast gar<br />

nicht, so <strong>die</strong> ernüchternde Antwort. Allenfalls<br />

vorstellbar wäre eine grenzenüberschreitende<br />

Wissenschaft, <strong>die</strong> einem handlungsbefugten<br />

Weltgremium fun<strong>die</strong>rte Entscheidungshilfen an <strong>die</strong><br />

Hand gibt, <strong>die</strong> zeitnah umgesetzt werden könnten.<br />

Ob aber wissenschaftliche Korrekturmechanismen<br />

funktionieren, ob Politiker auch unpopuläre<br />

Entscheidungen treffen werden, ob Einzelpersonen<br />

auch für sie Nachteiliges beschließen, das ist <strong>die</strong><br />

große Frage der nahen Zukunft, denn ein Problem<br />

in <strong>die</strong>ser gewaltigen Größenordnung gab es noch<br />

nie. Aber wer weiß, vielleicht überrascht <strong>die</strong><br />

Menschheit sich ja selbst.


Palermo ist nicht mehr <strong>die</strong> Hauptstadt der<br />

Mafia und wird es vielleicht nie mehr sein. Palermo<br />

war ein mal <strong>die</strong> Hauptstadt der Antimafia. Es hat eine<br />

Pe ri ode der Auseinandersetzungen und der Em pö -<br />

rung durchlebt. Heute aber, und nicht erst seit gestern,<br />

läuft Palermo Gefahr, nicht mehr Hauptstadt<br />

zu sein (weder der Mafia noch der Antimafia), sondern<br />

einfach und modern der Hauptsitz – der neuen<br />

Mafia.<br />

Und <strong>die</strong> auftauchenden Hauptfiguren heißen heu -<br />

te nicht mehr Badalamenti, Liggio, Riina, Bagarella,<br />

Provenzano (<strong>die</strong> historischen und inzwischen verhaf -<br />

teten Führer der Mafia) und auch nicht Lo Piccolo<br />

oder Messina Denaro (<strong>die</strong> jüngeren Leitfiguren). Sie<br />

nennen sich heute anders: Berater, Techniker, Ma -<br />

cher, werden von der guten Gesellschaft bewundert,<br />

tragen <strong>die</strong> Namen neuer, unbekannter Bosse, <strong>die</strong><br />

nur ge murmelt werden, wie Rossi oder Bianchi oder<br />

ähnlich.<br />

<strong>Die</strong>se neuen und bekannten und auch <strong>die</strong> un -<br />

bekannten Persönlichkeiten der Salons findet man<br />

auf Luxusyachten, <strong>die</strong> in winzigen Touristenhäfen<br />

vor Anker liegen; sie nehmen Partydrogen, <strong>die</strong> ihnen<br />

ihre Freunde beschafft haben, sie kleiden sich in<br />

Designerklamotten und besitzen vielzylindrige Mo -<br />

torräder oder Autos und sehen damit ganz und gar<br />

anders aus als <strong>die</strong> erbärmlichen und ungehobelten<br />

Pusher aus den Vororten.<br />

Es wird dahin kommen, dass ein altes Mo dell fröhliche<br />

Urständ feiert. Als „modern“ kehrt das ame ri -<br />

kanische Modell zurück, das schon den Familien der<br />

Bontade und Inzerillo vorschwebte und das durch<br />

das Aufkommen der Männer aus Corleone verdrängt<br />

worden war.<br />

Palermo ist nun dabei, sich um den neuen Hauptsitz<br />

der neuen Mafia zu bewerben.<br />

Diffuse Gesetzlosigkeit, unauffällige Blutbäder,<br />

dabei gleichwohl zusammengeraffter Reichtum, das<br />

Symbol für <strong>die</strong> gesellschaftliche Stellung, um <strong>die</strong><br />

man sie beneidet und der nachgeeifert wird; das<br />

Schweigegebot gewandelt in Selbstgefälligkeit. <strong>Die</strong><br />

Politik erweist sich als unfähig, dem neuen Kampf<br />

gegen <strong>die</strong> neue Mafia eine Stimme zu geben. Und<br />

während <strong>die</strong> Mafiosi aus grauer Vorzeit noch immer<br />

Kaufleute physisch bedrohen, ihnen Schutzgelder<br />

abpressen oder Wucherzinsen eintreiben oder Wäh-<br />

Palermo und <strong>die</strong> Mafia<br />

Der italienische Filz<br />

Dem Verfasser, von 1985 bis 2000 Bürgermeister von Palermo, gelang es, den Kampf gegen <strong>die</strong> Mafia weit über Sizilien hinauszu -<br />

tragen und ihm Stimme und Wucht zu verleihen. In <strong>die</strong>sem Beitrag appelliert er an <strong>die</strong> europäische Öffentlichkeit, den Kampf nicht<br />

aufzugeben, selbst wenn <strong>die</strong> Mafia ihre Methoden unendlich verfeinert hat und das Fernsehen keine blutigen Bilder mehr liefert.<br />

Von Leoluca Orlando<br />

lerstimmen kaufen oder erschwindeln, manipulieren<br />

<strong>die</strong> neuen Mafiosi <strong>die</strong> Macht der Behörden und<br />

das Finanzsystem ebenso wie Wahlvorgänge und<br />

deren amtliche Protokolle.<br />

Um sich der neuen, der modernen Mafia entgegenzustellen,<br />

bedarf es einer neuen, abge stimmten<br />

Reaktion der Behörden. Was wir brauchen, ist <strong>die</strong><br />

Empörung der Zivilgesellschaft, <strong>die</strong> kraftvoll für <strong>die</strong><br />

Sache einer Kultur der Gesetze und ihrer allseits verbreiteten<br />

Einhaltung eintritt.<br />

Es ist unerlässlich, dass <strong>die</strong> Gesetzgebung <strong>die</strong>sem<br />

Wandel von Strategie und Auftreten angepasst wird,<br />

um der <strong>die</strong>ser neuen Mafia entgegenzu treten.<br />

Es sind sicher weitere Gesetzesänderungen nötig,<br />

um <strong>die</strong> Grenzen, aber auch Unzulänglichkeiten der<br />

augenblicklichen Gesetzgebung zu überwinden, so<br />

wie das in der Vergangenheit mit bestimmten Paragraphen<br />

des italienischen Strafgesetzbuchs ja schon<br />

öfter ge schehen ist.<br />

Wir brauchen eine Zusammenarbeit zwischen den<br />

<strong>Die</strong>nsten. Ein breiter Konsens über eine Reihe von<br />

ethischen Werten, <strong>die</strong> ihrerseits einen anders gearteten<br />

Gemeinsinn herausbilden, muss ins Leben gerufen<br />

werden.<br />

Es stellt sich nachdrücklich eine neue<br />

ethische Frage: <strong>die</strong> nach einem anderen Lebensstil.<br />

Wir können nicht länger immer nur warten auf das<br />

Eingreifen der Justiz und ihre freundliche Unterstützung.<br />

Keime und Spuren einer neuen ethischen<br />

Bedeutung der Zivilgesellschaft zeigen sich im so -<br />

zialen und produktiven Umgang mit beschlag -<br />

nahmten Mafia-Gütern. <strong>Die</strong> Erfahrungen, <strong>die</strong> man<br />

mit Zivilcourage gemacht hat, mit der Entscheidung,<br />

aus der Logik der Schutzgelder heraus zu tre -<br />

ten, sind vielleicht unausgereift, aber bedeutungs -<br />

voll. Ein solches Vorgehen hat 1991 den Unter -<br />

nehmer Libero Grassi Ruhe und das Leben gekostet.<br />

Wir sehen also, es geht nicht lediglich um Strafanzeigen,<br />

sondern auch um öffentliche Alli an zen (zum<br />

Beispiel das Bündnis „Kritischer Konsum“), bestehend<br />

aus Händlern, <strong>die</strong> sich gegen Schutzgelder aussprechen,<br />

und Verbrauchern, <strong>die</strong> öffentlich erklären,<br />

nur noch bei eben <strong>die</strong>sen Händlern einkaufen<br />

zu wollen. Es ist auch nur recht und billig, an <strong>die</strong>ser<br />

49


50<br />

Stelle an den Beschluss des SizilianischenUnternehmerverbandes<br />

zu erinnern, an dere<br />

Unternehmer, <strong>die</strong> Schutzgelder<br />

entrichten, auszuschließen: eine<br />

ethisch verantwortungsvolle<br />

Antwort auf den Appell mutiger<br />

sizilianischer Unternehmer, erst<br />

kürzlich wieder ausgesprochen<br />

von Rodolfo Guaiana und<br />

Andrea Vecchio. Beispielhaft in<br />

ethischer Hinsicht ist schließlich<br />

<strong>die</strong> Rolle der Zi vil ge sell -<br />

schaft bei der Gründung von<br />

Ko mitees zur Überprüfung der<br />

Wahl ergeb nisse, zur Einhaltung<br />

der gesetzlichen Vorschriften<br />

und zur Wah rung der Freiheit<br />

der Wahl als Gegenwehr zur per -<br />

fekten Kontrolle der politischen<br />

Landschaft, <strong>die</strong> sen Domänen<br />

sowohl der alten wie der neuen<br />

Ma fia, der alten, indem Stimmzettel herausgefischt<br />

oder aber einfach Stimmen gekauft wurden, und<br />

von der neuen, indem schon bei der Platzierung der<br />

Wahl lokale manipuliert wird und dann erst recht bei<br />

der Protokollierung der Wahl ergebnisse. <strong>Die</strong> von<br />

<strong>die</strong>sen brandgefährlichen Nähe zwischen Mafia und<br />

Po litik erzeugte Schieflage wird von den Ermitt -<br />

lungs behörden neuerlich sträflich unterbewertet.<br />

Wieder einmal sind Mafia und Politik im heimlichen<br />

Einverständnis, dem Staat weit voraus.<br />

<strong>Die</strong> Übel Siziliens sind keine Ausnahmefälle,<br />

und in der Tat, sie lösen keinen Skandal mehr<br />

aus. Als Hauptstadt der Mafia war Palermo aufsehenerregend,<br />

und als Hauptstadt der Antimafia war<br />

es wieder so. Das Palermo von heute aber, das<br />

Palermo als Hauptsitz der neuen Mafia, erregt keinen<br />

Skandal mehr. Und zwar deshalb nicht, weil es<br />

sich in Übereinstimmung befindet mit der Systemkrise<br />

ei nes ganzen Landes. Im ganzen Land hat sich –<br />

nach Jahren der Korruption und nach den Erfolgen<br />

der Justiz der „Sauberen Hände“ – das gesetzwidrige<br />

Ita lien von heute modernisiert. Unser Land ist ein<br />

Land der verfilzten Interessen geworden. Ich rede<br />

nicht von Berlusconi, oder doch nicht nur von Berlusconi,<br />

ich rede von einer Kultur, von einem<br />

Lebensstil, der Politiker, Unternehmer, Intellektuelle<br />

und Künstler aus beiden politischen Lagern<br />

amalgamiert und einander angleicht.<br />

Der Interessenfilz ist der Personalausweis <strong>die</strong>ser<br />

neuen Kasten; er ist der gemeinsame Nenner aller<br />

Gesetzesverstöße, im Norden wie im Süden; er ist<br />

eine Kultur, <strong>die</strong> es der Mafia erlaubt, zu wachsen und<br />

zu gedeihen, und zwar ebensogut in irgendeinem<br />

Kuhstall in Corleone wie in der Mailänder Börse.<br />

Der Interessenfilz ist das neue Schmiergeld, das<br />

Schutzgeld des dritten Jahrtausends.<br />

Ich bin fast versucht, ein Lob auf <strong>die</strong> gute alte<br />

Bestechung zu singen. Sie vergiftete zwar ein Ge -<br />

www.mafianetwork.it<br />

Wo Gesetze gemacht werden (müssten): Parlament in Rom<br />

schäft, aber dagegen konnte man sich wehren: entweder<br />

indem man noch etwas drauflegte oder indem<br />

man zum Staatsanwalt ging. <strong>Die</strong> Interessenverfilzung<br />

indessen ist ein System und lässt sich in der<br />

Regel gar nicht als Verbrechen einstufen. Wie soll<br />

man sich wehren gegen <strong>die</strong> systematische Einmischung<br />

der Politiker und der von ihnen Ab hän gigen<br />

in das Eigentum und <strong>die</strong> Verwaltungsinstan zen<br />

einer Privatklinik, <strong>die</strong> ihrerseits vertraglich in das<br />

staatliche Gesundheitssystem eingebunden ist? In<br />

<strong>die</strong> Belange eines Hotels, das mit öffentlichen Mitteln<br />

bezahlt worden ist? In eine Firma, <strong>die</strong> im öffentlichen<br />

Auftrag Güter produziert oder <strong>Die</strong>nstleistungen<br />

bereitstellt? Wir haben es wahrhaftig mit den<br />

Verfallsformen der normalen Markt wirt schaft zu<br />

tun. <strong>Die</strong> Vorgänge sind überhaupt nicht mehr als<br />

Verbrechen beschreibbar, und wegen der Trennung<br />

von politischer und bürokratischer Verantwortung<br />

können sie auch nicht mehr straf rechtlich verfolgt<br />

werden. Der Veraltungsbeamte un terschreibt eben,<br />

was der Politiker von ihm verlangt. Und wenn nicht,<br />

dann greift das „Spoil-System“, das Beute-Prinzip,<br />

demzufolge <strong>die</strong> interessanten Posten neuverteilt<br />

werden an <strong>die</strong> Anhänger der siegreichen Partei: Man<br />

ersetzt den widerspenstigen Beamten einfach durch<br />

einen willfährigen.<br />

Italien ist eine Metapher für Palermo –<br />

und umgekehrt. Alles stützt sich gegenseitig – in Pa -<br />

lermo wie in Italien – im Guten wie im Schlechten.<br />

Heute überwiegend im Schlechten. Es bildet sich<br />

ein gefährlicher Gleichklang: Palermo <strong>die</strong> Hauptstadt<br />

der neuen Mafia und Italien das Hauptland der<br />

verfilzten Interessen.<br />

Das ist <strong>die</strong> Herausforderung, <strong>die</strong> eigentliche<br />

Herausforderung für das System Italien: Es muss<br />

sich von der alten und von der neuen Mafia befreien,<br />

sonst gleitet es unaufhaltsam in einen Sumpf der<br />

Gesetzlosigkeit.


52<br />

<strong>Die</strong> Europäische Union<br />

Wertegemeinschaft<br />

oder Rechtsordnung<br />

Robert Spaemann, Professor em. für Philosophie, hat sich in einem vielbeachteten Beitrag dagegen ausgesprochen, <strong>die</strong> Werte der<br />

EU über Gebühr zu betonen oder gar mit ihnen politisches Handeln zu legitimieren. Er erkennt darin, so lautet neuerdings das<br />

paradoxe Schlagwort, einen „liberalen Totalitarismus“. Sind <strong>die</strong> europäischen Werte eine berechtigte Forderung oder nur eine<br />

staatsphilophische Verirrung?<br />

Ich möchte gern mit dem Hauptargument<br />

beginnen, das gegen ein Europa als Wertegemeinschaft<br />

vorgebracht wird. Deshalb werde ich<br />

sehr kurz <strong>die</strong> kritischen Einwände von Robert<br />

Spaemann und Krzysztof Michalski vorstellen, <strong>die</strong><br />

<strong>die</strong>se Frage schon im Jahr 2001 in der Zeitschrift<br />

Transit diskutiert haben.<br />

In seinem Artikel „Europa –<br />

Wertegemeinschaft oder Rechtsordnung?“ betont<br />

Spaemann dort, dass <strong>die</strong> Rede von Werten trivial<br />

und gleichzeitig gefährlich ist. Gefährlich ist sie<br />

aufgrund ihrer Un genauigkeit und trivial, weil wir<br />

längst wissen, dass jede Gesellschaft auf bestimmten<br />

gemeinsamen Werten aufgebaut ist. Der<br />

gemeinsame Vorrat all dessen, was wir hoch- bzw.<br />

geringschätzen, hat zwar zum Rückzug der westlichen<br />

Gesellschaften geführt, schon weil <strong>die</strong> Zahl<br />

der verschiedenen Le bensstile und Einstellungen<br />

zugenommen hat, also durch den sogenannten<br />

Pluralismus. Jedoch brauchen selbst pluralistische<br />

Gesellschaften, fährt Spaemann fort, gemeinsame<br />

Werte und Wert urteile als Grundlage für we -<br />

sentliche Rechte.<br />

Aber <strong>die</strong> wahre Gefahr der Rede von der „Wer -<br />

tegemeinschaft Europa“ liegt nach Spaemann in<br />

der Tatsache, dass hier eine „Tendenz“ vorliegt,<br />

„<strong>die</strong> Rede von Grundrechten allmählich mehr und<br />

mehr zu ersetzen durch <strong>die</strong> Rede von Grundwerten“.<br />

Konkret zeigt sich <strong>die</strong> Gefahr dann, wenn der<br />

Staat <strong>die</strong> Anwendung von Gewalt legitimiert durch<br />

<strong>die</strong> Berufung auf „höhere Werte“, um etwas zu verbieten,<br />

was sich allein durch das Gesetz nicht verbieten<br />

lässt. In einem solchen Fall werden also<br />

Werte missbraucht zur Verletzung der Rechtsordnung.<br />

Das war z.B. der Fall im Dritten Reich, das ja<br />

ebenfalls eine Art Wertegemeinschaft war, eine<br />

„Volksgemeinschaft“, in der der Staat nur der Vollstrecker<br />

einiger „höherer Werte“ wie Nation, Ras -<br />

se, Gesundheit etc. war, und in der <strong>die</strong> NSDAP, <strong>die</strong><br />

<strong>die</strong>sen Werten Treue geschworen hatte, <strong>die</strong> Macht<br />

im Staat übernahm und den Staat sogar unter ihre<br />

Herrschaft brachte.<br />

Ein erstes Anzeichen für <strong>die</strong>se Gefahr eines „libe r -<br />

Von Yvanka B. Raynova<br />

tären Totalitarismus“ ist, nach Spaemann, <strong>die</strong> Verfolgung<br />

von Sekten. Spaemann stellt fest, dass <strong>die</strong><br />

Bezeichnung einer Gemeinschaft als „Sekte“ in der<br />

Willkür derjenigen liegt, <strong>die</strong> allein <strong>die</strong> Deutungs -<br />

hoheit innehaben, also der Vertreter der Staatsgewalt.<br />

Bei der informellen Verfolgung von Sek ten<br />

wird demnach <strong>die</strong> mühsam erreichte Rechts staat -<br />

lichkeit in den Wind geschlagen, weil der Staat sich<br />

als liberale Wertegemeinschaft versteht, als Welt -<br />

an schauungsstaat und nicht mehr als Rechtsordnung.<br />

Ein zweiter Hinweis auf <strong>die</strong> Gefahr des „liberalen<br />

Totalitarismus“ ist für Spaemann der Einsatz staat -<br />

licher Organe zur Diskriminierung bestimmter<br />

politischer Ideen, selbst wenn <strong>die</strong>se verfassungs -<br />

konform sind. Das sei gegenwärtig in Deutschland<br />

der Fall, wo zur Zeit versucht werde, eine öf fent -<br />

liche Diskussion über <strong>die</strong> Frage der Einwanderung<br />

zu unterbinden. oppositionelle Meinungen oder<br />

ein ethnisch-kulturelles Selbstverständnis der Na -<br />

tion seien tabuisierte Themen, weil sie an Gewalt<br />

gegen Ausländer denken lassen. Der Staat versteht<br />

sich als „Bündnis gegen Rechts – das ist <strong>die</strong> Wer -<br />

tegemeinschaft anstelle des Staates, und hier müs -<br />

sen <strong>die</strong> Alarmglocken läuten“.<br />

Spaemann drittes Beispiel hängt eng mit dem<br />

eben Gesagten zusammen. Er unterstreicht, dass<br />

der Staat sich „seiner Neutralitätspflicht entledigen<br />

(könne), indem er staatliche Institutionen privatisiert,<br />

in denen er gleichwohl als Mehrheitsgesellschafter<br />

das Sagen behält, und er kann dann<br />

<strong>die</strong>se Position zur Diskriminierung missliebiger<br />

Organe gebrauchen“. <strong>Die</strong>s sei vor kurzen der Fall<br />

in Deutschland gewesen, als <strong>die</strong> PostBank <strong>die</strong> Konten<br />

der Wochenzeitung Junge Freiheit kündigte.<br />

Der Boykott der Zeitung wurde zwar rückgängig<br />

gemacht, aber der Versuch sei ein Grund, wachsam<br />

zu bleiben.<br />

Als viertes Beispiel nennt Spaemann <strong>die</strong> Sanktionen<br />

gegen Österreich Anfang 2000. <strong>Die</strong> EU bechloss<br />

damals, Österreich unter „Quarantäne“ zu<br />

stellen, allein aus political correctness, weil Ös ter -<br />

reich sich eines Mangels an „europäischen Wer ten“


schuldig gemacht hatte. „Zwar trug in <strong>die</strong>sem Fall<br />

nach einem Gutachten dreier ‚Weiser’ das Recht<br />

glücklicherweise den Sieg über <strong>die</strong> Wertegemeinschaft<br />

davon, was übrigens <strong>die</strong> deutsche Bundesregierung<br />

nicht daran hinderte, mit der Ächtung des<br />

Nachbarn noch eine Weile fortzufahren.“<br />

Das fünfte und letzte Beispiel Spaemanns ist der<br />

Kosovo-Krieg: Er sei im Namen „unserer Werte“<br />

ge führt worden. <strong>Die</strong> entscheidende Voraussetzung,<br />

nämlich <strong>die</strong> Vertreibung eines Volkes aus seiner<br />

Heimat durch eine militärische Intervention<br />

zu verhindern, <strong>die</strong>nt zweifellos einer „gerechten<br />

Sache“. „Mit dem geltenden Völkerrecht war <strong>die</strong><br />

Führung eines solchen Krieges allerdings unvereinbar.“<br />

Auch hier stellte man sich im Namen der<br />

Werte über das Gesetz, ein Zustand, der früher einmal<br />

Totalitarismus hieß.<br />

Mit anderen Worten, Spaemann hält<br />

der Idee eines Europas als Wertegemeinschaft entgegen,<br />

dass Werte in Europa dazu gebraucht werden,<br />

Dis kriminierungen zu begründen und das<br />

geltende Recht zu hintergehen. Dem Werte-Befürworter<br />

kommt es jedoch auf noch etwas ganz anderes<br />

an: Macht. <strong>Die</strong> Macht ist der höchste Wert, und<br />

Menschen halten als Werte immer das hoch, was<br />

ihnen dazu verhilft, Macht zu gewinnen. Spaemann<br />

ist überzeugt, das genau das gegenwärtig in<br />

Europa geschieht. Den Grund sieht er in einer<br />

paradoxen Dialektik aus „dem sich ausbreitenden<br />

Werterelativismus und Skeptizismus“ einerseits<br />

und „der Verabsolutierung der eigenen Wertschätzungen“<br />

an dererseits. Werte werden durch <strong>die</strong>jenigen<br />

ge setzt, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Macht dazu haben, also ist ihr<br />

Kampf um <strong>die</strong> Werte nichts anderes als ihr Kampf<br />

um <strong>die</strong> Macht. Man muss daher immer „nach den<br />

verborgenen Interessen fragen. Wer zieht hier Vorteile<br />

aus einer bestimmten Wertordnung?“<br />

Eine ähnliche Position nimmt Krzysztof<br />

Michalski ein, wenn auch mit anderen Argumenten<br />

(in seinem Beitrag Politik und Werte, ebenfalls<br />

in Transit 2001).<br />

Nichts, was wir tun, sagt er, ist moralisch neutral,<br />

aber <strong>die</strong> moralische Bedeutung unseres Tuns ist<br />

mehrdeutig, und es gibt keine klaren Hinweise da -<br />

rauf, wie das Gute in der Welt zu erreichen sei. Politik<br />

und Werte sind immer schon miteinander verknüpft,<br />

denn Politik hat es mit moralischen<br />

Werten zu tun, <strong>die</strong> nicht einfach auf materielle In -<br />

teressen reduziert werden können. <strong>Die</strong> Politik operiert<br />

in einem Raum, „der geformt wird von moralischen<br />

Gebräuchen, Gefühlen und<br />

Erwar tungen“, „Vorstellungen von Gut und<br />

Böse“, also von Werten. Eben weil sich <strong>die</strong> Gesellschaft<br />

„durch historisch entstandene ‚Werte’ definiert,<br />

kann keine Gesellschaft – und das gilt auch<br />

für ‚Europa’ oder ‚Österreich’ – darauf verzichten,<br />

‚andere’ auszuschließen, <strong>die</strong> nach anderen ‚Werten’<br />

leben; erst durch <strong>die</strong>se Ausschließung (...) werden<br />

wir zu denen, <strong>die</strong> wir sind. Dadurch entsteht übrigens<br />

<strong>die</strong> explosive Spannung, in der wir leben: der<br />

modernen europäischen Kultur.“<br />

Das Nexus-Institut an der Universität<br />

Tilburg in den Niederlanden organisierte 2004<br />

eine Serie internationaler Kongresse zu europäischen<br />

Werten und ihrer Bedeutung für unsere Zu -<br />

kunft. Einige hundert prominente Philo sophen<br />

und politische Entscheidungsträger nahmen daran<br />

teil, in Den Haag, Warschau, Berlin, Washington<br />

und Rotterdam. In <strong>die</strong>sen Diskussionen wurde<br />

besonderer Wert dar gelegt, zwischen den Werten<br />

und der Politik keinen Graben entstehen zu lassen.<br />

Ich möchte hier nur kurz einige Argumente zitieren,<br />

<strong>die</strong> von den Verteidigern eines Europas als<br />

Wertegemeinschaft vorgebracht wurden, da in<br />

ihren Augen Europa mehr ist als bloß ein Politikund<br />

Wirtschaftsbündnis:<br />

- <strong>Die</strong> meisten universalen Werte sind in Europa<br />

entstanden. europäische Werte sind das Ergebnis<br />

jahrhundertelanger Prozesse, in denen hohe künstlerische<br />

und kulturelle Leistungen und extreme<br />

Ungerechtigkeit und Gewalt miteinander abwechselten.<br />

- Europäer haben sich jedoch immer noch nicht<br />

entschieden, ob sie Europäer aufgrund ihrer Vergangenheit<br />

sind oder wegen ihrer Zukunft. <strong>Die</strong> EU<br />

sieht nicht so aus, als habe sie gemeinsame Werte,<br />

sondern eher wie ein lockerer Club.<br />

- Bei der Suche nach einer europäischen Identität<br />

spielen Werte eine entscheidende Rolle. Das gilt<br />

besonders heute, da viele Menschen ihre Existenz<br />

zunehmend verunsichert sehen durch <strong>die</strong> Globalisierung,<br />

den technologischen Wandel, <strong>die</strong> Ein wan -<br />

derung und einen veränderten „Gesell schafts -<br />

vertrag“.<br />

- Werte als solche sind blasse, abstrakte Begriffe,<br />

und doch sind sie handlungsleitend. Auch <strong>die</strong> formalste<br />

europäische Gesetzgebung beruht auf eindeutigen<br />

Werten. <strong>Die</strong>se müssen bewahrt und auf -<br />

rechterhalten werden gegenüber Gleich gül tigkeit,<br />

Skeptizismus und Egoismus, indem sie klar ausgesprochen<br />

und diskutiert werden.<br />

- <strong>Die</strong> EU ist <strong>die</strong> einzige föderale Konstruktion,<br />

<strong>die</strong> zum Ziel hat, eine Gemeinschaft der Vielfalt zu<br />

werden und nicht eine Nation (weshalb <strong>die</strong> EU von<br />

ihren Nachbarn auch nicht als Bedrohung empfunden<br />

wird). Gleichwohl hat der nach dem Zwei -<br />

ten Weltkrieg eingeführte Zwang zum Kompromiss<br />

dem Kontinent Einfluss und moralische<br />

Au torität verliehen. Europa scheint sich seiner<br />

Macht nicht ausreichend bewusst zu sein, zumin -<br />

dest tut es nicht genug in der Ausübung <strong>die</strong>ser<br />

Macht, obwohl viele Nicht-Europäer gerade da -<br />

rauf ihre Hoffnungen setzen.<br />

Wenn man den Ausdruck „europäi -<br />

sche Werte“ benützt, stellt sich sofort <strong>die</strong> Frage,<br />

was für ein Wertesystem damit gemeint ist. Der<br />

53


54<br />

nie derländische Premier Jan Peter Balkenende hält<br />

<strong>die</strong> Achtung der Menschenrechte und der Menschenwürde,<br />

Freiheit, Gleichheit und Solidarität für<br />

„bindende universale moralische Werte, <strong>die</strong> in unseren<br />

Verträgen festgehalten werden“. Ähnlich formuliert<br />

es auch <strong>die</strong> Entschließung auf dem Kongress des<br />

Nexus-Instituts 2004, „Realising the Idea of<br />

Europe“: „Europa ist geeint in seiner Viel falt. Einheit<br />

in Vielfalt ist ein historisches und ein moralisches<br />

Prinzip. Es bezieht sich auf <strong>die</strong> universalen<br />

Werte, <strong>die</strong> mehr als zweitausend Jahre lang <strong>die</strong><br />

Grundlagen Europas gelegt haben: Achtung der<br />

Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit,<br />

<strong>die</strong> Herrschaft des Rechts und <strong>die</strong> Achtung der Menschenrechte.<br />

Sie sind <strong>die</strong> Grundwerte, <strong>die</strong> eine pluralistische<br />

und tolerante Gesellschaft schützen vor<br />

Absolutismus, Relativismus und Ni hi lismus. <strong>Die</strong>se<br />

Grundwerte sind unantastbar.“<br />

Aber sind „europäische Werte“ lediglich moralische<br />

Werte? Ist <strong>die</strong> Achtung der Menschenwürde<br />

und der Menschenrechte nicht auch ein sozialer<br />

und ein politischer Wert? Sind <strong>die</strong> Menschenrechte<br />

lediglich Grundwerte oder eher Grundrechte?<br />

Sind sie etwas beides gleichzeitig? Ist Freiheit<br />

ein Wert an sich? Oder ist Freiheit womöglich<br />

eine Bedingung, eine konkrete Situation oder,<br />

andererseits, ein Ideal, das wir doch nie vollkommen<br />

verwirklichen? Gibt es wirklich keinen Unterschied<br />

zwischen moralischer, sozialer, politischer,<br />

rechtlicher und persönlicher Freiheit? Was ist<br />

eigentlich gemeint mit der Feststellung, <strong>die</strong>se<br />

„europäischen Werte“ seien universal gültig? Wie<br />

kann man einerseits sagen, <strong>die</strong>se sich verändernden<br />

Werte seien das Ergebnis unserer Geschichte, und<br />

auf der anderen Seite behaupten, sie seien abstrakt<br />

und universal?<br />

Auf all <strong>die</strong>se Fragen und Paradoxa gibt <strong>die</strong> gegenwärtige<br />

Werte-Diskussion keine Antwort.<br />

Darüber hinaus bemerken wir eine Art „missing<br />

link“ zwischen Werten und Normen. Es wird still -<br />

schweigend unterstellt, dass Werte eine moralische<br />

Angelegenheit sind und Normen eine rechtliche.<br />

Dabei wird aber übersehen, dass es nicht nur recht -<br />

liche, sondern auch moralische, politische und kulturelle<br />

Normen gibt. Im Hinblick auf unsere Ausgangsfrage,<br />

ob Europa eine Wertegemeinschaft oder<br />

eine Rechtsordnung sein soll, muss jedoch festgehalten<br />

werden, dass Werte im Unterschied zu rechtlichen<br />

Normen ein „weicherer“ Begriff sind: sie sind<br />

weniger formal, nicht zwingend, ein Sollen, aber<br />

kein obligatorisches Müssen. <strong>Die</strong>sen Verpflichtungscharakter<br />

nehmen Werte erst an, wenn sie tatsächlich<br />

zu Normen werden.<br />

Mit einem Einwand haben <strong>die</strong> Gegner<br />

einer Wertegemeinschaft Europa völlig recht: Werte<br />

können heute zu einem totalitären Zwang entarten,<br />

wenn sie dazu benützt werden, ungesetzliche Diskriminierung<br />

von Menschen, Gruppen oder Staaten zu<br />

legitimieren, wenn sie sich also an <strong>die</strong> Stelle der<br />

Rechtsordnung setzen.<br />

Wir müssen jedoch einen klaren Trennungsstrich<br />

ziehen zwischen dem wesentlichen Kennzeichen<br />

von Werten (dass sie nämlich gerade nicht au to ri -<br />

tär sind) und den Zwecken, für <strong>die</strong> gebraucht wer -<br />

den (dass sie also durch einem autoritären Machtstreben<br />

<strong>die</strong>nstbar gemacht werden). Werte sind<br />

nicht automatisch <strong>die</strong> Maske eines Willens zur<br />

Macht, wie Spaemann und vor ihm schon Nietzsche<br />

behaupten. In christlichen, aber auch in vielen<br />

fernöstlichen Traditionen finden wir eine ganze<br />

Reihe höherer geistiger Werte, <strong>die</strong> nichts mit dem<br />

Streben nach Macht zu tun haben: Mitgefühl,<br />

Selbstlosigkeit, Hilfsbereitschaft, Hingabe, Groß -<br />

zügigkeit. Von Zeit zu Zeit treffen wir sogar auf<br />

Menschen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Werte verwirklichen.<br />

Auch lässt sich <strong>die</strong> Behauptung Michalskis, Werte<br />

lösten immer nur Konflikte aus, nicht aufrechterhalten,<br />

ebensowenig, dass sie unverbindlich und<br />

lediglich identitätsstiftend seien, wie Politiker gern<br />

betonen.<br />

Es kommt immer darauf an herauszufinden,<br />

unter welchen Bedingungen und in welchen Situationen<br />

Werte zu einem Konflikt führen und wo sie<br />

andererseits Brücken bauen zwischen Menschen,<br />

Gruppen und Nationen.<br />

Eine ernste Gefahr sehe ich in den Verlautbarungen<br />

mancher Politiker, wir müssten „unsere Werte<br />

verteidigen“ gegen ihre „Feinde“, z.B. gegen Extremisten.<br />

Es bleibt gefährlich unklar, was konkret<br />

damit gemeint ist, und wir haben den Eindruck,<br />

<strong>die</strong>se Aufforderung ist nur eine neue Form der Rede<br />

vom Kalten Krieg gegen „unsere Feinde“, vor denen<br />

wir uns zu fürchten hätten.<br />

Eine weitere Gefahr liegt darin, dass <strong>die</strong> so oft<br />

zitierten „europäischen Werte“ als exklusive Er run -<br />

genschaften der europäischen Kultur angesehen<br />

werden (wie es Balkenende, Giscard d’Estaing und<br />

andere gern tun). <strong>Die</strong>se Spielart des Eurozentrismus<br />

vergisst, das <strong>die</strong> Achtung der Menschen und ihrer<br />

Würde, aber auch Freiheit, Toleranz und Solidarität<br />

höchste Werte in einigen der ältesten Kulturen der<br />

Welt sind, etwa in In<strong>die</strong>n oder auch in China.<br />

Wie kann also <strong>die</strong> Europäische Union sich als „Pionier<br />

der Werte“ aufspielen, wenn sie ihren eigenen<br />

Bürgern nicht einmal erklären kann, was Werte<br />

sind?<br />

Ich komme zur Ausgangsfrage zurück: Soll Eu ro pa<br />

eine Wertegemeinschaft oder eine Rechtsordnung<br />

sein?<br />

Mir ist, offen gesagt,überhaupt nicht klar, warum<br />

<strong>die</strong> Frage in <strong>die</strong>ser Form gestellt wird, in <strong>die</strong>ser Entweder-oder-Form.<br />

Warum wird sie nicht als<br />

Sowohl-als-auch-Frage formuliert? Erinnert <strong>die</strong><br />

Frage nicht an <strong>die</strong> alte Streitfrage, was zuerst da war,<br />

<strong>die</strong> Henne oder das Ei?<br />

<strong>Die</strong> Gegner einer Wertemeinschaft nehmen an,<br />

dass ein als Wertegemeinschaft konstituierter Staat<br />

allein dadurch ein totalitärer Staat ist, dass er sich als<br />

einen „Beauftragten höherer Werte“ versteht, einer


presse.europapark.de<br />

Weltanschauung, <strong>die</strong> nur aus sehr relativen und<br />

dezisionistischen Wertvorstellungen besteht, und<br />

nicht eine Rechtsordnung verwirklicht. Ich habe<br />

jedoch dargelegt, dass Werte nicht einfach willkürliche<br />

Setzungen sind und außerdem nicht nur oder<br />

immer ein verkleidetes Machtstreben.<br />

Andererseits ist aber auch ein Rechtsstaat nicht<br />

automatisch eine bessere Einrichtung als eine Wertegemeinschaft.<br />

<strong>Die</strong> wirkliche Gefahr liegt (und<br />

insoweit hat Spaemann recht) in der Ersetzung des<br />

Rechtsordnung durch eine Werteordnung. Aber<br />

eine bestehende Rechtsordnung kann auch <strong>die</strong><br />

Form einer Diktatur oder eines Polizeistaats annehmen,<br />

in dem sowohl Grundwerte als auch Grundrechte<br />

dauernd verletzt werden.<br />

Soziale, politische, moralische, kulturelle und per -<br />

sönliche Werte brauchen den Schutz recht li cher<br />

Normen. Aber auch Rechtsnormen brauchen eine<br />

politische und parlamentarische Zustimmung<br />

ebensosehr wie eine Legitimierung durch allgemein<br />

anerkannte Werte. Nicht zuletzt ist eine An er -<br />

kennung durch <strong>die</strong> Öffentlichkeit eine we sent liche<br />

Voraussetzung für Normen und Werte, wenn starke<br />

innere Spannungen vermieden werden sollen.<br />

Es sollte also klar sein, dass Wertegemeinschaft<br />

und Rechtsordnung sich gegenseitig nicht aus -<br />

schließen, dass sie (miteinander verbunden, wie sie<br />

nun einmal sind) nicht gegeneinander ausgespielt<br />

werden sollten, und auch dass <strong>die</strong> Öffentlichkeit<br />

sich stärker in den Debatten über Werte und Normen<br />

en gagieren sollte.<br />

Werte sind der Kern jeder Weltanschauung, jeder<br />

Idee eines menschlichen Wesens, wir finden sie in<br />

religiösen Traditionen und in allem sozialen und<br />

politischen Handeln ebenso wie in Rechtsordnungen.<br />

Man kann Werte nicht mit Gewalt durchsetzen.<br />

Jeder Versuch, sie als neue Ideologie zu missbrauchen<br />

und sie Bürgern, Politikern, dem Bil -<br />

dungssystem, ja dem ganzen Kulturbereich in<br />

Europa aufzuzwingen und dann vielleicht noch<br />

<strong>die</strong>se Ideologie anderen Wertordnungen entgegenzusetzen,<br />

würde zweifellos mehr Schaden an richten<br />

als Nutzen stiften.Wenn <strong>die</strong> Europäische Union ihre<br />

Werte zum Dreh- und Angelpunkt einer „Einheit in<br />

Vielfalt“ machen will, dann sollten <strong>die</strong>se alten Werte<br />

immer wieder neue Inhalte in sich aufnehmen, um<br />

lebendig und zeitgemäß zu bleiben. Gleichzeitig<br />

sollten neue gemeinsame Werte, <strong>die</strong> unserer historischen<br />

Lage angemessen sind, entstehen und im vereinten<br />

Aufbau der Europäischen Gemeinschaft<br />

praktisch werden.<br />

Der Beitrag ist der stark gekürzte Text eines Vortrags der<br />

Verfasserin auf dem Internationalen Kongress „Justice and<br />

Human Values in Europe“, der vom 9. bis 11. 2007 Mai in<br />

Europa, ein Freizeipark: Deutschlands größter Themenpark, Rust bei Freiburg<br />

55


56<br />

Nach der Stu<strong>die</strong> einer Schweizer Unternehmensberatung<br />

vom März <strong>die</strong>ses Jahres liegt der CO 2 -Ausstoß<br />

„der Porsche-Sportwagen” bei 300 Gramm pro<br />

Kilometer ...<br />

... <strong>die</strong>se Aussage ist falsch. Unsere Sportwagen emittieren<br />

im Schnitt nicht mehr als 265 Gramm. Selbst,<br />

wenn Sie <strong>die</strong> Cayenne-Modelle mit einbeziehen,<br />

kommt Porsche auf einen durchschnittlichen CO 2 -<br />

Ausstoß von weniger als 290 Gramm.<br />

Dennoch bleibt ein Flottenwert von knapp 300<br />

Gramm CO 2 sehr hoch. Im Branchenvergleich<br />

nimmt Porsche damit eine Spitzenstellung ein. <strong>Die</strong><br />

Honda-Flotte beispielsweise emittiert nur halb so<br />

viel.<br />

Das mag ja sein. Nur ist <strong>die</strong>se Gegenüberstellung<br />

nicht redlich. Denn Porsche ist ein kleiner Nischenhersteller<br />

und kein Volumenhersteller. Wir bauen<br />

ausschließlich exklusive Sport- und Geländewagen.<br />

Auch <strong>die</strong> großen Automobilkonzerne bieten sportliche<br />

oder geländegängige Fahrzeuge an. Aber bei der<br />

Berechnung des Durchschnittswerts für <strong>die</strong> Gesamtflotte<br />

fallen <strong>die</strong>se Modelle kaum ins Gewicht, weil <strong>die</strong><br />

Hersteller sie mit ihren Millionen Kleinwagen statistisch<br />

verrechnen können. Uns ist das nicht möglich.<br />

Wir bauen zwar flotte Autos, haben aber keine Flotte.<br />

Wäre Porsche nicht unabhängig, sondern wie <strong>die</strong><br />

meisten unserer direkten Wettbewerber Tochtergesellschaft<br />

eines großen Konzerns, würde unser CO 2 -<br />

Wert noch nicht einmal gesondert ausgewiesen werden.<br />

Hier vergleicht man also Äpfel mit Birnen.<br />

Was wäre denn Ihrer Ansicht nach eine sinnvollere<br />

Bewertungsgrundlage?<br />

Wir müssen <strong>die</strong> Marktsegmente einzeln betrachten.<br />

<strong>Die</strong> entscheidende Frage lautet doch, wie viel CO 2<br />

beispielsweise der aktuelle Porsche 911 im direkten<br />

Vergleich mit einem ähnlich leistungsstarken Sportwagen<br />

des Wettbewerbs ausstößt. Und glauben Sie<br />

mir, Sie werden von dem Ergebnis überrascht sein.<br />

Was ihre Umwelteigenschaften betrifft, brauchen<br />

sich <strong>die</strong> Fahrzeuge von Porsche in ihren Segmenten<br />

vor den Produkten der Konkurrenz jedenfalls nicht zu<br />

verstecken, im Gegenteil. Das gilt für den 911 ge -<br />

nauso wie für den Boxster, den Cayman oder den<br />

Cayenne.<br />

Über <strong>die</strong> Freude am Fahren<br />

Nicht ohne mein Auto<br />

<strong>Die</strong> Auto-Industrie, meint der Ex-VW-Vorstand Daniel Goudevaert, „deckt nicht <strong>die</strong> Bedürfnisse der Kundschaft, sondern sie<br />

weckt Bedürfnisse, <strong>die</strong> sie durch das Angebot stillt“, besonders durch das lukrative Angebot klimaschädlicher größerer Wagen.<br />

Toyota hatte den Mut, ein kleines (und nicht gerade schönes) Auto auf den Markt zu bringen. <strong>Die</strong> deutsche Automobilindustrie<br />

aber ist umwelttechnisch nicht mehr Weltspitze, sondern muss jetzt eine Aufholjagd beginnen. <strong>Die</strong> Porsche AG, so ihr<br />

Vorstandsvorsitzender Wiedeking, ist mit dabei.<br />

Interview mit Dr. Wendelin Wiedeking<br />

Sollten <strong>die</strong> Automobilhersteller demnach verpflichtet<br />

werden, vor allem bei ihren Sport-, Gelände- und<br />

Oberklassefahrzeugen <strong>die</strong> CO 2 -Emissionen drastisch<br />

zu senken? Schließlich emittiert ein Kleinwagen<br />

nur etwa halb so viel Kohlendioxid wie beispielsweise<br />

der Porsche Cayenne.<br />

Auf unseren Straßen fahren aber viele Millionen<br />

Klein- und Mittelklassewagen und nur relativ<br />

wenige Cayenne. Das heißt, wenn wir <strong>die</strong> CO 2 -<br />

Emissionen des Pkw-Verkehrs insgesamt wirklich<br />

spürbar reduzieren wollen, dürfen wir uns dabei<br />

nicht allein auf <strong>die</strong> Premium-Segmente beschränken,<br />

sondern müssen auch in den Volumen-Segmenten<br />

ansetzen. Denn aufgrund der hohen Stückzahl<br />

liegt deren Anteil an den Emissionen um ein<br />

Mehrfaches über dem der Premium-Segmente. Alle<br />

heute zugelassenen Porsche-Fahrzeuge zusammen-


genommen tragen beispielsweise weniger als ein<br />

Promille zum CO 2 -Gesamtausstoß in Deutschland<br />

bei. Selbst wenn wir unsere Werke morgen komplett<br />

dichtmachen und alle Porsche-Fahrer aufs Fahrrad<br />

umsteigen würden, hätte <strong>die</strong>s keinerlei messbare<br />

Auswirkungen auf <strong>die</strong> deutsche CO 2 -Bilanz –<br />

geschweige denn auf <strong>die</strong> Entwicklung des globalen<br />

Klimas.<br />

Kann Porsche sich Ihrer Ansicht nach also bequem<br />

zurücklehnen?<br />

Das habe ich damit nicht gesagt. Selbstverständlich<br />

stehen auch wir in der Pflicht, unseren Beitrag zum<br />

Klimaschutz zu leisten, gar keine Frage. Und wir nehmen<br />

unsere Verantwortung für <strong>die</strong> Umwelt sehr<br />

ernst. So hat Porsche in den vergangenen Jahren <strong>die</strong><br />

CO 2 -Emissionen seiner Fahrzeuge im Durchschnitt<br />

immerhin um jährlich 1,7 Prozent gesenkt. Das ist ein<br />

Spitzenwert in der Autoindustrie. Und der aktuelle<br />

Cayenne verbraucht bis zu 15 Prozent weniger Kraftstoff<br />

als <strong>die</strong> Vorgängergeneration.<br />

Trotzdem emittiert ein Cayenne nach wie vor rund<br />

doppelt soviel CO 2 wie ein Kleinwagen.<br />

Wir können <strong>die</strong> Gesetze der Physik nicht einfach<br />

aushebeln. Es ist nicht möglich, einen Geländewagen<br />

auf das CO 2 -Niveau eines Kleinwagens zu bringen.<br />

Doch auf <strong>die</strong> Leistung bezogen, beim CO 2 -<br />

Ausstoß pro PS, sind unsere Fahrzeuge schon heute<br />

deutlich besser als jeder Kleinwagen. Und wir arbeiten<br />

daran, unsere Motoren in Zukunft noch effizienter<br />

zu machen. Übrigens: <strong>Die</strong> neuen Technologien<br />

zur Verbrauchsminderung, <strong>die</strong> wir und andere<br />

Premium-Hersteller in unseren Fahrzeugen einsetzen,<br />

kommen häufig später auch in den Volumensegmenten<br />

zum Einsatz. Von der Bereitschaft unserer<br />

Kunden, den Mehrpreis für teure Innovationen<br />

zu bezahlen, profitiert am Ende auch der Kleinwagen-Käufer.<br />

Kein Porsche-Fahrer braucht also im<br />

Büßergewand herumlaufen.<br />

Dennoch hat man bisweilen den Eindruck, <strong>die</strong> deutschen<br />

Autobauer litten allgemein unter einem „PS-<br />

Größenwahn”.<br />

Ich habe <strong>die</strong>sen Eindruck nicht. Richtig ist, dass<br />

<strong>die</strong> deutsche Automobilindustrie vor allem in den<br />

Premium-Segmenten international sehr erfolgreich<br />

ist – also mit technisch innovativen, leistungsstarken<br />

und gut ausgestatteten Fahrzeugen. Das ist nun<br />

einmal ihre Stärke. Und wenn wir nicht Gefahr laufen<br />

wollen, hierzulande in großem Ausmaß industrielle<br />

Arbeitsplätze zu verlieren, tun wir gut daran,<br />

<strong>die</strong>se Stärke weiterhin zu nutzen.<br />

Hat Toyota denn nicht schon vor einiger Zeit seinen<br />

Konkurrenten, auch in Europa, vorgemacht, dass es<br />

auch anders geht?<br />

Bei aller Wertschätzung für <strong>die</strong> Kollegen von Toyota<br />

– aber der CO 2 -Ausstoß der europäischen Toyota-<br />

Flotte liegt immer noch über dem Wert von Volkswagen.<br />

Auch <strong>die</strong> Japaner bauen schließlich Geländeund<br />

Sportwagen. Leider werden solche Fakten in der<br />

emotional aufgeheizten Klimadebatte gerne übersehen.<br />

Bei uns haben sogar einige Volksvertreter dazu<br />

aufgerufen, <strong>die</strong> Produkte heimischer Hersteller zu<br />

boykottieren und stattdessen japanische Fahrzeuge zu<br />

kaufen. In Frankreich oder Japan wäre so etwas<br />

undenkbar.<br />

Kann <strong>die</strong> Automobilbranche ihr für nächstes Jahr<br />

selbstgesetztes Ziel von 140 Gramm CO 2 -Ausstoß<br />

pro Fahrkilometer überhaupt noch erreichen?<br />

<strong>Die</strong>se Zielsetzung ist sehr ehrgeizig. Doch wenn<br />

sämtliche Unternehmen mitziehen und genauso<br />

konsequent an der Reduzierung ihrer Flottenwerte<br />

arbeiten wie Porsche, dürften <strong>die</strong> europäische Automobilindustrie<br />

<strong>die</strong>ser Vorgabe zumindest ein gutes<br />

Stück näher kommen. Wichtig ist nur, dass der<br />

CO 2 -Austoß im Mittelklasse- und Kleinwagensegment<br />

prozentual gesehen ebenso stark gesenkt wird<br />

wie in der Oberklasse. Ich bin davon überzeugt, dass<br />

<strong>die</strong> europäischen Hersteller noch eine ganze Reihe<br />

technischer Neuerungen zur Verbrauchsminderung<br />

in der Hinterhand haben, <strong>die</strong> im Verlauf der kommenden<br />

zwölf Monate in den Serieneinsatz gehen<br />

werden. Am 31. Dezember 2008 wird Bilanz gezogen,<br />

dann wissen wir mehr.<br />

2012 soll der CO 2 -Ausstoß der europäische Automobilindustrie<br />

auf durchschnittlich 130 Gramm<br />

begrenzt werden. Müssen wir bis dahin mit dem<br />

hohen Ausstoß leben?<br />

Dazu sollte man zunächst wissen, dass der Pkw-<br />

Verkehr am gesamten Kohlendioxid-Ausstoß in<br />

Deutschland nur mit weniger als zwölf Prozent<br />

beteiligt ist. Der Anteil, den unsere Kraftwerke beisteuern,<br />

liegt zum Beispiel gut dreieinhalb mal so<br />

hoch, bei 43 Prozent. Sogar <strong>die</strong> privaten Haushalte<br />

tragen mit einem Anteil von 14 Prozent stärker zu<br />

den CO 2 -Emissionen bei als der Pkw-Verkehr. <strong>Die</strong><br />

Vorstellung, dass <strong>die</strong> europäische Automobilindustrie<br />

den Anstieg des vom Menschen verursachten<br />

Kohlendioxids in der Erdatmosphäre im Alleingang<br />

stoppen könnte, ist vor <strong>die</strong>sem Hintergrund doch<br />

geradezu absurd – erst recht, wenn man bedenkt,<br />

dass beispielsweise in China jede Woche ein neues<br />

Kohlekraftwerk in Betrieb geht. Wir haben es hier<br />

mit einem weltweiten Problem zu tun. Und das lässt<br />

sich eben nur global unter Einbeziehung sämtlicher<br />

Ursachen lösen.<br />

Eine <strong>die</strong>ser Ursachen ist und bleibt aber das Automobil<br />

– jedenfalls, solange es von einem Motor angetrieben<br />

wird, der Kraftstoffe auf fossiler Basis verbrennt.<br />

Das ist unbestritten. Und natürlich werden <strong>die</strong><br />

Hersteller viel Geld in ihre Entwicklung investieren,<br />

um gemeinsam bis 2012 den Zielwert von 130<br />

Gramm zu erreichen. Das geht allerdings nicht über<br />

Nacht und ist auch nicht allein mit Fortschritten im<br />

Bereich der Fahrzeugtechnik realisierbar. <strong>Die</strong> EU-<br />

Kommission hat nicht ohne Grund vorgeschlagen,<br />

dass ein Teil der angestrebten Reduktion, nämlich<br />

zehn Gramm, mit anderen Maßnahmen erreicht<br />

57


58<br />

werden soll, um insgesamt sogar auf einen Wert von<br />

120 Gramm zu kommen.<br />

Das klingt ambitioniert. Und an welche Maßnahmen<br />

wurde da gedacht?<br />

Dazu zählen beispielsweise Reifen mit geringerem<br />

Rollwiderstand und der verstärkte Einsatz von Biokraftstoffen.<br />

Auch im Straßenbau kann noch viel<br />

getan werden – sei es durch <strong>die</strong> Verwendung von Belägen,<br />

<strong>die</strong> den Kraftstoffverbrauch mindern, sei es<br />

durch den Einsatz von intelligenten Leitsystemen, <strong>die</strong><br />

den Verkehr entzerren und Staus vermeiden helfen.<br />

Und jeder Einzelne hat natürlich auch durch sein<br />

individuelles Fahrverhalten einen erheblichen Einfluss<br />

darauf, wie viel Kohlendioxid sein Fahrzeug in<br />

der Praxis emittiert.<br />

Warum wurde eigentlich, dass das Drei-Liter Auto<br />

„vom Markt nicht angenommen”? Ist da etwa das<br />

Vertrauen ins eigene Marketing geschwunden?<br />

<strong>Die</strong> Nachfrage nach solchen Modellen war seinerzeit<br />

nicht so stark gewesen, dass es sich betriebswirtschaftlich<br />

gerechnet hätte, sie weiter anzubieten. <strong>Die</strong><br />

Zeit war einfach noch nicht reif dafür. Das könnte<br />

heute anders sein.<br />

Wir wissen relativ verlässlich, dass <strong>die</strong> Erdölreserven<br />

nicht nur begrenzt sind, sondern dass wir einem<br />

Fördermaximum entgegengehen. Wann wird es nach<br />

Ihren Informationen erreicht sein?<br />

Dazu gibt es eine Reihe unterschiedlicher Prognosen,<br />

<strong>die</strong> dazu auch noch nahezu jährlich korrigiert<br />

werden – in aller Regel übrigens nach oben. Allerdings<br />

scheint <strong>die</strong> Erschließung neuer Vorkommen<br />

in bestimmten Bereichen der Erdölförderung offenbar<br />

recht kompliziert und teuer zu sein. In jedem<br />

Fall müssen sich <strong>die</strong> Autofahrer darauf einstellen,<br />

dass <strong>die</strong> Preise für fossile Brennstoffe aufgrund der<br />

weltweit zunehmenden Nachfrage weiter steigen<br />

werden.<br />

Kann der dann ziemlich sicher eintretende Rückgang<br />

der Erdölförderung und damit der Benzinproduktion<br />

allein durch den Einsatz sparsamerer Motoren<br />

oder Fahrweisen aufgefangen werden?<br />

Wahrscheinlich nur zu einem Teil. Ein wichtiger<br />

Effekt wird aber sein, dass wir damit das Erdölzeitalter<br />

verlängern können, was uns mehr Zeit für <strong>die</strong><br />

Suche nach Alternativen gibt. Wir sprechen hier von<br />

Zeiträumen, <strong>die</strong> in der Fahrzeugentwicklung eine<br />

halbe Ewigkeit sind. Gerade im Bereich der Motorentechnik<br />

sehe ich ein großes Entwicklungspotenzial,<br />

das noch lange nicht ausgeschöpft ist. Interessant<br />

ist in <strong>die</strong>sem Zusammenhang auch ein<br />

Rückblick: Seit 1990 hat das Verkehrsaufkommen<br />

in Deutschland einschließlich des Lkw-Verkehrs<br />

um immerhin 60 Prozent zugenommen. Trotzdem<br />

ist der jährliche Gesamtverbrauch von Benzin- und<br />

<strong>Die</strong>sel-Kraftstoff allein in den vergangenen sechs<br />

Jahren von knapp 42 Millionen Tonnen um etwa<br />

acht Prozent auf rund 38 Millionen Tonnen gesunken.<br />

Wir sind also bereits auf dem richtigen Weg.<br />

Könnte das möglicherweise künftig zurückgehende<br />

Benzin-An gebot durch Ersatz-Kraftstoffe wie Bio-<br />

Ethanol ausgeglichen werden?<br />

Bio-Ethanol ist schon heute eine sehr interessante<br />

Option – nicht zuletzt auch deshalb, weil es unter<br />

bestimmten Produktionsbedingungen weitgehend<br />

CO 2 -neutral sein kann. <strong>Die</strong> Sportwagen-Modelle<br />

von Porsche vertragen bereits Kraftstoffe, denen zehn<br />

Prozent Bio-Ethanol beigemischt wurden. Der aktuelle<br />

Cayenne verträgt sogar bis zu 25 Prozent Beimischung.<br />

Und wir arbeiten derzeit an neuen Motoren,<br />

<strong>die</strong> künftig sogar mit Kraftstoff betrieben werden<br />

können, der einen Ethanol-Anteil von bis zu 80 Prozent<br />

hat. Bisher stehen Kraftstoffe mit Bio-Ethanol<br />

leider noch nicht flächendeckend zur Verfügung. Da<br />

gibt es für <strong>die</strong> Kraftstoffindustrie und für <strong>die</strong> Erzeuger<br />

der notwendigen Biomasse noch einiges zu tun.<br />

Und welche Chancen sehen Sie für synthetische<br />

Kraftstoffe?<br />

<strong>Die</strong> Entwicklung synthetischer Kraftstoffe macht<br />

durchaus Fortschritte. Und das ist auch gut so. Denn<br />

im Gegensatz zur Herstellung herkömmlicher Biokraftstoffe<br />

aus Samen oder Früchten kann beim Syntheseprozess<br />

<strong>die</strong> ganze Pflanze als Lieferant von Bio-<br />

Masse genutzt werden. <strong>Die</strong>ses Verfahren führt zu<br />

einer erheblichen Verbesserung der Ökobilanz und<br />

kann der Umwelt tatsächlich einen großen Nutzen<br />

bringen. Noch ist allerdings nicht absehbar, wann<br />

synthetische Kraftstoffe in größeren Mengen und zu<br />

vertretbaren Kosten zur Verfügung stehen werden.<br />

Im Rahmen einer Innovationsallianz der deutschen<br />

Industrie unter Federführung des Bundesministeriums<br />

für Bildung und Forschung wird derzeit am Aufbau<br />

einer <strong>ersten</strong> großtechnischen Anlage in Deutschland<br />

gearbeitet, <strong>die</strong> voraussichtlich im Jahr 2012 in<br />

Betrieb gehen könnte.<br />

Von alternativen Antrieben wie dem Hybrid-Motor<br />

ist in Deutschland sehr verhalten <strong>die</strong> Rede. Toyota<br />

konnte dagegen bereits rund eine Million Hybrid-<br />

Fahrzeuge absetzen. Haben <strong>die</strong> deutschen Hersteller<br />

den Trend verschlafen?<br />

Das sehe ich nicht so. <strong>Die</strong> deutschen Hersteller<br />

haben einfach andere Strategien verfolgt; zum Beispiel<br />

mit der <strong>Die</strong>seltechnologie, und zwar mit<br />

Erfolg. Wir sollten auch nicht vergessen, dass Toyota<br />

jährlich insgesamt rund neun Millionen Fahrzeuge<br />

absetzt. Da nehmen sich eine Million Hybridfahrzeuge<br />

auf zehn Jahre verteilt immer noch sehr<br />

bescheiden aus.<br />

Langsam scheint der Hybrid-Zug jedoch Fahrt aufzunehmen.<br />

Werden <strong>die</strong> deutschen Hersteller es schaffen,<br />

rechtzeitig aufzuspringen?<br />

Klar, derzeit hat der Hybrid Hochkonjunktur.<br />

Aber eigentlich ist er ja nichts Neues. Der erste<br />

Hybrid-Antrieb wurde bereits vor mehr als einem<br />

Jahrhundert entwickelt – übrigens von Professor<br />

Ferdinand Porsche. Und moderne Hybrid-Prototypen<br />

gab es in Deutschland schon in den 80er Jahren.<br />

Keine Frage: Toyota hat sich auf <strong>die</strong>sem Gebiet


einen Vorsprung erarbeitet. Aber wir Deutschen<br />

haben längst <strong>die</strong> Verfolgung aufgenommen und<br />

holen inzwischen auf.<br />

Ist auch Porsche an <strong>die</strong>ser Verfolgungsjagd beteiligt?<br />

Ja, auf jeden Fall. Noch vor Ende <strong>die</strong>ses Jahrzehnts<br />

werden wir eine eigenständige, innovative Hybrid-<br />

Lösung anbieten. Und soviel steht schon fest: Der<br />

Cayenne wird mit Hybrid-Antrieb bis zu 30 Prozent<br />

weniger Kraftstoff verbrauchen als <strong>die</strong> aktuelle<br />

Modellgeneration. Im Klartext: Bei der Verbrauchsangabe<br />

wird eine Acht vor dem Komma stehen.<br />

Auch unsere künftig vierte Baureihe, der Panamera,<br />

wird für den Hybrid-Antrieb ausgelegt sein.<br />

Wie einsatzfähig ist <strong>die</strong> Technologie des Wasserstoffbzw.<br />

des Brennstoffzellen-Motors? Angeblich gibt es<br />

bei uns schon seit etwa 20 Jahren ein solches Automobilprojekt.<br />

Pilotprojekte gibt es in <strong>die</strong>sem Bereich schon viele.<br />

Aber <strong>die</strong> vielfältigen Probleme, <strong>die</strong> im Zusammenhang<br />

mit <strong>die</strong>sen neuen Technologien auftreten, sind<br />

noch lange nicht zufriedenstellend gelöst. Dazu<br />

gehört unter anderem <strong>die</strong> entscheidende Frage, wie<br />

regenerativer Wasserstoff in ausreichender Menge<br />

bereitgestellt werden kann. Und am Ende muss auch<br />

der Kostenaufwand in einem vernünftigen Verhältnis<br />

zum Nutzen stehen. Denn eine aufwändige<br />

High-Tech-Lösung anzubieten, <strong>die</strong> sich niemand<br />

leisten kann, weil sie viel zu teuer ist, hilft ja niemandem<br />

weiter.<br />

Gibt es eigentlich ein Menschenrecht auf Mobilität?<br />

Auf jeden Fall ist das Streben nach Mobilität seit<br />

jeher ein menschliches Grundbedürfnis. Daraus<br />

gleich ein Menschenrecht abzuleiten, ginge vielleicht<br />

etwas zu weit. Doch über eines müssen wir uns<br />

im Klaren sein: Eine freie, moderne und global wettbewerbsfähige<br />

Industriegesellschaft wird ohne ein<br />

hohes Maß an individueller Mobilität einfach nicht<br />

funktionieren und sich positiv weiter entwickeln<br />

können.<br />

Das heißt, wir sollten so weitermachen wie bisher?<br />

Nein. Selbstverständlich müssen wir intensiv über<br />

<strong>die</strong> umweltverträgliche Gestaltung von Mobilität<br />

nachdenken. Da zu gehört beispielsweise, für eine<br />

effizientere Allokation von Menschen und Gütern<br />

auf <strong>die</strong> verschiedenen Verkehrsträger zu sorgen.<br />

Dazu gehört auch, <strong>die</strong> Erforschung und Entwicklung<br />

neuer Technologien konsequent voranzutreiben.<br />

Doch unsere Mobilität grundsätzlich infragezustellen,<br />

hieße, das Rad der Geschichte um<br />

mindestens hundert Jahre zurückzudrehen. Dann<br />

wäre unser Land aber nicht mehr wettbewerbsfähig<br />

– ganz zu schweigen von den immens hohen sozialen<br />

Kosten, <strong>die</strong> damit verbunden wären. Wollen wir<br />

aus Deutschland tatsächlich einen beschaulichen<br />

Freizeitpark zur Erbauung asiatischer Touristen<br />

machen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass <strong>die</strong> Bürger<br />

von <strong>die</strong>ser Zu kunftsperspektive allzu begeistert<br />

wären.<br />

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Heuchelberg<br />

59


Szenario 1<br />

Technik<br />

<strong>Die</strong> Gesellschaft ist von einer großen Offenheit<br />

gegenüber neuen Technologien geprägt. <strong>Die</strong> In -<br />

vestitionsbereitschaft von Unternehmen in neue<br />

Technologien hat aufgrund der Haftungsübernahme<br />

für Großrisiken durch den Staat erheblich<br />

zugenommen.<br />

Auch <strong>die</strong> klar definierte Rolle von Regulierern, <strong>die</strong><br />

das Angebot von Verkehrs-, Energie- und Telekommunikationsleistungen<br />

überwachen, ermöglicht ein<br />

Preisgefüge, das den technologischen Fortschritt<br />

fördert.<br />

Auf dem Gebiet der mobilen Breitbandtechnik ist<br />

es gelungen, attraktive Mobilfunk<strong>die</strong>nste für Un -<br />

ternehmen und Endverbraucher auf den Markt zu<br />

bringen. <strong>Die</strong> zunehmende Bedeutung der elektronischen<br />

Unterhaltung hat dazu geführt, dass für eine<br />

Reihe von Menschen – insbesondere Jugendliche –<br />

virtuelle Welten eine wichtige Rolle spielen. Zum<br />

Teil schottet man sich dadurch von der realen<br />

Außenwelt ab, vor allem, wenn das tägliche Leben<br />

nur wenig sinnhaft erscheint. Damit ist das Internet<br />

allgegenwärtig geworden, was sowohl der elektronischen<br />

Unterhaltung als auch dem elektronischen<br />

Handel einen enormen Aufschwung verliehen hat.<br />

Der stationäre Handel hat sich aufgrund seiner<br />

Logistikerfahrung und großer Investitionen in<br />

Logistiksysteme gegenüber dem E-Commerce<br />

behaupten können, so dass der überwiegende Teil<br />

der im Versorgungshandel getätigten Transaktionen<br />

weiterhin über den stationären Handel erfolgt.<br />

Automatische Übersetzungssysteme haben sich in<br />

der Breite durchgesetzt und dazu geführt, dass auch<br />

regionale Sprachen wie Katalan oder Ladinisch<br />

erhalten bleiben, obwohl Englisch <strong>die</strong> dominante<br />

Sprache in der internationalen Kommunikation<br />

geworden ist.<br />

Gegenüber dem Ubiquitous Computing bestehen<br />

weiterhin große Vorbehalte, da <strong>die</strong> Bürger ihre Privatsphäre<br />

nicht ausreichend geschützt sehen. <strong>Die</strong><br />

erhöhten Anforderungen für den Schutz der Privatsphäre<br />

machen es nicht wirtschaftlich, Alltagsgegenstände<br />

generell zu vernetzen. Der Kampf gegen Terrorismus<br />

sowie das zunehmende Bedürfnis nach<br />

Sicherheit haben jedoch zu einer weit verbreiteten<br />

DOKUMENTATION (ZWEITERTEIL)<br />

Wie wollen wir 2020 leben?<br />

Infratest hat für <strong>die</strong> Siemens AG im Jahr 2004 zwei Zukunftsvisionen vorgelegt (Horizons 2020. Ein Szenario als Denkanstoß für <strong>die</strong><br />

Zukunft). Europaweit wurden 671 Experten angeschrieben, 161 von ihnen nahmen an der Be fragung teil. Szenario 1 geht dabei<br />

von einem starken Sozialstaat aus, während das Szenario 2 durch eine Dominanz des freien Spiels der Kräfte und den Rückzug des<br />

Staates gekennzeichnet ist. In der GAZETTE Herbst 2007 brachten wir eine Gegenüberstellung der Abschnitte „Politik“, „Wirtschaft“<br />

und „Umwelt“. Heute und abschließend stellen wir <strong>die</strong> Abschnitte Abschnitte „Technik“ und „Gesellschaftliche Werte“ vor.<br />

Szenario 2<br />

Technik<br />

<strong>Die</strong> Gesellschaft ist geprägt durch eine große<br />

Offenheit gegenüber neuen Technologien. Dabei<br />

haben sich vor allem <strong>die</strong>jenigen Technologien<br />

durchgesetzt, <strong>die</strong> einen kurzfristigen Markterfolg<br />

versprechen.<br />

Technologien, <strong>die</strong> hohe Anlaufinvestitionen erfordern<br />

oder lange Entwicklungszeiten benötigen,<br />

haben sich nur in geringem Maße durchsetzen können.<br />

So hat <strong>die</strong> Brennstoffzelle nach wie vor den<br />

erwarteten Durchbruch nicht erzielt; lediglich in<br />

der stationären Anwendung sind einzelne, oftmals<br />

subventionierte Brennstoffzellen im Einsatz.<br />

Anders verhält es sich auf dem Gebiet der Kernenergie.<br />

<strong>Die</strong> kostengünstige Stromerzeugung aus<br />

Kernenergie und <strong>die</strong> technologische Entwicklung<br />

von inhärent sichereren Kernkraftwerken sowie <strong>die</strong><br />

europaweiten Anstrengungen zur Verringerung des<br />

CO 2 -Ausstoßes haben zu einer Revitalisierung der<br />

Kernenergie geführt. Dabei war das Zusammenwachsen<br />

des europäischen Marktes von großer<br />

Bedeutung. Es konnten Standorte sowohl für Kernkraftwerke<br />

als auch für Endlager in Regionen gefunden<br />

werden, in welchen ansonsten nicht investiert<br />

wird und wo eine geringere Sensibilität gegenüber<br />

<strong>die</strong>ser Technologie vorherrscht als im Ballungsraum.<br />

Große Verbundnetze führen zu einem ausreichenden<br />

Stromangebot für ganz Europa. Somit<br />

kann der steigende Energiebedarf in einer zunehmend<br />

technisierten Gesellschaft zu angemessenen<br />

Preisen gedeckt werden.<br />

<strong>Die</strong> Entwicklung der Kommunikationstechnik<br />

hat den größten Einfluss auf <strong>die</strong> Veränderung des<br />

täglichen Lebens. E-Commerce ist zu einem der<br />

wichtigsten Vertriebskanäle geworden. Der elektronische<br />

Einkauf von Waren und <strong>Die</strong>nstleistungen,<br />

das Bezahlen, aber auch <strong>die</strong> logistische Disposition<br />

sind zur Selbstverständlichkeit im Versorgungshandel<br />

geworden. Im Erlebnishandel ergänzen sich E-<br />

Commerce und stationärer Handel sehr vorteilhaft.<br />

Intelligente, autonome Systeme erfüllen eine<br />

ganze Reihe von Aufgaben im privaten Haushalt<br />

und im Arbeitsleben, wie z. B. <strong>die</strong> Disposition von<br />

Verbrauchsartikeln oder automatische Sicherheitsvorkehrungen.<br />

Da Sicherheit nicht mehr vom Staat<br />

61


62<br />

(Szenario 1) (Szenario 2)<br />

Akzeptanz gegenüber neuen Technologien zur<br />

Über wachung und Personenidentifizierung ge -<br />

führt.<br />

<strong>Die</strong> staatliche Technologieförderung und der<br />

Bedarf an immenser Rechenleistung im Sicherheitsbereich<br />

haben dem Quantencomputer zum Durchbruch<br />

verhelfen. Damit eröffnen sich für <strong>die</strong> Wirtschaft<br />

völlig neue Möglichkeiten, <strong>die</strong> paralleles<br />

Rechnen bereits zur Selbstverständlichkeit gemacht<br />

haben.<br />

<strong>Die</strong> Politik hat dafür gesorgt, dass zentralverwaltete<br />

Netze nach wie vor dominieren. So soll einerseits<br />

eine landesweite vollständige Netzabdeckung<br />

ermöglicht werden, auf der anderen Seite soll aber<br />

aus Sicherheitsgründen – um Kriminelle und (po -<br />

tentielle) Terroristen leichter abhören sowie Hacker<br />

verfolgen zu können – eine staatliche Kontrolle über<br />

<strong>die</strong>se möglich sein.<br />

Der hohe Stellenwert elektronischer Kommunikation<br />

und Me<strong>die</strong>n sowie <strong>die</strong> staatliche Förderung der<br />

Kommunikationstechnologie haben den Digital<br />

Divide verhindert. <strong>Die</strong>s wurde maßgeblich durch<br />

<strong>die</strong> Chancengleichheit im Bildungswesen und den<br />

Zugang für jeden Bürger zu den verschiedenen Bildungsinstitutionen<br />

erreicht. <strong>Die</strong> neuen Technologien<br />

werden damit von der Masse der Menschen<br />

genutzt, jedoch stehen den privaten Haushalten<br />

dafür nur begrenzte Budgets zur Verfügung.<br />

Intelligente autonome Systeme haben sich nur in<br />

Unternehmen zur Prognose von Finanzdaten, An -<br />

lagenoptimierung, aber auch zur Verkehrsflussoptimierung<br />

durchsetzen können. Bei den privaten<br />

Haushalten ist bislang kein Durchbruch erreicht<br />

worden, was unter anderem an dem gesunkenen frei<br />

verfügbaren Einkommen liegt. Im Bereich der Le -<br />

bens mitteltechnologie hat der Staat durch ent -<br />

sprechende Gesetze und Auflagen sowie eine Kenn -<br />

zeichungspflicht für gentechnisch modifizierte<br />

Nahrungsmittel dafür gesorgt, dass es auch weiterhin<br />

gentechnikfreie Nahrungsmittel gibt.Trotzdem<br />

haben sich genetisch modifizierte Nahrungsmittel<br />

schleichend durchgesetzt. Ökologisch orientierte<br />

Verbraucher sind allerdings nach wie vor äußerst<br />

skeptisch.<br />

Ein großer politischer Erfolg war <strong>die</strong> europäische<br />

Einigung auf eine einheitliche Gesetzgebung und<br />

<strong>die</strong> Klärung der ethischen Zulässigkeit der Anwendung<br />

der Gentechnik. <strong>Die</strong>s verschafft der Industrie<br />

Rechtssicherheit und sichert einheitliche Rahmen -<br />

bedingungen in ganz Europa. Bislang ist es allerdings<br />

nicht gelungen, <strong>die</strong>se europäischen Grundsätze<br />

auch außerhalb Europas zu verankern. Sowohl<br />

<strong>die</strong> USA als auch verschiedene asiatische Länder<br />

haben nicht nur in der grünen Gentechnik (Landwirtschaft),<br />

sondern auch in der roten (Medizin)<br />

und der grauen Gentechnik (Mikrobiologie, Um -<br />

weltschutztechnik) Wettbewerbsvorsprünge er -<br />

reicht, da dort keine gesetzlichen Beschränkungen<br />

bestehen. Eine Reihe internationaler Konzerne<br />

fährt heute eine zweigleisige Strategie: Einerseits<br />

garantiert werden kann, steigt <strong>die</strong> Nachfrage von<br />

Privatpersonen nach neuen Technologien der Überwachung<br />

und Personenidentifizierung. Sicherheit<br />

ist damit zu einem relevanten Markt geworden.<br />

Im Bereich des Mobilfunks ist es gelungen, attraktive<br />

<strong>Die</strong>nste für Unternehmen und Endverbraucher<br />

mit der mobilen Breitbandtechnik auf den Markt zu<br />

bringen.<br />

Ubiquitous Communication ist zur Regel geworden.<br />

Zahlreiche Gegenstände des täglichen Lebens<br />

und der Arbeitswelt sind intelligent und vernetzt.<br />

Insbesondere in der Logistik werden Informationen<br />

über Ort und Zustand von Gütern genutzt, um Produktionsqualität<br />

und Lieferprozesse zu überwachen<br />

und den Kundenservice zu erhöhen.<br />

<strong>Die</strong> Nutzungsart, aber auch <strong>die</strong> grundsätzliche<br />

Zugangsmöglichkeit zu elektronischen Kommunikationsmitteln<br />

trennen Weltbürger, Informierte,<br />

Berufstätige und mit guten Startchancen ausgestattete<br />

Jugendliche von demjenigen Teil der Bevölkerung,<br />

der keinen Zugang zu derlei Angeboten hat,<br />

was einen Digital Divide innerhalb der Gesellschaft<br />

zur Folge hat.<br />

Nicht durchsetzen konnten sich automatische<br />

Übersetzungssysteme, da <strong>die</strong> Dominanz des Englischen<br />

als Weltsprache dazu geführt hat, dass ein<br />

Großteil der Menschen direkt miteinander kommuniziert.<br />

Ebenso hat der Quantencomputer noch keinen<br />

Durchbruch erzielen können.<br />

Ein entscheidender Durchbruch bei der elektronischen<br />

Kommunikation wurde mit dem Supranet als<br />

dem Netz der Zukunft erzielt. Endgeräte <strong>die</strong>nen in<br />

<strong>die</strong>sen sich selbst organisierenden Netzen als Netzknoten.<br />

Datenaustausch und Telefonate finden<br />

ihren Weg von Endgerät zu Endgerät ohne <strong>die</strong> Nutzung<br />

zentralverwalteter Netze. <strong>Die</strong>s hat <strong>die</strong> Kommunikations-<br />

und Informationskosten maßgeblich<br />

minimiert und <strong>die</strong> Transfermenge von Information<br />

und Kommunikation erheblich erhöht.<br />

Technologische Fortschritte in der Nahrungsmittelindustrie<br />

haben zur Zunahme gentechnisch mo -<br />

difizierter Nahrungsmittel geführt. Sie sind entsprechend<br />

gekennzeichnet und haben sich nicht zuletzt<br />

aufgrund günstiger Preise in der Breite durchsetzen<br />

können.<br />

Hinsichtlich der Gentechnik generell ist es in<br />

Europa nicht gelungen, eine einheitliche Vorstellung<br />

darüber zu erlangen, was ethisch und juristisch<br />

vertretbar ist und was nicht, so dass auf <strong>die</strong>sem<br />

Gebiet ein intensiver Standortwettbewerb zwischen<br />

den verschiedenen Regionen Europas entstanden<br />

ist. Dadurch konnten vor allem Kleinstaaten wie<br />

Estland oder Island mit einer lockeren Gesetzgebung<br />

Standortvorteile erzielen.<br />

Wesentliche Fortschritte zur Nutzung menschlicher<br />

bzw. tierischer Bestandteile sind patentiert<br />

worden, wodurch Unternehmen <strong>die</strong> Rechte an<br />

bestimmten Therapien und Eingriffsmöglichkeiten<br />

erworben haben. Da <strong>die</strong>se Unternehmen selbst


(Szenario 1) (Szenario 2)<br />

werden Produkte nach europäischen Richtlinien<br />

hergestellt, welche aufgrund hoher Qualitätsstandards<br />

auch außerhalb Europas abgesetzt werden<br />

können.<br />

Andererseits werden auch solche Produkte produziert,<br />

welche <strong>die</strong> relativ strengen europäischen Vorschriften<br />

nicht berücksichtigen und daher nur<br />

außerhalb Europas hergestellt und angeboten werden<br />

können.<br />

Anwendungsgebiete der Gentechnik im Bereich<br />

menschlichen oder tierischen Lebens wurden in<br />

Europa aufgrund gemeinsamer ethischer Grundvorstellungen<br />

sehr restriktiv gehandhabt, so dass für<br />

Erfindungen auf <strong>die</strong>sem Gebiet kein Patentschutz<br />

erteilt wurde. Daraus haben sich zahlreiche internationale<br />

Konflikte entwickelt.<br />

Gesellschaftliche Werte<br />

<strong>Die</strong> Gesellschaft orientiert sich an traditionellkonservativen<br />

Werten. Gesellschaftliche Verantwortung,<br />

Toleranz sowie klare Moralvorstellungen<br />

kennzeichnen das Zusammenleben. Jeder ist für<br />

sich und seine Umgebung, sein eigenes Leben, seine<br />

Entwicklung sowie sein Tun verantwortlich. Sowohl<br />

Unternehmen und Organisationen als auch jeder<br />

Einzelne werden an Werten wie Fairness, Rücksicht<br />

sowie Verantwortungsbewusstsein gemessen. <strong>Die</strong>s<br />

geht einher mit einer großen Bedeutung des Berufs<br />

und des lebenslangen Lernens, was für <strong>die</strong> ge sell -<br />

schaftliche Stellung als wichtig erachtet wird.<br />

Konsum als Statusmerkmal hat heute kaum mehr<br />

eine Bedeutung. Alle Schichten, ob arm oder reich,<br />

kaufen preisgünstig ein, wodurch <strong>die</strong> Bedeutung der<br />

Discounter weiter zugenommen hat.<br />

Sicherheit hat sich in den vergangenen 15 Jahren<br />

zu einem neuen Wert in der Gesellschaft entwickelt.<br />

Da es dem Staat gelungen ist, <strong>die</strong> Sicherheit der Bürger<br />

weitgehend zu gewährleisten, stoßen Kontrollen<br />

zur Erhöhung der Sicherheit auf eine breite Akzeptanz.<br />

Trotzdem haben der Schutz der Privatsphäre<br />

und damit auch der Datenschutz einen ho hen Stellenwert.<br />

Jegliche Form der Über wachung, <strong>die</strong> hierauf<br />

keine Rücksicht nimmt, wird abgelehnt.<br />

Krankenhäuser betreiben, können sie <strong>die</strong>se Leistungen<br />

preisgünstig anbieten. Allerdings konnte der<br />

Patentschutz nicht flächendeckend durchgesetzt<br />

werden.<br />

Es werden alle Technologien genutzt, <strong>die</strong> es ermöglichen,<br />

bereits vor der Geburt auf das menschliche<br />

Leben Einfluss zu nehmen. Technologien wie <strong>die</strong><br />

pränatale Embryonenselektion zur Vermeidung von<br />

genetisch bedingten Krankheiten sowie <strong>die</strong> In-vitro-<br />

Fertilisation – ursprünglich entwickelt, um kinderlosen<br />

Paaren den Kinderwunsch zu erfüllen –<br />

ermöglichen zumindest teilweise <strong>die</strong> Ver wirk li -<br />

chung von individuellen Wünschen bei Charakter<br />

und genetischer Ausprägung von Ungeborenen.<br />

<strong>Die</strong> Zellchirurgie hat sich zu einer relevanten Technik<br />

entwickelt und ist ein Beweis für das Zusammenführen<br />

unterschiedlichster Disziplinen zum<br />

Nutzen des Menschen. Früher unheilbare Krankheiten,<br />

wie z. B. manche Krebsarten, sind dadurch<br />

heilbar geworden.<br />

Gesellschaftliche Werte<br />

Gesellschaftlicher Wandel ist ein positiv besetzter<br />

Wert, weshalb <strong>die</strong> Gesellschaft gegenüber Veränderungen<br />

aufgeschlossen ist. Es sind jedoch keine allgemein<br />

verbindlichen moralischen Wertvorstellungen<br />

mehr anzutreffen. Das Streben nach dem ei ge -<br />

nen Vorteil gilt für Individuen gleichermaßen wie<br />

für Unternehmen und Organisationen. Selbstverwirklichung<br />

sowie Eigenverantwortung stehen an<br />

der Spitze der Wertehierarchie. Jeder ist für sein persönliches<br />

Wohlergehen, seine Weiterentwicklung<br />

sowie für sein Tun selbst verantwortlich. Jeder<br />

Mensch hat zudem das Recht, über sein Sterben<br />

selbst zu entscheiden und <strong>die</strong>se Entscheidung auf<br />

nahestehende Menschen zu übertragen.<br />

<strong>Die</strong> Selbstverantwortung gilt nicht nur für das Privatleben,<br />

sondern auch im Arbeitsleben ist proaktives,<br />

unternehmerisches Handeln ausschlaggebend.<br />

Man ist offen für <strong>die</strong> gesamte Welt, nutzt <strong>die</strong> Möglichkeit,<br />

überallhin zu reisen und sich austauschen<br />

zu können. Der Umgang mit fremden Kulturen ist<br />

längst zur Selbstverständlichkeit geworden, was <strong>die</strong><br />

multikulturelle Zusammensetzung der Gesellschaft<br />

in Europa mit ihrer großen Vielfalt an Lebensstilen<br />

und Wertvorstellungen gefördert hat.<br />

<strong>Die</strong> Schere zwischen Arm und Reich hat sich weiter<br />

geöffnet, da ein Teil der Bevölkerung von der<br />

wirtschaftlichen Entwicklung in Europa profitieren<br />

und sein Einkommen weiter steigern konnte, während<br />

es einem anderen Teil der Gesellschaft nicht<br />

gelungen ist, an <strong>die</strong>sem Wohlstand teilzuhaben. <strong>Die</strong><br />

Unterschiede zwischen Arm und Reich sind nicht<br />

nur zwischen den verschiedenen Regionen Europas<br />

anzutreffen, sondern wachsen auch innerhalb der<br />

einzelnen Länder an.<br />

63


64<br />

(Szenario 1) (Szenario 2)<br />

Neben den daraus resultierenden Unterschieden<br />

hinsichtlich der Lebensverhältnisse und des Konsums<br />

ist auch Zeit zu einem Statussymbol avanciert.<br />

„Time poor, money rich“ bzw. „time rich, money<br />

poor“ ist heute einer der entscheidenden Klassenunterschiede.<br />

<strong>Die</strong> gesellschaftliche Stellung wird maßgeblich<br />

durch Freizeitaktivitäten sowie durch <strong>die</strong> Beteiligung<br />

am politischen und gesellschaftlichen Leben<br />

geprägt. Wer bereits im Beruf sehr engagiert ist,<br />

beteiligt sich auch stärker am politischen und gesellschaftlichen<br />

Leben und ist sehr viel aktiver in seiner<br />

Freizeit.<br />

<strong>Die</strong> soziale Durchlässigkeit in der Gesellschaft hat<br />

sich weiterhin verbessert, so dass ein gesellschaftlicher<br />

Aufstieg heute leichter möglich ist als vor 15<br />

Jahren. Allerdings ist mit der besseren sozialen<br />

Durchlässigkeit auch das Risiko des Verlustes der<br />

sozialen Stellung verbunden, da ein gesellschaftlicher<br />

Status nicht mehr lebenslang festgelegt ist.<br />

<strong>Die</strong> große Offenheit für neue Technologien sowie<br />

<strong>die</strong> rasante Entwicklung der Informations- und<br />

Kommunikationstechnik haben dazu beigetragen,<br />

dass virtuelle Welten zu einem neuen Lebensraum<br />

geworden sind. Einerseits wird <strong>die</strong> virtuelle Welt als<br />

Bereicherung der realen Welt gesehen, andererseits<br />

aber auch als Fluchtmöglichkeit, um dem für einen<br />

Teil der Menschen wenig attraktiven Lebensalltag<br />

zu entkommen.


Bilder und Texte: Tettler’s Postkarten Album, 1902<br />

Postkarten für den Fortschritt<br />

Poesiealbum der Electrizität<br />

65


66<br />

(ganz oben):<br />

„Wenn ich ein Vöglein wär’„ sang der Dichter vormals. Heute ist <strong>die</strong>s unnötig, denn das Telephon,<br />

<strong>die</strong>se epochale Erfindung, verbindet <strong>die</strong> Liebenden über Länder und Meere.<br />

(oben:)<br />

Bereits im zartesten Blüthenalter, so will es der Zeichner <strong>die</strong>ser Karte, soll der kleine Liebling<br />

<strong>die</strong> Errungenschaften der neuen Zeit benützen.


Wie sträubt sich der stattliche Schnurrbart des Papas vor Freude über den ersehnten Stammhalter,<br />

den der electrisch betriebene Automat ihm gegen eine mäßige Gebürhrbescheert.<br />

67


(oben:)<br />

Und endlich der Gipfel des Comforts: das vollelectrische Schlafgemach! Auf einen Knopfdruck erlöscht das Nachtlicht,<br />

auf einen weiteren öffnen sich <strong>die</strong> Vorhänge. Eine electrische Anlage unterrichtet <strong>die</strong> Domestiken, daß das kleine Frühstück<br />

gewünscht wird, und sogleich erscheint es mittels eines electrischen Aufzuges neben dem Bett. Wie schön werden es<br />

doch unsere Nachfahren haben, wenn Sie keine <strong>Die</strong>nstboten mehr um sich haben müssen!<br />

(Sammelbilder linke Seite:)<br />

Auch der <strong>die</strong>nstbare Geist des Jahres 2000 hat ein schöneres Leben. Gleich einem Zauberstab folgt <strong>die</strong> Maschine dem<br />

Elctro-Magneten in der Hand des Mädchens.<br />

Und schließlich ist der vornehmste Wunsch des Ökonomen erfüllt. Im Jahre 2000 sitzt er am Rande seiner Felder und<br />

sieht gemütlich zu, wie electrische Apparate sie abernten.<br />

<strong>Die</strong>s Bauwerk wächst allein durch <strong>die</strong> Kraft der Electrizität empor. Kein Arbeiter ist zu sehen, nur der Architekt be<strong>die</strong>nt<br />

Hebel und Knöpfe, und wie durch Geisterhand fügt sich Stein auf Stein.<br />

69


Zu den schönsten Weihnachtslandschaften gehören<br />

<strong>die</strong> Täler und Wälder, <strong>die</strong> einsamen Waldgebirge<br />

des nördlichen Neuengland. Sie beginnen ab<br />

einer Linie, <strong>die</strong> von Boston aus westlich bis zu dem<br />

an den Mittelrhein erinnernden Tal des majestätischen<br />

Mohawk River im Bundessstaat New York<br />

reicht und sich dann nordwärts wendet zur kanadischen<br />

Grenze, gegen den Niagarastrom hin und an<br />

das immer noch waldbestandene, wenngleich<br />

längst dichtbesiedelte und industriell entwickelte<br />

Ufer des östlichsten der Großen Seen.<br />

<strong>Die</strong>ser Landstrich, <strong>die</strong>ses riesige, über Hunderte<br />

Kilometer sich dehnende Rechteck auf der Landkarte,<br />

ist jener Teil Amerikas, der als einer der <strong>ersten</strong><br />

auf dem neuen Kontinent von englischsprechenden<br />

Siedlern, tiefreligiös und voll heimlichem<br />

Hass gegen Seine viel zu weltliche Britische Majestät,<br />

entdeckt wurde und auch bei den Neugierig-<br />

Gebildeteren des nördlichen Europa das erste Bild<br />

<strong>die</strong>ser neuen Welt geprägt hat. Und ohne dass es<br />

einer bis heute so richtig bemerkt hat, wurde <strong>die</strong>ser<br />

Teil des Kontinents als einer der <strong>ersten</strong> vom Lauf<br />

der Welt wieder vergessen. Vor annähernd 200 Jahren<br />

bereits. <strong>Die</strong>ses waldbestandene Neuengland<br />

wurde so sehr vergessen, dass es von da an bleiben<br />

konnte, was und wie es war. Und was es heute noch<br />

ist.<br />

Von einer Welt der kreischenden Geräusche, der<br />

Gier, des unablässigen Getriebes eines amerikanischen,<br />

oder sollen wir sagen: beinahe weltweit<br />

omnipräsenten Alltags treten wir da ein in eine<br />

Welt der Stille, ja fast des Schweigens; und das auch<br />

heute noch, ja, heute wieder ganz besonders. Selbst<br />

<strong>die</strong> profane Fahrt mit dem Auto auf der Autobahn<br />

aus der Megastadt zwischen New York City und<br />

dem Umland von Boston lässt <strong>die</strong>se Wandlung<br />

binnen weniger Kilometer erleben. Lagen unsere<br />

Blicke soeben noch auf Dörfern und Städten, auf<br />

bebautem, dem wirtschaftlichen Gewinn unterworfenem<br />

Land, so rücken uns von jetzt an, mit<br />

dem zunehmend sich wellenden Verlauf der Autobahn,<br />

<strong>die</strong> schier unendlichen Höhenlinien hintereinander<br />

gestaffelter Hügelketten nahe, und <strong>die</strong><br />

der nach Norden zu emporwachsenden Waldgebirge.<br />

Lichtungen dazwischen, an denen <strong>die</strong> Autobahn<br />

vorbeiführt, sind <strong>die</strong> Plätze für einzeln daliegende<br />

Gehöfte; sie scheinen nur der Abwechs lung<br />

zu <strong>die</strong>nen und das an Eindrücken herauszuarbeiten,<br />

was wir im <strong>ersten</strong> Überblick ohnehin schon<br />

geahnt haben. Dass wir da eintreten in ein Land des<br />

Schweigens und der Stille, wie es unsere Gegenwart<br />

scheinbar gar nicht mehr zu bieten vermag. Da und<br />

Reportage<br />

Weihnachtslandschaften<br />

Von Oskar Holl<br />

dort, in den langen Abständen der seltenen Autobahnabfahrten,<br />

an altenglisches Bauernland<br />

gemahnende Ortsnamen, doch im Widerspruch<br />

zu der Ankündigung ist kein einziges Dorf zu<br />

sehen, meist bleibt es bei versprengten Lichtern in<br />

den Wäldern, einem Durchblick vielleicht auf eine<br />

mit Lichterkette geschmückte hohe Tanne vor<br />

einem Haus, der Baum selbstverständlich lebend<br />

und ungeschnitten auf kräftig lebendem Stamm.<br />

<strong>Die</strong> Tanne steht vor einem solchen Hof, der zu der<br />

sonst unsichtbaren Gemeinde North Sutton<br />

gehört.<br />

<strong>Die</strong>ses Neuengland, das sind neben dem östlichen,<br />

fast schon allzu entlegenen und auch mit<br />

anderer Geschichte lebenden Maine vor allem <strong>die</strong><br />

Staaten New Hampshire, Vermont und der nördliche<br />

Teil des Staates New York, jener „Upstate New<br />

York“, der sich von der Weltmetropole im Süden so<br />

sehr unterscheidet, als wären es zwei Kontinente,<br />

durch einen Ozean von Bewusstsein und Lebensauffassung<br />

voneinander getrennt. Mit einander<br />

glücklich werden beide wohl nur, wenn sie aneinander<br />

nicht denken.<br />

Drei von Süd nach Nord verlaufende uralte,<br />

schwer verwitterte, vielfach abgeschliffene und<br />

abgerundete Waldgebirge, aus dem Altertum der<br />

Erdgeschichte, bilden das Rückgrat Neuenglands;<br />

in New Hampshire <strong>die</strong> White Mountains, für altes<br />

Urgestein ungewöhnlich hochaufragend und wie<br />

der Name sagt, schneebedeckt, und das neun<br />

Monate im Jahr, dann <strong>die</strong> grünen Berge von Vermont<br />

in der Mitte, und endlich im Westen <strong>die</strong><br />

weitläufigen, beinahe unabsehbaren Adirondacks<br />

im Staat New York, indianischer Name und auch<br />

noch indianische Reservationen, wenn auch kleinwinzig.<br />

Dazwischengehängt <strong>die</strong> Bänder der großen,<br />

fast geradewegs nach Süden strebenden<br />

Ströme, der stille Connecticut River mit durchsichtig-braunem<br />

Moorwasser und vor allem der<br />

breit sich hinwälzende, mehrere große Ströme aufnehmende<br />

Hudson River in dem weiten Tal, das<br />

Apfelbäume und Getreide so gut gedeihen lässt<br />

und den Holländern eine frühe Heimat war.<br />

Im November, eine gute Weile vor Thanksgivings,<br />

dem amerikanischen Fest, das nirgend<br />

anders so hingehört wie gerade hierher, ist schon<br />

längst der erste Schnee gefallen. Dann blieb es<br />

lange trocken, arktische Kälte floss vom Kanadischen<br />

Schild ungehindert, nicht wie in Europa<br />

durch Golfstrom und Ost-West verlaufende Mittelgebirge<br />

abgemildert, nach Süden herunter und<br />

erfüllte <strong>die</strong> Luft mit ihrer klirrenden, <strong>die</strong> Baum-<br />

71


72<br />

stämme zum Knacken bringenden Kälte. Ganz<br />

Vorsichtige, auch ehemalige Städter, <strong>die</strong> in ihren<br />

Häusern ohne Garten mitten unter Bäumen<br />

wohnten, achteten darauf, ob es im dem steinhart<br />

verharschten Schnee nicht Spuren von Bären gab<br />

oder ob sich <strong>die</strong> Braunen schon in ihre Winterquartiere<br />

verzogen hatten.<br />

Wer aus dem Auto steigt und sich zu Fuß weitermacht,<br />

dem zieht in der einfallenden Dämmerung<br />

bald der Rauch von Holzfeuer in <strong>die</strong> Nase, das un -<br />

trüglichste Zeichen, dass Häuser in der Nähe sind.<br />

Auch <strong>die</strong>ses Tal, das sich vor der Mündung in den<br />

Hauptfluss verengt, zeigte seine lange, geschwungene<br />

Form, nichts Jähes, keinen plötzlichen, willkürlichen<br />

Richtungswechsel, sondern ein leicht<br />

gekrümmter Talgrund lag da mit Grasboden, beidseits<br />

<strong>die</strong> Wälder an den Talhängen, und hier und<br />

dort stachen <strong>die</strong> Gehöfte heraus mit den rostrot<br />

gestrichenen Scheunen, der allgegenwärtigen Far -<br />

be, einst aus dem schwedischen Falun importiert,<br />

seit Jahrzehnten schon überragt von den Silos, <strong>die</strong><br />

zeigen sollten, dass auch Landwirtschaft heutzutage<br />

fabrikmäßig ernstgenommen sein wollte.<br />

Weit hinten, auf einem Hügel mitten im Talverlauf,<br />

einer Laune eines jener Gletscher, nach denen<br />

<strong>die</strong> ganze Landschaft noch aussieht, und das ganz<br />

besonders in <strong>die</strong>ser andrängenden Winterkälte,<br />

beginnt sich <strong>die</strong> weiße Holzkirche von South Strafford<br />

abzuzeichnen, mit ihrem schlanken, spitzen<br />

neuenglischen Kirchturm, wo puritanische Zimmermannsbaukunst<br />

gotischen Kirchenstil in <strong>die</strong>se<br />

Wälder gebracht hat, und das erheblich post festum,<br />

wahrscheinlich sogar erst nach den Napoleonischen<br />

Kriegen.<br />

<strong>Die</strong> eigentlich schmalbrüstige, beinahe fragile<br />

hölzerne Kirche, spitzbogig befenstert auf dem allseitig<br />

abfallenden Hügel, der freigehalten war bis<br />

auf einige halbhohe schöne Bäume, Obstbäume<br />

offensichtlich, aber jetzt in der Kälte zur Unkenntlichkeit<br />

entlaubt, und unten am Fuße, am Anfang<br />

des im Rasen kaum erkennbaren Kirchsteigs, ein<br />

ebenso weißes Holzhaus, mit gelb lasierten Lisenen,<br />

wie Laubsägearbeit, wie ein Spielzeug beinahe,<br />

es ist wohl das Pfarrhaus. Der Mittelbalkon<br />

und <strong>die</strong> symmetrische Holzarchitektur erinnern<br />

entfernt an Palladios Vicenza, kommen aber ohne<br />

einen einzigen Stein aus. Eines der oberen Fenster<br />

ist beleuchtet. Doch hier zu klingeln und unangemeldet<br />

um Eintritt zu bitten wäre sehr unamerikanisch<br />

in einem Land, in dem bei aller Lieblichkeit<br />

und Verhaltenheit der Landschaft das trespassing,<br />

das ungebetene Eintreten oder auch nur das Betreten<br />

eines fremden Stückes Boden, zu den Dingen<br />

gehört, <strong>die</strong> man besser nicht tut. <strong>Die</strong> Kirche und<br />

der schlanke, in der Dämmerung nun schon angestrahlte<br />

Turm, talauf und talabwärts weithin sichtbar,<br />

sind selbst in der angehenden Winternacht<br />

noch so etwas wie ein Lichtblick, in ihrer Zartheit<br />

Schutz erflehend und zugleich Schutz und versprechend.<br />

Weihnachtsauktion in Orford, draußen an der<br />

Hauptstraße, <strong>die</strong> nur deshalb wichtig und Haupt-<br />

straße ist, weil da der größte Fluss des Landstrichs<br />

das Tal bildet. Grell blendet <strong>die</strong> niedrig stehende<br />

Dezembersonne auf dem schütteren Schnee. An<br />

einer Straßenkreuzung und einer Brücke über den<br />

Connecticut River, der hier <strong>die</strong> Landesgrenze bildet,<br />

hat sich so etwas wie ein geschlossenes Dorf<br />

gebildet, mit kleinen Häuschen und nicht viel größeren<br />

Scheunen, überall <strong>die</strong> amerikanische Ausgabe<br />

der verdächtigen ochsenblutfarbenen falufärg<br />

an den Schalungen der Holzhäuser. Und hier nun<br />

Pickups, doch <strong>die</strong>se endlich einmal an einem richtigen<br />

Ort, und auch sonst manche Autos, <strong>die</strong> mehr<br />

Erdkrumen an den Reifen und innen auf dem<br />

Gummiboden haben und verschmierte Fenster, als<br />

der Städter es gewohnt gewesen wäre. Neben dem<br />

typisch amerikanischen Wagen auffällig viele Volvos,<br />

Kombis natürlich, mit Anhängerkupplung,<br />

und sogar, seht her, einen ebensolchen Mercedes.<br />

<strong>Die</strong> Hänger stehen nebenbei, sorgfältig aufgereiht,<br />

alle mit dem offenen Heck zur Straße gerichtet;<br />

Strohreste und Tiermist auf den Anhängerböden<br />

und auf der Straße.<br />

<strong>Die</strong> Weihnachtsauktion, zu der aus dem ganzen<br />

großen Umkreis <strong>die</strong> Leute kommen, ist eine Vieh -<br />

auktion. Von altersher. An einem der meist strahlenden<br />

Tage vor Weihnachten, in <strong>die</strong> eisige Kälte<br />

hinein, <strong>die</strong> dem Vieh aber nicht schadet. <strong>Die</strong> Rinder<br />

tragen ihren dicken Winterpelz und sind wie<br />

überall in den Staaten das Leben im Freien ge -<br />

wohnt. Winterlich ist auch der Aufzug der Besucher,<br />

sie laufen in ihren dicken, gewürfelten Lumberjacks<br />

umher, mit denen sie während der letzten<br />

Wochen zur Jagd gingen, rot und in anderen<br />

schreienden Farben, nicht um das Wild zu erschrecken,<br />

sondern zur Warnung für <strong>die</strong> anderen Jäger.<br />

Da passiert in einer jeden Jagdsaison etwas, Un -<br />

glück genug für eine Woche Valley News, aber das<br />

gehört nun einmal dazu.<br />

In eine der Scheunen ist ein Ring eingebaut, mit<br />

einem Podium für den Auktionator und seinen<br />

Assistenten, der kassiert, ringsum hinter den rohen<br />

Stangen sitzen <strong>die</strong> Farmer, Verkäufer und Käufer.<br />

In, wie gesagt, Lumberjacks und mit dicken Mützen,<br />

Ohrenklappen lose herabfallend. Gespanntes<br />

Schweigen unter den Anwesenden. Der Versteigerer<br />

erklimmt gerade, indem er <strong>die</strong> soeben im Kreise<br />

vorgeführte Färse oder den Jungstier wohlwollend<br />

und melodisch anpreist, seinen Auftakt und trommelt<br />

dann wie eine ununterbrochen angeschlagene<br />

Glocke seine Zahlenketten über Rinder und Menschen.<br />

Geboten wird in das Zahlenstakkato, in das<br />

kaum verständliche, hinein mit einem Fingerzeig,<br />

den der Unkundige jederzeit übersehen hätte. Hat<br />

er nun gekauft oder hat er nicht? Wir werden es nie<br />

erfahren. Wir müssten nur draußen bei den<br />

Anhängern lauern, später, wenn <strong>die</strong> Tiere wieder<br />

abgefahren werden.<br />

Aber da gibt es nicht nur <strong>die</strong> Tiere, den Auktionator,<br />

<strong>die</strong> Verkäufer und Käufer. <strong>Die</strong> Weihnachtsauktion<br />

von Orford war längst im ganzen Landkreis<br />

und darüber hinaus eine Attraktion geworden, zu<br />

der man einfach fuhr. Auf der Dorfstraße gehen


www.awi-bremerhaven.de<br />

vielleicht mehr Zuschauer als Farmer auf und ab,<br />

und <strong>die</strong> Zuschauer tragen ebenso <strong>die</strong> dicken, grellbunten<br />

Lumberjacks und verwegen schlampig aufgesetzten<br />

Wintermützen. Auch sie waren mit ihren<br />

Volvo-Kombis da. Zwischen den Pkw-Anhängern<br />

für <strong>die</strong> Tiere sind Buden aufgestellt; da gibt es Hot<br />

dogs und heißen Punsch. Heißen Punsch aber<br />

garantiert ohne Alkohol, denn Alkohol ist hier<br />

etwas Böses, und der heiße Punsch so gefährlich,<br />

wie amerikanisches Familienkino ebenso garantiert<br />

ohne Sex. Wer will, geht wieder in <strong>die</strong> Auktion<br />

rein, da ist es wärmer und riecht nach Stall, von den<br />

Rindern, <strong>die</strong> aufgetrieben wurden, und noch mehr<br />

von den Nachbarn, <strong>die</strong> sich im Ring drängen.<br />

Noch bevor <strong>die</strong> Wintersonne hinter dem Waldhang<br />

da drüben versank, ging <strong>die</strong> Auktion zu Ende.<br />

Da gab es noch ein Aufstieben von störrischen, nun<br />

den Wildfremden überlieferten Rindern, das Aufrauschen<br />

der Motoren, alles so von zwei bis sechs<br />

Li tern Hubraum, mit dem süßlichen Aroma des<br />

noch kalten, schlechtverbrannten amerikanischen<br />

Benzins, und dann war alles wieder vorbei.<br />

Nach <strong>die</strong>sen Stunden der Freude in der Winterkälte<br />

von New Hampshire, an der Brücke nach<br />

Vermont hinüber, gleich am andern Flussufer,<br />

kehrte in kürzester Zeit wieder Ruhe ein, so, als<br />

wäre in <strong>die</strong>sen Wäldern nie etwas Derartiges gewesen;<br />

so schnell, wie in den Vereinigten Staaten Feste<br />

und Feierlichkeiten enden, ein Hauch, ein Rauschen,<br />

und da war nichts mehr als nur ein verlasse-<br />

ner Platz mit kleinen Häusern, <strong>die</strong> aus <strong>die</strong>sem Jahrhundert<br />

stammen könnten oder auch aus dem letzten,<br />

oder was immer wir als letztes bezeichnen.<br />

Darüber nur <strong>die</strong> rasch wegsinkende Sonne, ebenfalls<br />

viel früher am Tag, als dem Anreisenden aus<br />

dem nördlichen Europa geläufig. Du bist hier<br />

immerhin – bei all <strong>die</strong>ser Winterkälte – auf der geographischen<br />

Breite von Neapel, da sinkt <strong>die</strong> Sonne<br />

schon schneller, mein Lieber, das hast du wohl nie<br />

gelernt, nicht wahr? Dafür haben wir hier, vielleicht<br />

hast du es schon einmal gemerkt, das schönere<br />

Licht. Ein Licht wie über dem Mittelmeer,<br />

wenn das Wetter es will.<br />

<strong>Die</strong> Menschen, <strong>die</strong> wir hier getroffen haben, hätten<br />

Farmer sein können oder auch Ärzte mit Praxen<br />

in den großen Städten draußen, <strong>die</strong> hier einen Hof<br />

hatten, vielleicht geerbt oder aus Liebhaberei er -<br />

worben. Sie hießen dann gentleman farmers, und<br />

<strong>die</strong> meisten, <strong>die</strong> wir als richtige Farmer eingeschätzt<br />

hatten, jene mit den absolut echten und<br />

sogar schmierigen Lumberjacks, besaßen auf dem<br />

Hof ihre vielleicht zwanzig Stück Vieh, erlesenes<br />

schottisches Hochland (keine texanische Massenware),<br />

aber für Montag bis Freitag einen sicheren<br />

Arbeitsplatz als Computertechniker oder Mechaniker<br />

in einem der versteckten Dörfer, vielleicht<br />

auch eineinhalb Autostunden entfernt in der Landeshauptstadt<br />

Manchester oder dort, wo vor einer<br />

Generation <strong>die</strong> Textilindustrie zugrunde gegangen<br />

war und Reihen nutzlos gewordener Klinkerbau-<br />

Schwindende Idylle: Untersuchungsgegenstand des Stiftung Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung<br />

73


74<br />

ten hinterlassen hatte. Und mit dem Geld bezahlten<br />

sie <strong>die</strong> falufärg für den Hof und kauften ein<br />

schönes altes Stück für <strong>die</strong> Einrichtung.<br />

Auch das ist Neuengland, schwierige Heimat.<br />

Von seiner Scholle allein lebt hier niemand mehr.<br />

Dann und wann triffst du in den weithin verstreuten<br />

und sich unermesslich ausdehnenden<br />

Dörfern, <strong>die</strong> hier ohne Unterschied ihrer Größe<br />

township heißen, am vermeintlichen Mittelpunkt<br />

kaum mehr als ein Town House und einen General<br />

Store mit Postamt; vielleicht gerade noch <strong>die</strong> Schu -<br />

le. Weitab davon und seltsamerweise meist ohne<br />

Kapelle oder Kirche der Friedhof. Viel zu groß und<br />

viel zu einsam, so scheint es, für derart wenige Einwohner.<br />

Jetzt, vor Weihnachten, stehen da vor<br />

manchen Grabsteinen neu aufgerichtete kleine<br />

Sternenbanner, und wenn der Wanderer <strong>die</strong> In -<br />

schrift liest, dann sieht er, der Grabstein über dem<br />

Sternenbanner ist hundertvierzig Jahre alt und<br />

erinnert mit schlankem, lakonischem Spruch an<br />

jemand aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg,<br />

gestorben im 24. Jahr seines Lebens. Officer and<br />

gentleman. Mehr nicht, nur das. Trauer ist hier, so<br />

scheint es, ebenso zurückhaltend wie das Land<br />

ringsum selbst, das ihm Heimat war, und der Tod<br />

in dem jungen Land da noch viel unverständlicher.<br />

Hoch oben über den Flusstälern, auf den Terrassen<br />

der Waldgebirge, trifft der Wanderer immer<br />

wieder völlig unerwartet auf Lichtungen. Seltsam<br />

ausgewachsene, verwilderte Obstbäume stehen auf<br />

dem verbuschten, verkrauteten Feld, und wer<br />

genauer hinsieht, erkennt vielleicht im hohen Gras<br />

granitene Fundamente einstiger Häuser. Das kann<br />

einem auf einer Höhe von acht- oder neunhundert<br />

Metern über dem Meeresspiegel begegnen. Dem<br />

entspräche in den Alpen dem Klima nach ein Dorf<br />

in doppelter Höhe, knapp unter zweitausend<br />

Meter, wo es kaum noch Einzelhöfe gibt. Eine<br />

kleine Umfrage bestätigt, ja, das alles war einmal<br />

besiedelt, mit kleinen Höfen, <strong>die</strong> sich alles selbst<br />

erzeugten, und unten im Tale hatten sie Mühlen,<br />

an den Hängen ihre Granitbrüche, deren Reste du<br />

heute noch sehen kannst. Von dem Granit übrigens<br />

wurden <strong>die</strong> Paläste und Hochhäuser New<br />

Yorks und Bostons verkleidet und <strong>die</strong> Straßen<br />

gepflastert, ehe der Beton seinen Siegeszug antrat.<br />

Als der Westen geöffnet wurde, <strong>die</strong> Weite über <strong>die</strong><br />

Appalachen zum Mississippi hin, da leerte sich <strong>die</strong>ses<br />

karge Land binnen einer Generation. <strong>Die</strong> Siedler,<br />

<strong>die</strong> in den amerikanischen Westen hinauszogen,<br />

waren nicht, wie du als Leser deutscher<br />

Jugendbücher von 1880 vielleicht annimmst,<br />

frisch angekommene Einwanderer aus Europa.<br />

Das waren zuallererst <strong>die</strong> zähen Bauern von hier,<br />

<strong>die</strong> unter König Georg I., dem Deutschen, aus<br />

Wales ausgewandert waren oder aus Schottland.<br />

Der Wald, den du hier siehst, <strong>die</strong>ses schier unendliche<br />

Gewoge von Nadelbäumen, von zuckertragendem<br />

Ahorn, Hochlandbuchen, Wassererle und<br />

Felsenbirne und dem <strong>die</strong> arktische Kälte ankündigenden<br />

Birkenbestand, der Wald mit dem grünen<br />

Schmelz drüber und der grauen Seitenansicht, all<br />

<strong>die</strong>ses Urweltliche, Urwaldähnliche, besteht erst<br />

wieder seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Dann<br />

nämlich waren <strong>die</strong> verlassenen Hofstätten der <strong>ersten</strong><br />

weißen Siedler endlich vollständig aufgegeben<br />

und hatte sich den wenigen daheim Gebliebenen<br />

<strong>die</strong> weitere Bewirtschaftung als endgültig sinnlos<br />

erwiesen.<br />

Der Wald hat sich <strong>die</strong>ses nördliche Neuengland<br />

zurückerobert, von Norden nach Süden. Land in<br />

den grünen Bergen, Vermont, ist mehr als nur der<br />

Name eines Bundesstaates, ist es heute vielleicht so<br />

sehr wie einst nur in der Zeit seiner Gründung.<br />

Einsamer ist und einsamer wirkt <strong>die</strong>ses verlassene<br />

Land, als es jede Landschaft wäre, <strong>die</strong> unbesorgt<br />

fröhlich einen geraden und dem Volksglauben<br />

nach zukunftsverheißenden Gang der Geschichte<br />

hinter sich hat, wie wir das von fast überall sonst<br />

kennen.<br />

Durch den schütteren Novemberschnee führen<br />

kaum erkennbare, mit wenigen blassgelben und<br />

braunen Naturfarben-Markierungen ökologisch<br />

sehr korrekt bezeichnete Wanderwege durch <strong>die</strong><br />

grauen, entblätterten Laubwälder, in <strong>die</strong> Höhen<br />

des Mount Cardigan oder des Mount Moosilaukee,<br />

eine Tour, <strong>die</strong> an <strong>die</strong>sen kurzen Dezembertagen<br />

morgens rechtzeitig begonnen werden sollte.<br />

Wer auf dem Gipfel steht, in der Mitte <strong>die</strong>ser schier<br />

unzerstörbaren Zelle hohen Luftdrucks, sieht ferne<br />

draußen <strong>die</strong> Wolkenbänke rauchen und sich langsam<br />

verschieben, nach unten, in <strong>die</strong> tieferen Luftschichten<br />

wie abgeschnitten. Der Blick reicht in<br />

<strong>die</strong> Ebene hinunter zum Atlantischen Ozean und<br />

auch weit hinein ins Inland, über Hügel und Hügel<br />

und nicht endenwollende Bergketten. <strong>Die</strong> Täler zu<br />

Füßen öffnen sich, das eine oder andere schwarze<br />

Auge von Gebirgssee blinkt, spiegelblank gefroren<br />

in den schneearmen, eisigen Wochen.<br />

Wer hier länger Umschau gehalten und seinen<br />

Pulsschlag endlich beruhigt hat, dem erklingt nun<br />

in <strong>die</strong>se Ruhe hinein ein Ton aus <strong>die</strong>ser Natur, ein<br />

Klang wie ein Orgelpunkt, Einbildung vielleicht<br />

und dennoch präsent vor den Sinnen wie <strong>die</strong> Sphärenmusik<br />

der Alten. Es ist der Klang <strong>die</strong>ser Landschaft.<br />

Da und dort in der Ferne dann doch eine<br />

Lichterpyramide, der geschmückte Baum vor einer<br />

Farm mitten in den Wäldern. Auch wenn unten <strong>die</strong><br />

Straße den Fluss entlang zieht und Fernlaster<br />

geräuschlos ihren Weg nehmen, auch wenn den<br />

Himmel Kondensstreifen zerfurchen, hier oben ist<br />

es, als wäre das Land noch nicht entdeckt und<br />

würde gerade jetzt darauf warten, endlich entdeckt<br />

zu werden. Oder aber: endlich wieder allein zu<br />

sein. Der Mensch ist hier immer nur ein Eindringling.<br />

Seine Spur verwischt sich jedes Mal, und jedes<br />

Mal erscheint alles wieder wie unbetreten.<br />

Im Hinuntergehen weht von irgendwoher ein<br />

Fetzen Musik, den der Wind heraufträgt, mehrstimmig<br />

gesungen, a capella, bestimmt eine Platte,<br />

was denn sonst? Aber es ist <strong>die</strong> Färbung von<br />

Gefühl, <strong>die</strong> hier Weihnachtslieder trägt, <strong>die</strong>se<br />

Mischung von Studentenrenaissance und etwas<br />

Händel, frisch und unsentimental vorgetragen wie


englische Choräle allemal, vielleicht Adeste fideles,<br />

mit der unnachahmlichen Lateinaussprache, <strong>die</strong><br />

<strong>die</strong> Englischsprechenden für normal halten. On the<br />

first day of Christmas my true love gave to me – zwölf<br />

Tage und zwölf Nächte wie in alten Zeiten dauern<br />

<strong>die</strong>se Weihnachten des Liedes, viel braucht der<br />

Liebste für so viele Tage zum Schenken, und viel<br />

haben <strong>die</strong> Kinder auswendig zu lernen und zu singen,<br />

bis <strong>die</strong>ser Zauber wieder vorbei ist. Aber das ist<br />

ja der Zauber: Twelve golden rings ...! Der Blizzard,<br />

der dem stabilen Spätherbstwetter ein Ende macht,<br />

passt zur Wildnis, <strong>die</strong> 5 <strong>die</strong>ses Land immer noch<br />

ist. Wieder werden einige unvorsichtige Autofahrer<br />

aus den Ballungsräumen mit ihren Sommerreifen<br />

auf der Autobahn liegengeblieben sein. Ein<br />

Glück, wenn es für eine dumme Hausfrau oder den<br />

naseweisen 28-jährigen Handelsgehilfen nicht mit<br />

dem Erfrierungstod endet. <strong>Die</strong> Straßen sind zu, auf<br />

eine Weise überfroren, <strong>die</strong> Kälte beißt, wie es sich<br />

im wohltemperierten alten Europa niemand träumen<br />

ließe, <strong>die</strong> Schulen schließen vor den Schneestürmen<br />

sicherheitshalber einige Tage, ehe <strong>die</strong><br />

eigentlichen Weihnachtsferien beginnen. So ist das<br />

hier immer. Etwas Schnee, und dann in allen<br />

Nachrichten und Köpfen gleich <strong>die</strong> Schnee<strong>katastrophe</strong>.<br />

<strong>Die</strong> Bären haben inzwischen längst ihre<br />

Höhlen bezogen, Winterschlaf überdeckt alles.<br />

Ein Weihnachtsmorgen in <strong>die</strong>sen Waldtälern<br />

Neuenglands, einige Zoll Schnee auf den Feldern,<br />

im Sonnenlicht werfen <strong>die</strong> Äste ihre Schneelast<br />

voller Glitzer ab. Das ist <strong>die</strong> richtige Feierstunde.<br />

<strong>Die</strong> eine, auf <strong>die</strong> das Land hier ein ganzes Jahr<br />

gewartet zu haben scheint. Noch immer treten <strong>die</strong><br />

Menschen so fröhlich vors Haus an <strong>die</strong>sem <strong>ersten</strong><br />

Feiertag, wie es schon der alte James Fenimore<br />

Cooper beschrieben hat in seinem „Lederstrumpf“,<br />

und vielleicht auch selber gemacht. Das<br />

waren, da einer ja meist von den glücklichen Tagen<br />

seiner Jugend schreibt, noch <strong>die</strong> Feste im längstvergangenen<br />

18. Jahrhundert, für ihn schon Jahrzehnte<br />

entfernt – und wie viele für uns? Offenbar<br />

viel weniger, als es den Anschein hat.<br />

In Cooperstown, im Upstate New York, ist er<br />

begraben. Erst nach seinem Tode haben sie das<br />

Dorf nach ihm benannt. Es liegt, wie es sich gehört,<br />

am Otsego-See. Dort sieht es genauso aus, wie es<br />

der alte Cooper in seinen Geschichten beschreibt.<br />

Viel stärker ist er da, als wenn er sich versucht, über<br />

<strong>die</strong> Prärien zu schreiben. <strong>Die</strong>se halb schlafende<br />

Waldlandschaft, der Kälte und der Dunkelheit<br />

zugewendet, mit den verstohlen umherschleichenden<br />

Indianern darin, das ist Cooper. Mit Ausnahme<br />

der edlen Wilden und des Kampfes auf<br />

Leben und Tod zwischen gut Englischgesinnten<br />

und Franzosenfreundchen in <strong>die</strong>sem Krieg, der<br />

damals schon ein Weltkrieg war, ist alles beim alten<br />

geblieben. Und in seiner Beschreibung hat er uns<br />

<strong>die</strong> Augen geöffnet.<br />

Einer der kältesten Tage des Jahres, und der fröhlichste.<br />

Sam, der Neger aus <strong>die</strong>sen Seiten des<br />

„Lederstrumpfs“, hatte vor lauter Kälte graue<br />

Backen, als er voller Eifer in der <strong>ersten</strong> Morgen-<br />

sonne den Weihnachtsschlitten anspannte. Bis<br />

zum Bauch standen <strong>die</strong> dampfenden Pferde im<br />

frisch gefallenen Schnee. Heute lebt Sam sicherheitshalber<br />

nicht mehr hier, und kaum einer seiner<br />

möglichen Nachkommen. <strong>Die</strong> eisigen Backen<br />

haben wir noch heute, wenn wir den morgendlichen<br />

Vorgarten da durchqueren. Ein Glück, dass<br />

der Motor des im Freien geparkten Autos <strong>die</strong> ganze<br />

Nacht über elektrisch geheizt war, so wie das <strong>die</strong><br />

meisten hier halten. Der fröhlichste Tag des Jahres.<br />

Vorbei mit den nächtlichen Wehen. Jetzt ist er da,<br />

jetzt, bei helllichtem Tag kann gefeiert werden. Wir<br />

werden feiern – und wahrhaft, wir tun es!<br />

Obwohl das Land hier eine Wiege <strong>die</strong>ser Nation<br />

ist, ist es vom übrigen Amerika so abgeschieden in<br />

seiner Fröhlichkeit und seiner diskreten Trauer,<br />

dass <strong>die</strong> Klugen und <strong>die</strong> Begüterten aus den ganzen<br />

USA meinen, hier könnten sie ihre Heranwachsenden<br />

unbesorgt herschicken, damit <strong>die</strong>se ungestört<br />

etwas Schliff bekämen und eine anständige Erziehung.<br />

Ohne dabei auf schlechte Gedanken zu<br />

kommen. Und es spricht für <strong>die</strong> Klugheit <strong>die</strong>ser<br />

Väter und Mütter, <strong>die</strong> das vielleicht selbst schon<br />

durchgemacht haben zu ihren Zeiten, dass sie <strong>die</strong>ses<br />

Land für ein gutes Land halten, wert, den Hintergrund<br />

zu liefern für <strong>die</strong> prägenden Jahre ihrer<br />

Kinder. So fern von allem anderen, als käme das<br />

Verbrechen niemals hierher. Aber es kommt, verlasst<br />

euch drauf, und wir wissen es.<br />

Trotzdem: Vielleicht sollte man, wenn abermals<br />

200 Jahre vergangen sind seit jenem Augenblick,<br />

da <strong>die</strong>ses Land im hellen Licht der Geschichte<br />

stand, wieder herkommen und nachsehen, ob es<br />

noch immer das ist, was es so gut und so lange war<br />

und was es heute noch ist: Landschaft des Wartens<br />

und versteckten Heranreifens, eine halb verborgene<br />

Welt mit langsamem Puls und ganz anders als<br />

vieles andere, das gleich nebenan einem aufstößt.<br />

Weihnachtslandschaft vielleicht.<br />

Das überlassen wir aber besser dem, der sich dann<br />

hier umsieht, wie gesagt, 200 Jahre nach uns.<br />

75


76<br />

Ein zorniges Rütteln reißt mich aus dem Schlaf.<br />

Verstört schrecke ich hoch, um mich gleich wieder in<br />

meinen zerbeulten Sitz fallen zu lassen. Im <strong>ersten</strong><br />

Moment meines Erwachens weiß ich weder, wo ich<br />

bin noch warum ich mich in <strong>die</strong>sem alten, baufälligen<br />

Bus befinde. Ein penetranter Geruch streift<br />

meine Nase und verursacht in mir eine leicht irritierende<br />

Übelkeit. Das ist wirklich typisch für <strong>die</strong>se<br />

russischen Leute: Knurrt erst einmal der Magen,<br />

packen sie auch schon ihr mit Knoblauch durchsetztes<br />

Proviant aus oder aber <strong>die</strong> legendären, vom Öl<br />

triefenden Piroggen, gefüllt mit Kraut oder Kartoffeln.<br />

<strong>Die</strong> ganz Hartgesottenen bringen sich <strong>die</strong><br />

Nationalsuppe Borschtsch mit, der einem Wackelpudding<br />

ähnlich bei jeder Kurve mal nach links, mal<br />

nach rechts überzuschwappen droht.<br />

Ich versuche, ruhig zu bleiben und drücke mich<br />

noch tiefer in meinen Sitz. Einen Schal um meinen<br />

Mund gehüllt, atme ich so flach wie möglich, um ja<br />

nicht das Duftkonglomerat in mich aufzunehmen,<br />

das im Bus sein Unwesen treibt. Verschiedene Gerüche<br />

von extravaganten Speisen vermischen sich mit<br />

dem Duft nach kaltem Schweiß, der <strong>die</strong> Reisenden<br />

wie eine zweite Haut umgarnt. Ein jeder muss sich<br />

hier zusammenreißen. Wie Teile einer großen<br />

menschlichen Symbiose kauern wir Schulter an<br />

Schulter auf unseren durchgesessenen Sitzpolstern<br />

und schlagen uns <strong>die</strong> Zeit tot. Während in den hinteren<br />

Sitzreihen russische Popmusik aus einem billigen<br />

Discman ertönt, kämpft sich <strong>die</strong> ältere Dame<br />

neben mir durch Marx’ Kommunistisches Manifest.<br />

Tief über das Buch gebeugt, hüpfen ihre durch eine<br />

Hornbrille blickenden Augen von Zeile zu Zeile.<br />

Dabei liest sie so andächtig, als ob sie eine Bibel vor<br />

sich hätte. <strong>Die</strong> Frau ist so mit dem Buch verwoben,<br />

dass ich sie einfach stören muss.<br />

„Entschuldigen Sie“, frage ich provozierend.<br />

„Warum lesen Sie Marx? Er ist doch längst tot.“<br />

„Junge Dame. Ich muss doch bitten. <strong>Die</strong>ser große<br />

Mann“, sagt sie, „hat unser Land ans Para<strong>die</strong>s herangeführt.<br />

Wenn er nicht wäre, wärst du nicht.“<br />

„Das versteh ich nicht. Dass jemand durch ein so<br />

dünnes Buch unser großes Land ans Para<strong>die</strong>s führen<br />

kann? Das versteh ich nicht“, spiele ich ihr meine<br />

kindliche Dummheit vor.<br />

„Kleines, unwissendes Mädchen“, beginnt fast<br />

schon majestätisch <strong>die</strong> alte Dame vom Lande. „Karl<br />

Marx ist mit Lenin der größte Mensch, den <strong>die</strong> Welt<br />

gesehen hat. Viele reden doch nur über Gerechtigkeit“,<br />

beginnt sie ihren längeren Monolog. „Viele<br />

Skizzen<br />

Fremde Heimat<br />

Von Viktoria Baron<br />

reden, aber keiner tut sie. Und keiner versteht sie.<br />

Gerechtigkeit ist doch dann, wenn alle Menschen<br />

das Gleiche haben, das Gleiche sind. Das ist doch<br />

gerecht. In den Ländern des Kapitalismus, da wo wir<br />

gerade mit dir hinfahren, da ist es ganz anders. Alle<br />

reden von Freiheit. Alle sind dort in ihrer Freiheit<br />

gefangen. Doch was nützt uns <strong>die</strong> Freiheit, wenn sie<br />

Ungleichheit bedeutet? Was nützt uns <strong>die</strong> Freiheit,<br />

wenn es Millionäre gibt, <strong>die</strong> respektlos an Hausierern<br />

vorbeischlendern? Wenn es Milliardäre gibt, <strong>die</strong><br />

Hunderte Häuser besitzen und Hunderte Obdachlose<br />

mit einem höhnischen Blick vor ihren goldenen<br />

Toren beäugen. Ich frage dich, ist das gerecht? Nein,<br />

kleines Mädchen. Gerechtigkeit ist dort, wo <strong>die</strong><br />

Menschen das Gleiche haben. <strong>Die</strong> Gerechtigkeit ist<br />

dort, wo Menschen das Gleiche sind.“ „Aber liebe<br />

Frau“, versuche ich zu entgegnen. Aber sie ergreift<br />

wieder das Wort, ohne mir auch nur den Hauch<br />

einer Chance zu lassen. „Mädchen! In dem Land, in<br />

welches du fährst, wird es dir gut gehen, weil das<br />

Land reich ist. Deutschland wird dich mit Bananen,<br />

Kiwis und sonstigem nähren und dein Bauch wird<br />

voll sein. Voll Essen. Voll Glück. Und du wirst es vergessen.<br />

Du wirst vergessen, was ich dir gesagt habe.<br />

Du wirst denken, Deutschland, Europa ist schön.<br />

Du wirst <strong>die</strong> Gerechtigkeit vergessen. Denn du wirst<br />

in Ungleichheit, im falschen Para<strong>die</strong>s sein. Falsche<br />

Engel werden dich anlächeln. An das Falsche wirst<br />

du glauben. Ich aber lass mich vom Reichtum des<br />

Westens nicht blenden. Denn ich weiß, irgendwann<br />

wird das Proletariat noch einmal aufstehen. Sich vereinigen<br />

und <strong>die</strong> Gerechtigkeit in unserem Land und<br />

auf der ganzen Welt wiederherstellen.“ Der Monolog<br />

endet hier nicht. Es kommen noch viele<br />

Geschichten über Marx, Engels und natürlich<br />

Lenin, dem Retter unserer Nation. Ich weiß gar<br />

nicht, wie lange <strong>die</strong>se Dame geredet hat. Auf jeden<br />

Fall lange genug, dass wir plötzlich an der ukrainisch-polnischen<br />

Grenze angekommen sind.<br />

Auf einmal steht der Busfahrer auf und beginnt <strong>die</strong><br />

Ansprache, <strong>die</strong> ich mein ganzes Leben lang nicht<br />

vergessen werde. „Also, liebe Reisende. Jetzt sind wir<br />

an der Grenze. Und wie <strong>die</strong> Grenze zwei Seiten hat,<br />

so habt ihr jetzt zwei Möglichkeiten. Wollt ihr wie<br />

Tiere behandelt werden oder als Menschen durchfahren?“<br />

Was sollte das bedeuten? Im ganzen Bus<br />

wird es laut. Alle scheinen darüber zu diskutieren, als<br />

was sie durchfahren wollen. Es war absurd. Ein wohl<br />

noch nie über <strong>die</strong> Grenze Gereister schreit in den Bus<br />

hinein: „Was heißt das? Als Tiere oder als Menschen?“<br />

Der Bus bebt vor Lachen. Eine noch dümmere Frage


kann sich hier niemand mehr vorstellen. Der<br />

Busfah rer – sogar er muss lachen – fasst sich dann<br />

wieder und sagt: „An der Grenze sind <strong>die</strong> Re geln ganz<br />

einfach. Derjenige, der zahlt, ist derjenige, der durchfährt.<br />

Derjenige, der nicht zahlt, ist der Dum me, das<br />

Tier. Konkret: Wir werden durchgefilzt bis zu den<br />

Unterhosen. Unsere Taschen werden aufgemacht.<br />

Auf lange, weiße Tische wird der Inhalt der Taschen<br />

gekippt und <strong>die</strong> Grenzwärter werden, wohl wissend,<br />

dass in den Taschen nichts ist, jede Ja cken ta sche<br />

durchstöbern, jedes Schächtelchen aufmachen und<br />

dann <strong>die</strong> entsetzten Blicke der Reisenden genießen.“<br />

Nach <strong>die</strong>ser Ansprache grölen wir alle los. Viele pa -<br />

cken eifrig nach ihren Portemonnaies, um <strong>die</strong> Euro-<br />

Scheine herauszuholen und zu signalisieren, dass sie<br />

<strong>die</strong> Grenze wie Menschen passieren wollen. Auch<br />

ich bin bereit zu zahlen. Doch wie das immer so ist,<br />

gibt es auch Ausnahmen, <strong>die</strong> sich vehement dagegen<br />

sträuben, auch nur einen Cent an <strong>die</strong> Grenzwärter<br />

zu zahlen. Natürlich versuchen wir, sie zu überzeugen.<br />

Ihnen klarzumachen, dass wenn sie nicht bereit<br />

sind zu zahlen, es bis zu sechs Stunden dauern kann,<br />

bis wir weiterfahren können. Ein Glück, dass alles<br />

glatt läuft. Schon nach fünfzehn Minuten passiert<br />

unser Bus <strong>die</strong> Grenze. Wir heilfroh, dass es so schnell<br />

ging. <strong>Die</strong> Grenzwächter überglücklich, das Klingeln<br />

der Münzen vernommen zu haben. Damit ist <strong>die</strong><br />

nächste Flasche Wodka schon mal sicher.<br />

Da es mir nicht gelingen will, <strong>die</strong> Zeit schneller verstreichen<br />

zu lassen, beobachte ich meine Umgebung<br />

und sauge jedes kleine Geräusch auf. Unaufhörlich<br />

brummt der Motor wie ein kleines Sägewerk und<br />

gibt ab und zu kleine Seufzer von sich, <strong>die</strong> in der weiten<br />

Ferne verhallen. Der Uhr nach zu urteilen,<br />

haben wir mittlerweile 55 Stunden Fahrt hinter uns.<br />

An Schlaf ist überhaupt nicht zu denken, da der Bus<br />

ein Schlagloch nach dem anderen passiert und von<br />

einer Kurve in <strong>die</strong> nächste prescht. Das alles wäre ja<br />

gar nicht so schlimm, wenn nachts <strong>die</strong> Heizung und<br />

tagsüber <strong>die</strong> Klimaanlage funktionieren würde.<br />

Doch das Besondere an russischen Bussen ist, dass es<br />

oftmals genau umgekehrt funktioniert. An heißen<br />

Nachmittagen wird <strong>die</strong> erbarmungslose Sonne durch<br />

<strong>die</strong> Heizung unterstützt. In den Nächten, in denen<br />

wir in Decken gehüllt vor Kälte zittern, streift uns<br />

dann der kühle Hauch der Klimaanlage. Es ist, als ob<br />

man tagsüber in Bächen zerfließt, um nachts wieder<br />

zu einem riesigen Eisklumpen zu gefrieren.<br />

Unvermittelt schaue ich nach draußen. Das Einzige,<br />

was sich meinen Augen bietet, ist der Anblick<br />

ei ner rußschwarzen Nacht. Sie ist durchtränkt von<br />

schwe ren Wassertropfen, <strong>die</strong> Perlen gleich den<br />

Boden bedecken und ihn zum Schimmern bringen.<br />

Es könn ten meine Tränen sein, <strong>die</strong> sich dort klagend<br />

ergießen. Denn so stark und mutig wie ich tue bin<br />

ich gar nicht. Panik überfällt mich. Eine Panik, <strong>die</strong><br />

sich wie eine Ge pardin auf leisen Sohlen anschleicht,<br />

um ihr Opfer dann blitzartig am Hals zu packen und<br />

zu würgen. Im Moment bin ich das hilflose Opfer.<br />

Allein auf dem Weg in ein unbekanntes Land, in<br />

eine mir fremde Zukunft.<br />

Vor genau achtzehn Jahren wurde ich, Sofia, in<br />

Kasachstan geboren. Schon früh wurde mir <strong>die</strong> russische<br />

Mentalität tagtäglich injiziert, um ja nicht<br />

meine Wurzeln zu vergessen. Zu früh erfuhr ich, was<br />

es heißt, <strong>die</strong> strenge russische Erziehung zu genießen.<br />

Nicht, dass ich eine grauenhafte Kindheit verlebt<br />

hätte oder mich draußen auf dem Hof hätte<br />

abplagen müssen. Nein, meine Kindheit hätte<br />

eigentlich besser nicht sein können. Dennoch gab es<br />

Situationen, <strong>die</strong> eben mit ein paar Schlägen auf den<br />

Po, anstatt mit harten Worten, gelöst wurden. So<br />

zum Beispiel als ich eines Winterabends zu spät nach<br />

Hause kam und zudem den Einkauf nicht erledigt<br />

hatte. Obwohl ich mich herausreden wollte und vorgab,<br />

<strong>die</strong> Zeit und den Einkauf vergessen zu haben,<br />

regnete es prompt ein paar Hiebe auf den Po. Doch<br />

ich muss zugeben, dass meine Eltern in Sachen<br />

Be strafung noch sehr gutherzig zu mir waren. In<br />

unserem Dorf sind auch ganz andere Methoden in<br />

Umlauf. <strong>Die</strong> Klassiker: der Gürtel oder das Verweilen<br />

in der Ecke. Sollte es einen mal richtig übel erwischen,<br />

so wird Salz in eine Ecke gestreut, worauf das<br />

Kind sich mit blanken Knien nieder stützen muss.<br />

Ob man <strong>die</strong>se Erziehungsmethoden nun für richtig<br />

hält oder nicht, effektiv sind sie auf jeden Fall. Nur<br />

selten wagt man es dann wieder, sich gegen seine<br />

Eltern etwas zuschuldenkommen zu lassen.<br />

Obwohl ich in einem Land geboren wurde, das<br />

durch und durch russisch ist, bin ich dennoch keine<br />

Russin. Denn Hunderte Jahre zuvor wurden meine<br />

Vorfahren aus ihrer Heimat Deutschland vertrieben<br />

und dem harten Leben in Kasachstan ausgesetzt. Sie<br />

besaßen kein Quartier. Waren der Bewirtschaftung<br />

der Felder nicht mächtig. Und sie hatten keine<br />

Ahnung, wie sie mit den eisigen Temperaturen im<br />

Winter und der stechenden Hitze im Sommer<br />

zurechtkommen sollten. Ein jeder von ihnen war ein<br />

aus Porzellan gefertigter Krug, der von außen fest<br />

und solide war. Doch sobald man hineinschaute, sah<br />

man <strong>die</strong> ansteigende Hoffnungslosigkeit, <strong>die</strong> das<br />

Gefäß bald würde nicht mehr fassen können. Vielleicht<br />

ist das auch der wahre Grund, warum ich<br />

gerade in <strong>die</strong>sem zerbeulten und so typisch sowjetischen<br />

Bus sitze und mich auf dem Weg nach<br />

Deutschland befinde. Einem Land, das womöglich<br />

meine wahre Heimat ist. Doch was bedeutet Heimat?<br />

Und dann noch wahre Heimat? Ist es der Ort,<br />

wo man geboren wurde? Der Platz, wo <strong>die</strong> eigene<br />

Familie ist? Oder der Fleck, wo man sich wohl fühlt?<br />

Mittlerweile bin ich eine erwachsene Frau. Zumindest<br />

denke ich das. Wer traut sich denn schon hier<br />

aus meinem Dorf ganz alleine, ohne Familie, in ein<br />

fremdes Land aufzubrechen,<br />

um womöglich nie wiederzukehren? Alle hier haben<br />

sie Angst, den Schritt ins Ungewisse zu wagen. Es<br />

gibt nur wenige Mutige, <strong>die</strong> ihr Hab und Gut<br />

packen und ihrer Heimat den Rücken kehren. <strong>Die</strong><br />

meisten von ihnen werden weiterhin das gepflegte<br />

Dorfleben führen, so wie unsere Nachbarn Petrowitsch.<br />

Sie ist Buchhalterin, <strong>die</strong> tagtäglich <strong>die</strong> Stra-<br />

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78<br />

pazen der Marschrutkafahrt auf sich nimmt, um in<br />

<strong>die</strong> Stadt zu kommen. Er Sportlehrer in der Dorfschule,<br />

dem Lyzeum Nr. 30. Schon lange ist es so,<br />

dass viele <strong>die</strong> Dorfgrenze überschreiten und in <strong>die</strong><br />

nächstgelegene Stadt Zelinograd fahren. Entweder<br />

weil sie dort arbeiten oder aber gewisse Einkäufe<br />

erledigen müssen. Dennoch spielt sich das Hauptgeschehen<br />

für <strong>die</strong>se Leute hier im kleinen Dorf Thälman<br />

ab. Viele haben ein eigenes Haus, das sie selber<br />

gebaut haben. Alle besitzen einen Stall mit einer<br />

Kuh, mit vielen Hühnern und Hennen und den<br />

dazugehörenden Küken. Für russische Verhältnisse<br />

sind <strong>die</strong> Dorfleute wohlhabend. Und vor allem sehr<br />

selbstständig. Man hat seine eigene Milch, aus dem<br />

Käse und Rahm hergestellt wird. Man hat seine eigenen<br />

Eier, <strong>die</strong> von den fleißigen Hennen gelegt werden.<br />

Und man backt sein eigenes Brot, welches das<br />

im Geschäft bei weitem übertrifft.<br />

Als ich noch klein war, habe ich meiner Mutter oft<br />

beim Melken zugeschaut. Ich sehe sie jetzt noch.<br />

Wie sie da im schlecht beleuchteten Schuppen sitzt.<br />

Auf einem kleinen Holzhocker und ständig versucht,<br />

dem peitschenden Schwanz der Kuh auszuweichen,<br />

der abwechselnd mal nach links, dann<br />

nach rechts schwingt. Stets trägt sie ein abgetragenes,<br />

rötliches Kopftuch, eine mit blauen Punkten<br />

durchsetzte Schürze und schwarze, abgenutzte<br />

Gummistiefel. Nie beklagt sie sich über ihre Arbeit.<br />

Das breite Lächeln, mit dem sie alles erledigt, klebt<br />

ihr stets wie eine Briefmarke im Gesicht.<br />

Obwohl ich zu meinem Land eine tiefe Verbundenheit<br />

spüre, bin ich dennoch in der Lage, meine<br />

Landsleute zu kritisieren. Deswegen auch meine<br />

Flucht aus <strong>die</strong>sem liebenswürdigen, aber dennoch so<br />

tristen und hoffnungslosen Leben. An jeder Ecke<br />

schreit <strong>die</strong> Perspektivlosigkeit mir geradezu ins<br />

Angesicht, um dann anschließend ihren Hohn über<br />

mich zu ergießen. Überall liegen <strong>die</strong> Arbeitslosigkeit,<br />

der Alkoholismus und <strong>die</strong> Korruption auf der<br />

Straße. Man muss sich nur noch bücken, um mit ihr<br />

zu verwachsen. Zwar habe ich einen Schulabschluss.<br />

Könnte hier auch durchaus ein Studium beginnen.<br />

Doch soll ich mein ganzes Leben in <strong>die</strong>ser Einöde<br />

verbringen? In meinem ganzen Leben nur Thälman<br />

und Zelinograd gesehen haben? Um mich irgendwann,<br />

alt und verschrumpelt, zu fragen, was ich in<br />

meinem Leben erreicht habe?<br />

Plumps. Ein scharfes Bremsen lässt den Bus tanzen<br />

und meinen Kopf gegen den Vordersitz knallen.<br />

Ganz benommen schaue ich auf. Im Bus herrscht<br />

rege Betriebsamkeit. <strong>Die</strong> Reisenden kramen ihre<br />

Taschen hervor. Ein Gedränge entsteht, weil jeder<br />

zuerst den Bus verlassen will. Wir sind da. In<br />

Deutschland, <strong>die</strong>sem Land aller Träume. Es fällt mir<br />

schwer, aufzustehen, da mein ganzer Körper von der<br />

Fahrt so steif ist, dass mir alles weh tut. Ich bin <strong>die</strong><br />

Letzte, <strong>die</strong> den Bus verlässt. Mit Gepäck überladen,<br />

strauchle ich <strong>die</strong> Bustreppe hinunter und erblicke in<br />

der Menge meine Tante. Mit einem strahlenden<br />

Gesicht kommt sie mir entgegen. Sie drückt mich,<br />

küsst mich und heißt mich herzlich willkommen in<br />

der Metropole Deutschlands: München.<br />

Nach dutzenden Küssen und Umarmungen fragt<br />

sie mich endlich, ob ich denn gut angekommen bin.<br />

Was soll ich ihr sagen? Soll ich ihr was sagen? Dass<br />

ich gelernt habe, Gerechtigkeit als Gleichheit zu verstehen;<br />

dass ich nicht „wie ein Tier“, sondern als<br />

Mensch <strong>die</strong> ukrainisch-polnische Grenze passiert<br />

habe, dass Lenin… Nein, dass alles konnte ich meiner<br />

Tante einfach nicht erzählen. Ich wollte es nicht.<br />

Sie würde mich ja eh nicht verstehen. Dafür lebt sie<br />

schon zu lange hier in Deutschland. Nein: ab jetzt<br />

beschließe ich, dass ich in einer neuen Stadt, in<br />

einem neuen Land eine neue Sofia bin. <strong>Die</strong> alte Sofia<br />

habe ich hinter der Grenze gelassen. Einfach so. Ab<br />

jetzt bin ich Europäerin. Basta.<br />

Also sage ich meiner Tante, dass <strong>die</strong> Fahrt gut gewesen<br />

ist. Dass wir eine tolle Klimaanlage im Bus hatten.<br />

Und das wir an der Grenze gar nicht aufgehalten<br />

wurden. Indem ich all <strong>die</strong> Strapazen einfach weglasse,<br />

fühle ich mich viel besser. So muss sich wohl<br />

auch meine Tante hier fühlen: keine ausgefallenen<br />

Klimaanlagen, kein Essensgestank, keine „Mensch<br />

oder Tier“-Fragereien. Ab jetzt wollte ich so sein wie<br />

sie, so denken wie sie. Und es sollte mir gelingen.<br />

Das Ganze mit Deutschland – dort leben, dort<br />

vielleicht arbeiten oder stu<strong>die</strong>ren, war ja zuerst alles<br />

nur ein pures Hirngespinst: Eines Tages rief meine<br />

Tante an, <strong>die</strong> mittlerweile schon seit 13 Jahren in<br />

Deutschland lebt. Sie fragte mich, was ich nach der<br />

Schule mit meinem Leben anfangen wolle. Ob ich<br />

konkrete Zukunftspläne hätte? Und natürlich hatte<br />

ich sie zu <strong>die</strong>sem Zeitpunkt noch nicht. Ich befand<br />

mich damals mitten in meiner Schullaufbahn und<br />

vermied es, mir Gedanken um mein späteres Leben<br />

zu machen. Ich hatte ganz einfach Angst davor.<br />

Wollte das alles so weit wie möglich von mir herschieben<br />

und meine Zukunft erst dann planen,<br />

wenn es wirklich sein musste. Doch meine Tante war<br />

sehr hartnäckig. Sie wollte mich unbedingt von <strong>die</strong>sem<br />

Dorfleben befreit wissen. Sie meinte immer,<br />

dass ich Potential hätte. Dass aus mir was werden<br />

könnte. Und dass es in Deutschland sehr gute Universitäten<br />

gebe.<br />

Damals konnte ich über ihren Vorschlag nur la -<br />

chen. Wie konnte mir meine Tante nur solch einen<br />

ab surden Vorschlag machen, wo sie doch genau<br />

weiß, wie sehr ich an meinem Zuhause hänge und<br />

unter welch krankhaften Heinwehattacken ich leide.<br />

Selbst ein Schulausflug für ein paar Tage war mir<br />

derart verhasst, dass ich jedes Mal abgemagert nach<br />

Hau se kam, weil ich vor lauter Heimweh nichts es -<br />

sen konnte. Nächtelang dachte ich über ihren Vorschlag<br />

nach, zu ihr nach Deutschland zu kommen.<br />

Dort zu stu<strong>die</strong>ren. Und so vernünftig ihre Idee auch<br />

war, sträubte sich dennoch alles in meinem Inneren<br />

gegen <strong>die</strong>sen Schritt. Er war mir einfach zu groß.


Und jetzt stehe ich hier. In München. Müde, ausgelaugt,<br />

tot.<br />

Wir haben uns nur wenige Schritte von der Bushaltestelle<br />

entfernt. Obwohl ich so benommen bin,<br />

höre ich plötzlich schrille Schreie. Es kommt mir<br />

vor, als befände ich mich in einem Fußballstadion.<br />

Dutzende, vielleicht Hunderte Männer grölen auswendig<br />

gelernte Parolen. Doch Moment: Es sind<br />

zwei Gruppen. Sie schreien aneinander an. Mit<br />

einem großen Fragezeichen im Gesicht schaue ich<br />

meine Tante verständnislos an. „Wer sind <strong>die</strong>?<br />

Warum schreien <strong>die</strong> so?“ „Oh, Sofia. Es tut mir so<br />

Leid. Es tut mir so Leid, dass das erste, was du hier<br />

siehst, eine Demonstration von Rechtsradikalen<br />

ist.“ „Was heißt rechtsradikal? Meinst du, <strong>die</strong> sind so<br />

wie Hitler? Gegen Ausländer? Gegen mich?“ „Nein,<br />

<strong>die</strong> sind nicht gegen dich, Sofia. <strong>Die</strong> protestieren<br />

einfach. Gegen Arbeitslosigkeit.“ „Und warum steht<br />

dann auf den Plakaten Deutschland den Deutschen?<br />

Warum grölen <strong>die</strong> Gebt uns unsre Arbeitsplätze wieder,<br />

Schickt sie doch nach Hause? Meinen <strong>die</strong><br />

mich?“ „Sofia, hör auf. Du hattest eine lange Fahrt.<br />

Lass uns jetzt schnell zu mir nach Hause gehen.“<br />

Und sie fasst mich fest an der Hand und schleift<br />

mich zu ihrem Auto. Aber ich will nicht. Ich will <strong>die</strong><br />

Wahrheit wissen. Vor allem: Wer sind <strong>die</strong>se anderen?<br />

Auf der gegenüberliegenden Seite? Auch sie schreien<br />

und fuchteln mit ihren selbstgemachten Transparenten<br />

herum. Ich höre nur Wortfetzen wie „Weg mit<br />

euch“, „Braune Masse“, „Für Toleranz, Gegen<br />

Rechts“. Sind das vielleicht <strong>die</strong> Guten? Ich reiße<br />

mich los und renne trotz meiner Müdigkeit der<br />

Masse entgegen. Doch bevor ich dort bin, sehe ich<br />

plötzlich eine Horde von Polizisten, <strong>die</strong> mich aufhalten<br />

wollen.<br />

Ich habe keine Chance gegen sie. Sie sind zu viele.<br />

Aber ich habe eine Chance, wenigstens von ihnen<br />

<strong>die</strong> Wahrheit zu erfahren. Also frage ich, was <strong>die</strong><br />

ganze Menge hier soll und warum alle so schreien.<br />

Ein breites Grinsen macht sich auf den Gesichtern<br />

der Polizisten breit. Hab ich was Falsches gefragt?<br />

Ist es etwa mein brüchiges Deutsch, dass so zur<br />

Erheiterung beiträgt? „Eine Demo wie jede andere.<br />

Eine kleine Nazi-Demo. Nichts Besonderes eben.“,<br />

antwortet mir einer <strong>die</strong>ser grünen Männer. „Nichts<br />

Besonderes?“, schießt es mir wie ein Blitzgewitter<br />

durch den Kopf. <strong>Die</strong>se komischen schwarzen Lederstiefel.<br />

<strong>Die</strong>se abartigen Parolen. Und das<br />

Schlimmste: <strong>Die</strong>se vor Hass triefenden Fratzen, <strong>die</strong><br />

unaufhörlich grölen und einen Fuß vor den anderen<br />

setzen. Das alles soll also nichts Besonderes sein? Reiner<br />

Alltag etwa? Also bei uns sieht Alltag anders aus.<br />

Starr vor Entsetzen blicke ich wieder in <strong>die</strong> Menge.<br />

Das soll Deutschland sein? Ein Land des Friedens,<br />

in dem heutzutage noch Nazis rumlaufen dürfen?<br />

Ein Land der Gleichberechtigung, in dem rassistische<br />

Äußerungen auf freier Straße ohne Konsequenzen<br />

gemacht werden können? Es ist absurd. So habe<br />

ich mir meine Ankunft wirklich nicht vorgestellt.<br />

Fliegende Flaschen, <strong>die</strong> wie Mini-Ufos <strong>die</strong> Luft<br />

durchstreifen, kreuzen mein Sichtfeld. Das Komische<br />

ist, dass nicht <strong>die</strong> Nazis damit schmeißen, sondern<br />

<strong>die</strong>, <strong>die</strong> ich eigentlich für <strong>die</strong> Guten gehalten<br />

habe. Es ist, als ob <strong>die</strong> beiden Gruppen <strong>die</strong> Rollen<br />

getauscht hätten. Während <strong>die</strong> Rechtsradikalen nur<br />

wie wild herumbrüllen, versuchen <strong>die</strong> anderen, mit<br />

in <strong>die</strong> Menge geworfenen Flaschen und Steinen <strong>die</strong><br />

Nazis zu verletzen.<br />

Vor meinen Augen verschwimmt alles zu einem<br />

riesengroßen Klumpen. Ich spüre, wie meine Beine<br />

langsam nachgeben. Höre das Pochen in meinem<br />

Kopf, das dem meines Herzens gleicht. Obwohl sich<br />

vor meinen Augen alles so undeutlich abzeichnet,<br />

sehe ich, am Rand eines Gehsteigs, einen schwarzen,<br />

zusammengekrümmten Fleck. Ich meine, eine ältere<br />

Dame zu erkennen. Mit meinem Finger auf sie deutend,<br />

stammele ich: „Dort. Da. Dort liegt jemand.<br />

Eine Dame. Sie kann nicht aufstehen. Sie müssen<br />

ihr helfen.“ Einer der Polizisten, der gerade neben<br />

mir steht, folgt mit seinem Blick meinem Zeigefinger.<br />

„Tatsächlich“, höre ich ihn antworten. Und<br />

schon rennt er mit einem Kollegen der älteren Dame<br />

entgegen, <strong>die</strong> hilflos auf der Straße liegt und nicht<br />

fähig ist, aus eigener Kraft aufzustehen. Ich kann es<br />

nicht fassen. Kein Mensch bei <strong>die</strong>ser Demonstration<br />

fühlt sich verpflichtet, ihr zu helfen. Sie liegt mitten<br />

in einem Scherbenhaufen. Scherben, <strong>die</strong> von den<br />

Mini-Ufos stammen. Scherben, welche <strong>die</strong> Hand<br />

der Dame aufgerissen haben.<br />

Plötzlich fasst mich eine Hand von hinten. Ich<br />

drehe mich um und erblicke meine Tante. Mit entsetzten<br />

Augen starrt sie mich an. Unfähig, etwas zu<br />

sagen, reißt sie mich in ihre Arme. Sie umarmt mich,<br />

küsst mich. Nachdem sie fertig ist, ist mein ganzes<br />

Gesicht von ihren Tränen benetzt. „Komm, Sofia,<br />

lass uns gehen. Es war ein langer Abend.“ Widerstandslos<br />

füge ich mich ihrem Willen. Wir steigen<br />

ins Auto und fahren zu meiner Tante nach Hause.<br />

Auf dem Weg wechseln wir kein Wort. Wir beide<br />

wissen: <strong>Die</strong> richtigen Worte für einen Eintritt ins<br />

vermeintlich europäische Para<strong>die</strong>s gibt es nicht.<br />

Zu verharmlosen, was ich gesehen, wird sich meine<br />

Tante nicht trauen. Das weiß ich. <strong>Die</strong> Wahrheit<br />

darüber zu sagen, was ich über <strong>die</strong>se Demonstration<br />

– soll das etwa so weitergehen? – denke, das kann ich<br />

meiner Tante auch nicht antun. Das Schweigen ist<br />

für uns wie ein Schützengraben, was uns vor den<br />

Bomben der Demonstration schützt. Aus ihm<br />

herauszukriechen, etwas zu sagen, trauen wir uns<br />

beide nicht.<br />

In ihrer Wohnung angekommen, erwartet mich<br />

das nächste Übel. Noch bevor ich aussteige, sehe<br />

ich, dass eine große lächelnde Menschenmenge<br />

mich mit Blumen und Geschenken vor Tantes<br />

Tür erwartet. Aber lächeln kann ich nicht. Wie<br />

soll ich das können? Wie kann ich es wollen? Aber<br />

dann erinnere ich mich an mein eigenes Versprechen.<br />

An das, was ich beschlossen habe, als ich<br />

in München angekommen bin. Ja, ich bin eine<br />

neue Sofia – bin ich?<br />

79


80<br />

Niemals mehr habe ich <strong>die</strong>ses Gefühl abgeschält<br />

bekommen, das sich vielleicht nicht erst an <strong>die</strong>sem<br />

schlickigen Abend als alles endete bemerkbar<br />

machte, sondern, womöglich, viel früher: Als Taran<br />

mich unruhig machte oder sogar schon zur Zeit<br />

jenes lichtabgedunkelten Kindsommers, auf der<br />

Rückbank des Fiats von Bebe, immer auf dem Weg<br />

zur Küste.<br />

Auch da war Radio und möglich, es sind <strong>die</strong> Stimmen<br />

aus dem Nichts, <strong>die</strong> dann ein Leben lang nicht<br />

mehr aufhören zu soufflieren.<br />

Zischende Schnalzer und das Anhalten von Atem<br />

mitten im Wort und man muss in <strong>die</strong> Hände klatschen<br />

und all das herumscheuchen, bis Erschöpfung<br />

eintritt und der kataklystische Singsang kapituliert,<br />

und dann kann man dem Ganzen das Genick brechen<br />

oder Spitzen klöppeln.<br />

Da ist Toff, der Zwetschge ausschenkt, in der Flasche<br />

ein schwimmender Eisklumpen, weil Februar.<br />

Zwetschge tränt in <strong>die</strong> Gläser.<br />

Sechs Uhr und Ladenschluss bei Coop’s Grocery<br />

bringt kalte Luft und Aki und Zita und einen, den<br />

kenne ich nicht. Wieder Zwetschge, was das Gehör<br />

wattiert und <strong>die</strong> Augen von innen beschlägt.<br />

Ich sage nichts und Aki und Zita sprechen mit Toff<br />

über den Kampf, der andre sagt auch nichts und ich<br />

schiebe mir einen Beutel Tabak zwischen Zahnfleisch<br />

und Oberlippe und horche auf das Schweigen,<br />

das eintritt; was gibt es schon zu sagen darüber,<br />

dass Kid nach siebenjährigem Pausieren und dann<br />

gegen Cyclo, <strong>die</strong>se polierte, blutdurstige Visage,<br />

gegen einen Kampf also, der schon im Vornherein<br />

entschieden ...<br />

Ein Sturz Vögel, gegen Westen abdrehend,<br />

irgendwo am linken Horizontausschnitt und <strong>die</strong><br />

blaue Stunde, <strong>die</strong> der schwarzen weicht.<br />

Josie taucht auf, wird mit zotigen Ausrufen<br />

begrüßt und beginnt an dem Radiogerät rumzuschrauben,<br />

das Toff aus der Küche gebracht hat.<br />

Radio Nord also, als Josie es um fünf vor acht<br />

gelungen ist, das Radio in Schräglage auf einem<br />

Barschwamm und <strong>die</strong> Antenne, gestützt von einer<br />

Flasche Grasovska und Gin, <strong>die</strong> richtige Frequenz<br />

mit einem zum Schraubenzieher umfunktionierten<br />

Zitronenmesser einzustellen.<br />

Und gerade noch rechtzeitig fängt das Radio <strong>die</strong><br />

Story<br />

Radio Nord<br />

Von Corinna Sigmund<br />

<strong>ersten</strong> Wellen, eine zerfetzte Einmarschhymne,<br />

Opus 3, was ich gewußt habe, und das Geschrei der<br />

Leute und all der Applaus löscht Toffs Klitsche und<br />

ich bin mit Kid und wir laufen über <strong>die</strong> Mole zum<br />

Strand runter, dass der Sand stiebt und entsetzt kreisende<br />

Möwen und Kid, mit gut 20 Metern Vorsprung,<br />

breitet mitten im Endsprint <strong>die</strong> Arme aus,<br />

beschreibt einen scharfen Zirkel und ahmt das Kreischen<br />

der Möwen nach, während er sich auf mich<br />

stürzt, der ich, Zurückgebliebener, ihn einhole.<br />

Und von der Promenade brüllt Stieger mit seiner<br />

verfluchten Stoppuhr fuchtelnd auf uns, Blagen,<br />

runter, zetert, weil er <strong>die</strong> Zeit nicht nehmen konnte.<br />

Ich wusste, dass <strong>die</strong> Geschichte schlecht enden<br />

würde, als Wochen später Stieger mit Kätzchen in <strong>die</strong><br />

Kabine kam und sie Kid holten, der mir gerade auf<br />

einem Kassettenrecorder den Tap-Song vorspielte,<br />

und, ja Kid, es ist Zeit, Kätzchen wird sich in<br />

Zukunft um dich kümmern, ab morgen gehst du<br />

steil.<br />

<strong>Die</strong> Stille nach dem Verebben des Lärms im Stadion<br />

wird umso fühlbarer, als sie getragen wird vom<br />

körnigen Räuspern des Frequenzsuchers, den Josie<br />

mit millimeterkurzen Tarierbewegungen immer<br />

wieder besänftigt.<br />

Es ist nicht mehr Kätzchen, der Kid <strong>die</strong> Schultern<br />

massiert, es ist Prospero, <strong>die</strong>ses feiste Schwein, der<br />

ihm erst Recht den Rest gegeben hat.<br />

Allein lief ich weiter <strong>die</strong> Mole runter, allein trainierte<br />

mich Stieger weiter, meine Zeiten wurden<br />

besser und <strong>die</strong> Führhand, aber nicht <strong>die</strong> Möwenschreie<br />

und auch nicht der Kopf.<br />

Kätzchen war mit Kid abgehauen, und sonst nur<br />

gut verpackte Menschen auf den Straßen, also ich<br />

vom Center nach Haus, von zuhaus zum Center und<br />

zwischendurch Opus 3 und <strong>die</strong> Bücher, <strong>die</strong> Kid in<br />

seinem Spind vergessen hatte. Thomas, Miller und<br />

alles von Fjodor; zwischen den Seiten fand ich als<br />

Einmerker gebrauchte Passagen aus Woyzeck und<br />

Frühlingserwachen.<br />

Radio Nord sagt über Kid, dass er geschwächt in<br />

<strong>die</strong> zweite Runde geht, dass <strong>die</strong> Deckung nicht optimal<br />

und Cyclo beweglich, dass Kid auch zu defensiv<br />

und unkonzentriert, kurz, dass es <strong>die</strong> Ankündigung<br />

einer peinlichen Blamage, wenn nicht schlimmer...<br />

Toff, sage ich, gib mir Zwetschge.<br />

Aber selbst in <strong>die</strong>ser Vision Kids als Verlierer, <strong>die</strong><br />

später in Hochglanz in allen einschlägigen Journa-


len abgepaust sein wird, bleibt er immer noch ganz<br />

prometheischer Fackelträger, so wie ich ihn zwei<br />

Jahre nach seinem Abzug mit Kätzchen im Ring wiedertraf,<br />

sein fallendes, kantiges Gesicht gnadenlos,<br />

das pazifische Blau der Augen ungebrochen.<br />

Vergangenheit.<br />

Vergangenheit, dass er mich in <strong>die</strong>ser Nacht<br />

schlug, wie mich noch nie zuvor jemand geschlagen<br />

hatte und ich, unfähig, mich zu wehren – nicht<br />

gegen seine Schläge, aber gegen <strong>die</strong> Schönheit seines<br />

Körpers und den Schliff seines Blicks, der mich zu<br />

sehr erinnerte an Möwen oder Dylan Thomas oder<br />

irgendetwas in dem Stil.<br />

Nur noch ein winziges gefrorenes Eisauge<br />

schwimmt in der Flasche, und ich blicke in <strong>die</strong>se<br />

blinde Pupille, trinke Zwetschge und hör zu, wie<br />

Kid links und rechts auf <strong>die</strong> Fresse bekommt.<br />

Nach dem Kampf, bei dem ich fiel und Kid aufstieg<br />

– oder war es umgekehrt – gab ich Stieger <strong>die</strong><br />

Handschuhe und verließ das Center und hörte beim<br />

Laufen an der Mole nicht mehr auf Stiegers Stimme,<br />

sondern auf <strong>die</strong> anderen, <strong>die</strong> der Vögel und <strong>die</strong>ses<br />

inneren Radios, das immer lauter wurde, und rannte<br />

ihnen nach wie auch <strong>die</strong>sem einzigen Wort, das Kid,<br />

von Kätzchen damals an mir und meinem auseinandergenommenen<br />

Körper vorbeigeschleift, fast flüsterte:<br />

Oke?<br />

Und wenn ich renne, dann ist es <strong>die</strong>ses Wort, das<br />

mich bremst, indem ich mich verfange, oke, ho-ke,<br />

ke-ke, ai-ai und <strong>die</strong> Stoppuhren laufen ab, bevor ich<br />

ankomme und ich halte nur noch brösligen Sand in<br />

den Händen.<br />

Radio Nord sagt, sein Comeback wird ihm das<br />

Genick... und der Empfang bricht ab, weil Toff den<br />

Grasovska umgestoßen hat und <strong>die</strong> Provisorie der<br />

Antenne hinüber und der Kampf endet in Toffs<br />

Kneipe mit einem Rauschen, aus dem ich irgendwann,<br />

womöglich, Spitzen klöppeln werde.<br />

81


82<br />

Frederick Pollack<br />

Kopfverletzung<br />

Nach einem Jahr der angemessenen Pflege<br />

kehrt der Soldat zu seinen Leuten heim.<br />

Sie wurden auf <strong>die</strong> nächtlichen Schreie vorbereitet,<br />

den Abwehrreflex, <strong>die</strong> gelegentlichen<br />

Ausbrüche. Abgesehen von den Rückblenden<br />

träumt er von hajjis auf den Fluren<br />

seiner sonst vergessenen Highschool,<br />

<strong>die</strong> Allahu Akbar schreien, wenn sie zustechen.<br />

Er zieht wieder in sein altes Zimmer.<br />

Sein Bruder schläft auf dem Ausziehbett<br />

im Wohnzimmer. Seine Schwester kommt<br />

mit ihrem Ehemann. Alle wollen,<br />

daß der Soldat mit ihnen betet,<br />

auf den Knien vorm TV;<br />

er ist auch willig, aber schwach.<br />

<strong>Die</strong> Hitze draußen ist wie in der Wüste,<br />

plus <strong>die</strong> Feuchte; <strong>die</strong> Aircondition<br />

klirrt am Fenster. Sie schauen ihre Priester im TV,<br />

und manchmal schaut der Priester<br />

auch vorbei. Er muss behutsam sein,<br />

der „Warum hat Gott uns das angetan“-Fragen gewärtig,<br />

<strong>die</strong> einem entgleiten können. Er will<br />

den Soldaten heilen,<br />

als Zeugen vor zehntausend Leuten (<strong>die</strong> Anfälle<br />

von „Ausdrücken“ sind ein Problem); unterdessen<br />

spricht er von heiligem Krieg und geheimem Segen.<br />

Aus der Kirche kommen Leute,<br />

um zu beten; doch das Zimmer<br />

ist verwahrlost, sehr heruntergekommen,<br />

und es stinkt. Es gab ein Mädchen,<br />

ungetraut, das bei seinem einzigen Besuch nur weinte.<br />

Der Soldat schläft den ganzen Tag.<br />

Wenn Ma bei ihrem Zweitjob ist<br />

und der Kleine in der Bibelstunde, sieht er<br />

gern <strong>die</strong> Autos ihre Runde drehen<br />

(ab und zu <strong>die</strong> Explosionen, selber schuld, verdammt,<br />

denn an ihren Reifen ist nichts auszusetzen).<br />

Sie bringen ihn, wo er vor Göttern und Verrückten sicher ist.<br />

(deutsch von Matthias Falke)


Wo einmal Berge waren<br />

Fotos: Vivian Stockman, Text: Phylis Geller<br />

„Wenn das amerikanische Volk sehen könnte, was ich gesehen habe,<br />

hätten wir eine Revolution in <strong>die</strong>sem Land: Wir tragen in den Appalachen<br />

unsere Berge ab.“<br />

Robert Kennedy jr.<br />

Vor unseren Augen geschieht<br />

in den Appalachen (USA) eine<br />

der größten Umwelt- und Menschenrechts-<br />

Katastrophen in der Geschichte der Landes.<br />

Familien und ganze Dorfgemeinden werden<br />

durch Überflutungen, Erdrutsche und Sprengungen<br />

von ihrem Land vertrieben: durch <strong>die</strong><br />

Folgen eines Kohle-Abbaus,<br />

genannt Mountaintop<br />

Removal (Entfernung der<br />

Bergkuppen). Eine lebendige<br />

Kultur und einige der


ältesten Berge der Welt werden hier vernichtet,<br />

um für <strong>die</strong> USA „billige Energie“ bereitzustellen.<br />

An Kohle verschwenden <strong>die</strong> wenigsten Amerikaner<br />

auch nur einen Gedanken. Wir reden vielmehr<br />

über unsere Abhängigkeit vom ausländischen<br />

Öl; politisch diskutiert wird vor allem<br />

über Bio-Kraftstoffe, Windfarmen und Solarenergie.<br />

Und nur wenige von uns wissen, dass<br />

<strong>die</strong> Hälfte der elektrischen Energie des Landes<br />

aus Kohle entsteht. Manche meinen sogar, dass<br />

unsere Kohlevorräte noch für <strong>die</strong> nächsten 200<br />

Jahre reichen werden. Kohle spiele also eine größere<br />

Rolle in der Zukunft als andere Energiequellen.<br />

Aber: Kohle ist der schmutzigste fossile Brennstoff.<br />

Jede einzelne Maßnahme im Bergbau und<br />

in der Weiterverarbeitung belastet Luft und<br />

Wasser mit Emissionen. Von den Auswirkungen<br />

auf <strong>die</strong> menschliche Gesundheit ganz abgesehen,<br />

produziert <strong>die</strong> Kohleverbrennung doppelt


so viel CO 2 wie Erdgas und trägt damit erheblich<br />

zur globalen Erwärmung bei.<br />

<strong>Die</strong> größten Kohlevorkommen unseres Kontinents<br />

liegen in den Bergen von Virginia, West<br />

Virginia, Kentucky, Tennessee und Pennsylvania.<br />

Seit 150 Jahren werden <strong>die</strong> Berge von den<br />

Bergbaugesellschaften ausgeweidet, ausgebeutet<br />

(wie <strong>die</strong> Menschen). Heute<br />

haben wir einen neuen Bürgerkrieg<br />

in den Appalachen,<br />

und <strong>die</strong> Front geht quer durch <strong>die</strong> Familien und<br />

<strong>die</strong> Dörfer: <strong>Die</strong> einen brauchen <strong>die</strong> Jobs im<br />

Bergbau, und <strong>die</strong> andern protestieren gegen <strong>die</strong><br />

Zerstörung ihrer Heimat.<br />

Kohle wird sowohl unter Tage als auch im Tagebau<br />

gefördert. Während der Untertage-Abbau<br />

allmählich an Bedeutung verlor, wurde der<br />

Tagebau immer wichtiger. Heute bietet uns der<br />

technische Fortschritt<br />

schnellere und billigere Mög-


lichkeiten, an <strong>die</strong> Kohle zu kommen. Seit den<br />

80er Jahren trägt man also <strong>die</strong> Berge einfach ab,<br />

man nennt es Mountaintop Removal oder kurz<br />

MTR.<br />

Während der Ölkrisen von 1973<br />

und 1979 kam MTR durch <strong>die</strong><br />

gestiegene Nachfrage nach Kohle in<br />

Schwung. Nachdem seit den 90er<br />

Jahren schärfere Gesetze gegen <strong>die</strong><br />

Verbrennung von hoch schwefelhaltiger Kohle<br />

in Kraft waren, wurde MTR großflächiger angewandt,<br />

um <strong>die</strong> relativ schwefelärmere Kohle in<br />

den oberflächennahen Flözen abzubauen.<br />

MTR wurde weitgehend eine Sache<br />

von Maschinen und schwerem<br />

Gerät; damit können Bergbauunternehmen<br />

jetzt leichter auch an<br />

abgelegene Kohlelager gelangen,<br />

<strong>die</strong> bei früheren Abbaumethoden


unerreichbar waren. Weil MTR mit sehr viel<br />

weniger Arbeitskräften auskommt als der Untertagebau,<br />

gingen in <strong>die</strong>ser Branche zwischen<br />

1990 und 1997 etwa 10000 Jobs verloren. In<br />

den armen und unterentwickelten Landstrichen<br />

haben Bergarbeiter kaum alternative Beschäftigungsmöglichkeiten.<br />

Zuerst kommen <strong>die</strong> Bulldozer<br />

und reißen auf den Bergen<br />

alle Bäume und Pflanzen aus.<br />

<strong>Die</strong> Bäume werden entweder an Sägewerke verkauft<br />

oder einfach den Abhang hinunter ins Tal<br />

gerollt. <strong>Die</strong> Humusschicht wird entfernt und<br />

manchmal für eine spätere Wiederurbarmachung<br />

aufbewahrt. Dann sprengen <strong>die</strong> Bergleute<br />

<strong>die</strong> bis zu 350 Metern hohe Bergkuppe ab.<br />

Der dabei entstehende Staub enthält Schwefelverbindungen,<br />

<strong>die</strong> Häuser<br />

(durch Korrosion) und <strong>die</strong>


Gesundheit der Menschen gefährden.<br />

<strong>Die</strong> von der Kohleschicht abgesprengte Schicht<br />

aus Humus und Gestein wird Abraum genannt.<br />

Der Abraum wird oft in riesigen Massen in das<br />

tieferliegende Tal geschüttet (das heißt dann<br />

„Talfüllung“) und begräbt Bäche und Flüsse<br />

unter sich.<br />

Ein Schaufelbagger entfernt<br />

sodann <strong>die</strong> Kohle, <strong>die</strong> danach<br />

mit Schwer-LKWs zum<br />

Waschen transportiert wird. <strong>Die</strong> schlammigen<br />

Rückstände (auch Kohlen-Maische genannt)<br />

enthalten chemische Umweltgifte und Schwermetalle.<br />

Millionen Tonnen <strong>die</strong>ser Kohleschlamm-Rückstände<br />

werden in offenen<br />

Becken gespeichert, innerhalb einfacher Erddämme,<br />

<strong>die</strong> bei starkem Regen aufweichen und<br />

brechen.<br />

<strong>Die</strong>ser MTR-Tagebau wird in<br />

der Nähe von Schulen und


Wohnhäusern betrieben, manchmal ununterbrochen<br />

24 Stunden pro Tag. <strong>Die</strong> Menschen<br />

müssen sich mit dem fortwährendem Lärm der<br />

Sprengungen abfinden, mit verschmutzter Luft<br />

und schmutzigem Wasser und der dauernden<br />

Bedrohung durch Dammbrüche und Überschwemmungen.<br />

<strong>Die</strong> Fälle von Krebs-, Hautund<br />

Lungenerkrankungen nehmen hier<br />

beträchtlich zu. In <strong>die</strong>ser<br />

Gegend ist ein Haus oft der einzige<br />

Vermögenswert, aber MTR<br />

hat zahllose Häuser bereits irreparabel beschädigt.<br />

Wenn <strong>die</strong> Bewohner dann umziehen wollten,<br />

haben sie nichts Wertvolles mehr zu verkaufen.<br />

Wenn <strong>die</strong> Bergbauunternehmen alle Kohle aus<br />

dem Berg geholt haben, versuchen sie, <strong>die</strong> komplizierten,<br />

aber ineffektiven Gesetzen zu befolgen,<br />

nach denen <strong>die</strong> Landschaft für eine spätere<br />

Nutzung wiederhergerichtet<br />

werden soll. <strong>Die</strong> Unternehmen<br />

pflanzen Gras und Buschwerk


an, oder sie bauen Industrieparks und Flugplätze.<br />

<strong>Die</strong> Pflanzen stammen aus einem völlig<br />

anderen Habitat und sind wertlos für <strong>die</strong> einheimische<br />

Fauna, und <strong>die</strong> Bauten sind nur für<br />

wenige Menschen von irgendeinem Nutzen.<br />

<strong>Die</strong> Zerstörung der Wasserläufe, der Täler und<br />

der Landwirtschaftsflächen ist allerdings nicht<br />

rückgängig zu machen. <strong>Die</strong> Anwohner sagen<br />

dazu nur noch: „<strong>Die</strong>se Wiederherstellung ist wie<br />

Lippenstift auf einer Leiche.“<br />

Manchmal wird behauptet, moderne und teure<br />

Technologie ermögliche eine „saubere Kohle“,<br />

also <strong>die</strong> Verminderung der Schwefeldioxid-,<br />

Stickoxid- und Quecksilber-Emissionen. Aber<br />

bisher gibt es keine Anlage mit <strong>die</strong>ser Technologie,<br />

und <strong>die</strong> meisten neugebauten Anlagen werden<br />

gleich überhaupt ohne sie gebaut.<br />

<strong>Die</strong> Bergbauunternehmen schlagen uns außerdem<br />

<strong>die</strong> CCS-Technologie vor (Carbon Capture<br />

and Storage), also CO 2 -Abscheidung und -Spei-


cherung in verlassenen Schächten unter der<br />

Erde. Den Nachweis jedoch, dass hier keine<br />

Schadstoffe entweichen und in <strong>die</strong> Landschaft<br />

gelangen können, hat bisher niemand erbracht.<br />

In den Tagebauten von West-Virginia und Kentucky<br />

sind durch MTR heute bereits 600000<br />

Hektar gesunder Boden vernichtet und ungezählte<br />

weitere Flächen<br />

beschädigt. <strong>Die</strong> Umweltbe-<br />

hörde der USA schätzt, dass bis zum Jahr 2012<br />

etwa 5700 Quadratkilometer Wald in den<br />

Appalachen durch MTR verschwinden. Allein<br />

in West-Virginia sind durch <strong>die</strong> Abraum-Füllung<br />

von 4000 Tälern mehr als 1300 Fluss-Kilometer<br />

belastet, speziell im lebenswichtigen<br />

Oberlauf der Flüsse, <strong>die</strong> den Staaten im Südosten<br />

der USA das Trinkwasser liefern sollen.<br />

1977 verabschiedete der Kon-


gress das Gesetz zur Reinhaltung der Gewässer<br />

(Clean Water Act), das der Industrie verbietet,<br />

„Abfälle“ in Flüssen zu deponieren. Aber im Jahr<br />

2002 verfügte <strong>die</strong> Bush-Regierung in einer<br />

„Änderungsdirektive“ des Präsidenten, dass der<br />

Abraum aus MTR kein Abfall im<br />

Sinne des Gesetzes sei. Seitdem<br />

nützen <strong>die</strong> Bergbauunternehmen<br />

<strong>die</strong>se Ausnahmeregelung,<br />

alles in Flüsse zu werfen, was sie<br />

nicht mehr gebrauchen können.<br />

Im August 2007 schlug <strong>die</strong> Regierung eine weitere<br />

Ausnahme vom Clean Water Act vor.<br />

Dadurch soll <strong>die</strong> „Abstandszone“ gekippt werden,<br />

<strong>die</strong> einen 31-Meter-Mindestabstand zwischen<br />

Kohleabbau und Wasserläufen<br />

vorschreibt. In der<br />

Vergangenheit haben <strong>die</strong><br />

Unternehmen sich eine solche<br />

Ausnahmegenehmigung regel-


mäßig durch einen einfachen Antrag besorgt. In<br />

Zukunft wären jetzt alle Hindernisse beseitigt<br />

zwischen den Unternehmen und der vollständigen<br />

Beerdigung der Flüsse in den Appalachen.<br />

Beim heutigen Tempo der Landschafts -<br />

zerstörung sind <strong>die</strong> Appalachen in 50 Jahren<br />

unbewohnbar.<br />

Aber es besteht Hoffnung, <strong>die</strong> Stimmung dreht<br />

sich. Viele Anwohner bleiben nicht länger<br />

tatenlos angesichts der Zerstörung ihres Eigentums<br />

und der Gefahr für ihre Familien. Das<br />

ganze Land ist heute von der Sorge um den Klimawandel<br />

ergriffen und setzt sich für saubere<br />

und nachhaltige Energie ein.<br />

<strong>Die</strong> Zahl der Anträge für Kohlekraftwerke<br />

in den USA ist seit kurzem von 150 auf 129<br />

zurückgegangen. Auch das ist ein Ergebnis<br />

öffentlicher Aktionen und erfolgreicher<br />

Klagen vor Gericht.


REZENSIONEN<br />

Wir kommen zum Wetter<br />

Man kennt sie aus einem Nachrich ten -<br />

magazin: <strong>die</strong>se szenischen Einstiege in<br />

<strong>die</strong> Story. Sagen wir mal: über <strong>die</strong> Mafia,<br />

dann lautet der erste Satz: „Leise knirsch -<br />

te der Kies in der Auffahrt zur Villa Lombroso<br />

...“ oder „<strong>Die</strong> 17000 Kerzen in der<br />

Sala Turca beleuchteten eine gespensti -<br />

sche Szene ...“ oder so ähnlich.<br />

Und obwohl man sie eigentlich über<br />

hat, gibt es sie immer noch, nicht nur in<br />

Zeit schriften, sondern nun auch in Bü -<br />

c h e r n .<br />

Was allerdings dann keine Überraschung<br />

mehr wäre, wenn das Buch aus<br />

lauter Zeitschriftenartikeln zusammen -<br />

ge setzt wäre.<br />

Das Buch von Fred Pearce das wetter<br />

von morgen. wenn das Klima zur bedrohung<br />

wird (Kunstmann Verlag, Mün -<br />

chen 2007) weckt <strong>die</strong>sen Verdacht. Es<br />

beginnt mit „<strong>Die</strong>se Geschichte beginnt<br />

mit einem schwedischen Che miker, der<br />

in dem sonnenlosen nordischen Winter<br />

an einem Weihnachtsabend bedrückt in<br />

seinem Arbeitszimmer saß. Gerade war<br />

seine Ehe mit seiner schönen Assistentin<br />

Sofia zerbrochen.“ Der Chemiker spielt<br />

dann zwar keine große Rolle mehr, aber<br />

im inszenierten Einstieg putzt er (zusammen<br />

mit der schö nen Sofia) ungemein.<br />

Bücher zur Katastrophe<br />

Es sind insgesamt 37 „Geschichten“,<br />

<strong>die</strong> so beginnen, und ihre Überschriften<br />

könnten ebensogut aus Ma ga zin artikeln<br />

genommen sein: „<strong>Die</strong> Heizung aufdrehen<br />

– Ein kritischer Blick auf den Klimawandel“,<br />

„Das Schelf –<br />

Wenn in der Antarktis der Korken gezogen<br />

wird“, „Wat sind Watt – <strong>Die</strong><br />

unausgeglichene Energiebilanz der<br />

Erde“ (man hatte <strong>die</strong> ses Titel-Rezept<br />

zuletzt bei Sabine Chris ti ansen auszuhalten).<br />

Wer es also, bei durchgehend ernst -<br />

zunehmendem Inhalt, gern mit leich ter<br />

Kost hält, wird mit dem Buch vermutlich<br />

zufrieden sein. Er darf sich dann aber<br />

auch nicht über einen unverhofft<br />

komischen Satz beschweren: „Nicht<br />

so rasch wurde hingegen eine Verbindung<br />

zwischen den Heinrich-Ereignissen<br />

und dem Dansgaard-Oeschger-<br />

Zyklus her ge stellt, was durchaus verständlich<br />

ist.“ Durchaus verständlich.<br />

Pearce, der bisher vor allem für Periodika<br />

wie den Boston Globe und Ecologist<br />

schreibt, macht aus dem Klimawandel<br />

ein leichtes Allerlei aus<br />

„Events“. Er macht ihn – in einer<br />

schlimmen Bedeutung des Wortes –<br />

interessant.<br />

In der Reihe C.H.Beck Wissen haben<br />

der Klima-Berater der Bundeskanzlerin<br />

und Direktor des Potsdam-Instituts<br />

für Klimafolgenabschätzung,<br />

Hans Joachim Schellnhuber, und sein<br />

Kollege Stefan Rahmstorf, ein nur etwa<br />

140 Seiten star kes Taschenbuch he -<br />

rausgegeben (Der Klimawandel,<br />

Mün chen 2007), das je doch alles versammelt,<br />

was der kundige Zeitgenosse über<br />

<strong>die</strong> Erderwärmung wissen muss. Was <strong>die</strong><br />

Lektüre so angenehm wie ergiebig macht:<br />

Hier wird der Klimawandel weder hochdramatisiert,<br />

noch heruntergespielt.<br />

Gegenüber derartigen Me<strong>die</strong>nberichten<br />

wird dem Leser sogar ausdrücklich Skepsis<br />

empfohlen.<br />

Der Untertitel (Diagnose - Prognose -<br />

Therapie) gibt dem Inhalt eine schlüssige<br />

und gedanklich saubere Gliederung. Es<br />

werden zuerst <strong>die</strong> Fakten präsentiert und<br />

dann erst daraus Vorausschauen abge lei -<br />

tet und aufgestellt.<br />

Relativ ausführlich befassen sich <strong>die</strong><br />

Autoren mit den bei Naturwissen schaft -<br />

lern nicht gerade beliebten Gerechtig -<br />

keitsfragen, wenn etwa eine reine Laissezfaire-Strategie<br />

durchgespielt wird :<br />

Beispielsweise könnte grundsätzlich abwar -<br />

ten, wie sich <strong>die</strong> weltweiten Klimawirkungen<br />

entfalten und dann, bei klar identifizierbaren<br />

Schadensereignissen, <strong>die</strong> Betroffenen für ihre<br />

Ver luste kompensieren. Manche Ökonomen<br />

ar gumentieren etwa, dass es wesentlich günsti -<br />

ger wäre, <strong>die</strong> Bevölkerungen der vom steigenden<br />

Mee resspiegel bedrohten Südseeinseln auf<br />

Kos ten der Industrieländer nach Australien<br />

oder Indonesien umzusiedeln, statt <strong>die</strong> Wirt -<br />

schaft durch Beschränkungen für Treibhausgasemissionen<br />

zu belasten. Dabei werden jedoch<br />

<strong>die</strong> sozialen und ethischen Probleme vergessen,<br />

und <strong>die</strong> Gefahr ist groß, dass mit solchen Überlegungen<br />

eine geopolitische Pandorabüchse<br />

geöffnet wird.<br />

Es gibt den beiden Autoren zufolge<br />

gegenüber dem Klimawandel eine irrationale<br />

Haltung (Ignorieren) und zwei<br />

denkbare Lösungen: Anpassung oder<br />

Ver meidung. Beide haben heute ihre An -<br />

hänger. <strong>Die</strong> Anpasser sind besonders da -<br />

ran zu er kennen, dass sie – am liebsten in<br />

Talkshows – vortragen, es genüge, einfach<br />

<strong>die</strong> Deiche um einen oder zwei Me -<br />

ter höherzubauen. Gegenwärtig scheinen<br />

sie eher auf dem Rückzug zu sein.<br />

Was aber auch damit zusammenhängt,<br />

dass das Thema insgesamt, IPCC und<br />

Bali hin oder her, allmählich wieder aus<br />

den Me<strong>die</strong>n verschwindet, weil <strong>die</strong> Ver-<br />

95


meidung der Erderwärmung als zu mühselige<br />

Anstrengung erscheint.<br />

Überhaupt bietet das Buch stellenweise<br />

Anlass zu globalem Pessimismus. Ein<br />

Blick auf <strong>die</strong> Tabelle 5.1 mit den Ände -<br />

rungen der Treibhausgasemissionen im<br />

Vergleich zu den Kyoto-Verpflichtungen<br />

sei deshalb nur wirklich starken Naturen<br />

ge ra ten: Es gibt unter den 23 aufgeführten<br />

Staaten acht Staaten, <strong>die</strong> ihre Verpflichtung<br />

eingehalten oder übertroffen<br />

haben: Wirtschaft darniederliegt: Es sind<br />

<strong>die</strong> Staaten des ehemaligen Ostblocks,<br />

deren Wirtschaft seit dem Zusammenbruch<br />

des Kommunismus darniederliegt:<br />

Bulgari en, Estland, Litauen, Polen,<br />

Rumä ni en, Russland, Slowakei und <strong>die</strong><br />

Tsche chi sche Republik. Andere, <strong>die</strong><br />

Industriestaaten des „Wes tens“, haben<br />

entweder ihre Ver pflich tung nicht eingehalten<br />

(etwa Lu xem burg und Deutschland)<br />

oder ihre Emissionen sogar noch<br />

erhöht (Belgien, Dänemark, Finn land<br />

Kanada, Liechtenstein, <strong>die</strong> Niederlande,<br />

Neuseeland, Norwegen, oder Ös -<br />

terreich). Ein Zeugnis, das Reduktions -<br />

ziel tatsächlich erreicht zu haben, kann<br />

keinem Land ausgestellt werden.<br />

Eine mögliche Therapie-Hoffnung er -<br />

kennen <strong>die</strong> Autoren im Handel mit Emissions-Zertifikaten,<br />

allerdings mit einem<br />

entscheidenden Zusatz:<br />

Klimagerechtigkeit kann eigentlich erst ent -<br />

stehen, wenn mit jeder erteilten Lizenz<br />

für CO 2-Ausstoß zugleich auch <strong>die</strong> da -<br />

mit verbundene „Koh len stoff schuld“<br />

mit allen potentiellen Schä digungs -<br />

folgen registriert wird. Der Handel mit<br />

Verschmutzungsrechten muss zu einem<br />

verallgemeinerten und vereinheit lich -<br />

ten Zertifika tesystem erweitert werden,<br />

das <strong>die</strong> Kehrseite der Entschädigungs -<br />

pflichten verbucht. Erst dann können<br />

<strong>die</strong> Kapitalströme fließen, <strong>die</strong> für <strong>die</strong><br />

An passung an das Unvermeidliche not -<br />

wen dig sind.<br />

Wie sich guter Journalismus<br />

und sachliche Information ge -<br />

winnbringend ver bin den las sen,<br />

zeigt Elizabeth Kolbert in ihrem<br />

Buch Vor uns <strong>die</strong> Sintflut. Depe -<br />

schen von der Klimafront (flüssig<br />

übersetzt von Thorsten Schmidt,<br />

er schienen 2006 im Berlin Verlag,<br />

dann auch von der Bonner<br />

Bundes zentrale für politische Bildung<br />

über nommen).<br />

<strong>Die</strong> Referenz adresse der Autorin<br />

ist um einiges seriöser als bei<br />

96<br />

anderen Journalisten: Sie schreibt vor<br />

allem für den New Yor ker. Daher fehlt<br />

ihren Kapiteln auch jede auf den schnellen<br />

Ef fekt gezielte Schnörkelei. „Na tur“<br />

und „Men sch“ sind ihre Großkapitel,<br />

und darin fin den sich dann Orts angaben<br />

(„Shishmaref, Alas ka“), Spe zies-<br />

Nennungen („Schmet ter ling und<br />

Kröte“), ein weiter histo ri scher Rückblick<br />

(„Der Fluch über Ak kad“), eine<br />

Analyse des Kyoto-Proto kolls, spe ziell<br />

der Einstellung der USA.<br />

Elizabeth Kolbert baut ihre Reportage<br />

auf tatsächlich geführten Interviews mit<br />

Politikern und Wissenschaftlern auf, vor<br />

allem auf Ge sprä chen mit Menschen, <strong>die</strong><br />

<strong>die</strong> negati ven Fol gen des Kli ma wandels<br />

bereits als täg liche Erfah rung erleben:<br />

Sie unterhält sich mit um ge sie delten<br />

Inuit in Alaska oder mit Glet scher -<br />

beobachtern in Island und mit Klima-<br />

Experten, <strong>die</strong> sich noch darüber wundern,<br />

dass wie Wirklichkeit so gar pes si -<br />

mis ti sche Prognosen über trof fen hat.<br />

Hier ein Beispiel für den ruhigen Ton,<br />

mit dem <strong>die</strong> Autorin auch beunruhigen -<br />

de Zahlen vorträgt (und den viele<br />

Rezen senten als beispielhaft hervorhoben),<br />

und <strong>die</strong> Anbindung der Information<br />

an einen bereisten Ort:<br />

Im <strong>ersten</strong> Jahr, in dem <strong>die</strong> Kohlendioxidwerte<br />

am Mauna Loa ganzjährig erhoben wurden, lag<br />

<strong>die</strong>ser Mittelwert bei 316 ppm (Teile pro Milli -<br />

on). Im folgenden Jahr bei 317 ppm, was Keeling<br />

zu der Feststellung veranlasste, <strong>die</strong> An nah -<br />

me, <strong>die</strong> Meere würden das überschüssige Koh -<br />

len dioxid absorbieren, sei vermutlich falsch.<br />

1970 erreichte <strong>die</strong> Konzentration 325 ppm, und<br />

1990 wurden 354 ppm gemessen. Im Sommer<br />

2005 belief sich <strong>die</strong> Kohlendioxidkonzentration<br />

auf 378 ppm, und mittlerweile dürfte sie 380<br />

ppm erreicht haben. Steigt sie weiterhin mit <strong>die</strong>ser<br />

Rate, dann wird sie um das Jahr 2050 (und<br />

damit 2850 Jahre eher, als von Arrhenius vorhergesagt)<br />

500 ppm erreichen – was fast einer Verdopplung<br />

gegenüber dem Niveau vor der Industrialisierung<br />

entspricht.<br />

Oder <strong>die</strong>ser Auszug aus einem<br />

Gespräch mit einem Inuit, einem Jäger,<br />

der 800 Kilometer nördlich des Polar -<br />

kreises lebt:<br />

„Wir dachten einfach: Na gut, es wird halt ein<br />

bisschen wärmer“, erinnerte er sich. „Zunächst<br />

war es ja ganz angenehm, wärmere Winter zu<br />

haben. Aber jetzt geht alles so schnell. Was wir<br />

Anfang der neunziger Jahre kommen sahen, war<br />

nur ein fader Vorgeschmack dessen, was an Veränderungen<br />

eingetreten ist.“<br />

„Wir sind vielleicht am stärksten von den Folgen<br />

der globalen Erwärmung betroffen“, fuhr<br />

Keogak fort. „Unsere Lebensweise, unsere Sitten<br />

und Bräuche, sogar unsere Familien. Unsere<br />

Kinder haben vielleicht keine Zukunft. Ich<br />

meine, alle jungen Leute. Es betrifft ja nicht nur<br />

<strong>die</strong> Arktis. Es wird überall auf der Erde passieren.<br />

<strong>Die</strong> ganze Welt verändert sich zu schnell.“<br />

Das einzige, was für einige Leser das<br />

Interesse an dem Buch mindern könnte<br />

(oder umgekehrt erhöhen), ist <strong>die</strong> –<br />

natürlicherweise – ein wenig auf <strong>die</strong><br />

USA eingeengte Sicht der Reporterin.<br />

Und doch ist ihr Hinweis darauf, dass<br />

das noch immer nicht funktionierende<br />

Star-Wars-System den amerikanischen<br />

Steuerzahler bereits 1000 Milliarden<br />

Dollar gekostet, gut zu wissen, wenn<br />

man gleichzeitig erfährt, dass <strong>die</strong> US-<br />

Regierung sich bislang sträubt, jährlichnur<br />

zehn Milliarden pro Jahr für <strong>die</strong> Klimaforschung<br />

bereit zustellen.<br />

Nun gibt es ja nicht nur Bücher zum<br />

Thema, sondern auch eine ganze Reihe<br />

guter Websites. Zwei davon sollen hier<br />

kurz vorgestellt werden.<br />

<strong>Die</strong> eine ist Germanwatch. <strong>Die</strong> Organisation<br />

„engagiert sich für Nord-Süd-<br />

Gerechtigkeit und den Erhalt der Le -<br />

bensgrundlagen. Dabei konzentrieren<br />

wir uns auf <strong>die</strong> Politik und Wirtschaft<br />

des Nordens mit ihren weltweiten Aus


wirkungen.“ (www.germanwatch.org)<br />

<strong>Die</strong> Or ganisation hat zwei außer ge -<br />

wöhnlich gut re cherchierte und zuverlässig<br />

dokumentierte deutschsprachige<br />

Berichte zum Kli mawandel ins In ternet<br />

gestellt. Der ei ne be fasst sich mit den<br />

Aus wir kungen des Klimawandels auf<br />

Deutsch land (mit Exkurs NRW), der<br />

andere hat als Titel China und der globale<br />

Klimawandel: <strong>die</strong> doppelte Herausfor -<br />

derung. Beide sind kostenlos, auch für<br />

Nich-Fachwissen schaftler eine ergiebige<br />

Lektüre und reich mit zusammenfas sen -<br />

den Ta bellen und Grafiken versehen.<br />

<strong>Die</strong> zweite erwähnenswerte Website ist<br />

englischsprachig: Arctic Climate Impact<br />

Assessment (www.acia.uaf.edu), eine<br />

Ein richtung des Arktisches Rates. Der<br />

ganze Report (aus dem Jahr 2005) ist<br />

über tausend Seiten dick und si cher nur<br />

für direkt damit be fasste Wissenschaftler<br />

lesbar. Was aber machbar ist: Man lädt<br />

sich nur das Kapitel 18 her unter, das den<br />

Titel „Summary and Synthesis of the<br />

ACIA“ trägt (Seite 989 bis 1020 des<br />

Berichts).<br />

<strong>Die</strong>ses Kapitel gibt eingangs eine Zu -<br />

sam menfassung der Ergebnisse des ge -<br />

sam ten Reports, hier vor allem <strong>die</strong> von<br />

Wis senschaftlern und Einhei mischen<br />

ge machten Beobachtungen zum Klima -<br />

wandel in der Arktis, ge -<br />

folgt von einer Untersu -<br />

chung der veränder -<br />

tenUV-Strahlung. Da -<br />

nach werden <strong>die</strong> dessen<br />

praktischen Aus -<br />

wirkungen <strong>die</strong>ser Ver än -<br />

derungen be schrie ben,<br />

und zwar unterteilt nach<br />

den Folgen für <strong>die</strong> Um -<br />

welt, das Le ben der Menschen<br />

und <strong>die</strong> Wirt schaft.<br />

In einem weiteren Ab -<br />

schnitt werden <strong>die</strong>se Folgen<br />

dann auch noch vier<br />

Regionen differenziert,<br />

wo bei zur Region 1 auch<br />

Tei le Eu ro pas gehören<br />

(u.a. Nord skan di na vi en).<br />

Hier werden nun zum Teil<br />

überra schende, gelegent -<br />

lich sogar positive Ent -<br />

wicklungen be ob ach tet.<br />

Ein Beispiel: Das Halten<br />

von Rentierherden, eine<br />

sowohl wirtschaftlich wie<br />

kulturelle wesentliche Tä -<br />

tigkeit dort, ist heute weitgehend<br />

moto risiert, es findet<br />

mit Motor schlitten<br />

statt, und weil nun der<br />

Schnee immer später fällt, muss auch das<br />

Einfangen der Herden verschoben werden,<br />

oft bis in Mitte November; außerdem<br />

ist <strong>die</strong> Schneedecke dünner als früher,<br />

weshalb <strong>die</strong> Fahrt mit den<br />

Motorschlitten über raues Terrain<br />

gefährlich wird. Andererseits verspricht<br />

man sich von der Erwärmung einen kürzeren<br />

Winter und damit einhergehenden<br />

wohltuenden Auswir kun gen auf <strong>die</strong><br />

Gemüt und körperliche Gesundheit der<br />

Bevölkerung. Welche <strong>die</strong> ser widersprüchlichen<br />

Folgen überwiegen wird,<br />

kann heute noch niemand sagen.<br />

Ein wahres Vademecum ist das 2007<br />

bei Kiepenheuer & Witsch erschienene<br />

Pa per back Der UN-Weltklimareport. Be -<br />

richt über eine aufhaltsanme Katastrophe.<br />

Herausgegeben wurde es von Michael<br />

Mül ler (Staatssekretär im Bun des um -<br />

welt minis terium), seinem Assistenten<br />

Harald Kohl und Ursula Fuen tes, der<br />

Leiterin der deut schen Delegation beim<br />

IPCC. Der mit 428 Seiten umfangreiche<br />

Band ent hält eine gelungene Mi -<br />

schung aus wissen schaft lichen Fakten,<br />

aktuellen Be richten und Kommentaren.<br />

Hier lohnt sich eine ge nauere Be -<br />

schreibung.<br />

Der Kern des Buches ist eine kommentierte<br />

und zwangsläufig zusammenfas -<br />

s e n d e<br />

Wie dergabe des 4. Sachstandsbe richts<br />

des IPCC, und zwar <strong>die</strong> Tagungen von<br />

Paris, Brüssel und Bangkok (alle im Jahr<br />

2007), auch nach Arbeitsgruppen I, II<br />

und III un terteilt. Ein paar Zahlen, um<br />

ein Bild vom Umfang und von der<br />

Objektivität der Arbeiten zu geben:<br />

„Von etwa 80.000 Datenreihen aus 577<br />

Stu<strong>die</strong>n wur de ein Teilsatz von etwa<br />

29.000 Da ten reihen ausgewählt. <strong>Die</strong>se<br />

entsprachen folgenden Kriterien: 1.<br />

1990 oder später endend, 2. einen Zeit -<br />

raum von mindestens 20 Jahren<br />

umspannend und 3. ei ne signifikante<br />

Verände rung in <strong>die</strong> eine oder andere<br />

Richtung auf weisend,“<br />

<strong>Die</strong> Pariser Arbeits grup pe I leg te da bei<br />

<strong>die</strong> wissen schaft li chen Grund la gen, nach<br />

denen jetzt an der Realität einer durch den<br />

Menschen verursachten Klima än derung<br />

kaum noch jemand zweifeln kann. In<br />

ihren Er läuterungen be schreiben Hans<br />

Joachim Schellnhuber und Stefan<br />

Rahmstorf <strong>die</strong>se Tatsache und den kommenden<br />

Anstieg des Meeresspiegels als<br />

gesicherte Erkenntnis. Durchweg wird<br />

<strong>die</strong> Wahr scheinlichkeit eines Er eig nisses<br />

differenziert angegeben; sie reicht in sie -<br />

ben Stufen von „extrem<br />

unwahrscheinlich“ (weniger als 5 Prozent)<br />

bis zu „ex trem wahrscheinlich“ und<br />

„praktisch si cher“ (über 55 bzw. 99 Prozent).<br />

<strong>Die</strong> Brüsseler Arbeitsgruppe II behandelte<br />

Auswirkungen und Anpassungs -<br />

stra tegien. <strong>Die</strong> konkreten Folgen werden<br />

auf geschlüsselt nach den Bereichen<br />

Was ser (Ausbreitung von Dürregebieten),<br />

Öko systeme (Aussterben von<br />

Arten), Nah rungsmittel und Wald<br />

(Rückgang von Ern teerträgen), Küstenzonen<br />

(Überflutung küstennaher Sied -<br />

lungs gebiete), Ge sundheit (positive und<br />

negative Aus wir kungen) sowie Industrie,<br />

Siedlung und Gesellschaft. <strong>Die</strong>se<br />

sachliche Einteilung wird anschließend<br />

von einer Darstellung nach Regionen<br />

komplettiert (wobei Af ri ka „aufgrund<br />

seiner vielfachen Bean spru chungen und<br />

niedrigen Anpassungskapazität [als]<br />

einer der verwundbarsten Kon tinente“<br />

beschrieben wird.<br />

<strong>Die</strong> Arbeitsgruppe III (Bangkok, Mai<br />

2007) hatte <strong>die</strong> „Bekämpfung“ des Klimawandels<br />

als Thema.<br />

Kurzer Exkurs: Ich meine, der Aus -<br />

druck „Bekämpfung“ ist auf mehrfache<br />

Weise in der Sache falsch und po litisch<br />

irre füh rend. Falsch ist er, weil der Klima-<br />

97


Anzeige<br />

Kunsthalle<br />

Würth


wandel schon im Gang ist und noch<br />

dazu auf unumkehrbare Weise. Insbesondere<br />

ist er kein äußerer Feind an den<br />

Grenzen un serer Welt, eine Art Einbrecher,<br />

den man vertreiben („bekämpfen“)<br />

könnte, vielleicht mit noch mehr Energie-Aufwand,<br />

sondern wir selber haben<br />

ihn geschaffen und schaffen ihn weiterhin.<br />

Politisch in <strong>die</strong> Irre führt der Ausdruck,<br />

weil er gerade <strong>die</strong>se aggressive<br />

Machbarkeit suggeriert. Ende des<br />

Exkurses.<br />

Innerhalb des Kapitels ist dann<br />

von der „Bekämpfung“ des Klimawandels<br />

nicht mehr <strong>die</strong> Rede,<br />

sondern allenfalls (und zutreffender)<br />

vom „Klimaschutz“. Ein -<br />

drücklich legt <strong>die</strong>ser Abschnitt<br />

dar, dass <strong>die</strong> notwendige Verminderung<br />

der CO 2 -Emissionen<br />

„nicht in ei nem Sektor oder mit<br />

einer Technologie allein angegangen<br />

werden“ kann; <strong>die</strong> dafür no -<br />

wendigen, lan ge und streitig dis -<br />

kutier ten Schlüsselsektoren werden<br />

aufgezählt und in einer<br />

Ta belle erläutert: Ener gieversor -<br />

gung, Ver kehr, Gebäude, In dus -<br />

trie, Land- und Forst wirt schaft<br />

so wie Abfall. Nur in ih rem<br />

Zusammenwirken besteht eine<br />

ge wisse Chance, <strong>die</strong> Treibhausgasemissionen<br />

zu vermindern<br />

und <strong>die</strong> Erderwärmung zu verlangsamen<br />

und auf mittlere Sicht<br />

zu sta bi lisieren. Das Fingerzeigen<br />

auf an dere Schuldige sollte da mit<br />

als das entlarvt sein, was es im mer<br />

schon war: Interessenvertretung.<br />

Wenn etwa der ADAC darauf<br />

hinweist, dass der Straßenverkehr nur zu<br />

12,5 Prozent am CO 2 -Aufkommen be -<br />

teiligt ist (der Energiesektor aber zu 40<br />

Pro zent), dann be<strong>die</strong>nt etwa der Einwand<br />

gegen ein ge ne relles Tempolimit<br />

nur noch <strong>die</strong> eigene Kundschaft auf Kosten<br />

der Allgemeinheit.<br />

Mit schöner Klarheit wird hier auch<br />

zum angeblichen Ausweg aus dem<br />

Dilem ma durch mehr Kern kraft wer ke<br />

festge stellt:<br />

Schlagzeilen und Behauptungen, das das IPCC<br />

Atomkraft als Lösung der Klimafrage propagiert<br />

habe, sind falsch. Zweifellos ist <strong>die</strong> nukleare<br />

Stromerzeugung vergleichsweise emissionsarm.<br />

Dich das IPCC macht durch <strong>die</strong> neutrale Gegenüberstellung<br />

der begrenzten Potenziale für den<br />

Ausbau der Kernenergie und den Hinweis auf <strong>die</strong><br />

Probleme der nuklearen Entsorgung, der Verbreitung<br />

von Waffen und der Sicherheit von<br />

Kernkraftwerken einerseits und <strong>die</strong> großen Po -<br />

tenziale für den Ausbau Erneuerbarer Energien<br />

andererseits deutlich genug, dass Atomkraft<br />

nicht als Lösung der Klimafrage angesehen werden<br />

kann.<br />

Wirtschaftsminister Glos kennt <strong>die</strong>sen<br />

Text natürlich, befürwortet aber weiterhin<br />

den Ausbau oder <strong>die</strong> längere Laufzeit<br />

der Kernkraftwerke. In wessen Interesse?<br />

Eine eigenes Kapitel über <strong>die</strong> Klima-<br />

Enquête des Deutschen Bundestags<br />

vom Dezember 1990 zeigt, sozusagen<br />

wieder Willen, wie wenig seitdem<br />

erreicht wurde. Das Ziel,<br />

<strong>die</strong> Treibhausgase um 30 Prozent bis zum Jahr<br />

2005 zu verringern, wurde 1990 gemeinsam von<br />

CDU/CSU, FDP und der SPD im Bundestag<br />

be schlossen. Damals gehörten <strong>die</strong> Grünen dem<br />

Bun des tag nicht an. Beim Klimaschutz gab es ei -<br />

ne große Übereinstimmung zwischen den Re gie -<br />

rungsfraktionen und den oppositionellen Sozial -<br />

demokraten, <strong>die</strong> noch weitergehende Maßnahmen<br />

wollten. Anders war das in der Zeit der<br />

rot-grünen Bundesregierung. Alle 18 Gesetze<br />

und Intiativen zum Klimaschutz, von der öko -<br />

logi schen Steuerreform bis zum Erneuerbare-<br />

Energien-Gesetz, wurden von der CDU/CSU<br />

und FDP im Bundestag abgelehnt und – wo sie<br />

es konnten – erst einmal im Bundesrat blockiert.<br />

Mit anderen Worten: Wir waren in<br />

Deutschland schon mal weiter in der<br />

De batte über den Klimawandel. Aber, so<br />

erläutert das Kapitel, „im Zuge der deut -<br />

schen Einigung und des Wirtschaftsabschwungs<br />

gerieten <strong>die</strong>se Vorschläge und<br />

Programme in den Hintergrund. (...)<br />

Mit te der neunziger Jahre machte Kohl<br />

eine radikale Kehrtwende gegen mehr<br />

Umwelt- und Klimaschutz.“ Und <strong>die</strong><br />

Aussichten, <strong>die</strong>ses Gemeinsamkeit<br />

wie der zu erreichen, sind beim<br />

derzeitigen Dauer-Hickhack über<br />

Kinder kram-Themen nicht eben<br />

rosig.<br />

Erwähnenswert ist in <strong>die</strong>sem<br />

Band auch ein<br />

Text von Franzjosef Schaf hausen,<br />

Der Emissionshandel, das unbe -<br />

kannte Wesen. Er erklärt das the o -<br />

retische Konzept, <strong>die</strong> in zwischen<br />

ge machten Erfah run gen und den<br />

künf tigen Handlungsbedarf.<br />

Zuletzt muss aber noch ein völlig<br />

überflüssiger Artikel in dem<br />

Buch erwähnt werden, <strong>Die</strong><br />

Zukunft der Klimafor schung<br />

(Autorin ist <strong>die</strong> am tie rende<br />

Forschungsministe rin). Es sieht so<br />

als spräche sie über das Thema,<br />

nämlich so:<br />

Der Klimawandel stellt uns vor große<br />

Herausforderungen. In Forschung und<br />

Innovation liegen <strong>die</strong> Schlüssel, <strong>die</strong>ser<br />

Herkulesaufgabe zu begegnen. Es ist das<br />

Ziel des BMBF, der komplexen und langfristigen<br />

Herausforderung des Klimawandels<br />

mit einem differenzierten und<br />

strategisch angelegten Forschungskonzept<br />

entgegenzu tre ten. Das BMBF baut auf <strong>die</strong><br />

In novationskraft von Unter neh men, politischen<br />

Institutionen, vi talen Regionen und Kommunen<br />

und al ler verantwortlichen Bürgerinnen und<br />

Bürger, gemeinsam Lösungen zu entwickeln, um<br />

so <strong>die</strong> nötigen Erfolge bei der Eindämmung des<br />

Klimawandels zu erreichen.<br />

Hier hat wohl der Redenschreiber einen<br />

alten, schon damals alten Text über Glo -<br />

balisierung, Energieknappheit, Jugendgewalt,<br />

<strong>die</strong> Maul-und Klauen-Seuche oder<br />

sonst ein Übel hergenommen und an den<br />

richtigen Stellen stattdessen „Klimawandel“<br />

eingesetzt? Oder steht im Keller des<br />

Ministeriumseine sinnfrei rotierende<br />

Text-Ma schi ne? Merke: Eine Politik, <strong>die</strong><br />

eine solche Un sprache in <strong>die</strong> Welt setzt,<br />

darf sich nicht wundern, wenn ihr keiner<br />

mehr zuhört.<br />

Und doch: Von allen hier besprochenen<br />

Büchern ist Der UN-Weltklimareport<br />

99


Seit der Odyssee stehen Seereisen für<br />

das Wagnis des Unbekannten, den sträf -<br />

li chen Übermut des Menschen, aber<br />

auch für <strong>die</strong> Rückkehr nach Itha ka, an<br />

den Ort der Geborgenheit, „reich an<br />

dem, was du auf deiner Fahrt gewannst“,<br />

wie es beim griechischen Dichter Kavafis<br />

heißt. Aber der moderne Mensch kennt<br />

kein Ithaka mehr, - nur noch Irrfahrten,<br />

auf denen er sich blindlings fortbewegt.<br />

Von einer solchen ziellosen Odyssee<br />

handelt Blindlings, der jüngste und tiefsinnigste<br />

Roman von Claudio Magris.<br />

Wenn Leser und Schriftsteller Reisende<br />

sind, dann ist der durch alle Wasser der<br />

Weltliteratur gesegelte Magris ein See -<br />

fahrer, der an <strong>die</strong> Möglichkeit der Rückkehr<br />

zweifelt. Als Kind des 20. Jahrhunderts,<br />

das den grausamen Schatten der<br />

Ideologien und den Untergang der Illu -<br />

sio nen mitbekam, kann Magris keine<br />

klassische Reise mehr erzählen, sondern<br />

nur noch ihr Scheitern. Den Bericht <strong>die</strong> -<br />

ser Irrfahrt legt er einem Verrückten in<br />

den Mund, einem der zahllosen Opfer<br />

der unsichtbaren Geschichte: Salvatore<br />

Cippico, dessen kommunistischer Glau -<br />

be ihn in <strong>die</strong> Lager der halben Welt verschlug,<br />

von Dachau bis Goli Otok, der<br />

Todesinsel, auf der Tito stalintreue Ge -<br />

nossen einsperren ließ. Von Freund und<br />

Feind verfolgt strandet er schließ lich in<br />

<strong>die</strong> Verrücktheit.<br />

In Cippicos Wahnbericht, der vom<br />

Arzt einer Irrenanstalt aufgezeichnet<br />

wird, hallen <strong>die</strong> Stimmen anderer unter -<br />

gegangener Opfer der Historie wider:<br />

insbesondere <strong>die</strong> des dänischen Abenteurers<br />

Jørgen Jørgensen, der Anfang<br />

des 19. Jahrhunderts als selbsternannter<br />

Köni g in Island kurzfristig <strong>die</strong> Werte der<br />

Aufklärung einführen wollte und von<br />

den Engländern als Sträfling nach Tas -<br />

ma nien deportiert wurde, „<strong>die</strong> höllische<br />

Alternative hier unten zur Hölle dort<br />

oben.“ Ironie und Grausamkeit der Ge -<br />

schichte: Jorgensen wird in Hobart<br />

Town eingekerkert, der Stadt, <strong>die</strong> er Jah -<br />

re zuvor als Kolonisator gegründet hatte.<br />

Warum werden Menschen Opfer ihrer<br />

Ideale? Magris sucht eine Antwort im<br />

Mythos der Argonauten, der immer wie -<br />

der in Cippicos Monolog einfließt. <strong>Die</strong><br />

Parabel Jasons, der auf der Suche nach<br />

100<br />

REZENSION<br />

<strong>Die</strong> Revolution und ihre Missionare<br />

Claudio Magris, Reisender und Gedächtniskünstler<br />

dem Goldenen Vlies das Licht der grie -<br />

chischen Ratio in <strong>die</strong> barbarische Kol -<br />

chis bringt und so Medeas Tragö<strong>die</strong> auslöst,<br />

zeigt den unlöslichen Widerspruch<br />

einer Vernunft auf, <strong>die</strong> sich allzuoft mit<br />

Blut befleckt. Das ist für Magris kein<br />

Grund, sich von der Vernunft los zu -<br />

sagen und einem leichtfertigen Nihi lis -<br />

mus zu erliegen. <strong>Die</strong> Revolution bleibt<br />

wahr, „trotz ihrer Missionäre“, auch<br />

dann noch, wenn Menschen wie Cippico<br />

im Fleisch wolf der Weltgeschichte<br />

zermalmt werden. So ist Blindlings vor<br />

allem ein Epos über <strong>die</strong> Unterdrückten<br />

und schon Verschwundenen der Ge -<br />

schichte, wie jene Aborigines, <strong>die</strong> „im<br />

Aus sterben“ groß sind.<br />

<strong>Die</strong> ganze Nachkriegsliteratur Europas<br />

ist von Geschichtspessimismus ge prägt.<br />

Man schrieb nach Auschwitz weiter, um<br />

nicht im Schweigen un terzugehen. Und<br />

auch Magris’ Roman liest sich wie eine<br />

Klage, <strong>die</strong> nichts verklärt –<br />

am wenigsten <strong>die</strong> lügenhafte,<br />

dem Le ben stets<br />

fremde Literatur. Seine<br />

Klage ist aber – und das ist<br />

das Besondere und Angsterregende<br />

an seinem Buch<br />

– zeitlich nicht definiert,<br />

sie be gnügt sich nicht da -<br />

mit, <strong>die</strong> Irr tümer des 20.<br />

Jahrhunderts zu verabso -<br />

lu tieren, je ne allzu be que -<br />

me lite ra rische Übung zu<br />

be treiben, womit man das<br />

Böse von sich weist, indem<br />

man es an zeigt. In Cippicos<br />

Mo nolog ist alles ge -<br />

genwärtig, <strong>die</strong> Zweifel<br />

kommen nicht zur Ru he,<br />

in ihm spuken <strong>die</strong> ver -<br />

gange nen und zu künf ti -<br />

gen Ge schich ten ei ner ge -<br />

schän deten Mensch heit.<br />

Auch der Protagonist<br />

von Grass’ Blechtrommel<br />

war „Insasse einer Heil -<br />

anstalt“ und seine Missbildung<br />

stand für <strong>die</strong><br />

unheilbare Wun de, <strong>die</strong><br />

der Nationalsozialismus<br />

in das deutsche Gewissen<br />

gerissen hatte. Der Lei-<br />

densschrei Cippicos kennt dagegen<br />

keine zeitlich oder räumlichen Grenzen,<br />

von Napoleon bis Tito, von Dachau<br />

nach Tasmanien, reist er durch <strong>die</strong> Weltgeschichte,<br />

um seine Zweifel zu sähen.<br />

Denn der Mensch ist brüchig und zerrt<br />

ebenjenen Schutz schild mit sich in den<br />

Abgrund, der ihn vor dem Untergang<br />

bewahren soll: <strong>die</strong> Idee des Guten, jenes<br />

dünner werdende Holz des Schif fes, das<br />

auch für das christliche Kreuz steht.<br />

Nicht am Guten zweifelt Magris, sondern<br />

am Menschen, der keine Kraft<br />

dafür hat und womöglich, so seine Be -<br />

fürchtung, nicht finden wird. Ist <strong>die</strong><br />

Menschheit vielleicht sogar schon unter -<br />

gegangen und wir lauschen nur noch<br />

dem Bericht eines letzten Versinkenden?<br />

Magris hält <strong>die</strong>se Option offen und<br />

überlässt seinen zehrenden Zweifel dem<br />

stummen Zu hörer, dem Arzt, dem Leser.<br />

Cippico sagt nichts aus, er setzt nur jenes<br />

„Frage zeichen, das alles hinter sich herzieht“,<br />

denn sein Misstrauen in <strong>die</strong><br />

Schrift, in <strong>die</strong> Geschichtsschreibung<br />

und Literatur ist groß. Zuletzt hofft er,<br />

daß seine Geschichte durch einen Speicherfehler<br />

für immer verloren geht –<br />

damit man sich durch ihre Aufzeichnung<br />

nicht si cher wähnt vor all den


anderen un sicht baren, gewalt ge -<br />

zeichne ten Ge schich ten, <strong>die</strong> das Leben<br />

der Men schen ausmachen.<br />

In bester literarischen Tradition und<br />

formal sehr originell schreibt Magris ei -<br />

nen Roman über Geschichten, <strong>die</strong> nicht<br />

erzählt werden können. Fern aller Selbst -<br />

verklärung eröffnet er der Litera tur so<br />

einen widersprüchlichen und wahr -<br />

heitsfordernden Weg: <strong>Die</strong> Proto kolle<br />

des Wahns, des Scheiterns und der Un -<br />

möglichkeit des Erzählens sind <strong>die</strong> letzte<br />

mögliche Erzählung. Magris po lypho -<br />

ner Roman ist das Gegenteil des Schweigen,<br />

denn immer noch behauptet er den<br />

Wert der Erinnerung, obgleich sie voller<br />

Schall und Wahn ist wie im Falle Cippicos.<br />

An Erinnerung kann man auch sterben<br />

wie jener sonderbare Ge dächtnis -<br />

künstler Funes in Borges’ Er zählung, der<br />

mit neunzehn verschied, weil er sich an<br />

MARGINALIE<br />

Der Innenminister hat<br />

keine Ahnung<br />

Tele<strong>die</strong>nste! Wenn ich <strong>die</strong>ses Wort<br />

schon höre! Es erinnert mich an <strong>die</strong>se<br />

alten Telespiele, in denen der Strich den<br />

Punkt jagte und das Ganze durch sehr<br />

eigenartige Töne untermalt wurde.<br />

Aber nein, Deutschland, der Bund<br />

(um genau zu sein) bezeichnet damit ein<br />

Netz, das eine Welt beinhaltet, <strong>die</strong> wahr -<br />

scheinlich niemand ausmessen kann.<br />

<strong>Die</strong> Realität dahinter sind Hallen voller<br />

Serverschränke, Klimaanlagen und<br />

Glasfaserkabeln, komplizierte Technik.<br />

Ich vermute, dass 90 Prozent der Internetnutzer<br />

eigentlich auch BTX dazu<br />

sagen könnten: DB-Fahrplan, Überweisungen<br />

tätigen, ein bisschen Shopping.<br />

Aber was kaum jemand sieht:<br />

Jeder, wirklich jeder einzelne PC wird<br />

dabei ein Teil des Internets, sobald er<br />

online ist.<br />

Um es auf den Punkt zu bringen: Das<br />

Internet schaltet man nicht ab, man<br />

reglementiert es nicht und man könnte<br />

es auch nicht reglementieren. Wer das<br />

glaubt, dem muss man sagen: Es ist eine<br />

Illusion. Das Internet lebt, es ist komplex<br />

und hat eine Eigendynamik. Achja,<br />

nebenbei: E-Mail und Usenet, Telnet-<br />

Bundestrojaner!<br />

buchstäblich alles erinnerte: Nicht nur<br />

den um 15.14 Uhr gesehenen Hund im<br />

Profil, sondern auch den eine Minute<br />

später von vorne gesehenen. Mit der Tatsache,<br />

dass Ver gessen für das Überleben<br />

not wendig ist, gibt sich Magris in Blindlings<br />

nicht zufrieden und ist bereit, den<br />

Wahn in Kauf zu nehmen, um <strong>die</strong> Wahrheit<br />

aller un sichtbaren und sinn losen Ge -<br />

schich ten zu behaupten. „Stumm wer -<br />

den wir in den Abgrund steigen“, schrieb<br />

Pave se in einem seiner letzten Gedichte.<br />

Claudio Magris hat sich in seinem verstörenden<br />

und großartigen Werk (dessen<br />

rhapsodischen Duktus von Rag ni Maria<br />

Gschwend virtuos ins Deut sche übertragen<br />

wurde), für das Spre chen entschie -<br />

den: „Ich erinnere mich nur an Worte,<br />

doch an <strong>die</strong> ganz genau, auch wenn ich<br />

mich nicht mehr daran erinnere, was sie<br />

sagen wollten.“ Piero Salabè<br />

server und FTP: Das ist alles jedesmal<br />

noch eine eigene Welt, abseits von<br />

www.google.de. Und in <strong>die</strong>ser Welt,<br />

<strong>die</strong> sem Welten gibt es keine Henkel<br />

zum Anfassen. <strong>Die</strong>se Welten sind wie<br />

ein Nebel.<br />

Super, sagt sich Meister Schäuble –<br />

dann können wir ja <strong>die</strong> PCs hacken und<br />

da nach verdächtigen Daten suchen.<br />

Dumm nur, das <strong>die</strong>se Denke nicht<br />

funktioniert.<br />

Meine Freundin Christl – 70 Jahre,<br />

spielt online Mahjongg und verschickt<br />

e-Cards an Verwandte. Mehr macht sie<br />

nicht. Andererseits könnte Herr Schäuble<br />

ja ihr geniales Würstlgulasch-Rezept<br />

klauen, der böse Knochen. Wie auch<br />

immer: 90 Prozent der Menschen,<br />

deren PCs nicht gerade sicher am Netz<br />

hängen oder deren Anwender sowieso<br />

alles anklicken, was per E-Mail kommt,<br />

haben auf Ihrem PC noch nicht einmal<br />

Pornofotos, gute Musik oder Baupläne<br />

für Atombomben. Bleiben zehn Prozent<br />

– Freaks wie ich.<br />

Ich bin zwar kein Terrorist, aber ich<br />

bin wie <strong>die</strong>se böse Brut ein durchgeknallter<br />

Mensch, der, seit er denken<br />

kann, vor dem Computer sitzt. Probleme<br />

wie Sonnenaufgang bei Arbeits -<br />

ende, Probleme mit Öffnungszeiten<br />

von Supermärkten und Dauerkunde bei<br />

der 24-h-Aral ums Eck sind mein<br />

Leben. Ich denke wie Windows, ich<br />

funktioniere wie eine Festplatte, ich<br />

höre, was <strong>die</strong> Maschinen sagen. Damit<br />

ver<strong>die</strong>ne ich mein Geld, okay. Andere<br />

Freaks knacken Firmennetzwerke, verbreiten<br />

illegale Inhalte und düpieren <strong>die</strong><br />

Industrie.<br />

Nehmen wir uns mal <strong>die</strong>se Kopierschutztechnologien<br />

vor. Wie lustig.<br />

DVD kommt auf den Markt. Millionen<br />

wurden in den DVD-Kopierschutz CSS<br />

gesteckt – ein schwedischer 15-Jähriger<br />

knackte es mit seinem Team innerhalb<br />

kürzester Zeit. Genauso ist es bei Videospielen,<br />

Musikdateien mit Digitalem<br />

Rechtemanagement, bei Premiere-De -<br />

codern und anderem Pay-TV-Kram.<br />

Anstatt zu verstehen, dass beim Thema<br />

IT <strong>die</strong> Welt in Nerds und Geeks (IT-<br />

Checker) einerseits und<br />

Wannabes, NooBz oder Lamer (Vollidioten,<br />

<strong>die</strong> es nicht blicken) andererseits<br />

gespaltet ist.<br />

Studenten programmieren Viren, werden<br />

zweifelhaft berühmt und erhalten<br />

dann überbezahlte Programmiererjobs<br />

bei Microsoft. Politiker dagegen haben<br />

noch nicht einmal ansatzweise einen<br />

Funken von Ahnung, was da draußen<br />

abgeht. Abgeht, so muss man es sagen.<br />

„Stattfinden“, „Tele<strong>die</strong>nste“, das ist alles<br />

spießiges, politisch korrektes Gerede,<br />

das keine Wahrheit mehr zutage fördert.<br />

Das Netz gehört den absoluten Outlaws,<br />

denen alles egal ist. Reputation<br />

aufbauen, 3l33t (eleet = eliteartig) sein,<br />

im Untergrund leben und allen Konzernen<br />

zeigen, dass sie es besser drauf<br />

haben.<br />

Irgendwann kommt dann auch mal<br />

<strong>die</strong> geliebte MI (Musikindustrie) auf<br />

den Trichter: Musik ohne Kopierschutz<br />

wird mehr gekauft als Musik mit<br />

Kopierschutz. Klar, denn Musik, <strong>die</strong> wie<br />

bei Apple I-Tunes nur auf einem speziellen,<br />

langweilig designten Gerät (iPOD)<br />

zu gebrauchen ist, muss man nach dem<br />

Kauf erst brennen, dann wieder rippen<br />

(aus der CD auslesen), um Musik zu<br />

erhalten, <strong>die</strong> auf jedem Player läuft –<br />

egal ob CD, MP3, DVD oder Handy.<br />

Doch zurück zum Thema, denn sonst<br />

bekomme ich noch Ausschlag. In <strong>die</strong>ser<br />

geschilderten Realität kommt nun ein<br />

Politiker daher und tönt: „Onlinedurchsuchung“,<br />

„Bundestrojaner“.<br />

Nachdem auch er verstanden hat, dass<br />

101


wir hier nicht von einem Gameboy oder<br />

einem Videospiel, sondern dem Internet<br />

sprechen, dass man also nicht einfach<br />

sagen kann: „Frau Meier von nebenan,<br />

PC auslesen, Klick – fertig!“, toppt<br />

er seine Blödheit (Pardon!) sogar noch<br />

mit „Remote Forensic Software“ – d.h.<br />

der Bundestrojaner soll „lokal auf dem<br />

Rechner installiert werden“ und „sei in<br />

jedem Fall eine Einzelanfertigung“.<br />

Super. Also für jeden Stasi-Mandanten<br />

ein eigenes Programm, das von jemandem<br />

auf den Rechner gespielt werden<br />

kann? Wer sowas für möglich hält, hat<br />

einen totalen Hirnschaden. Am besten<br />

dann doch per E-Mail, ganz offiziell,<br />

etwa so: „Hier ist das Umweltamt, anbei<br />

unser neuer Bildschirmschoner.“<br />

Der CCC (Chaos Computer Club –<br />

klingt etwas ökig, aber <strong>die</strong> Jungs sind leider<br />

verdammt fit) meint: „Bei den<br />

Äußerungen des Innenministers wird<br />

deutlich, dass es erheblich an technischem<br />

Sachverstand fehlt. (...) <strong>Die</strong> Professionalität<br />

der Behörde darf bezweifelt<br />

werden“. Einfach gesagt: Wer ein bisschen<br />

Ahnung hat, sieht sofort, welche<br />

Programme auf seinem Computer laufen.<br />

Selbst wenn es ein gut getarnter<br />

Virus ist: Mit entsprechender Schutzsoftware<br />

ist das Thema in Sekunden<br />

erledigt. Oder einfach eine externe Festplatte<br />

für <strong>die</strong> Flugpläne über Frankfurt,<br />

ein zweiter PC, der nicht am Internet<br />

hängt, etc. Außerdem findet sich garantiert<br />

irgendein Schüler, der in der Zeit<br />

zwischen Mittagessen und den Simpsons<br />

mal schnell ein Schutzprogramm<br />

dagegen schreibt. Einer meiner Lieblingsprogrammierer,<br />

der ein geniales<br />

Videoschnittprogramm kreierte, meint<br />

nur: „Proof that I had too much free<br />

time in college.“<br />

<strong>Die</strong> Chinesen müssen sich ja beömmeln<br />

vor Lachen. Schreiben einen kleinen<br />

Virus, knacken den Bundestag und<br />

haben alle Infos, <strong>die</strong> sie benötigen. Das<br />

Versprechen Chinas, damit aufzuhören,<br />

klingt fast wie ein „Versucht doch, uns<br />

zu stoppen!“ Wenn ich so etwas schon<br />

lese. „China verspricht, mit Hackerattacken<br />

aufzuhören“. Hallo? Jemand zu<br />

Hause? Das ist ja wie wenn man einen<br />

Kinderschänder fragen würde: „Bist Du<br />

jetzt brav? Sag ja, und Du darfst wieder<br />

als Pfarrer arbeiten.“ Unglaublich.<br />

Liebes Deutschland. Du bist so schön.<br />

Vor allem hier, im meinem Bayern.<br />

Schau, jeder hat Seiten, auf denen er<br />

blöd ist. Ich kann zum Beispiel nicht<br />

singen, Bremsbeläge wechseln oder flie-<br />

102<br />

www.ccc.de/press/releases<br />

können. Deshalb trällert bei mir mal<br />

Bushido, mal Christina Aguilera,<br />

Bremsbeläge wechselt mein ägyptischer<br />

Autodealer und fliegen tut <strong>die</strong> Lufthansa.<br />

Wenn es um IT-Security geht,<br />

dann fragen mich Firmen, weil ich<br />

genau das eben verstehe. Liebes<br />

Deutschland, frag doch mal jemand,<br />

wie man das macht. Und bitte, keine<br />

Klon-Berater wie McKinsey und Rolli<br />

Berger, sondern Leute mit echter Erfahrung.<br />

Du machst eh schon so viel falsch,<br />

weil deine Spezialisten von Ministern<br />

und Konsorten einfach mehr daran<br />

interessiert sind, Diäten einzustreichen,<br />

anstatt mal richtig was zu verändern.<br />

<strong>Die</strong> Terroristen wird freuen, dass du<br />

<strong>die</strong>sem Aufruf nicht nachkommst. Man<br />

könnte ja vielleicht alle Internetcafés<br />

schließen, denn da sind Terroristen<br />

gerne. Danach müsste man aber auch<br />

alle Mobiltelefone überwachen, denn<br />

<strong>die</strong> können ja heute wie jeder PC im<br />

gen. Aber ich suche mir Leute, <strong>die</strong> das Wurde der Redaktion zugespielt: Bundestrojaner, Modell<br />

Internet surfen. Uiuiui, das sind aber<br />

viele Geräte. Fragt doch mal <strong>die</strong> Schüler,<br />

<strong>die</strong> mit 15 schon mehr Ahnung haben<br />

als viele IT-Berater, und macht <strong>die</strong><br />

Schulen besser – weniger Mathematik<br />

und weniger Schnarchfächer, mehr praxisbezogenes<br />

Wissen. Denn schließlich<br />

ge winnt man mit Cosinus und Periodensystem<br />

in der Schultasche heute<br />

keinen Blumentopf mehr – hammerhartes<br />

Fachwissen muss herhalten,<br />

damit man heute etwas wird. Wie wäre<br />

es mit Unternehmensführung, Konversationstraining<br />

und Sicherheit? Das<br />

geht jeden etwas an, auch <strong>die</strong> Angestellten.<br />

Und <strong>die</strong> Politiker.<br />

Kurz: <strong>Die</strong> Pläne von Meister Schäuble<br />

sind ein totaler Witz. Das klappt nie.<br />

Nicht dass es unmöglich wäre, aber <strong>die</strong><br />

allein Herangehensweise ist komplett<br />

falsch – da braucht man Leute mit<br />

Ahnung. Leider sind <strong>die</strong> in der Politik<br />

selten geworden.


Stellen Sie sich vor, Sie gehörten einem<br />

Stadt- oder Gemeinderat an. Vor Ihnen<br />

liegt der Lebenslauf eines vielfach ver<strong>die</strong>nten,<br />

wenngleich nicht unumstrittenen<br />

Mannes. Der Lebenslauf – Sie sind<br />

ein aufgeklärter Genosse Ihrer Zeit und<br />

gehören darum dem gemäßigt fortschrittlichen,<br />

das heißt nach allgemeiner<br />

Auffassung dem einzig vernünftig-diskutablen<br />

Flügel Ihres Rates an – ist nicht<br />

alltäglich, in manchem vielleicht sogar<br />

merkwürdig, ja anstößig.<br />

- Der zu Ehrende, 1957 verstorben,<br />

war ein Kirchenmann, jahrzehntelang<br />

evangelischer Landesbischof in Bayern,<br />

der erste übrigens mit solcher Bezeichnung<br />

in seinem Amt.<br />

- Sein Verhältnis zum Nationalsozialismus,<br />

für ihn wie für viele seiner Generation<br />

<strong>die</strong> größte Ge wissensprüfung seines<br />

Lebens, war zu mindest zwiespältig. <strong>Die</strong><br />

Archivare Ihrer Stadtverwaltung (ich<br />

spreche Sie noch immer als Ratsmitglied<br />

an) berichten eilfertig von höchst<br />

anfechtbaren antisemitischen Äußerungen<br />

aus einer Zeit, als der Kandidat noch<br />

gar nicht Bischof seiner Landeskirche<br />

war und wir uns noch mitten in der Weimarer<br />

Republik befinden.<br />

- Sein Verhalten in Hitlers Diktatur,<br />

der Staatsmacht gegenüber, war ambivalent:<br />

verständnisvoll, ja hilfreich, sogar<br />

lebensrettend im Privaten, leisetreterisch<br />

und mit den Wölfen heulend in<br />

mancher öffentlichen Äußerung; aber<br />

dann auch wieder seltsam zäh.<br />

- In der Nachkriegszeit, als er neben<br />

dem katholischen „Amtsbruder“ Kardinal<br />

Michael von Faulhaber eine der<br />

wenigen übrig gebliebenen ethischen<br />

Instanzen in einer moralischen Ruinenlandschaft<br />

war, übte er in manchen sogar<br />

belegbaren Fällen allzu rasch politisches<br />

Vergeben und Vergessen, und vor allem<br />

– er reihte sich sofort ein in <strong>die</strong> antikommunistische<br />

Abwehrfront, in der er so<br />

weit ging, dass er noch lange nach 1945<br />

Sozialdemokraten und Kommunisten<br />

gleichsetzte; und gegen eine Abspaltung<br />

der bayerischen Protestanten von der<br />

CSU vor allem deshalb war, weil seiner<br />

Meinung nach dadurch automatisch <strong>die</strong><br />

SPD zur stärksten Partei in Bayern zu<br />

werden drohte.<br />

MARGINALIE<br />

Eine Petitesse und mehr als das<br />

Revisionismus hoch zwei<br />

Würden Sie einem solchen Manne mit<br />

Ihrer Stadtratsstimme zur Ehre der<br />

Umbenennung einer Straße auf seinen<br />

Namen verhelfen wollen? Würden Sie so<br />

weit gehen, einen Teil der altehrwürdigen,<br />

wenngleich auch selbst mit leicht<br />

anrüchiger Vergangenheit behafteten<br />

Arcisstraße zu München <strong>die</strong>sem Mann<br />

zu Ehren auf den Namen Meiserstraße<br />

umzutaufen?<br />

Selbstverständlich würden Sie das<br />

nicht tun.<br />

Und dabei hätten Sie voll und ganz<br />

Recht.<br />

Nur: das ist gar nicht das Problem.<br />

<strong>Die</strong>se Aufgabe hätten Sie niemals zu<br />

erfüllen gehabt.<br />

Ihre Aufgabe jetzt, im Jahr 2007, war<br />

<strong>die</strong> genau entgegengesetzte: Sie sollten<br />

eine Be-Nennung, <strong>die</strong> aus dem Kenntnis-<br />

und Bewusstseinsstand des Jahres<br />

1957 mit all den Idiosynkrasien und<br />

blinden Flecken von damals vorgenommen<br />

worden war, rückgängig machen –<br />

durch den höchst seltenen politischen<br />

Akt der Ent-Nennung einer öffentlichen<br />

Straße. Und zwar desselben Stücks, das<br />

vierzig Jahre zuvor <strong>die</strong>sen Namen nicht<br />

einfach deshalb bekommen hatte, weil<br />

eine Straße eben einen Namen braucht,<br />

sondern ausdrücklich in dem gesteigerten<br />

politischen Lebensgefühl, dass eine<br />

Stadt und deren Gesellschaft damit eine<br />

Person ehren wollten, in deren öffentlicher<br />

Schuld sie sich glaubten. So geschehen<br />

und vollzogen von der rot-grünen<br />

Mehrheit des Stadtrats der Landeshauptstadt<br />

München mit förmlichem<br />

Beschluss vom 18. Juli 2007.<br />

Aus der kurzen Münchner Meiserstra -<br />

ße, ehemals Teil der Arcisstraße, sollte an<br />

<strong>die</strong>sem Julitag 2007 etwas anderes werden.<br />

Was, das ist in <strong>die</strong>sem Rechtsakt<br />

noch nicht enthalten und soll künftigem<br />

Bedenken überlassen bleiben. So dass<br />

man im derzeitigen politisch-rechtlichen<br />

Zu stand zwar nicht mit akzeptiertem<br />

Terminus, jedoch zur besseren<br />

Kennzeichnung bis auf weiteres von der<br />

Ent mei serung einer Münchner Straße<br />

reden darf.<br />

Das Echo auf <strong>die</strong>se Stadtratsentscheidung<br />

war in der Münchner Öffentlichkeit,<br />

bei der lokalen Presse und bei den<br />

üblichen verdächtigen Leserbriefschreibern<br />

vor allem von einem gekennzeichnet:<br />

Man fragte sich überwiegend, ob<br />

aus heutiger historischer Sicht der evangelische<br />

Landesbischof Hans Meiser<br />

<strong>die</strong>se Ab-Erkennung ver<strong>die</strong>nt habe, man<br />

tauschte durchaus kontrovers Argumente<br />

aus, ob er in solchem Ausmaße<br />

An ti semit gewesen und ob ein Mann seiner<br />

Stellung, der nach dem Polenfeldzug<br />

Dankgebete für den Erfolg der deutschen<br />

Waffen habe sprechen lassen,<br />

noch tragbar sei. Man sammelte auf beiden<br />

Seiten, bei Befürwortern wie Gegnern<br />

des Antrags, Belege aus der Vita<br />

Hans Meisers, Belege, <strong>die</strong> ihn je nachdem<br />

be- oder entlasten sollten.<br />

Gewiss: mit einer großen reservatio<br />

men talis wies Münchens Oberbürgermeister<br />

Christian Ude in seiner bemerkenswerte<br />

Rede vor dem Stadtrat darauf<br />

hin, dass man <strong>die</strong> Bedingungen des Jahres<br />

1957, als unter dem sozialdemokratischen<br />

Oberbürgermeister Thomas<br />

Wim mer <strong>die</strong> Stadt München den Na -<br />

men Meiserstraße beschloss, sehr wohl<br />

berücksichtigen müsse. Und dennoch<br />

verlief <strong>die</strong> gesamte Diskussion de facto<br />

so, als hätte Münchens Stadtrat jetzt,<br />

2007, ganz neu zu entscheiden, ob es<br />

von nun an eine Meiserstraße geben solle<br />

oder nicht. Genau das war das Verfahren<br />

oder, wenn man will, der innere Mechanismus<br />

der Diskussion. Verkürzt ausgedrückt,<br />

ging es immer darum, ob Meiser<br />

durch seine Taten oder Unterlassungen<br />

<strong>die</strong>se Ehrung nun ver<strong>die</strong>nt oder verwirkt<br />

habe. Hauptargument dabei war Meisers<br />

Antisemitismus, und für ein gelassenes<br />

Abwägen des zeitgenössischen Um -<br />

felds und der Bedeutungsnuancen ist<br />

<strong>die</strong>ses Thema auch heute in der deutschen<br />

Öffentlichkeit (aus mancherlei<br />

gu ten Gründen) noch viel zu heikel. Da -<br />

zu kam, dass den Beschlussakten eine<br />

formal zwar Neutralität betonende, in -<br />

haltlich jedoch unmissverständliche<br />

Presseerklärung der Präsidentin der Israelitischen<br />

Kultusgemeinde für München<br />

und Oberbayern beilag. Welche<br />

Wir kung eine solche Verlautbarung von<br />

solcher Seite hat, auch wenn ihr in dem<br />

Verfahren keinerlei juristische Funktion<br />

zukommt, braucht wohl nicht betont zu<br />

werden.<br />

<strong>Die</strong> Frage bleibt: Ist <strong>die</strong> „Ent-Nennung“<br />

einer Straße kommunalpolitische<br />

Petitesse, Lokalposse – oder was? Das zu<br />

103


überlegen, reicht aber über München<br />

und den lokalpolitischen Anlass weit<br />

hinaus. Denn <strong>die</strong> Mentalität und <strong>die</strong><br />

Antriebe, denen man da begegnet (und<br />

denen man punktuell redliches Wollen<br />

durchaus zusprechen mag), dürften, wie<br />

auch aus anderen Beispielen zu ersehen,<br />

nicht auf eine bestimmte Stadt Deutschlands<br />

beschränkt sein. Schon bei der<br />

Cau sa Meiser/Entmeiserung ist München<br />

nur Nachahmungstäterin nach<br />

Neu endettelsau und Nürnberg, wobei<br />

de ren Voraussetzungen allerdings je -<br />

weils andere waren.<br />

Bei Ansätzen wie <strong>die</strong>sen handelt es sich<br />

allem Anschein nach um eine sehr spezifische<br />

Form von Geschichtsrevisionismus.<br />

Sie ist insofern interessant, als Entscheidungen<br />

aus der Nachkriegszeit<br />

über deren eigene Vergangenheit, und<br />

da besonders über <strong>die</strong> hochproblematische<br />

NS-Zeit samt Folgen, nun bereits<br />

ihrerseits als historisch betrachtet werden;<br />

als „historisch“ in jenem Sinne, dass<br />

jede Epoche das Recht hat, <strong>die</strong> Ge -<br />

schichte neu zu schreiben. Zu <strong>die</strong>sem<br />

zweifellos legitimen Recht, ohne das Ge -<br />

schichtsschreibung gar nicht existierte,<br />

gibt es freilich auch eine pervertierte<br />

Form, nämlich dass eine Generation<br />

meint, ihre eigenen Widersprüche und<br />

ihre Kritik in <strong>die</strong> dann offenbar noch als<br />

aktuell und akut (und somit als unmittelbar<br />

gefährlich) erlebte Vergangenheit<br />

zurückzuprojizieren und Geschichte<br />

nicht, wie sehr wohl zulässig, neu zu<br />

schreiben, sondern „umzuschreiben“.<br />

Heute Missliebiges wird wegretuschiert.<br />

Das Verfahren, wir wissen es, hat seine<br />

Vorbilder. <strong>Die</strong> rabiateste Ausprägung,<br />

zudem noch in symbolisch ritualisierter<br />

Form, war <strong>die</strong> altrömische damnatio<br />

memoriae: Karthago ihr dann eben nicht<br />

mehr leuchtendes süperbes Beispiel.<br />

Aber auch das 20. Jahrhundert böte dazu<br />

überzeugende Belege.<br />

Bemerkenswert an der Münchner Meiser-Auseinandersetzung<br />

des Sommers<br />

2007 war – und nur wegen der Übertragbarkeit<br />

des Vorgangs greifen wir<br />

noch einmal darauf zurück –, dass sich<br />

der Stadtrat und <strong>die</strong> Öffentlichkeit zwar<br />

<strong>die</strong> Argumente der Würdig- oder Un -<br />

würdigkeit Meisers heftig um <strong>die</strong> Ohren<br />

geschlagen haben (als könnte man damit<br />

seine eigene Entscheidung rechtfertigen),<br />

sie jedoch, abgesehen von einer<br />

kursorischen Erwähnung in der Rede<br />

des Oberbürgermeisters, niemals da -<br />

nach fragten, was ihre Stadt-Vorväter,<br />

den Stadtrat des Jahres 1957 unter SPD-<br />

Oberbürgermeister Thomas Wimmer,<br />

104<br />

denn bewogen habe, den an dem Evangelischen<br />

Landeskirchenamt Bayerns<br />

vor beiführenden Teil der Münchner Ar -<br />

cisstraße nach Hans Meiser zu benennen.<br />

Wie groß war <strong>die</strong> Erschütterung<br />

nach Meisers Ableben 1956 bei Rat und<br />

Bürgern der Stadt München, welchen<br />

Wünschen und Bedürfnissen folgte der<br />

Beschluss?<br />

<strong>Die</strong> Geschichte der Be-Nennung ist<br />

zumindest bis zu einem gewissen Grade<br />

<strong>die</strong> Geschichte einer Groteske, fast spiegelgleich<br />

dem jetzigen Ausgang. Forderungen,<br />

eine Straße nach Bischof Meiser<br />

zu benennen, wurden relativ bald nach<br />

Meisers Tod laut. <strong>Die</strong> Stadtverwaltung<br />

gedachte zunächst, in einem zentrumsfernen,<br />

eher wenig angesehenen Neubaugebiet<br />

eine Straße nach dem protestantischen<br />

Kirchenmann zu benennen.<br />

Ergebnis: Proteste, wie heute noch in<br />

den alten Zeitungen nachzulesen. Dann<br />

ein Antrag der Bayernpartei, <strong>die</strong> sich<br />

damals schon in heftigem Abwehrkampf<br />

gegen <strong>die</strong> CSU befand und ihr das<br />

Monopol auf <strong>die</strong> Verteidigung des wahren<br />

Bayerntums noch glaubte streitig<br />

machen zu können. Eine wichtige<br />

Straße in der Stadt, eine „erste Adresse“<br />

zudem, sollte in Meiserstraße umbenannt<br />

werden, ein Teil der Briennerstraße<br />

westlich der Propyläen. <strong>Die</strong> darin<br />

arglose Bayernpartei hatte<br />

nicht damit gerechnet,<br />

dass Anwohner mit solchen<br />

aufgezwungenen<br />

Adressänderungen im mer<br />

unzufrieden sind, und sich<br />

vor allem <strong>die</strong> Macht der<br />

hochmögenden Isar-<br />

Amper-Werke, des pro -<br />

minentesten Anliegers,<br />

nicht vor Augen geführt.<br />

<strong>Die</strong> Stadtchronik, auch <strong>die</strong><br />

Archivalien, sind über den<br />

weiteren Verlauf relativ<br />

schweigsam, immerhin so<br />

viel steht fest: Wenige Wo -<br />

chen später gab es einen<br />

gemeinsamen Antrag von<br />

fünf Rathausfraktionen,<br />

an der Spitze SPD und<br />

CSU, den südlichen Teil<br />

der Arcisstraße, gewissermaßen<br />

da, wo Meiser aus<br />

seinem Amtszimmer im<br />

Landeskirchenamt auf <strong>die</strong><br />

Straße hatte blicken können,<br />

im Meiserstraße um -<br />

zubenennen. Treuherzig<br />

führt <strong>die</strong> Beschlussvorlage<br />

noch an, dass es in <strong>die</strong>sem<br />

Hans Prähofer, Wie es war, 2005, Heimatbund Mühldorf<br />

Teil der Arcisstraße keine anderen Anlieger<br />

als den Staat und <strong>die</strong> Evangelische<br />

Kirche selbst gebe und somit nicht mit<br />

Anwohnerprotesten (sprich: wie an der<br />

Briennerstraße) ge rechnet werden<br />

müsse. Der Beschluss wurde während<br />

einer Marathonsitzung mit 60 (!) Tagesordnungspunkten<br />

ge fasst, im Protokoll<br />

<strong>die</strong>ser Sitzung ist keinerlei Wortmeldung<br />

wiedergegeben, nur <strong>die</strong> Tatsache<br />

selbst. Dem darauffolgenden Zeitungsbericht<br />

ist zumindest indirekt zu entnehmen,<br />

dass es im Plenum nicht einmal<br />

eine Diskussion zu <strong>die</strong>sem Punkt gegeben<br />

hat.<br />

So viel wortlose Ab- und Übereinstimmung,<br />

oder <strong>die</strong>s alles so selbstverständlich?<br />

Eine mögliche Antwort darauf führt<br />

uns allmählich wieder an den von uns<br />

beobachteten Geschichtsrevisionismus,<br />

<strong>die</strong>smal aber eines solchen vom Jahrgang<br />

1957. Den wahren Grund für <strong>die</strong>ses<br />

wortlose Einverständnis könnte man<br />

nämlich finden, wenn man sich <strong>die</strong> politische<br />

Konstellation <strong>die</strong>ser Zeit in Nachkriegsdeutschland<br />

und besonders im<br />

Nachkriegsmünchen ansieht. Nicht von<br />

ungefähr wurde <strong>die</strong> Vita Meisers damals<br />

verschiedentlich mit der überragenden<br />

Bedeutung seines gewissermaßen „Kollegen“<br />

vom anderen Gesangsbuch, des<br />

Kann man <strong>die</strong> Vergangenheit verschönern,<br />

wie man einen Luftschutzbunker sprengt?


katholischen Kirchenfürsten Kardinal<br />

Michael (von) Faulhaber, verglichen.<br />

Für Faulhaber, gestorben 1952, wurde<br />

sofort – der Münchenkenner kann es<br />

noch heute bestätigen – eine nicht unansehnliche<br />

Münchner Innenstadtstraße<br />

in Kardinal-Faulhaber-Straße umbenannt.<br />

Faulhaber sofort höchst prominent<br />

geehrt – und wo bleibt da im pari tä -<br />

ti sche n Denken der Zeit <strong>die</strong> Evan gelische<br />

Kirche Bayerns? Wohl möglich, dass da<br />

mancher eine Lücke, zumindest eine of -<br />

fene Stelle verspürte.<br />

Genau zu <strong>die</strong>ser Zeit war der Sozialdemokrat<br />

Wilhelm Hoegner, Chef der sog.<br />

Viererkoalition, bayerischer Ministerpräsident.<br />

Er hatte schon bald nach dem<br />

Krieg versichert, dass „jeder gute Christ<br />

ohne Bedenken Sozialdemokrat und<br />

jeder Sozialdemokrat … ohne Bedenken<br />

gläubiger Christ sein“ könne, und<br />

behielt <strong>die</strong>se Meinung stets bei. Auch<br />

hatte er durch einen damals eher ungewöhnlichen<br />

Schritt, nämlich einen parteilosen<br />

Vizepräsidenten des Evangelischen<br />

Landeskirchenamtes zum<br />

Staats sekretär zu machen, ganz offenbar<br />

zu zeigen versucht, dass sich <strong>die</strong> Evangelische<br />

Kirche nicht nur von der CSU vertreten<br />

fühlen musste.<br />

Was lag bei einer solchen politischen<br />

Gefühlslage näher, als dem soeben ver-<br />

Heftkritik<br />

Unaufgeregt anspruchsvoll<br />

DIE GAZETTE: Viel Text, wenige Bilder, keine<br />

hochgekochten Sensationen<br />

Anders als üblich gab es DIE GAZETTE zunächst<br />

online, seit 1998, und erst sechs Jahre später auch<br />

gedruckt. Und anders als viele sonstigen Zeit -<br />

schriftengründungen hat <strong>die</strong> Münchner, vom Literaturwissenschafter<br />

Fritz R. Glunk gegründete<br />

Vierteljahresschrift nicht blätternde Zuschauer als<br />

Zielgruppe im Sinn, sondern denkende Leser. Das<br />

bedeutet auf 106 Seiten viel Text, wenige Bilder,<br />

keine hochgekochten Sensationen.<br />

„Eigentlich vollkommen unverkäuflich“, wie der<br />

Journalist Peter Littger in der internen „Heftkritik“<br />

der aktuellen Nummer noch eins nachlegt. Er meint<br />

das als Kompliment, und es ist ihm beizustimmen.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Gazette</strong> ist das, was viele Diskurs-Plattformen<br />

nur simulieren (Littger erwähnt etwa das von ihm<br />

mitbegründete Cicero), ein Diskussionsorgan im<br />

altmodischen Sinn, anspruchsvoll und nicht ohne<br />

storbenen protestantischen Oberhirten<br />

Bayerns auch von seiten der Landeshauptstadt,<br />

dazu noch unter Führung<br />

derselben Partei wie <strong>die</strong> Staatsregierung,<br />

<strong>die</strong> gleiche Ehre zuteil werden lassen wie<br />

wenige Jahre zuvor Faulhaber? Den Zeitungen<br />

und Nachrufen jener Zeit ist zu<br />

entnehmen, dass Bischof Hans Meiser<br />

den Münchnern und Bayern in der letzten<br />

Phase seines Lebens vor allem wegen<br />

seines bei aller Kritik der Biographen<br />

offenbar hohen Charismas im Gedächtnis<br />

blieb, und <strong>die</strong> subjektive Erschütterung<br />

so manches Berichts ist auf ihre<br />

Weise durchaus glaubwürdig. Und gar<br />

nicht zu verschweigen ist, dass eine solche<br />

Ehrung auch für <strong>die</strong> Ehrenden politischen<br />

Ertrag versprach und – wie am<br />

damaligen Echo zu sehen – keineswegs<br />

nur versprach.<br />

<strong>Die</strong> zumindest partiellen Verstrickungen<br />

Meisers in das Un rechtsregime der<br />

NS-Zeit mögen bei der damaligen Be -<br />

wertung eine nur geringe Rolle gespielt<br />

haben, und damit befand er sich zu jener<br />

Zeit, 1957, zweifellos in wenn nicht<br />

guter, so doch gro ßer Zeitgenossenschaft.<br />

<strong>Die</strong>s alles ist, retrospektiv betrachtet,<br />

freilich nicht schön. Aber wann ist Ge -<br />

schichte schon „schön“? Und mit welcher<br />

Legitimation machen wir Spätergebore-<br />

nen uns an heischig, Ge schichte durch<br />

Umschreiben, Wegretuschieren wie<br />

dem Entfernen eines Namens von einer<br />

Straßentafel, zu „verschönern“?<br />

Aber damals, 1957, in einer Welt, in<br />

der <strong>die</strong> Überlebenden von 1945 gerade<br />

auf der Höhe ihrer Schaffenskraft waren<br />

und <strong>die</strong> Mitte der Gesellschaft bildeten,<br />

war es politisch zumindest nicht unvorteilhaft,<br />

für den, nach damaliger Lesart,<br />

ver<strong>die</strong>nten Kirchenmann auf solche<br />

Weise Verständnis zu zeigen und <strong>die</strong>s<br />

über <strong>die</strong> Benennung symbolisch zu<br />

bekräftigen.<br />

So wie der Beschluss einer hochweisen<br />

Obrigkeit 2007 den Beifall vieler gefunden<br />

hat, <strong>die</strong> wohlmeinend sind, aber ent -<br />

weder nicht <strong>die</strong> Voraussetzungen oder<br />

nicht <strong>die</strong> Zeit haben, solche alten Akten<br />

nachzulesen; es ist der Beifall da rüber,<br />

dass man sich hier von einem Stück Vergangenheit<br />

befreit, das viele von uns<br />

anfangen, als Makel zu empfinden.<br />

Verschönerung aber sollte auf Lebensbereiche<br />

wie auf das Aufstellen von<br />

Ruhebänkchen durch den Verschönerungsverein<br />

beschränkt bleiben. Denn<br />

schon als Selbstverschönerung, vulgo<br />

Kosmetik, wird sie in vielem fragwürdig.<br />

Den Spiegel reichen wir gerne.<br />

Anton Stahlberg<br />

Überraschungen. Mag man Julian Nida-Rümelins<br />

Beitrag über „Gerechtigkeit in Europa“ noch als Teil<br />

des etablierten bundesrepublikanischen Dialogs<br />

sehen, so fällt der kluge und zynische Beitrag des<br />

kenianischen Autors Binjawanga Wainaina über <strong>die</strong><br />

wohlgemeinten Initiativen der Ersten Welt zur Rettung<br />

der Dritten („Biogas, Aufziehradio, One Laptop<br />

Per Child“) schon aus dem Rahmen. „Der Internationale<br />

Währungsfonds wird dazu lächeln.“<br />

Man nehme dazu <strong>die</strong> Aufzählung von Matthias<br />

Horx' 100 Top-Trends von 2004, <strong>die</strong> sich von selbst<br />

verreißt, oder Zé do Rock, wie er in seinem quasideutschen<br />

Idiom Witziges und Ernstes aus Kuba<br />

berichtet, oder <strong>die</strong> brisante Rekonstruktion eines<br />

Geheimtreffens von Dissidenten und Regimespitzen<br />

mitten in der DDR, 1976 und kurz nach der<br />

Ausweisung Biermanns: Das Ergebnis ist rund,<br />

spannend und formal in einer unaufgeregten<br />

Ästhetik zwischen dem seligen Transatlantik und<br />

Datum angesiedelt. Ein Gewinn.<br />

(Michael Freund/DER STANDARD, Wien; Printausgabe,<br />

6. November 2007)<br />

105


106<br />

Autoren und Fotografen<br />

Michael Müller ist Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium<br />

für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit<br />

und u.a. Vorsitzender der Enquête-Kommission „Schutz des<br />

Menschen und der Umwelt“.<br />

Dr. Frank Holl, Dr. phil., Literaturwissenschaftler und Historiker.<br />

Seit 1994 Kurator einer internationalen Ausstellungsreihe zu<br />

Alexander von Humboldt (u.a. in Havanna , Carácas, Berlin,<br />

Bogotá, Quito, Lima und Madrid)3. Preis der Georg-Agricola-<br />

Gesellschaft zur Förderung der Geschichte der Naturwissenschaften<br />

und Technik.<br />

<strong>Die</strong>trich Krusche war bis 1997 Professor für interkulturelle Hermeneutik<br />

an der Ludwig-Maximilians-Universität München.<br />

Lebt als freier Autor in Frankreich.<br />

Nico Stehr ist Inhaber des Karl Mannheim Lehrstuhls für Kulturwissenschaften<br />

an der Zeppelin University Friedrichshafen.<br />

Autor u.a. von Wissenspolitik (2003), Biotechnology (2004), <strong>Die</strong><br />

Moralisierung der Märkte (2007).<br />

Hans von Storch ist Direktor des Instituts für Küstenforschung<br />

des GKSS Forschungszentrums in Geesthacht und Professor am<br />

Meteorologischen Institut der Universität Hamburg. Mit Nico<br />

Stehr Autor von Klima - Wetter - Mensch (1999).<br />

Henry Fair lebt als freier Fotograf in New York (Harper’s, National<br />

Geographic). www.industrialscars.com, www.jhenryfair.com<br />

Torsten Mertz, Diplom-Geograph und Redakteur, tätig bei der<br />

Münchner Agentur akzente, <strong>die</strong> Unternehmen zum Thema<br />

Nachhaltigkeit berät, Autor von Schnellkurs Ökologie (2006).<br />

Professor Dr. Karl-Friedrich Wetzel lehrt an der Universität<br />

Augsburg am Lehrstuhl für Physische Geographie und Quantitative<br />

Methoden.<br />

Ulrich Frey ist der Autor von Der blinde Fleck – Kognitive Fehler<br />

in der Wissenschaft und ihre evolutionsbiologischen Grundlagen<br />

(Dissertation 2007)<br />

Impressum<br />

DIE GAZETTE Verlags GmbH<br />

Postfach 44 02 11, 80751 München, Tel. +49-89-360 39 666<br />

Fax +49-89-360 39 667, www.gazette.de und www.gazette.at<br />

HERAUSGEBER: Dr. Fritz R. Glunk (Glunk@gazette.de)<br />

REDAKTION: Linda Benedikt, Nikolai Podak, Dr. Edda Ziegler<br />

(redaktion@gazette.de)<br />

ART DIRECTOR: Manfred Adams<br />

SCHLUSSKORREKTUR: Eva Wendel, assesso.me<strong>die</strong>nprojekte<br />

REDAKTIONSBEIRAT: Eva Herold-Münzer, Volker Isfort,<br />

Andreas Odenwald, Christiane Wimmer, Frank T. Zumbach<br />

CONSULTING: Günter P. Elfe, Hubertus Fulczyk, Dr. Gernot Sittner<br />

ANZEIGENLEITUNG: Lutz Boden, MMG Me<strong>die</strong>nhaus München,<br />

Klausingweg 2, 80797 München<br />

Tel. +49-89-97 34 19 59, Fax +49-89-97 34 19 61.<br />

boden@me<strong>die</strong>nhaus-muenchen.de<br />

Leoluca Orlando, heute Parlamentsabgeordneter in Rom, 1985<br />

bis 2000 Bürgermeister von Palermo, Autor von Ich sollte der<br />

nächste sein (2003, in dt. Sprache) und Leoluca Orlando racconta<br />

la mafia ( 2007).<br />

Yvanka B. Raynova ist Direktorin des Instituts für axiologische<br />

Forschungen (philosophische und interdisziplinäre Werteforschung).<br />

Dr. Wendelin Wiedeking ist Vorstandsvorsitzender der Dr. Ing.<br />

h.c. F. Porsche AG., Autor u.a. von Anders ist besser. Ein Versuch<br />

über neue Wege in Wirtschaft und Politik (2006).<br />

Dr. Oskar Holl ist lebt als freier Rundfunk- und Fernsehjour -<br />

nalist, Filmemacher und Me<strong>die</strong>nberater in München.<br />

Viktoria Baron, geb. 1984 in Kasachstan, freie Autorin, träumt<br />

von der Anstellung bei einer großen deutschen Wochenzeitung.<br />

Corinna Sigmund ist Mitglied im write club im Münchner Café<br />

Jasmin. Mehrere Artikel in der Süddeutschen Zeitung.<br />

Frederick Pollack ist Lyriker und u.a. Autor von The Adventure<br />

und Happiness; lebt in Washington, D.C.<br />

Vivian Stockman, freie Fotografin,Bachelor in Environmental<br />

Communications an der Ohio State University. Mehrere Aus -<br />

stellungen. www.globalwarmingsolution.org.<br />

Phylis Geller lebt in Washington, D.C., freie Filmemacherin,<br />

mehrere Preise, produzierte zuletzt den Dreiteiler The Appala -<br />

chians für PBS (Public Broadcasting System).<br />

Philipp Schneidenbach ist Journalist und freier Berater für<br />

Benchmarks und Audits sowie Me<strong>die</strong>nrepräsentanz.<br />

www.schneidenbach.de<br />

Anton Stahlberg, langjähriger Korrespondent österreichischer<br />

Me<strong>die</strong>n für München und Süddeutschland, lebt jetzt abwechselnd<br />

in München und St. Johann im Haselried, Südtirol<br />

Das nächste Heft der GAZETTE, Nummer 16 / Winter 2007/2008, erscheint am 15. Dezember 2007.<br />

ANZEIGENVERKAUF: Angelika Güttel<br />

Tel. +49-8443-91 64 98, Fax +49-8443-91 90 26, gazette@kastner.de<br />

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(auch unter www.gazette.de und gazette@kastner.de)<br />

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werden, bevor es sich um ein weiteres Jahr verlängert.<br />

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Prof. Dr. Dr. Frederic Vester, Biokybernetiker, Umwelt-<br />

und Zukunftsforscher, hat seine Überlegungen, wie das<br />

komplexe Geschehen, seine Folgen und <strong>die</strong> Abhilfen<br />

einsichtig gemacht werden können, in <strong>die</strong>ser CD-ROM mit<br />

seinem Szenario Zeitbombe Klimawandel anschaulich<br />

gemacht. Der Aufbau des Szenarios wird von einem<br />

Sprecher kommentiert und ist mit Animationen, Fotos und<br />

Sound illustriert.<br />

Schritt für Schritt zeigt Frederic Vester <strong>die</strong> Vernetzung der<br />

an <strong>die</strong>sem Vorgang beteiligten Faktoren, ihre sich selbst -<br />

verstärkenden Auswirkungen auf das Klimageschehen und<br />

<strong>die</strong> Wechselwirkungen mit den menschlichen Aktivitäten.<br />

Damit wird erstmals <strong>die</strong> Komplexität der Abläufe in einer<br />

auch für Laien verständlichen Art und Weise dargestellt.<br />

Doch selbst für Experten dürften <strong>die</strong> hier einmalig im<br />

Systemzusammenhang dargestellten Faktoren und ihre<br />

Dynamik neue Erkenntnisse bringen.<br />

Buch und Gestaltung: Frederic Vester<br />

Redaktion: Dipl. Geol. Gabriele Harrer<br />

Sprecher. Harry Täschner<br />

Musik: Hannes Vester<br />

Herausgeber: Malik Management Zentrum St. Gallen AG


Chronoswiss<br />

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