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netzwerke in der demokratie diewelt auf französisch ... - Die Gazette

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die <strong>Gazette</strong><br />

DAS POLITISCHE KULTURMAGAZIN NUMMER 12 / WINTER 2006/2007<br />

Parallelstrukturen<br />

NETZWERKE IN DER DEMOKRATIE<br />

Herfried Münkler<br />

E<strong>in</strong> Blick aus Amerika<br />

DIE WELT AUF FRANZÖSISCH<br />

François Gorand<br />

Indien heute<br />

DER FLEXIBLE HINDU<br />

Sudhir Kakar<br />

Nie<strong>der</strong>gang e<strong>in</strong>er Weltstadt<br />

CIAO, VENEZIA<br />

Stefanie Oswalt


Editorial<br />

<strong>Die</strong>se Ausgabe <strong>der</strong> GAZETTE ist unter <strong>der</strong> Hand,<br />

also ungeplant, zu etwas wie e<strong>in</strong>em Themenheft geworden:<br />

Aus Textideen, Dokumenten, Begegnungen<br />

und den bekannten ungelösten politischen Fragen<br />

entwickelte sich, ohne dass dies zur Gewohnheit<br />

werden soll, fast e<strong>in</strong> Schwerpunktthema: Islamismus<br />

und Islam.<br />

Es begann mit dem Fund e<strong>in</strong>es außergewöhnlichen<br />

und <strong>in</strong> Deutschland weith<strong>in</strong> unbekannten Textes,<br />

<strong>der</strong> sogenannten Organisation <strong>der</strong> Barbarei. <strong>Die</strong>se<br />

detaillierte Anleitung zum bewaffneten Dschihad<br />

ist mit großer Sicherheit ke<strong>in</strong>e Fälschung. Wir br<strong>in</strong>gen<br />

e<strong>in</strong>ige Auszüge daraus (die ersten <strong>in</strong> deutscher<br />

Übersetzung) <strong>in</strong> den Fundsachen.<br />

Der Text zeigt bee<strong>in</strong>druckende Charakeristika. Er<br />

betont erstens die Notwendigkeit e<strong>in</strong>er straffen zentralen<br />

Organisation und verurteilt jede aktionistische<br />

Eigenmächtigkeit. <strong>Die</strong> gefährliche Phase, „die die<br />

Geme<strong>in</strong>schaft <strong>der</strong> Gläubigen jetzt durchschreiten<br />

wird“ (wie <strong>der</strong> Untertitel lautet), erfor<strong>der</strong>e Verwaltungskenntnisse,<br />

die „Organisation“ – o<strong>der</strong> auch das<br />

„Management“– des chaotischen Übergangszustands,<br />

<strong>der</strong> hier „Barbarei“ genannt wird. Sodann beweist<br />

<strong>der</strong> Autor e<strong>in</strong>e hohe Vertrautheit mit <strong>der</strong> politischen<br />

Bedeutung <strong>der</strong> Medien (<strong>in</strong> <strong>der</strong> westlichen<br />

Welt), die im Kampf bisher zu wenig beachtet worden<br />

sei.<br />

Der Text ist vor allem deshalb ke<strong>in</strong>e leichte Lektüre,<br />

weil er nicht, wie es <strong>der</strong> eurozentrische Leser von<br />

Sachtexten gewohnt ist, e<strong>in</strong>er l<strong>in</strong>earen Sachlogik<br />

folgt, son<strong>der</strong>n immer wie<strong>der</strong> die sprachlichen Mittel<br />

des blumigen Vergleichs, <strong>der</strong> Ermahnung und des<br />

frommen Appells e<strong>in</strong>setzt. Sich dem mith<strong>in</strong> schwierigen<br />

Text trotzdem auszusetzen, führt zu <strong>der</strong> Erfahrung<br />

e<strong>in</strong>er sehr eigentümlichen Text„stimmung“<br />

und Argumentationsweise.<br />

Der Brief Präsident Ahmad<strong>in</strong>edschads an Angela<br />

Merkel (ebenfalls <strong>in</strong> den Fundsachen) verwendet erkennbar<br />

ganz an<strong>der</strong>e sprachliche Mittel: die rhetorische<br />

Frage, die <strong>in</strong>direkte Frage sowie für wirksam gehaltene<br />

Komplimente an die Frau und die Deutsche.<br />

Das Argument <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Redaktion für die Veröffentlichung<br />

war nicht die politische Naivität, je<strong>der</strong><br />

solle sich hier „se<strong>in</strong> eigenes Urteil bilden“, son<strong>der</strong>n<br />

die Dokumentation e<strong>in</strong>es Schreibens, das vom<br />

Bundskanzleramt nicht beantwortet wurde, wohl<br />

nicht gut beantwortet werden konnte. Und fast wäre<br />

die Veröffentlichung noch an dem E<strong>in</strong>wand gescheitert,<br />

dadurch würde e<strong>in</strong> Staatschef <strong>in</strong> all se<strong>in</strong>em diplomatischen<br />

Ungeschick vorgeführt.<br />

Der Beitrag von Siegl<strong>in</strong>de Eva Tömmel, e<strong>in</strong> kulturpsychoanalytischer<br />

Versuch, geht e<strong>in</strong>er Antwort <strong>auf</strong><br />

die Frage nach, ob e<strong>in</strong> ganzer Kulturkreis – wie etwa<br />

<strong>der</strong> arabische – durch historische Ereignisse e<strong>in</strong>e<br />

„narzisstische Kränkung“ erfahren und dar<strong>auf</strong> nur<br />

noch durch e<strong>in</strong>en Ausbruch „ohnmächtiger Wut“ reagieren<br />

kann (wie wir es von Individuen kennen).<br />

E<strong>in</strong>e politische Agenda ergibt sich aus diesem Versuch<br />

noch nicht, aber möglicherweise e<strong>in</strong> erster Ansatz<br />

zu e<strong>in</strong>em besseren Verständnis.<br />

In e<strong>in</strong>en historischen Rahmen stellt <strong>der</strong> Religionswissenschaftler<br />

Professor Dr. Michael von Brück im<br />

Interview den „<strong>in</strong>terreligiösen Dialog“. Mit erfreulicher<br />

Klarheit: Was Mitteleuropäer heute zum Beispiel<br />

als „nur noch“ konfessionellen Unterschied<br />

erfahren, war vor wenigen Jahrhun<strong>der</strong>ten <strong>der</strong><br />

Grund für e<strong>in</strong>en blutigen Kampf zweier christlicher<br />

„Religionen“. E<strong>in</strong>gehend behandelt <strong>der</strong> Wissenschaftler<br />

die Beziehungen zwischen Religion und<br />

Rechtsprechung (die es auch im Westen gibt) und<br />

die <strong>der</strong>zeit herrschende Angst vor <strong>der</strong> Überfremdung<br />

durch e<strong>in</strong>en „als eroberungswillig<br />

wahrgenommenen“ Islam. Gleichwohl erleben wir<br />

heute die Nachbarschaft e<strong>in</strong>er vierten Religion nicht<br />

nur <strong>in</strong> Europa (gewissermaßen „bei den an<strong>der</strong>n“),<br />

son<strong>der</strong>n auch <strong>in</strong> Deutschland. <strong>Die</strong> gewaltige Bildungs<strong>auf</strong>gabe<br />

jedoch, e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same, nicht-ausschließende<br />

Geschichte Europas zu schreiben, aus<br />

<strong>der</strong> <strong>der</strong> Islam nicht weggeblendet wird, dieser Bildungsprozess<br />

steht dem alten Kont<strong>in</strong>ent noch<br />

bevor.<br />

Literarisch umkreist <strong>Die</strong>trich Krusche den „Islamismus“<br />

mit se<strong>in</strong>er Erzählung Woh<strong>in</strong> gehst du, Bru<strong>der</strong>?.<br />

Dem Ich-Erzähler, e<strong>in</strong>em deutschen Literaturwissenschaftler,<br />

fällt e<strong>in</strong> ernsthafter, politisch engagierter<br />

Student <strong>auf</strong>, „mit Migrationsh<strong>in</strong>tergrund“<br />

und verwandtschaftlichen Beziehungen zu den Mudschahedd<strong>in</strong>.<br />

Nachdem er ihn e<strong>in</strong>e Zeitlang aus den<br />

Augen verloren hat, trifft er ihn, anlässlich e<strong>in</strong>er<br />

Gastprofessur, <strong>in</strong> den USA wie<strong>der</strong>. Der Student hat<br />

sich verän<strong>der</strong>t: Er ist verschlossener, aber auch wesentlicher<br />

geworden. E<strong>in</strong> offenbar kurz bevorstehendes<br />

Attentat <strong>in</strong> London, <strong>in</strong> das <strong>der</strong> Student<br />

womöglich verwickelt ist, kann <strong>der</strong> Erzähler nicht<br />

mehr verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n. – Wir br<strong>in</strong>gen zwei kurze Auszüge<br />

aus <strong>der</strong> noch ungedrucktenErzählung.<br />

Schließlich noch e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis <strong>auf</strong> Andreas Zumachs<br />

Analyse <strong>der</strong> Lage Irans. Er untersucht die Situation<br />

aus – <strong>in</strong> deutschen Medien eher seltener –<br />

iranischer Perspektive, räumt e<strong>in</strong>ige auch bei uns gebräuchliche<br />

Falschmeldungen beiseite und kommt<br />

zu dem Ergebnis: E<strong>in</strong>e politische Lösung kann nur<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kollektiven Sicherheitsabkommen gefunden<br />

werden (an dem selbstverständlich Israel beteiligt<br />

se<strong>in</strong> muss, auch wenn diese Vorstellung heute noch<br />

utopisch kl<strong>in</strong>gt).<br />

Wir, Redaktion, Beirat und Verlag, freuen uns,<br />

dass wir mit dieser Nummer 12 den dritten Jahrgang<br />

<strong>der</strong> Zeitschrift vollenden und immer noch <strong>auf</strong> eigenen<br />

Be<strong>in</strong>en stehen. Und am 15. März 2007 ersche<strong>in</strong>t<br />

die nächste GAZETTE.<br />

Wir wünschen Ihnen allen e<strong>in</strong> glückliches Neues<br />

Jahr.<br />

Fritz R. Glunk<br />

3


THEMEN<br />

REPORTAGE<br />

INTERVIEW<br />

STORY<br />

LYRIK<br />

GALERIE<br />

REZENSIONEN<br />

MARGINALIEN<br />

HEFTKRITIK<br />

<strong>Die</strong> <strong>Gazette</strong><br />

Das politische Kulturmagaz<strong>in</strong> NummeR. 11 / Herbst 2006<br />

3<br />

7 - 19<br />

21<br />

27<br />

32<br />

39<br />

43<br />

47<br />

54<br />

57<br />

62<br />

66<br />

71<br />

74<br />

80<br />

83<br />

98<br />

103<br />

104<br />

105<br />

107<br />

109<br />

111<br />

113<br />

114<br />

Editorial<br />

Fundsachen<br />

Parallelstrukturen: Netzwerke <strong>in</strong> <strong>der</strong> Demokratie Herfried Münkler<br />

Das iranische Atomprogramm: Verbot <strong>auf</strong> Verdacht Andreas Zumach<br />

Public-Private Partnership: Mit wem <strong>der</strong> Staat im Bett liegt Tarik Ahmia<br />

Ich fühl mich so Brandenburg Lutz Rathenow<br />

E<strong>in</strong> Blick aus Amerika: <strong>Die</strong> Welt <strong>auf</strong> Französisch François Gorand<br />

Indien heute: Der flexible H<strong>in</strong>du Sudhir Kakar<br />

Kulturpsychoanalyse: Der Islam und <strong>der</strong> Westen Siegl<strong>in</strong>de Eva Tömmel<br />

Epochenbild: Aus dem Zweimannloch Alexan<strong>der</strong> Cammann<br />

Krynica: Der an<strong>der</strong>e Wirtschaftsgipfel Fritz R. Glunk<br />

mit Professor Dr. Michael von Brück<br />

<strong>Die</strong>trich Krusche Bru<strong>der</strong>, woh<strong>in</strong> gehst du?<br />

Allen G<strong>in</strong>sberg Plutonian Ode – Plutonische Ode (zweisprachig)<br />

Stefanie Oswalt Ciao, Venezia (Text)<br />

Christoph Petras Venedig (Fotos)<br />

I. Poss, P. Warnecke, <strong>Die</strong> Spur <strong>der</strong> Filme Oskar Holl<br />

Y. Loss<strong>in</strong>, He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>e Edda Ziegler<br />

G. Ste<strong>in</strong>gart, Weltkrieg um Wohlstand Rudolf Walther<br />

H. Mynarek, Der polnische Papst Mart<strong>in</strong> Zähr<strong>in</strong>ger<br />

Angst vor Männern im Anzug? Eva Herold<br />

Zwei Skizzen L<strong>in</strong>da Benedikt<br />

Grabste<strong>in</strong>e aus K<strong>in</strong><strong>der</strong>hand Benjam<strong>in</strong> Pütter<br />

GAZETTE global Thomas Kletschke<br />

Autoren und Fotografen<br />

Impressum<br />

Titelfoto: Thomas Dashuber, D<strong>in</strong><strong>in</strong>g Room, Death Valley, 2005, aus <strong>der</strong> Serie Jo<strong>in</strong><br />

me <strong>in</strong> a moment of silence. No. 1.


Fundsachen<br />

Islamismus<br />

Das Handbuch des Dschihad<br />

Der Name des Verfassers (Abu Bakr Naji) ist e<strong>in</strong><br />

Pseudonym, <strong>der</strong> Text vermutlich authentisch. Mehrere<br />

Abschnitte wurden bereits als Serie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeitschrift<br />

Sawt al-Jihad (<strong>Die</strong> Stimme des Dschihad),<br />

e<strong>in</strong>er offiziellen Al-Kaida-Zeitschrift aus Saudi-<br />

Arabien, veröffentlicht. <strong>Die</strong> Übersetzung <strong>in</strong>s Englische<br />

wurde <strong>auf</strong> Ersuchen von Pr<strong>in</strong>ceton-Professor<br />

Michael Duran bis Mai 2006 von William McCants<br />

(West Po<strong>in</strong>t) angefertigt und durch das John M. Ol<strong>in</strong><br />

Institute for Strategic Studies <strong>der</strong> Harvard University<br />

f<strong>in</strong>anziell geför<strong>der</strong>t (Quelle: http://ctc.usma.edu/; die<br />

vorliegende erste Übersetzung dieser Fassung <strong>in</strong>s<br />

Deutsche ist von Philipp Reuter).<br />

Der Text spricht zu schon Bekehrten. Er verteidigt<br />

die Dschihad-Taktik nicht mit religiösen Argumenten.<br />

<strong>Die</strong> kriegerischen Pläne richten sich nicht nur<br />

gegen den „Westen“, son<strong>der</strong>n vor allem gegen die mit<br />

diesem „kollaborierenden“ Regime <strong>in</strong> <strong>der</strong> arabischen<br />

Welt.<br />

Wir sagten bereits, dass bei <strong>der</strong> Betrachtung vergangener<br />

Jahrhun<strong>der</strong>te und bis zur Mitte des 20.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts, wenn große Staaten o<strong>der</strong> Reiche<br />

zusammenbrechen – ob sie nun islamisch waren<br />

o<strong>der</strong> nicht-islamisch – und dann nicht e<strong>in</strong> Staat<br />

entstand, <strong>der</strong> dem vorigen Staat an Macht gleichkam<br />

o<strong>der</strong> ihm vergleichbar war <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fähigkeit,<br />

die Län<strong>der</strong> und Regionen des zusammengebrochenen<br />

Staates zu beherrschen, dass dann die Regionen<br />

und Bereiche dieses Staates, entsprechend <strong>der</strong><br />

Natur des Menschen, e<strong>in</strong>em Zustand unterworfen<br />

s<strong>in</strong>d, <strong>der</strong> die „Organisation <strong>der</strong> Barbarei“ genannt<br />

wird. Deshalb ist die Organisation <strong>der</strong> Barbarei<br />

sehr genau def<strong>in</strong>iert als die Organisation e<strong>in</strong>es<br />

wilden Chaos.<br />

Was detaillierte Def<strong>in</strong>itionen betrifft, so weichen<br />

diese vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> ab je nach den Zielen und dem<br />

Wesen <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Menschen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verwaltung.<br />

Wenn wir uns ihre anfängliche Form vorstellen,<br />

f<strong>in</strong>den wir: Sie besteht im H<strong>in</strong>blick <strong>auf</strong> die Versorgung<br />

mit Nahrung und ärztlicher Behandlung aus<br />

dem Management <strong>der</strong> Bedürfnisse <strong>der</strong> Menschen,<br />

aus <strong>der</strong> Herstellung von Sicherheit und Gerechtigkeit<br />

unter den Menschen, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Region <strong>der</strong><br />

Barbarei leben, aus <strong>der</strong> Sicherung <strong>der</strong> Grenzen<br />

durch Gruppen, die jeden abschrecken, <strong>der</strong> versucht,<br />

die Regionen <strong>der</strong> Barbarei anzugreifen, und<br />

aus <strong>der</strong> Errichtung von befestigten Verteidigungsanlagen.<br />

Das Management <strong>der</strong> Bedürfnisse <strong>der</strong> Menschen<br />

im H<strong>in</strong>blick <strong>auf</strong> Nahrung und ärztliche Behandlung<br />

liegt unter Umständen zeitlich vor <strong>der</strong> Verantwortung<br />

für die Bereitstellung von <strong>Die</strong>nsten wie<br />

Erziehung und so weiter. Und die Aufrechterhaltung<br />

<strong>der</strong> Sicherheit und die Sicherung <strong>der</strong> Grenzen<br />

kann zeitlich vor <strong>der</strong> Erweiterung <strong>der</strong> Region <strong>der</strong><br />

Barbarei liegen.<br />

Warum nennen wir das die „Organisation <strong>der</strong><br />

Barbarei“ o<strong>der</strong> die „Organisation e<strong>in</strong>es wilden<br />

Zustands“ und nicht die „Organisation des<br />

Chaos“? Weil dies nicht das Management e<strong>in</strong>es<br />

kommerziellen Unternehmens ist o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er Institution,<br />

die unter chaotischen Zuständen leidet,<br />

o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er Gruppe von Nachbarn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Prov<strong>in</strong>z<br />

o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er Wohnregion o<strong>der</strong> auch nur die Organisation<br />

e<strong>in</strong>er friedlichen Gesellschaft, die unter chaotischen<br />

Zuständen leidet. Son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Begriff ist<br />

rätselhafter als das Chaos, wenn wir die historischen<br />

Vorläufer und die mo<strong>der</strong>ne Welt betrachten<br />

unter dem Aspekt von Reichtum, Habsucht, verschiedenen<br />

Kräften und <strong>der</strong> menschlichen Natur<br />

und ihrer Form, die wir <strong>in</strong> dieser Untersuchung<br />

diskutieren werden. Vor ihrer Unterwerfung unter<br />

die Verwaltung wird die Region <strong>der</strong> Barbarei <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Zustand se<strong>in</strong>, <strong>der</strong> dem von Afghanistan vor<br />

<strong>der</strong> Herrschaft <strong>der</strong> Taliban ähnelt: e<strong>in</strong>e Region, die<br />

sich dem Gesetz des Dschungels <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Ur-Form<br />

unterworfen hat, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die guten Menschen und<br />

selbst die Weisen unter den Übeltätern sich nach<br />

jemandem sehnen, <strong>der</strong> die Barbarei organisiert. Sie<br />

akzeptieren sogar jede Organisation, gleichgültig,<br />

ob sie aus guten o<strong>der</strong> bösen Menschen besteht.<br />

Wenn jedoch böse Menschen die Organisation <strong>der</strong><br />

Barbarei übernehmen, kann es se<strong>in</strong>, dass diese<br />

Region noch barbarischer wird. (...)<br />

<strong>Die</strong> ersten Jahre nach <strong>der</strong> Hedschra nach Med<strong>in</strong>a<br />

<strong>Die</strong> Verwaltung <strong>der</strong> Barbarei wurde <strong>in</strong> unserer<br />

islamischen Geschichte mehrmals errichtet. Das<br />

erste Beispiel dafür ist <strong>der</strong> Beg<strong>in</strong>n des islamischen<br />

Staates <strong>in</strong> Med<strong>in</strong>a. Mit Ausnahme des byzant<strong>in</strong>ischen<br />

Kaiserreichs und des Perserreichs und e<strong>in</strong>iger<br />

großer und kle<strong>in</strong>er Staaten, die an <strong>der</strong> Peripherie<br />

<strong>der</strong> [Arabischen] Halb<strong>in</strong>sel lagen, ähnelte die vorhergehende<br />

Ordnung <strong>der</strong> Halb<strong>in</strong>sel <strong>der</strong> Ordnung<br />

e<strong>in</strong>er Verwaltung <strong>der</strong> Barbarei. In <strong>der</strong> Zeit, bevor<br />

7


8<br />

e<strong>in</strong> Staat errichtet war, <strong>in</strong> dem Zakat [Steuer] und<br />

Dschisya [Kopfsteuer für Juden und Christen] gezahlt<br />

wurden, und bevor er <strong>auf</strong> Dauer gestellt war<br />

und von den umliegenden Prov<strong>in</strong>zen Anerkennung<br />

erhielt und Gouverneure und Herrscher e<strong>in</strong>setzte,<br />

kann man diese frühe Phase vor <strong>der</strong> islamischen<br />

Ära als e<strong>in</strong>e Zeit ansehen, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Med<strong>in</strong>a<br />

verwaltet wurde, <strong>in</strong>dem man die Regeln <strong>der</strong> Verwaltung<br />

<strong>der</strong> Barbarei befolgte. Selbstverständlich<br />

litt Med<strong>in</strong>a nicht unter Barbarei vor <strong>der</strong> Hedschra<br />

des Propheten (<strong>der</strong> Friede sei mit Ihm); aber es<br />

wurde damals von Stämmen wie den Banu Quraiz<br />

verwaltet mit e<strong>in</strong>er Organisation, die <strong>der</strong> Verwaltung<br />

<strong>der</strong> Barbarei ähnlich war. Als Mohammed<br />

(<strong>der</strong> Friede sei mit Ihm) nach Med<strong>in</strong>a auswan<strong>der</strong>te<br />

und die Herrscher <strong>der</strong> Stadt ihm Gefolgschaft<br />

schworen, wurde Med<strong>in</strong>a <strong>in</strong> <strong>der</strong> ersten Zeit von<br />

den Muslimen noch mit e<strong>in</strong>er ähnlichen Organisation<br />

verwaltet; sie war jedoch e<strong>in</strong>e ideale Ordnung<br />

für die Organisation <strong>der</strong> Barbarei, <strong>der</strong>en Details<br />

wir bereits dargestellt haben. (...)<br />

<strong>Die</strong> Kunst des Managements beherrschen<br />

Mit <strong>der</strong> Gnade Gottes beg<strong>in</strong>nen heute die organisierten<br />

islamischen Aktivitäten, speziell die Dschihad-Organisationen,<br />

sich <strong>auf</strong> dem höchsten<br />

Kenntnisniveau des Verwaltungswissens <strong>in</strong> unserer<br />

islamischen Welt zu organisieren. Zu ihrer Beherrschung<br />

ist gleichwohl noch mehr Wissenserwerb<br />

nötig sowie allgeme<strong>in</strong>e Schulungen und Fortschritte,<br />

um den größtmöglichen Umfang an Bereichen<br />

<strong>der</strong> islamischen Bewegung zu erfassen, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

deshalb, weil wir (so Gott will) uns<br />

<strong>der</strong>zeit e<strong>in</strong>er Phase nähern, <strong>in</strong> <strong>der</strong> unsere adm<strong>in</strong>istrativen<br />

Bedürfnisse sich ausweiten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Verwaltung,<br />

die wir die Organisation <strong>der</strong> Barbarei<br />

genannt haben, wo wir mit vielen hun<strong>der</strong>ttausend<br />

an<strong>der</strong>en Menschen zusammen s<strong>in</strong>d und diese von<br />

uns nach dem Dah<strong>in</strong>schw<strong>in</strong>den ihrer Regierungen<br />

e<strong>in</strong>e Verwaltung ihrer Regionen verlangen. Wenn<br />

wir uns darum nicht kümmern, werden wir vor<br />

großen Problemen stehen, ganz zu schweigen von<br />

dem Schaden, [<strong>der</strong> resultiert aus] willkürlichem<br />

Verhalten o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er Inflexibilität im Management,<br />

die jede Aktion durch ihre Unbeweglichkeit<br />

stoppt und jede Entwicklung und Verbesserung<br />

verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t. Deshalb müssen die kle<strong>in</strong>en und mittleren<br />

Dschihad-Gruppen, die durch Aufruhr entstanden<br />

s<strong>in</strong>d und die, mit <strong>der</strong> Gnade Gottes, <strong>in</strong> allen<br />

Teilen <strong>der</strong> islamischen Welt <strong>auf</strong>tauchen, von<br />

jetzt an jede willkürliche Aktion, aber auch adm<strong>in</strong>istrative<br />

Unbeweglichkeit <strong>auf</strong>geben. (...)<br />

<strong>Die</strong> Anwendung <strong>der</strong> Gewalt<br />

Wer den Dschihad studiert <strong>in</strong> <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung, den<br />

Dschihad nur so zu studieren, wie er <strong>auf</strong> dem Papier<br />

geschrieben steht, wird diesen Gedanken niemals<br />

richtig erfassen. Bedauerlicherweise versteht<br />

die Jugend <strong>in</strong> unserer Umma, seitdem ihr die Waffen<br />

abgenommen wurden, nicht mehr das Wesen<br />

Idarat al-Tawahhush (Das Management <strong>der</strong> Barbarei).<br />

Untertitel: Akhtar marhala satamurru biha al-umma:<br />

(<strong>Die</strong> gefährlichste Etappe, die die Umma durchschreiten wird)<br />

des Krieges. Jemand, <strong>der</strong> vorher im Dschihad tätig<br />

war, weiß, dass er nichts als Gewalt, Roheit, Terror,<br />

Schrecken und Massaker bedeutet – ich spreche<br />

vom Dschihad und vom Kampf, nicht vom Islam,<br />

und man sollte die beiden nicht verwechseln. (...)<br />

<strong>Die</strong>jenigen, die im L<strong>auf</strong>e ihres Lebens nicht<br />

mutig <strong>in</strong> den Krieg gezogen s<strong>in</strong>d, verstehen nicht<br />

die Bedeutung <strong>der</strong> Gewalt und <strong>der</strong> Roheit gegen<br />

die Ungläubigen im Kampf und <strong>in</strong> den Medienkampagnen.<br />

<strong>Die</strong> Phase <strong>der</strong> Zähmung <strong>der</strong> Muslime,<br />

durch die sie bereits h<strong>in</strong>durchgegangen s<strong>in</strong>d,<br />

hat ihre Wirkung <strong>auf</strong> sie ausgeübt. <strong>Die</strong> Wirklichkeit<br />

dieser Bedeutung muss verstanden werden,<br />

<strong>in</strong>dem wir sie <strong>der</strong> kampfwilligen Jugend erklären.<br />

<strong>Die</strong>se ist heute an<strong>der</strong>s als die Araber zu Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong><br />

Mission des Propheten. <strong>Die</strong> Araber waren den<br />

Kampf noch gewöhnt und kannten das Wesen des<br />

Krieges.<br />

Wenn wir <strong>in</strong> unserem Dschihad gewaltlos s<strong>in</strong>d<br />

und wenn uns Schwäche überkommt, so ist dies<br />

e<strong>in</strong>e Hauptursache für den Verlust <strong>der</strong> Stärke, die<br />

e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Säulen <strong>der</strong> Umma <strong>der</strong> geoffenbarten Botschaft<br />

ist. <strong>Die</strong> Umma, die Stärke besitzt, ist die<br />

Umma, die fähig ist, die eroberten Positionen zu<br />

beschützen, und sie ist die Umma, die mutig allen<br />

Schrecken entgegentritt und die Festigkeit von<br />

Bergen besitzt. Das s<strong>in</strong>d die guten Eigenschaften,<br />

die wir <strong>in</strong> unserer Zeit verloren haben. (...)<br />

Das richtige Verständnis <strong>der</strong> Regeln des politischen<br />

Spiels unserer Gegner und ihrer Mitläufer<br />

und das richtige Gleichgewicht zwischen Konfrontation<br />

und Kooperation <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung mit<br />

<strong>der</strong> Scharia:


Wir dr<strong>in</strong>gen dar<strong>auf</strong>, dass die meisten Führer <strong>der</strong><br />

islamischen Bewegung militärische Führer se<strong>in</strong> sollen<br />

o<strong>der</strong> wenigstens die Fähigkeit haben sollen, <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Truppe zu kämpfen. Auch dr<strong>in</strong>gen wir dar<strong>auf</strong>,<br />

dass diese Führer ebenso, wie sie an <strong>der</strong> Beherrschung<br />

des militärischen Wissens arbeiten, daran<br />

arbeiten, politische Wissenschaften zu beherrschen.<br />

Während unserer langen Reise durch Siege und<br />

Nie<strong>der</strong>lagen, durch Blut, abgerissene Gliedmaßen<br />

und Schädel s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>ige unserer Bewegungen verschwunden,<br />

an<strong>der</strong>e s<strong>in</strong>d übriggeblieben. Wenn wir<br />

über die geme<strong>in</strong>samen Eigenschaften <strong>der</strong> übriggebliebenen<br />

Bewegungen nachdenken, dann f<strong>in</strong>den<br />

wir dort sowohl militärisches als auch politisches<br />

Handeln. Gewiss haben manche dabei auch <strong>in</strong><br />

bestimmten Situationen D<strong>in</strong>ge praktiziert, die <strong>der</strong><br />

Scharia wi<strong>der</strong>sprechen, und haben damit überlebt,<br />

auch wenn ihr Überleben, obwohl es e<strong>in</strong> Überleben<br />

war, ohne Segen blieb. An<strong>der</strong>erseits gibt es<br />

auch solche Menschen <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en islamischen<br />

Bewegungen, die die Politik des Fe<strong>in</strong>des und se<strong>in</strong>er<br />

Mitläufer verstehen und mit ihnen getreu den<br />

Regeln <strong>der</strong> Scharia <strong>in</strong>teragieren. Sie wurden zu<br />

e<strong>in</strong>er Körperschaft, die im Wachsen begriffen war<br />

durch den Segen, <strong>der</strong> <strong>auf</strong> den Aktivitäten zur För<strong>der</strong>ung<br />

<strong>der</strong> Religion ruht, und durch die segensreiche<br />

Nicht-Verletzung <strong>der</strong> Scharia, wodurch sie<br />

Re<strong>in</strong>heit und Standfestigkeit erwarben und die<br />

Erhabenheit von e<strong>in</strong>er Stufe zur nächsten, Lob sei<br />

Gott. (...)<br />

<strong>Die</strong> menschliche Struktur des Fe<strong>in</strong>des im H<strong>in</strong>blick<br />

<strong>auf</strong> den Kampf ist schwach. Er schafft dafür<br />

Ausgleich, <strong>in</strong>dem er Gadgets benützt, [aber] es ist<br />

ihm nicht möglich, sich für immer dar<strong>auf</strong> zu verlassen.<br />

Ebenso schafft er e<strong>in</strong>en Ausgleich, <strong>in</strong>dem er<br />

bei all se<strong>in</strong>en Manövern und wenn er vor e<strong>in</strong>er<br />

Aktivität <strong>der</strong> Mudschahedd<strong>in</strong> steht, e<strong>in</strong>en irreführenden<br />

Medien-Nimbus und Täuschungen<br />

durch diese Medien e<strong>in</strong>setzt. Es ist deshalb sehr<br />

wichtig, die Medienpolitik des Gegners zu verstehen<br />

und mit ihr richtig umzugehen, wenn die<br />

militärische und politische Schlacht gewonnen<br />

werden soll. (...)<br />

Bei Gott! Es ist, als ob ich sähe, dass den Mudschahedd<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> den Län<strong>der</strong>n des Maghreb, beson<strong>der</strong>s<br />

<strong>in</strong> Algerien, Kraft und Stärke gegeben wird.<br />

Wenn Gott ihnen dies gewährte, so wäre am Morgen<br />

des folgenden Tages (so Gott will) ke<strong>in</strong>e Zeit<br />

<strong>der</strong> Entspannung mehr und niemand von ihnen<br />

könnte noch das Nachmittagsgebet beten außer <strong>in</strong><br />

Tunesien und an den Grenzen zu Libyen. Am Morgen<br />

danach würden sie sich bereitmachen zur<br />

Eroberung von Libyen und Ägypten. Der Fe<strong>in</strong>d<br />

weiß um den Schwung unserer Aktionen. So sagte<br />

zum Beispiel <strong>der</strong> tunesische Außenm<strong>in</strong>ister 1993<br />

zu Journalisten: „Lassen Sie sich nicht täuschen<br />

durch den Ansche<strong>in</strong> von Ruhe und Ordnung <strong>in</strong><br />

Tunesien. Wenn <strong>in</strong> Algerien o<strong>der</strong> Ägypten e<strong>in</strong><br />

Wechsel e<strong>in</strong>tritt, tritt <strong>der</strong> Wechsel e<strong>in</strong>e Viertelstunde<br />

später auch <strong>in</strong> Tunesien e<strong>in</strong>.“(...)<br />

E<strong>in</strong> Schwert, das gegen Juden, Christen und Polytheisten<br />

unter den Nicht-Arabern erhoben wird,<br />

bis sie zum Islam konvertieren o<strong>der</strong> <strong>in</strong> die Sklaverei<br />

gehen o<strong>der</strong> von ihnen geleitet werden. Sie s<strong>in</strong>d es,<br />

die ihren göttlichen Herrn lästern, <strong>in</strong>dem sie ihm<br />

e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d beigeben o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Gefährten zur Seite<br />

stellen. Er, Er möge erhöht se<strong>in</strong>, hat gesagt:<br />

„Kämpfet wi<strong>der</strong> jene von denen, die nicht glauben<br />

an Allah und an den Jüngsten Tag und nicht verwehren,<br />

was Allah und se<strong>in</strong> Gesandter verwehrt<br />

haben, und nicht bekennen das Bekenntnis <strong>der</strong><br />

Wahrheit, bis sie den Tribut aus <strong>der</strong> Hand gedemütigt<br />

entrichten. Und es sprechen die Juden: Esra ist<br />

Allahs Sohn. Und es sprechen die Nazarener: Der<br />

Messias ist Allahs Sohn. Solches ist das Wort ihres<br />

Mundes. Sie führen ähnliche Reden wie die<br />

Ungläubigen von zuvor. Allah schlage sie tot! Wie<br />

s<strong>in</strong>d sie verstandeslos!“ (Koran 9,29-30)<br />

Als Barmherzigkeit für jene, die nach ihnen kamen,<br />

fiel das Schwert <strong>auf</strong> sie, damit diejenigen umkehren,<br />

für die Gott rechte Führung beschlossen hat. (...)<br />

<strong>Die</strong> Menschheit hat sich vom Unglauben weiterbewegt<br />

zu noch <strong>in</strong>tensiverem Unglauben. Jene, die<br />

den Zustand des Westens während <strong>der</strong> letzten Jahrzehnte<br />

beobachtet haben, sehen klar die Stufen des<br />

Nie<strong>der</strong>gangs und <strong>der</strong> Verworfenheit, die e<strong>in</strong>e<br />

Generation nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>n h<strong>in</strong>abgeschritten ist;<br />

sie glauben sogar, dass die Geschw<strong>in</strong>digkeit des<br />

Nie<strong>der</strong>gangs zunimmt. Der Unglaube fasst immer<br />

tiefere Wurzeln. Was unsere Umma betrifft, so<br />

bewegt sie sich von Irrtum zu noch größerem Irrtum<br />

durch ihren Unglauben und ihre moralische<br />

Korruptheit. <strong>Die</strong> Menschen s<strong>in</strong>d betrunken von<br />

ihrer Beschäftigung mit dem Handel, bei dem sie<br />

Wucher und Prostitution begehen und nach weltlichen<br />

Gesetzen Recht sprechen. <strong>Die</strong> Folge dieses<br />

Tuns ist Bestrafung <strong>in</strong> dieser und <strong>in</strong> <strong>der</strong> nächsten<br />

Welt. E<strong>in</strong>e dieser Strafen ist die Macht, die dem<br />

gegeben ist, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Menschheit noch viele weitere<br />

Verluste im Dschihad und <strong>auf</strong> dem Pfad <strong>der</strong> Aufrichtung<br />

<strong>der</strong> Religion Gottes zufügen wird. All dies<br />

kommt aus den vorherbestimmten Gesetzen, die<br />

Gott se<strong>in</strong>en <strong>Die</strong>nern vorgeschrieben hat. (...)<br />

Brief ohne Antwort<br />

Ahmad<strong>in</strong>edschad schreibt an Angela Merkel<br />

Der folgende Brief (vom Juli 2006) wurde, hieß es,<br />

analysiert und „<strong>in</strong>tensiv ausgewertet“, dann aber<br />

we<strong>der</strong> beantwortet noch veröffentlicht. Es bestehe<br />

nicht die Absicht, „<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e längere Korrespondenz mit<br />

<strong>der</strong> iranischen Seite e<strong>in</strong>zutreten“ (Bundeskanzleramt).<br />

Den Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>es Briefwechsels macht das<br />

Schreiben auch geradezu unmöglich. Es enthält e<strong>in</strong>e<br />

ganze Reihe Passagen, die nach Me<strong>in</strong>ung <strong>der</strong> AG<br />

Friedensforschung an <strong>der</strong> Uni Kassel (die den Brief<br />

im August <strong>in</strong>s Internet gestellt hat) „starker Tobak“<br />

und „<strong>in</strong>akzeptabel“ s<strong>in</strong>d: speziell die Behauptung,<br />

die Siegermächte hätten den Holocaust erfunden und<br />

<strong>in</strong>szeniert, um das deutsche Volk damit zu „erniedri-<br />

9


10<br />

gen“ und zu „erpressen“. Kann man e<strong>in</strong>en solchen<br />

Brief überhaupt beantworten, ohne sich mit ihm geme<strong>in</strong><br />

zu machen?<br />

Im Namen des barmherzigen und gnädigen<br />

Gottes!<br />

I. E. Frau Dr. Angela Merkel, Bundeskanzler<strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland<br />

Sehr geehrte Frau Bundeskanzler<strong>in</strong>,<br />

seien Sie herzlich gegrüßt!<br />

Ich hätte diesen Brief nicht geschrieben, wenn<br />

Deutschland nicht <strong>der</strong> Mittelpunkt <strong>der</strong> großen Entwicklungen<br />

<strong>in</strong> Wissenschaft, Philosophie, Literatur,<br />

Kunst und Politik gewesen wäre und ke<strong>in</strong>e wichtige<br />

positive Rolle bei <strong>in</strong>ternationalen Interaktionen zur<br />

För<strong>der</strong>ung des Friedens gespielt hätte; wenn manche<br />

Weltmächte und bestimmte Gruppen ständig mit<br />

e<strong>in</strong>em starken Willen das große Deutschland nicht<br />

als Verlierer und „Schuldner“ des Zweiten Weltkrieges<br />

dargestellt und es ständig erpresst hätten; wenn<br />

Sie nicht e<strong>in</strong>e weltoffene Politiker<strong>in</strong> wären, die mit<br />

bitteren und guten Erfahrungen <strong>in</strong> zwei Gesellschaften<br />

mit unterschiedlichen Staatsformen, Normen,<br />

Sitten und Bräuchen an <strong>der</strong> Spitze Deutschlands<br />

steht mit Privilegien, die lediglich Frauen vorbehalten<br />

s<strong>in</strong>d, wie z.B. e<strong>in</strong>er stärkeren menschlichen<br />

Emotionalität mit Ersche<strong>in</strong>ungsformen göttlicher<br />

Barmherzigkeit im <strong>Die</strong>nste des Volkes und mit<br />

geme<strong>in</strong>samer Verpflichtung aller gläubigen Menschen<br />

zur Wahrung <strong>der</strong> Menschenwürde und Menschenrechte<br />

mit <strong>der</strong> Überzeugung, dass wir alle die<br />

Ergebenen des erhabenen Gottes s<strong>in</strong>d, <strong>der</strong> uns allen<br />

e<strong>in</strong>e Würde geschenkt hat, und dass ke<strong>in</strong> Mensch<br />

höher und erhabener ist als <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e und unter ke<strong>in</strong>em<br />

Vorwand e<strong>in</strong>e Gesellschaft entrechtet, e<strong>in</strong>geschränkt,<br />

erniedrigt und am Fortschritt geh<strong>in</strong><strong>der</strong>t<br />

werden darf ; und schließlich wenn es die – zwar<br />

unterschiedliche – Nie<strong>der</strong>gedrücktheit unserer Völker<br />

und unsere geme<strong>in</strong>same Verpflichtung zur För<strong>der</strong>ung<br />

<strong>der</strong> Gerechtigkeit als die wichtigste Grundlage<br />

zur Sicherung von Frieden, Sicherheit und<br />

Gleichheit <strong>der</strong> Menschen nicht gäbe.<br />

Verehrte Frau Bundeskanzler<strong>in</strong>,<br />

Regierungen kommen und gehen, doch die Völker<br />

mit ihren Geschichten, Kulturen, Zuneigungen<br />

und Interessen bleiben. <strong>Die</strong> vielfältigen Möglichkeiten<br />

und Gelegenheiten, die sich den Regierungen<br />

bieten, s<strong>in</strong>d kurzlebig. <strong>Die</strong>se s<strong>in</strong>d sehr wertvoll und<br />

können die positiven und negativen Entwicklungen<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Land entscheidend bee<strong>in</strong>flussen. Regierungen<br />

haben wenig Zeit und viel Verantwortung –<br />

gegenüber Gott und dem eigenen Volk. Manche<br />

dieser Entwicklungen können regionale, kont<strong>in</strong>entale<br />

und globale Auswirkungen haben und dürfen<br />

ke<strong>in</strong>esfalls übersehen werden.<br />

Seit längerer Zeit beschäftige ich mich mit <strong>der</strong><br />

Frage, warum man heute manchen Völkern, die <strong>in</strong><br />

ihrer Geschichte e<strong>in</strong>e entscheidende Rolle beim<br />

materiellen und geistigen Fortschritt <strong>der</strong> Menschheit<br />

<strong>in</strong> verschiedenen Bereichen <strong>der</strong> Wissenschaft, Kunst,<br />

Literatur, Philosophie und Politik gespielt und kulturbildend<br />

gewirkt haben, nicht erlaubt, sich als<br />

große Völker <strong>auf</strong> ihre eigenen historischen Errungenschaften<br />

zu stützen, son<strong>der</strong>n es wird ständig versucht,<br />

über ihnen e<strong>in</strong>e schwarze Wolke <strong>der</strong> Erniedrigung<br />

und des Scham- und Schuldgefühls zu halten.<br />

Das Bedauern wird umso größer, wenn man beobachtet,<br />

dass manche Zuständigen des e<strong>in</strong>en o<strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>en Staates sich die Erniedrigung ihres Volkes<br />

gefallen lassen und sie sogar verteidigen. Ist das nicht<br />

e<strong>in</strong> seltsames Phänomen <strong>in</strong> <strong>der</strong> heutigen Welt?<br />

<strong>Die</strong> propagandistischen Bemühungen nach dem<br />

Zweiten Weltkrieg s<strong>in</strong>d <strong>der</strong>maßen umfassend gewesen,<br />

dass manche geglaubt haben, e<strong>in</strong>e historische<br />

Schuld zu tragen und für die Sünden ihrer Vorfahren<br />

über Generationen und <strong>auf</strong> unbestimmte Zeit<br />

büßen zu müssen.<br />

Der Zweite Weltkrieg g<strong>in</strong>g mit geistigen und materiellen<br />

Schäden und rund 60 Millionen Opfern zu<br />

Ende. Es ist bedauernswert und schmerzhaft, wenn<br />

Menschen getötet werden. In allen monotheistischen<br />

Religionen und im Bewusstse<strong>in</strong> aller <strong>auf</strong>geklärten<br />

Menschen re<strong>in</strong>er Natur verdienen das Leben,<br />

das Eigentum und die familiäre Sphäre <strong>der</strong><br />

Menschen jeglicher Religion und Rasse und an<br />

jedem Ort <strong>der</strong> Welt hohen Respekt.<br />

Vor ungefähr 60 Jahren g<strong>in</strong>g <strong>der</strong> Zweite Weltkrieg<br />

zu Ende. Aber bis heute leiden die Welt und manche<br />

Län<strong>der</strong> noch unter den verheerenden Nachwirkungen<br />

des Krieges. Nach wie vor werden manche Län<strong>der</strong><br />

von manch an<strong>der</strong>en gewaltorientierten Staaten<br />

Preisvergleich<br />

E<strong>in</strong> Gewehr (AK 47, gebr.) kostet<br />

<strong>in</strong> Afghanistan 10<br />

an <strong>der</strong> Grenze Namibia-Angola 12<br />

<strong>in</strong> Mosambik 18<br />

<strong>in</strong> Honduras 25<br />

<strong>in</strong> Phnom Penh 40<br />

an <strong>der</strong> Grenze Uganda-Sudan 86<br />

<strong>in</strong> Nicaragua 100<br />

<strong>in</strong> Warri, Nigeria ebenfalls 100<br />

<strong>in</strong> Somalia 120<br />

<strong>in</strong> Sakhot, Pakistan 250<br />

<strong>in</strong> Sibirien 400<br />

<strong>in</strong> Kolumbien 800<br />

<strong>in</strong> Bangladesch 1200<br />

<strong>in</strong> Kaschmir (Indien) 2400<br />

<strong>in</strong> Kolumbien 3000<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> West Bank, P.A. 3000<br />

<strong>in</strong> Bihar, Indien 3800<br />

Alle Preise <strong>in</strong> US-Dollar (zwischen 1998 und<br />

2001). Quelle: Small Arms Survey 2002, Weltweite<br />

Feuerwaffenbestände.


und macht- und kriegssüchtigen Gruppen, die als<br />

Siegermächte <strong>auf</strong>treten, als besiegte Län<strong>der</strong> betrachtet<br />

und behandelt.<br />

<strong>Die</strong> Erpressungen dauern an, und niemand darf sie<br />

<strong>in</strong> Frage stellen. <strong>Die</strong> Menschen dürfen nicht e<strong>in</strong>mal<br />

den Ursachen dieser Erpressungen nachgehen o<strong>der</strong><br />

sich darüber Gedanken machen, weil ihnen <strong>in</strong> diesem<br />

Fall die Haftstrafe drohen würde. Wie lange<br />

noch soll die Erniedrigung des Volkes und die<br />

Erpressung andauern? 60 Jahre, e<strong>in</strong> Jahrhun<strong>der</strong>t,<br />

zehn Jahrhun<strong>der</strong>te, bis wann? Es tut mir leid, daran<br />

er<strong>in</strong>nern zu müssen, dass heute die ständigen<br />

„Ankläger“ des großen deutschen Volkes manche<br />

gewaltbesessenen Län<strong>der</strong> und die Zionisten s<strong>in</strong>d,<br />

die das Besatzungs-Regime durch Waffengewalt im<br />

Nahen Osten errichtet haben.<br />

Verehrte Frau Bundeskanzler<strong>in</strong>,<br />

ich habe nicht vor, <strong>der</strong> Frage des Holocausts <strong>auf</strong> den<br />

Grund zu gehen. Aber spricht es gegen die menschliche<br />

Vernunft, wenn man die Tatsache für möglich<br />

hält, dass manche Siegermächte des Zweiten Weltkrieges<br />

vorhatten, e<strong>in</strong>en Vorwand zu schaffen, um<br />

damit das Volk des besiegten Landes dauernd zu<br />

erniedrigen, se<strong>in</strong>e Motivation und Vitalität zu<br />

schwächen und se<strong>in</strong>en Fortschritt und se<strong>in</strong>er verdiente<br />

Souveränität zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n? Neben dem<br />

deutschen Volk s<strong>in</strong>d auch die Völker im Nahen und<br />

Mittleren Osten und sogar die Menschheit durch<br />

die Thematisierung des Holocausts zu Schaden<br />

gekommen.<br />

Durch die Idee <strong>der</strong> notwendigen Verlegung von<br />

H<strong>in</strong>terbliebenen des Holocausts nach Paläst<strong>in</strong>a hat<br />

man e<strong>in</strong>e ständige Bedrohung im Nahen Osten<br />

bewirkt, um den Menschen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Region die Chancen<br />

für Fortschritt und Entwicklung zu nehmen.<br />

Das kollektive Gewissen <strong>der</strong> Weltgeme<strong>in</strong>schaft leidet<br />

unter den täglichen Verbrechen <strong>der</strong> zionistischen<br />

Besatzer, wie z.B. de Zerstören von Häusern<br />

und Fel<strong>der</strong>n, dem Töten von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n, Terroraktionen<br />

und Bombardierungen usw.<br />

Exzellenz,<br />

Sie haben bereits zur Kenntnis genommen, dass die<br />

zionistische Regierung nicht e<strong>in</strong>mal die vom paläst<strong>in</strong>ensischen<br />

Volk demokratisch gewählte Regierung<br />

neben sich dulden kann und mehrmals bewiesen<br />

hat, dass sie bei <strong>der</strong> Aggression gegen die Nachbarlän<strong>der</strong><br />

ke<strong>in</strong>e Grenzen kennt.<br />

Es stellt sich nun die Frage, wenn die Siegermächte,<br />

und vor allem Großbritannien, e<strong>in</strong> Verantwortungsgefühl<br />

gegenüber den H<strong>in</strong>terbliebenen<br />

des Holocausts hatten, warum haben sie diese nicht<br />

<strong>in</strong> ihre eigenen Län<strong>der</strong> verlegt? Warum haben sie<br />

durch die Antisemitismusdebatte die H<strong>in</strong>terbliebenen<br />

des Holocausts gezwungen, <strong>in</strong> das Land an<strong>der</strong>er<br />

Völker auszuwan<strong>der</strong>n? Warum haben sie unter dem<br />

Vorwand <strong>der</strong> Unterbr<strong>in</strong>gung von Holocaust-H<strong>in</strong>terbliebenen<br />

die Juden aus aller Welt dazu bewogen,<br />

nach Paläst<strong>in</strong>a auszuwan<strong>der</strong>n, so dass heute e<strong>in</strong><br />

beträchtlicher Teil <strong>der</strong> Bewohner des besetzten Paläst<strong>in</strong>as<br />

nichteuropäische Juden s<strong>in</strong>d? Wenn Unter-<br />

www.president.ir<br />

Briefschreiber Präsident Ahmad<strong>in</strong>edschad<br />

drückung und eventuelle Tötung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Region<br />

<strong>der</strong> Welt verurteilt und missbilligt werden, darf man<br />

zur Wie<strong>der</strong>gutmachung dessen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en<br />

Region <strong>der</strong> Welt Unterdrückung, Tötung, Besatzung<br />

und Terror befürworten?<br />

Exzellenz,<br />

man sollte <strong>der</strong> Frage nachgehen, wozu die Millionen<br />

Dollar, die die Zionisten jährlich aus den Staatskassen<br />

<strong>der</strong> westlichen Län<strong>der</strong> erhalten, <strong>in</strong> den besetzten<br />

Gebieten genutzt werden. Werden diese Gel<strong>der</strong> für<br />

Entwicklung, Frieden und Wohlstand <strong>der</strong> Menschen<br />

ausgegeben o<strong>der</strong> für Krieg gegen die Paläst<strong>in</strong>enser<br />

und Aggression gegen die Nachbarlän<strong>der</strong>?<br />

S<strong>in</strong>d die Atomwaffenarsenale <strong>in</strong> Israel zur Verteidigung<br />

<strong>der</strong> H<strong>in</strong>terbliebenen des Holocausts da, o<strong>der</strong><br />

stellen sie e<strong>in</strong>e ständige Bedrohung für die Völker<br />

<strong>der</strong> Region und e<strong>in</strong> Instrument zur Gewaltandrohung,<br />

Besatzung und Wahrung <strong>der</strong> Interessen mancher<br />

Machtstrukturen im Westen dar?<br />

Lei<strong>der</strong> hat <strong>der</strong> E<strong>in</strong>fluss <strong>der</strong> Zionisten <strong>auf</strong> Wirtschaft,<br />

Medien und <strong>auf</strong> manche politischen Kreise<br />

die Interessen vieler europäischer Völker gefährdet<br />

und sie vieler Möglichkeiten und Chancen beraubt.<br />

Der eigentliche Vorwand für diesen erpresserischen<br />

Ansatz ist <strong>der</strong> Holocaust.<br />

Welche Rolle und welchen Status <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt hätten<br />

heute manche europäischen Län<strong>der</strong>, wenn diese<br />

sechzigjährige Erniedrigung nicht gewesen wäre?<br />

Ich glaube, dass wir uns dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ig s<strong>in</strong>d, dass das<br />

Aufblühen und die Entwicklung <strong>der</strong> Rolle <strong>der</strong> Völker<br />

<strong>in</strong> direktem Zusammenhang steht mit ihrem<br />

Freis<strong>in</strong>n und Stolz.<br />

Zum Glück hat das deutsche Volk trotz aller<br />

Erniedrigungen und E<strong>in</strong>schränkungen große<br />

Schritte <strong>auf</strong> dem Wege des Fortschritts unternommen,<br />

so dass Deutschland heute e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Wirtschaftsmächte<br />

Europas ist und versucht, e<strong>in</strong>e effek-<br />

11


12<br />

tive Rolle bei <strong>in</strong>ternationalen Interaktionen zu spielen.<br />

Aber stellen Sie sich vor, welchen Status<br />

Deutschland bei freiheitsliebenden Menschen, bei<br />

den Muslimen <strong>der</strong> Welt und Europäern haben<br />

würde und welchen E<strong>in</strong>fluss dieses Land <strong>auf</strong> den<br />

Weltfrieden hätte, wenn es die erwähnten Erniedrigungen<br />

nicht gegeben hätte und die Regierungen <strong>in</strong><br />

Deutschland sich gegen die Erpressungen <strong>der</strong> Zionisten<br />

zur Wehr gesetzt und den größten Fe<strong>in</strong>d <strong>der</strong><br />

Menschheit nicht unterstützt hätten.<br />

Lei<strong>der</strong> muss ich feststellen, dass die Rolle Europas<br />

bei globalen Interaktionen e<strong>in</strong>igermaßen geschwächt<br />

worden ist, so dass Europa bei großen Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />

nicht selbständig die Probleme hat<br />

lösen können. Auch das ist nachvollziehbar, weil die<br />

Großmächte außerhalb dieses Kont<strong>in</strong>ents das Ziel<br />

verfolgen, unter Beweis zu stellen, dass Europa nicht<br />

selbständig se<strong>in</strong> kann; sie suggerieren den E<strong>in</strong>druck,<br />

dass Europa ohne ihre Hilfe und E<strong>in</strong>mischung von<br />

außen nichts voranbr<strong>in</strong>gen könne.<br />

Auch unser Volk hat nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

unter <strong>der</strong> E<strong>in</strong>mischung e<strong>in</strong>iger Siegermächte des<br />

Krieges gelitten. Über viele Jahre h<strong>in</strong>weg mischten<br />

sie sich <strong>in</strong> alle unserer Angelegenheiten e<strong>in</strong> und<br />

ließen nicht zu, dass unser Volk sich weiterentwickelt<br />

und Fortschritte erzielt. <strong>Die</strong>se Mächte hatten<br />

es <strong>auf</strong> den großen Reichtum unseres Volkes, v.a.<br />

<strong>auf</strong> unsere Energiequellen abgesehen; um ihre Ziele<br />

zu erreichen, haben sie se<strong>in</strong>erzeit e<strong>in</strong>e legitime<br />

Regierung gestürzt und e<strong>in</strong> diktatorisches Regime<br />

bis zum Ende se<strong>in</strong>er Lebenszeit unterstützt und<br />

beim <strong>auf</strong>erlegten Krieg von Saddam Husse<strong>in</strong> gegen<br />

uns Saddam unterstützt und die Grenzen <strong>der</strong><br />

Menschlichkeit weit überschritten.<br />

Unser Volk hat genau unter <strong>der</strong> E<strong>in</strong>mischung <strong>der</strong>jenigen<br />

gelitten, die sich heute schreiend für Menschenrechte<br />

e<strong>in</strong>setzen. Es gibt heute noch viele me<strong>in</strong>er<br />

Landsleute, die unter den Verletzungen aus <strong>der</strong><br />

Kriegszeit leiden.<br />

<strong>Die</strong> meisten dieser Aggressionen stammen von<br />

denjenigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Sieger<br />

<strong>auf</strong>getreten s<strong>in</strong>d und sich jede Maßnahme<br />

erlaubt haben, und nach dem Ende des Kalten Krieges<br />

wurde lei<strong>der</strong> die Selbst- und Expansionssucht<br />

dieser Mächte <strong>in</strong>tensiver und größer.<br />

Wir s<strong>in</strong>d <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung, dass e<strong>in</strong> Großteil <strong>der</strong> Menschen<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt und sogar die <strong>in</strong>ternationalen<br />

Organisationen unter dem E<strong>in</strong>fluss <strong>der</strong> Moral und<br />

des Verhaltens <strong>der</strong> Siegermächte stehen.<br />

Ich habe <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Generalversammlung <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>ten<br />

Nationen die Positionen des Volkes und <strong>der</strong><br />

Regierung <strong>der</strong> Islamischen Republik Iran dargelegt.<br />

S<strong>in</strong>d die vorhandenen Verhältnisse, wie z.B. die im<br />

UN-Sicherheitsrat herrschenden Regeln und das<br />

Vetorecht, gerecht? Ist es nicht an <strong>der</strong> Zeit, dass<br />

durch die Zusammenarbeit <strong>der</strong> unabhängigen<br />

Regierungen diese für das kollektive Gewissen <strong>der</strong><br />

Menschheit <strong>in</strong>akzeptablen Verhältnisse geän<strong>der</strong>t<br />

werden, die <strong>der</strong> menschlichen Vernunft und Natur<br />

wi<strong>der</strong>sprechen? O<strong>der</strong> dass zum<strong>in</strong>dest zur Annäherung<br />

an die Gerechtigkeit weitere Volksgruppen <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Welt das Vetorecht erhalten?<br />

Sehr geehrte Frau Bundeskanzler<strong>in</strong>,<br />

Sie kennen die Leiden <strong>in</strong> <strong>der</strong> heutigen Welt. Heute<br />

ist das Leiden des irakischen Volkes unter Besatzung,<br />

Unsicherheit, täglichem Terror das Leiden<br />

<strong>der</strong> gesamten Menschheit. <strong>Die</strong> ununterbrochenen<br />

E<strong>in</strong>mischungen mancher machtbesessenen Län<strong>der</strong><br />

<strong>in</strong> die <strong>in</strong>neren Angelegenheiten an<strong>der</strong>er Staaten, die<br />

Ablehnung <strong>der</strong> legitimen Rechte <strong>der</strong> Völker <strong>auf</strong> den<br />

Zugang zu mo<strong>der</strong>nen Technologien, die ständige<br />

Drohung mit Arsenalen aus chemischen, atomaren<br />

und Massenvernichtungswaffen, die Ablehnung<br />

demokratischer Regierungen und <strong>der</strong> Regierungen<br />

<strong>in</strong> Late<strong>in</strong>amerika, die Unterstützung von Putschisten<br />

und Diktaturen, das Außerachtlassen von afrikanischen<br />

Völkern, das Missbrauchen des Machtvakuums<br />

<strong>in</strong> Afrika und die Ausbeutung ihrer<br />

nationalen Interessen gehören zu den heutigen Problemen<br />

<strong>der</strong> Welt.<br />

In me<strong>in</strong>em Schreiben an den Präsidenten <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>igten<br />

Staaten von Amerika, Herrn Bush, habe ich<br />

e<strong>in</strong>e lange Liste <strong>der</strong> Probleme unserer Zeit <strong>auf</strong>gezählt.<br />

Exzellenz,<br />

wo haben diese Missstände ihren Ursprung, und wie<br />

lange können sie noch andauern? Glauben Sie nicht<br />

auch, dass die eigentlichen Gründe für diese Missstände<br />

dar<strong>in</strong> bestehen, dass e<strong>in</strong>ige Herrscher und<br />

Mächte sich von den Lehren <strong>der</strong> Propheten Abraham,<br />

Moses, Jesus und des letzten Propheten Gottes,<br />

Mohammed, entfernt haben? In allen monotheistischen<br />

Religionen, an die auch Sie und wir<br />

glauben, gibt es diese Lehren:<br />

- Gott ist Schöpfer und Erzieher von allen. Er hat die<br />

Menschen frei erschaffen und nicht erlaubt, e<strong>in</strong>en<br />

an<strong>der</strong>en Gott außer ihm zu nehmen.<br />

- Er hat uns befohlen, nur ihn zu verehren, und uns<br />

von Unterdrückern und Machtbesessenen abzuwenden.<br />

- Er befiehlt Tugendhaftigkeit, Nächstenliebe und<br />

Hilfe für die <strong>Die</strong>ner Gottes, Barmherzigkeit, Verteidigung<br />

<strong>der</strong> Entrechteten und Kampf gegen die<br />

Despoten.<br />

- Gott schenkte den Menschen Menschenwürde<br />

und will ihre Erniedrigung nicht sehen.<br />

- Er sandte se<strong>in</strong>e Propheten mit klaren Argumenten<br />

und Büchern und Gerechtigkeitsmaß und for<strong>der</strong>te<br />

se<strong>in</strong>e Geschöpfe zur Herstellung von Gerechtigkeit<br />

<strong>auf</strong>.<br />

Aufgrund <strong>der</strong> o.a. geme<strong>in</strong>samen Grundlagen s<strong>in</strong>d<br />

wir <strong>der</strong> Überzeugung:<br />

- Der wahre Frieden kann nur <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> Gottesverehrung<br />

und Gerechtigkeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt hergestellt<br />

und gesichert werden.<br />

- Frieden, Ruhe und Menschenwürde gehören zu<br />

den Rechten aller Völker.<br />

- Das Bemühen um Fortschritt und Entwicklung<br />

und die Gründung von Existenzen gepaart mit Spiritualität,<br />

Güte und Wohlstand gehören zu den<br />

Rechten aller Völker.<br />

- Sie und wir können <strong>in</strong> Anlehnung an diese allen<br />

monotheistischen Religionen geme<strong>in</strong>samen Grund-


lagen e<strong>in</strong>e neue Bewegung zur Verwirklichung dieser<br />

großen menschlichen Ideale gründen.<br />

Unser Volk glaubt an diese Grundlagen und verpflichtet<br />

sich dazu. <strong>Die</strong> Geschichte zeigt, dass es<br />

nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Natur des iranischen Volkes liegt,<br />

an<strong>der</strong>e Völker und Län<strong>der</strong> anzugreifen. Aber dieses<br />

Volk duldet auch ke<strong>in</strong>e Unterdrückung und Aggression.<br />

<strong>Die</strong> ganze Welt hat die Erfahrungen von acht<br />

Jahren e<strong>in</strong>es <strong>auf</strong>erlegten Krieges beobachtet.<br />

Ich glaube, dass Sie und wir Opfer <strong>der</strong> Unterdrückung<br />

gewesen s<strong>in</strong>d; sie (jene Län<strong>der</strong>) respektieren<br />

Ihre Rechte nicht und verlangen von uns, <strong>auf</strong><br />

unsere Rechte zu verzichten.<br />

Mit Freude habe ich erfahren, dass auch Sie offen<br />

sprechen und gegen Spannung und Kriegstreiberei<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

Verehrte Frau Bundeskanzler<strong>in</strong>,<br />

die gott- und gerechtigkeitssuchende Natur <strong>der</strong><br />

Menschen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt ist <strong>auf</strong>geweckt worden.<br />

<strong>Die</strong> Neigung zu Monotheismus und Gottesverehrung<br />

nimmt ständig zu.<br />

<strong>Die</strong> Völker dulden ihre Unterdrückung, Erniedrigung<br />

und Entrechtung nicht mehr.<br />

<strong>Die</strong> heutige Lage <strong>der</strong> Welt unterscheidet sich von<br />

<strong>der</strong> gestrigen.<br />

<strong>Die</strong> Doppel- und Multistandards <strong>in</strong> den Beziehungen<br />

werden nicht lange währen.<br />

Iran und Deutschland können <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Basis ihrer<br />

erhabenen Sichtweisen nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e wichtigere<br />

Rolle <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Ebene spielen.<br />

<strong>Die</strong>se Zusammenarbeit kann die Rolle Europas <strong>auf</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Szene verstärken und zum<br />

Musterbeispiel für die Zusammenarbeit von zwei<br />

Völkern und zwei Regierungen werden.<br />

Ohne Zweifel ist die Zusammenarbeit <strong>der</strong> beiden<br />

friedensliebenden, starken und kulturorientierten<br />

Völker von Iran und Deutschland im Interesse<br />

Europas. Wir müssen den vorhandenen Missständen<br />

bei <strong>in</strong>ternationalen Interaktionen, nämlich den<br />

Interaktionen zwischen den Siegern und den<br />

Besiegten des Zweiten Weltkrieges, e<strong>in</strong> Ende setzen.<br />

Auf diesem Wege werden uns viele Völker und<br />

Regierungen begleiten.<br />

Wir müssen den schweren Schatten des Zweiten<br />

Weltkrieges vernichten und <strong>der</strong> Weltgeme<strong>in</strong>schaft<br />

bei <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung von Sicherheit, Freiheit und Frieden<br />

behilflich se<strong>in</strong>.<br />

Das iranische und das deutsche Volk s<strong>in</strong>d zwei<br />

große kulturbildende Völker und Vorreiter <strong>in</strong> Wissenschaft,<br />

Literatur, Kunst und Philosophie gewesen.<br />

Beide Völker s<strong>in</strong>d religiös und folgen den Lehren<br />

<strong>der</strong> großen Propheten Gottes; sie haben e<strong>in</strong>e<br />

lange Tradition im wissenschaftlichen, kulturellen<br />

und Handels-Austausch.<br />

Mutige Entscheidungen bilden die Grundlage für<br />

die Bekämpfung von Missständen, Ungerechtigkeiten,<br />

Erniedrigungen und für die Verteidigung <strong>der</strong><br />

Rechte <strong>der</strong> Völker.<br />

Soweit ich das deutsche Volk kenne, bewegt es sich<br />

bereits <strong>auf</strong> diesem Wege und versucht, se<strong>in</strong>e Souve-<br />

ränität wie<strong>der</strong> zu gew<strong>in</strong>nen und se<strong>in</strong>en hohen Status<br />

zugunsten des Weltfriedens zu nutzen. E<strong>in</strong>e solche<br />

E<strong>in</strong>stellung hat auch unser Volk.<br />

Durch gegenseitige Hilfe können wir manche<br />

Mächte davon überzeugen, dass das Respektieren<br />

<strong>der</strong> Völker und ihrer Rechte zugunsten <strong>der</strong> gesamten<br />

Menschheit ist. Unsere beiden Völker und Regierungen<br />

können geme<strong>in</strong>sam e<strong>in</strong>e fundamentale<br />

Rolle bei <strong>der</strong> Herstellung von Frieden und Sicherheit<br />

und zum Schutz <strong>der</strong> Menschenwürde nach<br />

Maßstäben <strong>der</strong> beiden Län<strong>der</strong> und <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen<br />

Maßstäbe spielen.<br />

Ich wünsche Ihnen, <strong>der</strong> deutschen Regierung und<br />

dem deutschen Volk viel Erfolg.<br />

Gegrüßt seien diejenigen, die <strong>der</strong> Rechtleitung folgen.<br />

<strong>Die</strong> Entdeckung <strong>der</strong> Ptoma<strong>in</strong>e<br />

Düfte über den Tod h<strong>in</strong>aus<br />

Im Hafen (En rade) von Joris-Karl Huysmans,<br />

Übersetzung: J. Hübner. Aus: André Breton, Anthologie<br />

des Schwarzen Humors (1940), e<strong>in</strong>e Textform,<br />

die Breton „Ausflucht“ (échappatoire) nannte:<br />

E<strong>in</strong> Artikel fesselte ihn und veranlasste ihn zu langen<br />

Träumereien. Welch schöne Sache, sagte er sich,<br />

ist doch die Wissenschaft. Da entdeckt <strong>der</strong> Professor<br />

Selmi aus Bologna <strong>in</strong> verwesenden Leichnamen e<strong>in</strong><br />

Alkaloid, das Ptoma<strong>in</strong>, das <strong>in</strong> Gestalt e<strong>in</strong>es farblosen<br />

Öls <strong>auf</strong>tritt und e<strong>in</strong>en sanften, aber zähen Geruch<br />

von Weißdorn, Muskat, Flie<strong>der</strong>, Orangenblüten<br />

o<strong>der</strong> Rosen verbreitet.<br />

Das s<strong>in</strong>d die e<strong>in</strong>zigen Düfte, die man bisher <strong>in</strong> den<br />

Säften e<strong>in</strong>es verwesenden Organismus hat f<strong>in</strong>den<br />

können, aber an<strong>der</strong>e werden zweifellos folgen; um<br />

e<strong>in</strong>stweilen den For<strong>der</strong>ungen e<strong>in</strong>es praktisch<br />

ges<strong>in</strong>nten Jahrhun<strong>der</strong>ts Genüge zu tun, das <strong>in</strong> Ivry<br />

die Besitzlosen masch<strong>in</strong>ell bestattet und alles nutzbar<br />

macht, die Abwässer, die Rückstände <strong>in</strong> den Fässern,<br />

die Därme <strong>der</strong> toten Tiere und alte Knochen,<br />

könnte man die Friedhöfe <strong>in</strong> Fabriken verwandeln,<br />

die je nach Auftrag für die reichen Familien konzentrierte<br />

Extrakte aus Ahnen, Essenzen aus K<strong>in</strong><strong>der</strong>n,<br />

Parfums aus Vätern herstellten.<br />

Das wäre dann, was man <strong>in</strong> <strong>der</strong> Handelswelt e<strong>in</strong>en<br />

Luxusartikel nennt; doch für die Bedürfnisse <strong>der</strong><br />

arbeitenden Klassen, die natürlich nicht vernachlässigt<br />

werden dürfen, würde man diesen Luxuswerkstätten<br />

umfangreiche Laboratorien anglie<strong>der</strong>n, <strong>in</strong><br />

denen man die Herstellung von Parfums im Großen<br />

betriebe: tatsächlich könnte man sie aus den Überresten<br />

des gewöhnlichen Gräberfelds abdestillieren,<br />

um das sich ja doch niemand kümmert; dies hieße<br />

die Kunst <strong>der</strong> Parfümerie <strong>auf</strong> neue Grundlagen stellen,<br />

sie allen erschließen, dies wäre e<strong>in</strong> Massenartikel,<br />

die Parfümerie für den Markt, die die Ware sehr<br />

billig abgibt, da <strong>der</strong> Rohstoff <strong>in</strong> Fülle vorhanden<br />

und außer den Arbeitslöhnen <strong>der</strong> Exhumierer und<br />

<strong>der</strong> Chemiker sozusagen alles umsonst wäre.<br />

13


14<br />

Ach! Ich kenne viele Frauen aus dem Volke, die<br />

glücklich wären, für e<strong>in</strong> paar Groschen ganze Töpfe<br />

voll Pomade o<strong>der</strong> große Stücke Seife zu k<strong>auf</strong>en, die<br />

mit Essenzen für Proletarier parfümiert s<strong>in</strong>d.<br />

Und dann, welch unversiegliches Gespräch mit <strong>der</strong><br />

Er<strong>in</strong>nerung, welche ewige Frische des Gedächtnisses<br />

könnten e<strong>in</strong>em diese sublimierten Ausdünstungen<br />

<strong>der</strong> Toten schenken – Heute kann, wenn von<br />

zwei Wesen, die sich lieben, e<strong>in</strong>s unversehens stirbt,<br />

das an<strong>der</strong>e nur se<strong>in</strong>e Photographie <strong>auf</strong>bewahren<br />

und an den Allerheiligentagen se<strong>in</strong> Grabmal besuchen.<br />

Dank <strong>der</strong> Erf<strong>in</strong>dung des Ptoma<strong>in</strong>s darf man<br />

von nun an die Frau, die man zu Hause verehrt hat,<br />

<strong>in</strong> duften<strong>der</strong> und spiritueller Form <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tasche<br />

behalten, darf die Geliebte <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Riechfläschchen<br />

verwandeln, sie zum Extrakt kondensieren, sie <strong>in</strong><br />

Pu<strong>der</strong>form <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Riechkissen streuen, das mit e<strong>in</strong>er<br />

schmerzlichen Grabschrift bestickt ist, darf sie e<strong>in</strong>atmen<br />

an Tagen des Elends und sie an Tagen des<br />

Glücks aus e<strong>in</strong>em Schnupftuch e<strong>in</strong>saugen.<br />

Um ganz im Bereiche <strong>der</strong> Possen des Fleisches zu<br />

bleiben, wir brauchten vielleicht nicht, wenn es endlich<br />

soweit ist, den unvermeidlichen „Ruf nach <strong>der</strong><br />

Mutter“ zu hören, denn diese Dame könnte ja anwesend<br />

se<strong>in</strong>, und verborgen unter e<strong>in</strong>em Schönheitspflästerchen<br />

o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er weißen Schm<strong>in</strong>ke beigemischt,<br />

<strong>auf</strong> <strong>der</strong> Brust <strong>der</strong> Tochter ruhen, wenn diese<br />

<strong>in</strong> Ohnmacht fällt, wobei sie nur darum nach ihrem<br />

Beistand ruft, weil sie recht gut weiß, dass jene nicht<br />

kommen kann.<br />

Auch werden mit Hilfe des Fortschritts die Ptoma<strong>in</strong>e,<br />

die heute noch furchtbare Gifte s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong><br />

Zukunft zweifellos ohne Gefahr verdaut werden;<br />

warum sollte man dann nicht mit ihren Essenzen<br />

gewisse Speisen parfümieren? Warum nicht dieses<br />

duftende Öl benutzen, wie man sich heute <strong>der</strong><br />

Zimt- und Mandel-, <strong>der</strong> Vanille- und Nelkenessenzen<br />

bedient, um den Teig gewisser Kuchen noch<br />

wohlschmecken<strong>der</strong> zu machen? Genau wie für die<br />

Parfümerie würde sich so e<strong>in</strong> neuer, zugleich ökonomischer<br />

und gefühlvoller Weg für die Kunst des<br />

Kuchen- und Zuckerbäckers öffnen.<br />

Endlich könnten die erhabenen Familienbande,<br />

die diese elenden Zeiten <strong>der</strong> Respektlosigkeit lockern<br />

und lösen, durch die Ptoma<strong>in</strong>e mit Sicherheit gefestigt<br />

und neu geknüpft werden. Ihnen wäre gleichsam<br />

e<strong>in</strong>e fröstelnde, affektive Annäherung, gleichsam e<strong>in</strong><br />

Schulter-an-Schulter immer lebendiger Zärtlichkeit<br />

zu verdanken. Un<strong>auf</strong>hörlich führten sie den günstigen<br />

Augenblick herbei, <strong>der</strong> das Leben <strong>der</strong> Abgeschiedenen<br />

<strong>in</strong>s Gedächtnis ruft und ihren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n als<br />

Vorbild zitiert, <strong>der</strong>en Gefräßigkeit so die vollkommene<br />

Klarsicht <strong>der</strong> Er<strong>in</strong>nerung behielte.<br />

So sitzt dann am Allerseelentag abends, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

kle<strong>in</strong>en Esszimmer, <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong> Buffet aus hellem<br />

Holz mit schwarzen Fournieren steht, im Sche<strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

durch den Lampenschirm <strong>auf</strong> den Tisch konzentrierten<br />

Lampe die Familie. <strong>Die</strong> Mutter e<strong>in</strong>e brave<br />

Person, <strong>der</strong> Vater Kassierer <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Handelshaus<br />

o<strong>der</strong> bei e<strong>in</strong>er Bank, das K<strong>in</strong>d noch ganz jung, erst<br />

kurze Zeit vom Milchschorf und Keuchhusten frei,<br />

kirre gemacht durch die Drohung, ohne Nachtisch<br />

zu bleiben – <strong>der</strong> Knirps ist endlich bereit, nicht mehr<br />

mit dem Löffel <strong>in</strong> die Suppe zu schlagen und se<strong>in</strong><br />

Fleisch zu essen, zusammen mit etwas Brot.<br />

Regungslos betrachtet er se<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Nachdenken versunkenen,<br />

stummen Eltern. Das <strong>Die</strong>nstmädchen<br />

tritt e<strong>in</strong> und br<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>e Ptoma<strong>in</strong>speise. Am Morgen<br />

hat die Mutter ehrfurchtsvoll aus dem Empire-<br />

Sekretär aus Mahagoni, <strong>der</strong> mit e<strong>in</strong>em kleeblattförmigen<br />

Schloss verziert ist, das hermetisch verkorkte<br />

Fläschchen hervorgeholt, das die kostbare, aus den<br />

zerfallenen E<strong>in</strong>geweiden des Großvaters extrahierte<br />

Flüssigkeit enthält. Mit e<strong>in</strong>em Tropfenzähler hat sie<br />

selbst e<strong>in</strong> paar Tränen von diesem Parfum abgefüllt,<br />

das nun die Cremespeise mit se<strong>in</strong>em Aroma würzt.<br />

<strong>Die</strong> Augen des K<strong>in</strong>des leuchten; aber es muß, während<br />

es <strong>auf</strong> die Speise wartet, Lobreden <strong>auf</strong> den Greis<br />

anhören, <strong>der</strong> ihm vielleicht zusammen mit e<strong>in</strong>igen<br />

vererbten Gesichtszügen diesen posthumen Rosengeschmack<br />

h<strong>in</strong>terlassen hat, an dem es sich nun<br />

ergötzen wird.<br />

Ach! Das war e<strong>in</strong> Mann, ruhig und besonnen, e<strong>in</strong><br />

verständiger Mann, <strong>der</strong> ke<strong>in</strong> Blatt vor den Mund<br />

nahm, <strong>der</strong> Großpapa Jules! Er war <strong>in</strong> Holzschuhen<br />

nach Paris gekommen, und immer hat er etwas <strong>auf</strong><br />

die Seite gelegt, obwohl er damals nur hun<strong>der</strong>t<br />

Francs im Monat verdiente. Er hat niemals Geld<br />

ohne Vorteil und Bürgschaft verliehen. So dumm<br />

war er nicht; zuerst kamen die Geschäfte, Zug um<br />

Zug; und dann, welche Ehrfurcht bewies er stets vor<br />

den reichen Leuten – so starb er denn auch, von se<strong>in</strong>en<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>n geschätzt und verehrt, denen er die gut<br />

angelegten Gel<strong>der</strong> e<strong>in</strong>es Familienvaters h<strong>in</strong>terließ,<br />

lauter sichere Werte.<br />

Du er<strong>in</strong>nerst dich doch noch an Großvater, liebes<br />

K<strong>in</strong>d?<br />

M, m, Großvater! macht die Göre, die sich mit<br />

<strong>der</strong> großväterlichen Creme Backen und Nase verschmiert.<br />

Und Großmutter! Kannst du dich auch an sie er<strong>in</strong>nern,<br />

Liebl<strong>in</strong>g?<br />

Das K<strong>in</strong>d denkt nach. Am Todestag dieser braven<br />

Dame gibt es jedes Jahr e<strong>in</strong>en Reiskuchen, <strong>der</strong> mit<br />

<strong>der</strong> Körperessenz <strong>der</strong> Verstorbenen parfümiert wird,<br />

die – e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zigartige Ersche<strong>in</strong>ung – bei Lebzeiten<br />

immer nach Schnupftabak roch und nun seit ihrem<br />

Tod nach Orangenblüten duftet.<br />

M, m, auch Großmutter! macht laut das K<strong>in</strong>d.<br />

Und wen hast du lieber gehabt, sag, die Großmama<br />

o<strong>der</strong> den Großpapa?<br />

Wie alle Knirpse, die, was sie nicht haben, dem<br />

vorziehen, was vor ihrer Nase ist, denkt das K<strong>in</strong>d an<br />

den Kuchen von e<strong>in</strong>st und gesteht, dass es die<br />

Großmutter lieber hat; nichtsdestoweniger hält es<br />

se<strong>in</strong>en Teller von neuem <strong>der</strong> Großvater-Speise entgegen.<br />

Aus Angst, dass es sich aus k<strong>in</strong>dlicher Liebe den<br />

Magen verdirbt, lässt die Mutter, <strong>in</strong> weiser Voraussicht<br />

die Cremespeise abtragen.<br />

Welch köstliche und rührende Familienszene ! sagte<br />

sich Jacques und rieb sich die Augen. Und er fragte<br />

sich, angesichts dessen, was ihm im Kopfe herumg<strong>in</strong>g,<br />

ob er nicht e<strong>in</strong>genickt sei und geträumt habe,


die Nase <strong>auf</strong> die Zeitschrift gesenkt, <strong>der</strong>en wissenschaftliches<br />

Feuilleton von <strong>der</strong> Entdeckung des Ptoma<strong>in</strong>s<br />

Kenntnis gab.<br />

Wenn je<strong>der</strong> mit jedem<br />

<strong>Die</strong> Geburt <strong>der</strong> Globalisierung<br />

Quelle : <strong>Die</strong> Weltwirtschaft <strong>in</strong> den Jahrzehnten um<br />

1900, von Prof. Dr. Paul Arndt. In: Ullste<strong>in</strong>s Weltgeschichte,<br />

7. Band, Weltgeschichte <strong>der</strong> neuesten<br />

Zeit 1890-1925, Verlag Ullste<strong>in</strong>, Berl<strong>in</strong> 1925 (dort<br />

auch die Abbildung Welthandelsflotte 1890):<br />

<strong>Die</strong> Weltwirtschaft ist allmählich durch das<br />

Zusammenwachsen <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Volkswirtschaften<br />

entstanden. Ihr Gefüge war zuerst locker, <strong>der</strong><br />

Verkehr zwischen ihren e<strong>in</strong>zelnen Teilen ger<strong>in</strong>g. Mit<br />

<strong>der</strong> Zeit wurden die Verb<strong>in</strong>dungen immer zahlreicher<br />

und fester, bis schließlich e<strong>in</strong> Gebilde entstand,<br />

das den Charakter e<strong>in</strong>er organischen E<strong>in</strong>heit trug.<br />

Internationale wirtschaftliche Beziehungen gab es<br />

schon im Altertum und im Mittelalter; <strong>in</strong>dessen<br />

waren sie für das Wirtschaftsleben nur von untergeordneter<br />

Bedeutung. Produktion und Konsumtion<br />

waren von ihnen nicht abhängig; ausgetauscht wurden<br />

fast nur „überflüssige“ D<strong>in</strong>ge, Luxusartikel <strong>der</strong><br />

verschiedensten Art, kostbare Waffen, Tuche,<br />

Gewürze u. dgl. Für e<strong>in</strong>en <strong>der</strong>artigen unbedeutenden<br />

Güteraustausch wäre die Bezeichnung Weltwirtschaft<br />

nicht am Platze. Erst nach dem Schw<strong>in</strong>den<br />

<strong>der</strong> haus-, dorf- und stadtwirtschaftlichen<br />

Gestaltungen mit dem Aufkommen größerer Volkswirtschaften<br />

gew<strong>in</strong>nt <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationale Güteraustausch<br />

e<strong>in</strong>en größeren Umfang und erhöhte Wichtigkeit<br />

für die Entfaltung von Gewerbe und Verkehr<br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Län<strong>der</strong>. Man richtet sich allmählich<br />

<strong>auf</strong> den regelmäßigen Bezug frem<strong>der</strong> Erzeugnisse<br />

und den Absatz eigener im Auslande e<strong>in</strong>. <strong>Die</strong> Pflege<br />

<strong>der</strong> auswärtigen Handelsbeziehungen wird e<strong>in</strong>e <strong>der</strong><br />

wichtigsten Aufgaben <strong>der</strong> Staatskunst. [Sie gibt<br />

sogar dem Zeitalter se<strong>in</strong>en Namen, den des Merkantilismus.<br />

Merkantilistische Ideen beherrschen das<br />

Wirtschaftsleben etwa von dem Auff<strong>in</strong>den <strong>der</strong> Seewege<br />

nach West- und Ost<strong>in</strong>dien bis <strong>in</strong> das 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Aber auch <strong>in</strong> dieser Periode bleiben<br />

die e<strong>in</strong>zelnen Volkswirtschaften <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hauptsache<br />

noch selbständig. Der <strong>in</strong>ternationale<br />

Güterumsatz, obwohl beständig<br />

wachsend, beschränkt sich nach<br />

wie vor <strong>auf</strong> mehr o<strong>der</strong> weniger entbehrliche<br />

Güter; im Vor<strong>der</strong>grunde<br />

steht die Sorge um die Beschaffung<br />

größerer Edelmetallmengen; allmählich<br />

erlangt <strong>in</strong>dessen <strong>der</strong> Handel<br />

mit Getreide, Holz, Wolle und<br />

Fischen e<strong>in</strong>e größere Bedeutung.<br />

Erst im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t vollziehen<br />

sich grundlegende Än<strong>der</strong>ungen im<br />

<strong>in</strong>ternationalen Verkehr. E<strong>in</strong>e weitgehende<br />

Spezialisierung setzt <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Gütererzeugung <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Län-<br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong>; die Spezialartikel werden <strong>in</strong> immer größeren<br />

Mengen gegen e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> ausgetauscht, und zwar<br />

nicht mehr nur Luxusgegenstände, son<strong>der</strong>n auch <strong>in</strong><br />

steigendem Maße unentbehrliche Lebensmittel und<br />

Rohstoffe.] Auf Grund <strong>der</strong> guten Erfahrungen, die<br />

alle Beteiligten hierbei <strong>in</strong> langen Friedensjahren<br />

machen, verläßt sich e<strong>in</strong> Land dauernd <strong>auf</strong> das<br />

an<strong>der</strong>e, entwickelt e<strong>in</strong>zelne Erwerbszweige, die für<br />

die Ausfuhr geeignete Waren erzeugen, immer stärker<br />

und läßt an<strong>der</strong>e entsprechend verkümmern. So<br />

entsteht e<strong>in</strong>e gegenseitige <strong>in</strong>ternationale Abhängigkeit.<br />

Man kann nunmehr die wirtschaftlichen<br />

Beziehungen nicht mehr abbrechen, ohne daß sich<br />

das <strong>in</strong> den beteiligten Volkswirtschaften sehr unangenehm<br />

fühlbar macht, ja sogar schwere Störungen<br />

hervorruft. <strong>Die</strong> e<strong>in</strong>zelnen Volkswirtschaften s<strong>in</strong>d<br />

eben Teile e<strong>in</strong>es größeren Ganzen, Glie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>es<br />

neuen Organismus geworden. <strong>Die</strong>se höhere E<strong>in</strong>heit<br />

ist die „Weltwirtschaft“.<br />

<strong>Die</strong> Weltwirtschaft ist also e<strong>in</strong> Gebilde <strong>der</strong> neuesten<br />

Zeit. Seit etwa drei Jahrzehnten ist das Wort <strong>in</strong><br />

Uml<strong>auf</strong> gekommen; ihm entsprechen die Ausdrücke<br />

„Welthandel“, „Weltverkehr“, „Weltmarkt“<br />

usw. <strong>Die</strong> Sache selbst ist etwas älter. Genau läßt sich<br />

natürlich die Entstehung <strong>der</strong> Weltwirtschaft nicht<br />

bestimmen. <strong>Die</strong> Entwicklung vollzog sich auch<br />

nicht <strong>in</strong> allen Teilen <strong>der</strong> Erde gleichmäßig. E<strong>in</strong>ige<br />

Län<strong>der</strong> wagten sich rascher und weiter vor als<br />

an<strong>der</strong>e; bis zum heutigen Tage ist ja die Teilnahme<br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Län<strong>der</strong> am Weltverkehr noch sehr verschieden<br />

groß. Der Zusammenschluß <strong>der</strong> fortgeschrittenen<br />

Volkswirtschaften zur Weltwirtschaft<br />

vollzog sich <strong>in</strong> den vierziger und fünfziger Jahren des<br />

vorigen Jahrhun<strong>der</strong>ts. In die neuen Bahnen lenkte<br />

zuerst England bewußt und planmäßig e<strong>in</strong>, <strong>in</strong>dem<br />

es <strong>auf</strong> se<strong>in</strong>e Agrarzölle verzichtete bzw. den Entschluß<br />

faßte, e<strong>in</strong> Industriestaat zu werden; bald aber<br />

wurde die Frage <strong>der</strong> „Industrialisierung“, d.h. <strong>der</strong><br />

zunehmenden wirtschaftlichen Spezialisierung,<br />

auch <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en führenden Kulturlän<strong>der</strong>n <strong>auf</strong>geworfen,<br />

so <strong>in</strong> Frankreich, Nordamerika und<br />

Deutschland. Neben den e<strong>in</strong>seitigen Industriestaaten<br />

bildeten sich naturgemäß ebenso e<strong>in</strong>seitige<br />

Agrarstaaten, besser gesagt Rohstoffstaaten, die sich<br />

<strong>auf</strong> die Massenerzeugung von Gütern wie Baumwolle,<br />

Wolle, Weizen, Kaffee, Tee, Kautschuk usw.<br />

weit über ihren eigenen Bedarf h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong>richteten.<br />

15


16<br />

<strong>Die</strong> Weltwirtschaft bedurfte zu ihrer Entstehung<br />

zweier Voraussetzungen: e<strong>in</strong>er neuen Technik und<br />

e<strong>in</strong>es neuen Rechtes. <strong>Die</strong> Technik brachte die Massenproduktion<br />

und die leichtere Überw<strong>in</strong>dung des<br />

Raumes, das Recht die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit.<br />

<strong>Die</strong> Grundlagen bei<strong>der</strong> wurden <strong>in</strong> den letzten<br />

Jahrzehnten des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts geschaffen. Es<br />

dauerte aber fast zwei Menschenalter, bis die Folgen<br />

<strong>der</strong> Umwälzung <strong>der</strong> Technik durch die großen Erf<strong>in</strong>dungen<br />

<strong>der</strong> Watt, Arkwright usw. und <strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ung<br />

<strong>der</strong> Wirtschaftsordnung durch die <strong>französisch</strong>e<br />

Revolution und ähnliche Bewegungen sich <strong>auf</strong><br />

<strong>in</strong>ternationalem Gebiete bemerkbar machten.<br />

Zuerst gestalteten Dampfmasch<strong>in</strong>en und wirtschaftliche<br />

Freiheit die e<strong>in</strong>zelnen Volkswirtschaften<br />

im Innern um. Der Übergang zur Weltwirtschaft<br />

konnte sich erst vollziehen, als die neue Technik<br />

auch das Verkehrswesen vervollkommnet hatte, als<br />

die Eisenbahnen immer neue Bezugs- und Absatzgebiete<br />

erschlossen und die Dampfschiffahrt immer<br />

bessere Transportmöglichkeiten über See für Menschen<br />

und Güter schuf, d.h. etwa vom Jahr 1840 an.<br />

Corporate Citizens<br />

Unternehmen und Staaten<br />

Nur <strong>in</strong> 18 Staaten übertrifft das Brutto<strong>in</strong>landsprodukt<br />

den Umsatz des weltweit größten Unternehmens<br />

(unter ihnen, <strong>auf</strong> Platz 3, Deutschland).<br />

Unter den hun<strong>der</strong>t größten Wirtschaftsmächten<br />

f<strong>in</strong>det man, laut Wash<strong>in</strong>gtoner Institut<br />

für Politik-Studien, mehr Unternehmen (nämlich<br />

54) als Staaten. Hier die Rangfolge mit dem<br />

BIP bzw. Umsatz 2001 (<strong>in</strong> Milliarden Dollar):<br />

1 USA 10.065<br />

2 Japan 4.141<br />

3 Deutschland 1.856<br />

4 Großbritannien 1.424<br />

5 Frankreich 1.310<br />

6 Ch<strong>in</strong>a 1.159<br />

7 Italien 1.089<br />

8 Kanada 694<br />

9 Mexiko 618<br />

10 Spanien 580<br />

11 Brasilien 503<br />

12 Indien 477<br />

13 Nie<strong>der</strong>lande 380<br />

14 Australien 369<br />

15 Russland 310<br />

16 Argent<strong>in</strong>ien 269<br />

17 Schweiz 247<br />

18 Belgien 230<br />

19 Wal-Mart 220<br />

20 Schweden 210<br />

21 ExxonMobil 192<br />

22 Österreich 189<br />

23 Saudi-Arabien 186<br />

24 General Motors 177<br />

25 Polen 176<br />

26 BP 174<br />

27 Norwegen 166<br />

28 Ford Motor Co. 162<br />

29 Dänemark 162<br />

30 Türkei 148<br />

31 Indonesien 145<br />

32 Enron 139<br />

33 DaimlerChrysler 137<br />

34 Royal Dutch/Shell 135<br />

35 General Electric 126<br />

36 Venezuela 125<br />

37 F<strong>in</strong>nland 121<br />

38 Toyota Motor Corp. 121<br />

39 Griechenland 117<br />

40 Thailand 115<br />

41 Iran 114<br />

42 Citigroup 112<br />

43 Portugal 110<br />

44 Israel 108<br />

45 Mitsubishi 106<br />

46 Irland 103<br />

47 Mitsui 101<br />

48 Chevron Texaco 100<br />

49 Ägypten 98<br />

50 Total F<strong>in</strong>a Elf 94<br />

51 Nippon Tel & Tel 93<br />

52 Itochu 91<br />

53 Malaysia 88<br />

54 Allianz 86<br />

55 IBM 86<br />

56 S<strong>in</strong>gapur 86<br />

57 ING Group 83<br />

58 Kolumbien 82<br />

59 Volkswagen 79<br />

60 Siemens 77<br />

61 Sumitomo 77<br />

62 Altria Gruppe 73<br />

63 Mauerr<strong>in</strong>g 72<br />

64 Philipp<strong>in</strong>en 71<br />

65 Verizon Comm. 67<br />

66 Deutsche Bank 67<br />

67 E.ON 66<br />

68 Chile 66<br />

69 U.S. Postal Service 66<br />

70 AXA 66<br />

71 Credit Suisse 64<br />

72 Hitachi 64<br />

73 Nippon Life Ins. 64<br />

74 American Int. Group 62<br />

75 Carrefour 62<br />

76 American El. Power 61<br />

77 Sony 61<br />

78 Royal Ahold 60<br />

79 Duke Energy 60<br />

80 AT&T 59<br />

81 Honda Motor Co. 59<br />

82 Pakistan 59<br />

83 Boe<strong>in</strong>g 58<br />

84 El Paso 57<br />

85 Tschechische Rep. 57<br />

86 BNP Paribas 55<br />

87 Matsushita Electric 55<br />

88 Algerien 55


89 Peru 54<br />

90 Home Depot 54<br />

91 Bank of America 53<br />

92 Aviva 52<br />

93 Fiat 52<br />

94 Ungarn 52<br />

95 Assicurazioni Gen. 51<br />

96 Vivendi Universal 51<br />

97 Fanni Mae 51<br />

98 RWE 51<br />

99 J. P. Morgan 50<br />

100 Neuseeland 50<br />

<strong>Die</strong> Lüge <strong>in</strong> <strong>der</strong> Politik<br />

Hannah Arendt und Sebastian Haffner<br />

Forumsgespräch (1975) mit<br />

Professor Dr. Hannah Arendt, New York;<br />

Sebastian Haffner („Stern“), Hamburg;<br />

Kulturm<strong>in</strong>ister Dr. Bernhard Vogel, MdL, Ma<strong>in</strong>z;<br />

Gesprächsleiter:<br />

Hans-Friedrich Hölters, Düsseldorf.<br />

(Quelle: Gespräche mit Hannah Arendt, hrsg. von<br />

Adelbert Reif, Piper, München 1976)<br />

Hölters: Me<strong>in</strong>e Damen und Herren, häufig haben<br />

wir den E<strong>in</strong>druck, daß die Lüge zur Politik wie <strong>der</strong><br />

W<strong>in</strong>d zum Meer gehört. Während die christliche<br />

Ethik die Lüge vor allem als Problem des Individuums<br />

sah, gibt es, seit Sokrates und Platon, auch<br />

e<strong>in</strong>en zweiten Traditionsstrang, nämlich zum Verhältnis<br />

Lüge, Politik und Staat. E<strong>in</strong>e zentrale Frage<br />

unseres Gesprächs wird es se<strong>in</strong>, <strong>in</strong>wieweit die<br />

geschichtlich überlieferte Erörterung des Problems<br />

<strong>der</strong> politischen Lüge noch viel mit unserer Wirklichkeit<br />

zu tun hat, also die Frage, ob die traditionelle<br />

politische Lüge sich von <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen unterscheidet.<br />

Beg<strong>in</strong>nen wir mit e<strong>in</strong>em, ich würde sagen, traditionsgebundenen<br />

Zitat. In e<strong>in</strong>em Brief von 1736<br />

schreibt Voltaire: „<strong>Die</strong> Lüge ist nur dann e<strong>in</strong> Laster,<br />

wenn sie Böses stiftet. Sie ist e<strong>in</strong>e sehr große Tugend,<br />

wenn sie Gutes stiftet. Seien Sie also tugendhafter<br />

denn je. Man muß lügen wie <strong>der</strong> Teufel, nicht<br />

furchtsam, nicht nur zeitweilig, son<strong>der</strong>n herzhaft<br />

und immer. Lüget, me<strong>in</strong>e Freunde, lüget!“ Das führt<br />

uns, wenn wir hier e<strong>in</strong> wenig zur Begriffsumschreibung<br />

o<strong>der</strong> Begriffsbestimmung von Lüge beitragen<br />

wollen, zu <strong>der</strong> Frage: Gehört zur Lüge nur die vorsätzliche<br />

Täuschung o<strong>der</strong> gehört dazu auch Schädigungsabsicht?<br />

Arendt: Das Zitat von Voltaire ist natürlich wun<strong>der</strong>schön<br />

und sehr geschickt ausgesucht. Ob es Voltaire<br />

aber so geme<strong>in</strong>t, wie er es geschrieben hat, steht<br />

noch dah<strong>in</strong>. Me<strong>in</strong>er Ansicht nach entscheidend ist<br />

<strong>in</strong> dieser ganzen Frage, daß es unter den Zehn Geboten<br />

ke<strong>in</strong> Gebot gibt, das lautet: Du sollst nicht<br />

lügen. Es heißt vielmehr: Du sollst nicht falsches<br />

Zeugnis reden wi<strong>der</strong> de<strong>in</strong>en Nächsten. Das ist aber<br />

etwas wesentlich Spezifischeres als Lüge. Lügen <strong>in</strong><br />

unserem S<strong>in</strong>ne s<strong>in</strong>d geschichtlich erst sehr spät als<br />

solche diffamiert worden, me<strong>in</strong>er Ansicht nach<br />

nicht vor dem 16. bis 17. Jahrhun<strong>der</strong>t. Im Grunde<br />

geschah das gleichzeitig mit dem Entstehen <strong>der</strong><br />

Royal Society <strong>in</strong> England, d.h. mit dem Zusammenschluß<br />

<strong>der</strong> Wissenschaftler, was sehr bemerkenswert<br />

ist. <strong>Die</strong> Wissenschaftler mußten, ob vorsätzlich o<strong>der</strong><br />

nicht vorsätzlich, e<strong>in</strong>zig um ihrer Wissenschaft willen<br />

sich dar<strong>auf</strong> verlassen können, daß nicht gelogen<br />

wurde. Noch heute ist das so <strong>in</strong> den Naturwissenschaften.<br />

Jemand, <strong>der</strong> bei se<strong>in</strong>en Experimenten<br />

schw<strong>in</strong>delt, ist erledigt. Das unterscheidet ihn vom<br />

Politiker, <strong>der</strong> eben mal schw<strong>in</strong>deln kann, mal nicht<br />

schw<strong>in</strong>deln kann, o<strong>der</strong> auch vom Historiker, <strong>der</strong> es<br />

mal so o<strong>der</strong> mal an<strong>der</strong>s drehen kann. Jedenfalls gibt<br />

es e<strong>in</strong> Fachgebiet, <strong>auf</strong> dem es unmöglich ist zu lügen,<br />

ohne daß das Fachgebiet als solches zerstört wird.<br />

<strong>Die</strong>s ist gleichzeitig <strong>der</strong> Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> puritanischen<br />

E<strong>in</strong>stellung zur Lüge, und daran hat sich im Grunde<br />

bis heute nichts geän<strong>der</strong>t.<br />

Wenn wir jetzt allgeme<strong>in</strong>er über dieses Problem<br />

nachdenken, dann muß e<strong>in</strong>e ganze Reihe von D<strong>in</strong>gen<br />

über die Lüge gesagt werden. Da haben wir e<strong>in</strong>mal<br />

die Tatsache, daß <strong>der</strong> Mensch lügen kann. Das<br />

hat e<strong>in</strong>iges mit dem zu tun, daß wir frei s<strong>in</strong>d. Wir s<strong>in</strong>d<br />

<strong>in</strong> die Tatsachen <strong>der</strong> Welt nicht so e<strong>in</strong>gebettet, daß<br />

wir unbed<strong>in</strong>gt mit ihnen konform zu gehen haben.<br />

Wir haben immer noch die Freiheit, ja o<strong>der</strong> ne<strong>in</strong> zu<br />

sagen, und diese Freiheit bezieht sich wie<strong>der</strong>um <strong>auf</strong><br />

e<strong>in</strong>en speziellen Kreis von D<strong>in</strong>gen. Wenn sich<br />

jemand absolut dar<strong>auf</strong><br />

versteift zu sagen,<br />

daß zwei mal zwei<br />

gleich fünf ist, dann<br />

passiert ihm etwas<br />

recht Unangenehmes:<br />

Er wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Anstalt e<strong>in</strong>geliefert.<br />

Das heißt, die Wahrheit,<br />

wie schon Aristoteles<br />

sagte, hat es<br />

an sich, zu zw<strong>in</strong>gen.<br />

Aber dies betrifft nur<br />

diese Art <strong>der</strong> Wahrheiten,<br />

die wir seit<br />

Leibniz die Vernunftwahrheiten<br />

nennen,<br />

also Wahrheiten, von<br />

denen wir uns gar<br />

nicht vorstellen können,<br />

daß sie an<strong>der</strong>s<br />

wären, als sie s<strong>in</strong>d. Sie<br />

können auch sagen,<br />

Hannah Arendt, etwa 1963<br />

die von sich selber her<br />

evident s<strong>in</strong>d. In allen übrigen D<strong>in</strong>gen haben wir die<br />

Möglichkeit, ja o<strong>der</strong> ne<strong>in</strong> zu sagen. Und diese Möglichkeit<br />

bezieht sich zu e<strong>in</strong>em großen Teil auch <strong>auf</strong> die<br />

faktischen Wahrheiten. Nun, jede Tatsachenwahrheit<br />

hat ihre Wahrheit nicht von sich selbst, sie muß<br />

erst e<strong>in</strong>mal von an<strong>der</strong>en bezeugt se<strong>in</strong>. <strong>Die</strong>ser Bezeugung<br />

müssen wir glauben, nur <strong>auf</strong> diese Weise kann<br />

Wahrheit überhaupt etabliert werden. Das heißt, die<br />

Bettmann/CORBIS<br />

17


18<br />

Vernunft selber etabliert sie nicht. Außerdem können<br />

wir uns bei je<strong>der</strong> Tatsache vorstellen, daß es auch<br />

an<strong>der</strong>s hätte se<strong>in</strong> können. Daß es an<strong>der</strong>s hätte se<strong>in</strong><br />

können, bedeutet erstens, daß Tatsachen als solche<br />

nicht so zu überzeugen vermögen wie Vernunftwahrheiten,<br />

und zweitens, daß sie von uns bestätigt o<strong>der</strong><br />

verne<strong>in</strong>t werden können. Wir können selbst von<br />

e<strong>in</strong>er Sache, die geschehen ist, immer noch sagen:<br />

Mir wäre es lieber gewesen, es wäre an<strong>der</strong>s gekommen.<br />

Der gute alte Cato sagte: „Victrix causa diis placuit,<br />

sed victa Catoni.“ „<strong>Die</strong> siegreiche Sache gefiel<br />

den Göttern, aber die besiegte dem Cato.“ Also auch<br />

das, was wir immer als letzte Kriterien annehmen,<br />

nämlich Erfolg o<strong>der</strong> Mißerfolg, hat Cato nicht als<br />

letztes Kriterium akzeptiert.<br />

Hölters: Frau Arendt, Sie sagten, daß Tatsachenwahrheiten<br />

bezeugt werden müssen. Gibt es<br />

nun so etwas wie e<strong>in</strong>e stillschweigende Übere<strong>in</strong>kunft<br />

darüber, daß man bestimmte Tatsachen nicht<br />

akzeptiert o<strong>der</strong> daß man sie <strong>in</strong> dem Maße, <strong>in</strong> dieser<br />

Weise nicht annimmt? Besteht vielleicht e<strong>in</strong>e stillschweigende<br />

Übere<strong>in</strong>kunft zwischen Politikern,<br />

e<strong>in</strong>en gewissen Diskont <strong>der</strong> Wahrheit abzuziehen,<br />

aus dem man erst die Wahrheit <strong>der</strong> Aussage <strong>in</strong>terpretieren<br />

muß?<br />

Vogel: Nun, Frau Arendt hat uns zwar e<strong>in</strong>e hervorragende<br />

E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Lüge gegeben, aber sie<br />

hat uns den Politiker nicht def<strong>in</strong>iert. Das war auch<br />

nicht ihre Absicht und ihre Aufgabe. Ich halte es für<br />

e<strong>in</strong> bißchen gefährlich, wenn wir jetzt alle, die nicht<br />

exakte Wissenschaftler s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> den Bereich <strong>der</strong> Politik<br />

überführen. Da müßte gefragt werden: Wie ist<br />

das möglich, wo soll diese stillschweigende Übere<strong>in</strong>kunft,<br />

von <strong>der</strong> Sie, Herr Hölters, soeben gesprochen<br />

haben, beg<strong>in</strong>nen? Für mich ist diese Frage nicht ganz<br />

so wichtig, weil ich <strong>der</strong> Auffassung b<strong>in</strong>, daß es diese<br />

stillschweigende Übere<strong>in</strong>kunft nicht gibt.<br />

Hölters: Darf ich Sie unterbrechen? Das Wort<br />

„stillschweigende Übere<strong>in</strong>kunft“ stammt von Friedrich<br />

dem Großen.<br />

Vogel: Ich würde beispielsweise erhebliche Bedenken<br />

anmelden, Friedrich den Großen im heutigen<br />

S<strong>in</strong>ne des personellen Begriffs von Politiker als Politiker<br />

zu klassifizieren. Das ist e<strong>in</strong>e Sache, über die<br />

man reden kann, aber <strong>in</strong> unserem Zusammenhang,<br />

glaube ich, nicht reden muß.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs würde ich auch Voltaire wi<strong>der</strong>sprechen,<br />

daß Lüge nur e<strong>in</strong> Laster ist, wenn sie Böses stiftet,<br />

son<strong>der</strong>n sie ist wohl auch dann e<strong>in</strong> Laster, wenn sie<br />

verme<strong>in</strong>tlich Gutes stiftet. Selbst <strong>auf</strong> die Gefahr h<strong>in</strong>,<br />

die Verwirrung vollständig zu machen, muß ich<br />

sagen, daß ich auch nicht <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung b<strong>in</strong>, daß es<br />

schon Lüge ist, wenn Politiker o<strong>der</strong> solche, die sich<br />

dafür halten, nicht immer alles, was sie wissen,<br />

sagen, son<strong>der</strong>n wenn sie unter Umständen von e<strong>in</strong>igen<br />

ihrer Kenntnisse ke<strong>in</strong>en Gebrauch machen.<br />

Haffner: Ich muß offen bekennen, das Thema<br />

macht mich etwas unsicher. Es ist doch so: E<strong>in</strong> Teil<br />

<strong>der</strong> Politik ist ohne Zweifel Kampf. Immer noch ist –<br />

jedenfalls <strong>in</strong> großen Teilen <strong>der</strong> Welt – <strong>der</strong> Krieg e<strong>in</strong><br />

Mittel <strong>der</strong> Politik, ob das nun anerkannt wird o<strong>der</strong><br />

nicht. Und daß im Krieg gelogen wird und gelogen<br />

werden muß, um den Fe<strong>in</strong>d zu täuschen, ist sozusagen<br />

e<strong>in</strong>e respektierte Regel <strong>in</strong> <strong>der</strong> Politik. Man würde<br />

sagen, daß e<strong>in</strong> Feldherr o<strong>der</strong> auch e<strong>in</strong> Politiker,<br />

<strong>der</strong> das unterläßt, Landesverrat begeht. Umgekehrt<br />

haben sich die Englän<strong>der</strong> immer ihrer Kriegslisten<br />

gerühmt, z.B. wenn sie Hitler über den Ort ihrer<br />

Invasion mit ungeheurer Umständlichkeit irreführten,<br />

und ke<strong>in</strong>er hat ihnen daraus e<strong>in</strong>en Vorwurf<br />

gemacht. Das gehört eben zum Krieg.<br />

Aber mit dem Krieg hört es nicht <strong>auf</strong>. Politik ist,<br />

auch wenn ke<strong>in</strong> Krieg herrscht, wenigstens zum Teil<br />

Kampf. Ich will nicht sagen, daß Politik nur aus<br />

Kampf besteht, aber es gibt immer Kampf: diplomatischen<br />

Kampf im Frieden zwischen Mächten, Parteienkampf<br />

im Innern, sogar Kampf <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er<br />

Partei, beispielsweise um ihre Führung. Und wenn<br />

gekämpft wird, wird dann nicht unter Umständen<br />

auch gelogen? Und wird das nicht, wenn es erfolgreich<br />

ist, verziehen? Dem steht natürlich gegenüber:<br />

Wenn man e<strong>in</strong>en Politiker bei e<strong>in</strong>er offenen Lüge<br />

ertappt, dann schadet es ihm, sowohl politisch wie<br />

moralisch, das ist ganz klar. Dafür gibt es berühmte<br />

Beispiele: Profumo, <strong>der</strong> englische Heeresm<strong>in</strong>ister,<br />

dessen Karriere für immer ru<strong>in</strong>iert war, weil er <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er im Grunde privaten Angelegenheit – er unterhielt<br />

enge Kontakte zu e<strong>in</strong>em bestimmten Mädchen<br />

– im Unterhaus die Unwahrheit sagte.<br />

Auch Strauß <strong>in</strong> Deutschland hat e<strong>in</strong>en schweren<br />

politischen Rückfall erlitten, weil er <strong>in</strong> <strong>der</strong> sogenannten<br />

„Spiegel“-Affäre vor dem Bundestag nicht<br />

ganz bei <strong>der</strong> Wahrheit blieb. Ich will mich da nicht<br />

zu weit vorwagen, aber das war <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>druck<br />

– erwischt werden schadet also. Deshalb ist<br />

die Lüge <strong>in</strong> <strong>der</strong> Politik selbst dort, wo sie eigentlich<br />

üblich ist, e<strong>in</strong> gefährliches Mittel. Es ist e<strong>in</strong> Mittel,<br />

das man nur anwenden kann, wenn wirklich die<br />

Hoffnung besteht, damit durchzukommen. Dann<br />

allerd<strong>in</strong>gs kann sie sogar berühmt machen.<br />

Ich möchte e<strong>in</strong> Beispiel und e<strong>in</strong> Gegenbeispiel<br />

anführen. Roosevelt wurde 1940 mit <strong>der</strong> klaren<br />

Lüge gewählt, daß er die Vere<strong>in</strong>igten Staaten aus<br />

dem Krieg heraushalten würde. Er hat das Land<br />

nicht herausgehalten und hatte es auch gar nicht vor.<br />

Er arbeitete vor 1940 durchaus <strong>auf</strong> das E<strong>in</strong>greifen<br />

Amerikas <strong>in</strong> den Krieg h<strong>in</strong>. Aber ohne diese Lüge<br />

wäre er wahrsche<strong>in</strong>lich nicht gewählt worden angesichts<br />

<strong>der</strong> damaligen Stimmung <strong>in</strong> Amerika.Ohne<br />

diese Lüge wäre Amerika nicht <strong>in</strong> den Krieg e<strong>in</strong>getreten,<br />

und <strong>der</strong> Krieg hätte e<strong>in</strong>, sicher für Amerika<br />

und vielleicht für die ganze Welt, sehr schlimmes<br />

Ende genommen. War das richtig, o<strong>der</strong> war das<br />

falsch? Jedenfalls hat man es ihm verziehen. Er gilt<br />

als e<strong>in</strong> großer Präsident, auch bei se<strong>in</strong>en ehemaligen<br />

Gegnern. Man hat ihm ke<strong>in</strong>eswegs nachträglich<br />

vorgehalten: Aber du hast ja gelogen.<br />

Umgekehrt log Hitler 1938, als er sagte: Das Sudetenland<br />

ist me<strong>in</strong>e letzte territoriale For<strong>der</strong>ung. <strong>Die</strong>se<br />

Lüge wurde bereits 1939 von ihm selber als Lüge<br />

enthüllt, als er die restliche Tschechoslowakei<br />

besetzte, dann für sich den Korridor for<strong>der</strong>te usw.<br />

Das ist e<strong>in</strong>e schlechte und daher verbotene Art zu<br />

lügen. E<strong>in</strong>e Lüge, von <strong>der</strong> man selbst weiß, daß man


sie bald wi<strong>der</strong>legen wird, wird <strong>der</strong> Sache, um <strong>der</strong>entwillen<br />

man gelogen hat, schaden, sie gilt <strong>in</strong>folgedessen<br />

auch politisch als verwerflich.<br />

Es kommt schließlich <strong>auf</strong> folgendes h<strong>in</strong>aus: <strong>Die</strong><br />

Wissenschaft – und da möchte ich an das anknüpfen,<br />

was Frau Arendt gesagt hat – die Wissenschaft<br />

ist um <strong>der</strong> Erforschung <strong>der</strong> Wahrheit willen da.<br />

Soweit sie überhaupt e<strong>in</strong>en Zweck hat, ist das ihr<br />

e<strong>in</strong>ziger Zweck. <strong>Die</strong> Politik ist aber nicht um <strong>der</strong><br />

Erforschung <strong>der</strong> Wahrheit willen da, son<strong>der</strong>n sie<br />

verfolgt ganz bestimmte Zwecke: die Bewahrung<br />

e<strong>in</strong>es Landes, die Steigerung se<strong>in</strong>er Macht, die<br />

Durchsetzung e<strong>in</strong>er Partei, den Sturz e<strong>in</strong>er Regierung<br />

und ihre Ersetzung durch e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e. Was diesen<br />

Zwecken dient – wenn es ihnen wirklich dient<br />

und ihnen nicht selbst schadet –, muß wohl bis zu<br />

e<strong>in</strong>em gewissen Grade als zulässig angesehen werden,<br />

auch wenn es moralisch zweifelhaft ist.<br />

Arendt: Natürlich, daß Lüge, daß Wahrheit und<br />

Politik nicht <strong>auf</strong> sehr gutem Fuße mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> stehen,<br />

ist eigentlich e<strong>in</strong>e B<strong>in</strong>senwahrheit und zu allen<br />

Zeiten wahr gewesen. <strong>Die</strong> Frage ist nur: Was ist das<br />

Ziel? Roosevelt hat nicht eigentlich gelogen. Wenn es<br />

um Leben o<strong>der</strong> Tod geht, wie es manchmal <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Politik geht, dann ist es immer e<strong>in</strong>e Frage, ob die<br />

Lüge nicht vielleicht legitim ist. Aber was die Lüge<br />

hier legitimiert, ist wirklich nur das Äußerste. Das<br />

Lügen, das wir <strong>in</strong> unserem Jahrhun<strong>der</strong>t kennengelernt<br />

haben, ist von e<strong>in</strong>er ganz an<strong>der</strong>en Art und e<strong>in</strong>er<br />

ganz an<strong>der</strong>en Qualität. <strong>Die</strong> Lüge von Hitler <strong>in</strong> Bezug<br />

<strong>auf</strong> das Sudetenland war gewissermaßen die harmloseste.<br />

Sie bes<strong>in</strong>nen sich vielleicht dar<strong>auf</strong>, daß über die<br />

sogenannte Endlösung selbst <strong>in</strong> den obersten Rängen<br />

nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er vorgeschriebenen Sprache voller<br />

Euphemismen gesprochen werden durfte. Hitler selber,<br />

dem man e<strong>in</strong>mal zu bedenken gab, was denn die<br />

Welt sagen wird, wenn es herauskommt, daß Millionen<br />

Menschen umgebracht wurden, erklärte: Ach,<br />

das ist gar nicht so schlimm, sie wird es nicht glauben.<br />

Das ist absolut wahr gewesen, man hat es nicht<br />

geglaubt. <strong>Die</strong> Opfer haben es nicht geglaubt, aber<br />

auch die Welt hat es nicht geglaubt.<br />

<strong>Die</strong> Lügen, von denen hier Herr Haffner sprach,<br />

s<strong>in</strong>d ja ganz und gar gezielte Lügen. Das heißt, vor<br />

dem Fe<strong>in</strong>d müssen gewisse D<strong>in</strong>ge geheimgehalten<br />

werden. <strong>Die</strong> Lügen, mit denen wir es zu tun haben,<br />

die betreffen jeden. In diesem Augenblick wird Lügen<br />

wirklich zum Pr<strong>in</strong>zip erhoben. Das hatten wir <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er ganz grotesken Weise unter Stal<strong>in</strong>, <strong>der</strong> sich<br />

bemühte, die Geschichte <strong>der</strong> Revolution ständig<br />

umzuschreiben, und dabei bestimmte Personen o<strong>der</strong><br />

bestimmte Ereignisse jedes Mal <strong>in</strong> Vergessenheit<br />

geraten ließ, d.h. e<strong>in</strong>fach weglog: Trotzki gab es<br />

nicht, die Rote Armee sozusagen auch nicht, die<br />

Konzentrationslager schon gar nicht. Wer immer<br />

darüber sprach, riskierte se<strong>in</strong> Leben. Wo Lügen dieser<br />

Art <strong>auf</strong>treten, daß schließlich je<strong>der</strong>mann gezwungen<br />

wird zu lügen, da wird die Lüge zum Pr<strong>in</strong>zip.<br />

Im Gegensatz dazu ist Lügen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Politik – auch<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong> Staatsraison – <strong>auf</strong> ke<strong>in</strong>en Fall e<strong>in</strong>e<br />

Lüge aus Pr<strong>in</strong>zip. Hier haben wir es mit e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en<br />

Gruppe von Leuten zu tun, von Staatsmännern,<br />

Diplomaten, Politikern, zu <strong>der</strong>en Beruf es gehört,<br />

bestimmte Geheimnisse abzuschirmen, und die <strong>in</strong><br />

dieser H<strong>in</strong>sicht lügen. Das wissen alle. <strong>Die</strong>jenigen,<br />

die daran beteiligt s<strong>in</strong>d, wissen, daß jener Diskont<br />

von <strong>der</strong> Wahrheit <strong>in</strong> jedem Fall gemacht werden<br />

muß. <strong>Die</strong>se kle<strong>in</strong>e Gruppe von Menschen gerät niemals<br />

<strong>in</strong> Gefahr, sich selbst zu belügen. Es gibt e<strong>in</strong>e<br />

berühmte Stelle <strong>in</strong> den „Brü<strong>der</strong>n Karamasow“ von<br />

Dostojewski, wo Dimitri, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Karamasow-Bru<strong>der</strong>,<br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong> berühmter Lügner war, zu dem Starez<br />

kommt und ihn fragt: Was muß ich tun, um das<br />

ewige Leben zu erhalten? Und <strong>der</strong> Starez, <strong>der</strong> wußte,<br />

daß er es mit e<strong>in</strong>em Lügner zu tun hat, sagte: „Belüge<br />

dich niemals selbst.“<br />

Sehen Sie, <strong>in</strong> all diesen Fällen hat die Wahrheit<br />

irgendwo noch e<strong>in</strong> letztes Refugium, weil die, die<br />

lügen, zwischen Lüge und Wahrheit klar zu unterscheiden<br />

vermögen und genau wissen: Hier habe ich<br />

gelogen. <strong>Die</strong>ses Lügen kann dann auch <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>em<br />

S<strong>in</strong>ne wie<strong>der</strong> zurückgenommen und gutgemacht<br />

werden. Das an<strong>der</strong>e Lügen h<strong>in</strong>gegen nicht.<br />

Das an<strong>der</strong>e Lügen geht durch die gesamte Bevölkerung,<br />

die zwar weiß, daß es Konzentrationslager,<br />

daß es Vernichtungslager etc. gibt, <strong>der</strong> aber gleichzeitig<br />

bewußt ist, daß es lebensgefährlich ist, darüber<br />

zu sprechen. Überall dort, wo es Terror gibt, kann<br />

Lüge als allgeme<strong>in</strong>es Pr<strong>in</strong>zip erzwungen werden,<br />

woan<strong>der</strong>s nicht. Bei uns hat Herr Nixon versucht,<br />

mit Lügen alles Mögliche zu erreichen, aber er scheiterte,<br />

weil er über ke<strong>in</strong>e Terrorgruppe verfügte, die<br />

die Lüge hätte zum Pr<strong>in</strong>zip erzw<strong>in</strong>gen können. Das<br />

heißt: Er ist daran gescheitert, daß im allgeme<strong>in</strong>en <strong>in</strong><br />

Amerika nicht gelogen wird. In Amerika ist die Lüge<br />

e<strong>in</strong> sehr viel schwereres Delikt als <strong>in</strong> Europa. Das<br />

trifft auch für England zu, wie Sie aus me<strong>in</strong>er Profumo-Geschichte<br />

entnehmen können. Der Grund<br />

dafür liegt zum Teil im amerikanisch-englischen<br />

Gerichtsverfahren, wo man <strong>in</strong> eigener Sache aussagen<br />

kann, und zwar unter Eid, obwohl man dazu<br />

nicht gezwungen ist. Es gibt e<strong>in</strong>e Bestimmung, daß<br />

ke<strong>in</strong>er gezwungen werden kann, gegen sich selbst<br />

auszusagen. Aber das besagt nicht, daß er lügen darf.<br />

Daß <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>eid <strong>in</strong> Amerika als e<strong>in</strong> unvergleichlich<br />

schwereres Delikt gewertet wird als <strong>in</strong> Europa, hängt<br />

damit zusammen, daß wir e<strong>in</strong>e Regierung haben,<br />

die, ob sie will o<strong>der</strong> nicht, an die Konstitution<br />

gebunden ist. D.h. die höchste Instanz wird nicht<br />

von Menschen, son<strong>der</strong>n durch das Gesetz selbst verkörpert<br />

– das ist e<strong>in</strong> sehr großer Unterschied.<br />

<strong>Die</strong> Tatsache, daß <strong>der</strong> Mensch lügen kann, besagt,<br />

daß er den Realitäten nicht absolut verhaftet ist.<br />

Natürlich neigen Politiker dazu zu lügen, und zwar<br />

schon deswegen, weil sie nicht damit beschäftigt<br />

s<strong>in</strong>d, die Welt zu <strong>in</strong>terpretieren, son<strong>der</strong>n wollen,<br />

daß man sich vorstellt, wie sie se<strong>in</strong> könnte. Und <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Tat könnte sie an<strong>der</strong>s se<strong>in</strong>, als sie wirklich ist.<br />

Das, was ist, braucht nicht unbed<strong>in</strong>gt anerkannt zu<br />

werden. <strong>Die</strong>se Tatsache, daß ich ja und ne<strong>in</strong> dazu<br />

sagen kann, eben wie <strong>der</strong> alte Cato – die besagte<br />

Sache gefiel dem Cato –, das gehört zu den Grundfreiheiten<br />

des Menschen – unabhängig von allen<br />

Staatsformen. (...)<br />

19


Parallelstrukturen<br />

Netzwerke<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Demokratie<br />

Man spricht seit e<strong>in</strong>iger Zeit gern und gut von Netzwerken und Vernetzung. Offenbar<br />

hat sich kaum jemand Gedanken darüber gemacht, welche Schäden an <strong>der</strong><br />

Demokratie die fehlende Legitimierung solcher Verb<strong>in</strong>dungsarbeit verursacht.<br />

Mit <strong>der</strong> modischen Vokabel <strong>der</strong> Vernetzung, die heutzutage<br />

jedem und je<strong>der</strong> aus Karrieregründen anempfohlen wird, verb<strong>in</strong>det<br />

sich e<strong>in</strong>e für den demokratischen Rechtsstaat bedrohliche Entwicklung.<br />

Netzwerkbildung, so die nachfolgend entfaltete These, ist die<br />

Form, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die politische Klasse die ihr vermittelst <strong>der</strong> Gewaltenteilung<br />

<strong>auf</strong>erlegten Kontrollen und Begrenzungen unterläuft. Um diese<br />

für den demokratischen Rechtsstaat bedrohliche Entwicklung etwas<br />

genauer <strong>in</strong>s Auge zu fassen, sollen zunächst drei zentrale Begriffe geklärt<br />

werden: politische Klasse, Netzwerk und Gewaltenteilung. Sodann soll<br />

e<strong>in</strong> genauerer Blick <strong>auf</strong> das geworfen werden, was zur Besorgnis Anlass<br />

gibt: Korruption.<br />

Der Begriff <strong>der</strong> politischen Klasse geht <strong>auf</strong> den italienischen Soziologen<br />

Gaetano Mosca zurück. <strong>Die</strong> politische Klasse ist, wiewohl beide<br />

Begriffe häufig synonym verwandt werden, von <strong>der</strong> politischen Elite zu<br />

unterscheiden, die vor allem von Vilfredo Pareto, e<strong>in</strong>em weiteren italienischen<br />

Soziologen, analysiert worden ist. Im Begriff <strong>der</strong> politischen<br />

Klasse werden das statische Element von Herrschaft und das Zusammengehörigkeitsbewusstse<strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Macht Bef<strong>in</strong>dlichen herausgestellt.<br />

Dagegen dom<strong>in</strong>iert im Elitebegriff das Dynamische, etwa wenn<br />

Pareto von e<strong>in</strong>er permanenten Zirkulation <strong>der</strong> Eliten spricht, bei <strong>der</strong><br />

E<strong>in</strong>zelpersonen o<strong>der</strong> kle<strong>in</strong>ere Gruppen permanent ausgetauscht o<strong>der</strong><br />

<strong>in</strong> revolutionären Umstürzen ganze Eliten gestürzt werden. <strong>Die</strong> politische<br />

Elite ist also e<strong>in</strong>e Teilmenge <strong>der</strong> politischen Klasse, wobei für die<br />

Elite e<strong>in</strong> ausgeprägtes Steuerungs<strong>in</strong>teresse charakteristisch ist, während<br />

die politische Klasse an Selbsterhaltung,<br />

E<strong>in</strong>kommensmehrung<br />

und Privilegienausbau <strong>in</strong>teressiert<br />

ist. Dennoch ist die politische<br />

Klasse ke<strong>in</strong> bloßer Kostenfaktor,<br />

<strong>der</strong> sich bei <strong>der</strong> nächsten<br />

Verschlankung des Staates e<strong>in</strong>sparen<br />

ließe. Vielmehr ist sie<br />

Wurzelboden und Existenzbed<strong>in</strong>gung<br />

<strong>der</strong> politischen Elite,<br />

ohne die diese nicht entstehen<br />

und nicht bestehen kann. Zwischen<br />

<strong>der</strong> politischen Klasse und<br />

dem Souverän besteht e<strong>in</strong>e<br />

Tauschbeziehung, die <strong>der</strong> politi-<br />

schen Ordnung entsprechend<br />

ausgestaltet ist. Vere<strong>in</strong>facht lässt<br />

sich zwischen e<strong>in</strong>er klientelistischen<br />

Beziehung und dem gene-<br />

Von Herfried Münkler<br />

www.enterprise.cam.ac.uk<br />

Netzwerker bei <strong>der</strong> Arbeit: Network<strong>in</strong>g-Empfang 11. Juni 2001<br />

im Natural History Museum, London<br />

21


GEWALTENTEILUNG IST<br />

ORGANISIERTES MISSTRAUEN<br />

GEGENÜBER<br />

DER POLITISCHEN KLASSE<br />

22<br />

ralisierten Tausch von Vertrauen und Steuerung unterscheiden. <strong>Die</strong> Korruptionsanfälligkeit<br />

e<strong>in</strong>er politischen Klasse ist von <strong>der</strong> Art dieser Tauschbeziehung abhängig.<br />

Netzwerk ist e<strong>in</strong> aus <strong>der</strong> amerikanischen Sozialwissenschaft übernommener<br />

Begriff, <strong>der</strong> für nichthierarchische und wenig formalisierte Macht- und E<strong>in</strong>flussstrukturen<br />

steht. Aufkommen und Verbreitung des Begriffs s<strong>in</strong>d eng verbunden<br />

mit e<strong>in</strong>er tiefgreifenden Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Kommunikationsstrukturen durch die<br />

neuen Medien. Netzwerkbildung steht für e<strong>in</strong>e deutliche Beschleunigung <strong>der</strong><br />

Aufnahme und Verarbeitung von Verän<strong>der</strong>ungen. Netzwerke lernen schneller als<br />

hierarchische Organisationen; dafür entlernen sie auch schneller, haben also e<strong>in</strong>e<br />

ger<strong>in</strong>gere Speicherkapazität für Lernergebnisse. Hierarchische Organisationen<br />

lernen gründlicher und nachhaltiger als Netzwerke. Zugleich s<strong>in</strong>d Netzwerke<br />

durch e<strong>in</strong>en Kontrollverlust über die Verfahrensabläufe und die Invisibilisierung<br />

von Verantwortlichkeiten gekennzeichnet. Netzwerke unterl<strong>auf</strong>en o<strong>der</strong> überspr<strong>in</strong>gen<br />

die Zuständigkeitsordnungen und Kompetenzverteilungen formaler<br />

Organisationen. Ihr Beschleunigungsgew<strong>in</strong>n erwächst nicht zuletzt aus <strong>der</strong> Entformalisierung.<br />

Es ist zu erwarten, dass dadurch die <strong>in</strong> Institutionen und Organisationen<br />

„e<strong>in</strong>gebaute“ Korruptionsresistenz verm<strong>in</strong><strong>der</strong>t wird.<br />

Gewaltenteilung wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel mit <strong>der</strong> Theorie Montesquieus verbunden.<br />

Sie ist <strong>der</strong> Sache nach aber erheblich älter und f<strong>in</strong>det sich bereits im Konzept <strong>der</strong><br />

Mischverfassung, das <strong>auf</strong> den griechisch-römischen Historiker Polybios und den<br />

römischen Rhetor und Philosophen Cicero zurückgeht. Beide haben damit die<br />

politische Ordnung Roms mit Konsuln, Senat und Volksversammlung zu erfassen<br />

versucht. Für Mischverfassung wie Gewaltenteilung ist <strong>der</strong> politische Imperativ<br />

e<strong>in</strong>er Verteilung von Macht zwecks wechselseitiger Kontrolle zentral. Auf diese<br />

Weise soll Machtmissbrauch blockiert werden. <strong>Die</strong>se gegenseitige Kontrolle ist<br />

freilich nur möglich durch die Verlangsamung <strong>der</strong> Verfahrensabläufe und Entscheidungsprozesse.<br />

Obendre<strong>in</strong> soll die Verlangsamung <strong>der</strong> Verfahren <strong>der</strong> Entscheidungsoptimierung<br />

dienen. Neben <strong>der</strong> Korruptionsverh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung ist Letzteres<br />

<strong>der</strong> eigentliche politische Mehrwert <strong>der</strong> Gewaltenteilung. So dient die<br />

dreimalige Gesetzeslesung im Parlament <strong>der</strong> Reflexionssteigerung durch die Entschleunigung<br />

des Gesetzgebungsverfahrens.<br />

Man kann an <strong>der</strong> modellhaften Kontrastierung von Gewaltenteilung und Netzwerkbildung<br />

sehen, wie beide <strong>in</strong> unterschiedlicher Richtung dem Imperativ <strong>der</strong><br />

Reflexionssteigerung zwecks Entscheidungsoptimierung zu genügen suchen: im<br />

e<strong>in</strong>en Fall durch Entschleunigung, im an<strong>der</strong>en durch Beschleunigung. Gewaltenteilung<br />

ist organisiertes Misstrauen gegenüber <strong>der</strong> politischen Klasse; Netzwerkbildung<br />

dagegen beruht <strong>auf</strong> Vertrauensvorschüssen, bei denen unklar ist,<br />

wer für sie <strong>auf</strong>zukommen hat, wenn sie sich als ungedeckt erweisen. <strong>Die</strong>s dürfte<br />

nicht nur unterschiedliche Formen <strong>der</strong> Entscheidungsoptimierung, son<strong>der</strong>n<br />

auch solche <strong>der</strong> Entschei<strong>der</strong>korrumpierung zur Folge haben. Im antiken Rom<br />

hatte man versucht, die Vorteile von Misstrauen und Vertrauen, Entschleunigung<br />

und Beschleunigung mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu verb<strong>in</strong>den, <strong>in</strong>dem man zwischen Prozeduren<br />

<strong>der</strong> politischen Normalität und solchen <strong>in</strong> Krisen unterschied. So richtete<br />

man für Krisensituationen das Verfassungs<strong>in</strong>stitut <strong>der</strong> Diktatur e<strong>in</strong>, das – <strong>auf</strong> <strong>der</strong><br />

Basis e<strong>in</strong>es erheblichen Vertrauensvorschusses für den damit Betrauten – durch<br />

Kompetenzbündelung zu e<strong>in</strong>er großen Beschleunigung von Entscheidungsprozessen<br />

führte. Aber man wusste um die Gefährlichkeit dessen, und deswegen<br />

unterwarf man die Diktatur e<strong>in</strong>er zeitlichen Begrenzung und <strong>der</strong>en Inhaber <strong>der</strong><br />

Rechenschaftspflicht nach Beendigung ihrer Aufgabe. Netzwerkbildung hat<br />

funktional ähnliche Effekte, nur dass sie ke<strong>in</strong> formales Verfahren darstellt, nicht<br />

<strong>auf</strong> Ausnahmesituationen beschränkt ist und zu permanenter Diffusion <strong>in</strong> an<strong>der</strong>e<br />

Bereiche neigt. Netzwerkbildung lässt sich nicht formal e<strong>in</strong>grenzen und zeitlich<br />

beschränken. Sie vagabundiert durch die Institutionen. Sie ist darum vermutlich<br />

gefährlicher als das Verfassungs<strong>in</strong>stitut <strong>der</strong> Diktatur. In <strong>der</strong> Krise <strong>der</strong> Republik<br />

haben sich die Diktatoren von den <strong>in</strong>stitutionellen Fesseln befreit; im Falle <strong>der</strong><br />

Netzwerkbildung gibt es solche Fesseln von vornhere<strong>in</strong> nicht.<br />

Im heute verbreiteten Sprachgebrauch wird Korruption eher eng gefasst: Im Allgeme<strong>in</strong>en<br />

versteht man darunter die Kontam<strong>in</strong>ierung von Amtspflichten durch<br />

Eigen<strong>in</strong>teressen. Genauer betrachtet ist dies die Def<strong>in</strong>ition von Korruption<br />

<strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er gegebenen Ordnung. <strong>Die</strong> Möglichkeit e<strong>in</strong>er Korrumpierung <strong>der</strong><br />

Ordnung als Ganzer wird dabei nicht <strong>in</strong>s Auge gefasst. In <strong>der</strong> politischen Ideen-


geschichte, etwa bei Sallust und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e bei Machiavelli, f<strong>in</strong>det sich dagegen<br />

e<strong>in</strong> deutlich weiter gefasster Korruptionsbegriff, <strong>der</strong> nicht nur bei e<strong>in</strong>zelnen<br />

Angehörigen <strong>der</strong> politischen Elite, son<strong>der</strong>n bei <strong>der</strong> gesamten politischen Klasse<br />

mit dem Verlust sozialmoralischer Tugenden rechnet und dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en untrüglichen<br />

Indikator für den bevorstehenden Zusammenbruch <strong>der</strong> politischen Ordnung<br />

sieht. Der republikanische Korruptionsbegriff ist also erheblich umfassen<strong>der</strong><br />

angelegt als <strong>der</strong> juridische, weil er Korruption nicht <strong>auf</strong> e<strong>in</strong>zelne Angehörige<br />

<strong>der</strong> politischen Klasse beschränkt, son<strong>der</strong>n <strong>auf</strong> die gesamte politische Ordnung<br />

bezieht. Der Republikanismus bezweifelt, dass im Falle allgeme<strong>in</strong>er Korruption<br />

<strong>der</strong> Austausch von Teilen <strong>der</strong> politischen Elite genügt; vielmehr geht er davon aus,<br />

dass dann die gesamte politische Ordnung <strong>in</strong> Mitleidenschaft gezogen worden ist<br />

und nur durch ihre Zurückführung zu den Anfängen, wie Machiavelli sagt, wie<strong>der</strong><br />

<strong>in</strong> Ordnung gebracht werden kann. Dann geht es um mehr als nur e<strong>in</strong>en<br />

Regierungswechsel; dann muss e<strong>in</strong>e neue politische Klasse geschaffen werden.<br />

<strong>Die</strong> Sorge, e<strong>in</strong>e fortschreitende Vernetzung <strong>der</strong> politischen Klasse<br />

werde zur Korrumpierung des Systems <strong>der</strong> Gewaltenteilung führen, lässt sich vor<br />

dem juridischen und republikanischen Korruptionsbegriff präzisieren. Das<br />

System <strong>der</strong> Checks and Balances, wie Montesquieu es im England des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

beobachtet und zum Konzept <strong>der</strong> Gewaltenteilung systematisiert hat,<br />

ist – auch – gegen die notorische Korruptionsanfälligkeit <strong>der</strong> politischen Elite<br />

gerichtet. Es stellt gleichsam e<strong>in</strong>en Korruptionsfilter zwischen politischer Klasse<br />

und politischer Elite dar. Es vertraut <strong>auf</strong> e<strong>in</strong> System wechselseitiger Kontrolle,<br />

wofür die Gewaltenteilung e<strong>in</strong>e wesentliche Voraussetzung darstellt. Darüber<br />

h<strong>in</strong>aus setzt es <strong>auf</strong> e<strong>in</strong>e erhöhte Partizipationsdichte <strong>der</strong> politischen Klasse, durch<br />

die Korruption erschwert, zum<strong>in</strong>dest verteuert werden soll. Montesquieus Überlegungen<br />

s<strong>in</strong>d <strong>auf</strong> die Optimierung des alltäglichen Normalbetriebs zur Vermeidung<br />

von Ausnahmesituationen ausgerichtet. Dar<strong>in</strong> hat Montesquieu die Erfahrungen<br />

gebündelt, die von <strong>der</strong> politischen Klasse Englands über Jahrhun<strong>der</strong>te<br />

gemacht worden s<strong>in</strong>d.<br />

Ideengeschichtlich ist die von Montesquieu favorisierte Lösung e<strong>in</strong>e Diagonale<br />

zwischen dem klassischen Republikanismus, <strong>der</strong> <strong>auf</strong> die sozialmoralische Tugend<br />

<strong>der</strong> politischen Klasse gesetzt hat, und dem <strong>Die</strong>nst- und Amtsgedanken des <strong>in</strong>stitutionellen<br />

Flächenstaates, wie er sich <strong>in</strong> Europa seit dem 16./17. Jahrhun<strong>der</strong>t herausgebildet<br />

hat. Während <strong>der</strong> Republikanismus zwecks Korruptionsprävention<br />

entwe<strong>der</strong> <strong>auf</strong> möglichst<br />

breite Partizipation o<strong>der</strong><br />

beschleunigte Elitenrotation<br />

setzt, favorisiert <strong>der</strong><br />

mo<strong>der</strong>ne Staat die Professionalisierung<br />

und lebenslängliche<br />

Amts<strong>in</strong>nehabung.<br />

Neben Frankreich ist Preußen<br />

zum Paradigma dieser<br />

Entwicklung geworden.<br />

Dabei sollten <strong>der</strong> <strong>Die</strong>nstgedanke<br />

sowie e<strong>in</strong>e standesgemäße<br />

Alimentierung <strong>der</strong><br />

Amts<strong>in</strong>haber gegen e<strong>in</strong>e<br />

Korruption immunisieren,<br />

die als Vermischung von<br />

Amtspflichten und Eigen<strong>in</strong>teressen<br />

begriffen wurde.<br />

Der Staat versicherte sich<br />

dadurch nicht nur <strong>der</strong> Arbeitskraft<br />

se<strong>in</strong>er Bediensteten,<br />

son<strong>der</strong>n ihrer ganzen<br />

Person. So wollte er sicherstellen,<br />

dass an die Stelle des<br />

Eigennutzes <strong>der</strong> Ehrgeiz<br />

optimaler Pflichterfüllung<br />

So schön kann e<strong>in</strong> Netzwerk se<strong>in</strong><br />

www.letsconnect.be/Press.html<br />

DAS MODELL<br />

DER VERNETZUNG<br />

IST MIT DEM RECHTSSTAAT<br />

NICHT KOMPATIBEL<br />

23


DER DIENSTGEDANKE LEGT<br />

FEST, DASS NACH<br />

DEM PRINZIP DER PFLICHT<br />

UND NICHT DEM DER BEUTE<br />

GEARBEITET WIRD<br />

24<br />

trat. Auf <strong>der</strong> Komb<strong>in</strong>ation bei<strong>der</strong> Modelle <strong>der</strong> Korruptionsprävention, dem von<br />

Gewaltenteilung und Elitenzirkulation und dem e<strong>in</strong>er lebenslangen Inpflichtnahme<br />

des Erfüllungsstabes, beruht <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne Rechtsstaat. Das Modell <strong>der</strong><br />

Vernetzung ist damit <strong>in</strong>kompatibel.<br />

Beide Ordnungsmodelle waren sich <strong>der</strong> fortbestehenden Korruptionsgefahr<br />

bewusst: Das republikanisch-partizipatorische Modell setzte <strong>auf</strong> Konkurrenz und<br />

Zirkulation, als <strong>der</strong>en Mittel auch Revolutionen im Innern <strong>in</strong> Betracht gezogen<br />

wurden. Von Machiavelli bis zu den Fe<strong>der</strong>alists <strong>in</strong> Amerika ist <strong>der</strong> <strong>auf</strong> Dauer<br />

gestellte Kampf <strong>der</strong> Faktionen die bevorzugte Form <strong>der</strong> Korruptionsprävention.<br />

Man kann dies als e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> die politische Ordnung e<strong>in</strong>gebaute Selbstre<strong>in</strong>igung <strong>der</strong><br />

politischen Klasse von korrupten Angehörigen begreifen. Deren Funktionsäquivalent<br />

im bürokratischen Obrigkeitsstaat s<strong>in</strong>d die außerordentlichen und mit<br />

extralegalen Befugnissen ausgestatteten Kommissare als „Augen und Ohren“ des<br />

Souveräns. Das Institut <strong>der</strong> außerordentlichen Kommissare war dem Vorbild <strong>der</strong><br />

Kriegskommissare nachgebildet; <strong>in</strong> ihnen wan<strong>der</strong>te das Kriegsrecht <strong>in</strong> die Friedensordnung.<br />

Man muss die Bedeutung des Krieges (o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest dessen Drohung) für die<br />

Ordnung des Staates nicht überzeichnen, aber es ist unübersehbar, <strong>in</strong> welchem<br />

Maße <strong>der</strong> E<strong>in</strong>bezug des Außerordentlichen <strong>in</strong> den Normalbetrieb zum Garanten<br />

für dessen Korruptionsresistenz wurde. Was korrumpiert, ist <strong>der</strong> alltägliche Rout<strong>in</strong>ebetrieb,<br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Form von Vertrauen generiert, das die <strong>in</strong>stitutionellen Kontrollmechanismen<br />

überspr<strong>in</strong>gt und sie außer Kraft setzt. Dagegen wirkt <strong>der</strong> Krisen-<br />

und Ausnahmezustand korruptionsverh<strong>in</strong><strong>der</strong>nd, weil er die Vertrauensnetze<br />

zerreißt und außerordentliche Fähigkeiten abverlangt. Vertrauen ist e<strong>in</strong>e ambivalente<br />

Ressource <strong>der</strong> Politik. E<strong>in</strong>erseits stellt es Handlungsfähigkeit erst her, an<strong>der</strong>erseits<br />

darf es nicht übermächtig werden, son<strong>der</strong>n ist durch Misstrauen zu<br />

begrenzen. Das freilich heißt: Lange Zeiten des Friedens und <strong>der</strong> <strong>in</strong>neren Ruhe<br />

galten als Zeiten erhöhter Korruptionsanfälligkeit, während Kriege und Revolutionen<br />

als Formen <strong>der</strong> Selbstre<strong>in</strong>igung angesehen wurden.<br />

Was wir gegenwärtig zusammen mit jener Erosion <strong>der</strong> an den <strong>in</strong>stitutionellen<br />

Flächenstaat gebundenen gewaltenteiligen Ordnung beobachten, ist<br />

die Wie<strong>der</strong>kehr bei<strong>der</strong> Formen <strong>der</strong> Korruptionsverh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung bzw. <strong>der</strong> Selbstre<strong>in</strong>igung<br />

von korrupten Angehörigen <strong>der</strong> politischen Klasse: <strong>auf</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite die<br />

Entstehung bürokratischer Großorganisationen und <strong>der</strong>en gerade unter Verweis<br />

<strong>auf</strong> Korruptionsverh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung erfolgen<strong>der</strong> beständiger Ausbau, wofür die Entwicklung<br />

<strong>der</strong> EU e<strong>in</strong> Beispiel ist, und <strong>auf</strong> <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite die periodisch <strong>auf</strong>tretenden<br />

Revoltebewegungen von Late<strong>in</strong>amerika über Osteuropa und die Kaukasusregion<br />

bis nach Südostasien, die den Sturz <strong>der</strong> amtierenden Regierung <strong>auf</strong> <strong>der</strong><br />

Basis e<strong>in</strong>es generalisierten Korruptionsvorwurfs betreiben. Der Korruptionsvorwurf<br />

ist zur probaten Legitimationsgrundlage für Staatsstreiche geworden. Der<br />

Erfolg dieser <strong>auf</strong> Massendemonstrationen, Generalstreiks und Parlamentsbelagerungen<br />

gestützten Politik des periodischen Staatsstreichs hat jedoch nicht das Verschw<strong>in</strong>den<br />

<strong>der</strong> Korruption zur Folge, denn schon bald wie<strong>der</strong>holen sich die Korruptionsvorwürfe<br />

gegen die neue Regierung, und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Fällen ist sie <strong>auf</strong><br />

dieselbe Weise aus dem Amt herausgeputscht worden, wie sie h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gekommen<br />

ist. Hier erfolgt Elitenzirkulation ohne das Gegengewicht e<strong>in</strong>es lebenslang verpflichteten<br />

Erfüllungsstabs, während die EU-Bürokratie <strong>auf</strong> solche lebenslänglichen<br />

Erfüllungsstäbe ohne gleichzeitige Elitenzirkulation setzt. Beides unterschreitet<br />

die <strong>in</strong>stitutionelle Vernunft des demokratischen Rechtsstaates.<br />

Bei dieser Entwicklung dürften unterschiedliche Faktoren e<strong>in</strong>e Rolle spielen:<br />

Zum e<strong>in</strong>en ist die Installierung e<strong>in</strong>er korruptionsresistenten politischen Klasse<br />

ke<strong>in</strong>e voluntativ lösbare Aufgabe, son<strong>der</strong>n hat e<strong>in</strong>en langen politischen Erziehungsprozess<br />

zur Voraussetzung, <strong>der</strong> um so erfolgreicher ist, je mehr er sich <strong>auf</strong><br />

religiöse – im S<strong>in</strong>ne von den Akteuren selbst unverfügbare – Grundlagen stützen<br />

kann. Dass <strong>der</strong> <strong>Die</strong>nstgedanke sich im europäischen Staatsmodell relativ erfolgreich<br />

etablieren konnte, hat nicht zuletzt mit den sozialmoralischen Faktoren zu<br />

tun, die durch Luthertum und Calv<strong>in</strong>ismus bereitgestellt wurden. Klar ist jedoch,<br />

dass es, wo e<strong>in</strong>e religiöse Fundierung des <strong>Die</strong>nstgedankens nicht vorhanden ist,<br />

sozialmoralischer Funktionsäquivalente bedarf, um die Korruptionsresistenz <strong>der</strong><br />

politischen Klasse zu sichern.


Mit <strong>der</strong> Schaffung von Ämtern ist es also nicht getan; e<strong>in</strong>e Ämterordnung funktioniert<br />

nur dann zuverlässig, wenn sie von e<strong>in</strong>em starken <strong>Die</strong>nstgedanken getragen<br />

wird. Durch ihn erst wird sichergestellt, dass die Übernahme von Ämtern<br />

nach dem Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Pflicht und nicht dem <strong>der</strong> Beute erfolgt. Als verb<strong>in</strong>dendes<br />

Glied zwischen Elite und Erfüllungsstab ist <strong>der</strong> <strong>Die</strong>nstgedanke die sozialmoralische<br />

Deckung des gewährten Vertrauensvorschusses. E<strong>in</strong>e juridische Sicherung<br />

<strong>der</strong> Ämter gegen Missbrauch durch korrupte Amts<strong>in</strong>haber ist nur dann möglich,<br />

wenn <strong>Die</strong>nst die Regel und Missbrauch die Ausnahme ist. Im an<strong>der</strong>n Fall ist die<br />

Justiz selbst Bestandteil e<strong>in</strong>er korrupten politischen Klasse. Wo das <strong>der</strong> Fall ist,<br />

kann das politische Personal nur durch revoltierende Massenbewegungen ausgetauscht<br />

werden. Das sucht es durch autoritäre Maßnahmen o<strong>der</strong> mit Gewalt zu<br />

verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n. An<strong>der</strong>s formuliert: Wenn Korruption ke<strong>in</strong> Problem e<strong>in</strong>zelner Personen<br />

mehr ist, son<strong>der</strong>n die gesamte politische Klasse erfasst hat, ist ihr we<strong>der</strong> mit<br />

Gewaltenteilung noch Elitenzirkulation beizukommen.<br />

E<strong>in</strong>fallstor für die Korrumpierung politischer Klassen s<strong>in</strong>d klientelistische Austauschbeziehungen<br />

anstelle generalisierten Vertrauens, das gewissen <strong>in</strong>stitutionellen<br />

Kontrollen unterliegt. <strong>Die</strong> Amts<strong>in</strong>haber verstehen sich im Falle des Klientelismus<br />

als Agenten o<strong>der</strong> Patrone begrenzter, ethnisch o<strong>der</strong> sozial def<strong>in</strong>ierter<br />

Gruppen. Dagegen s<strong>in</strong>d Austauschbeziehungen des generalisierten Vertrauens<br />

<strong>der</strong> Entwicklung e<strong>in</strong>er Ämterordnung und e<strong>in</strong>es sie tragenden <strong>Die</strong>nstgedankens<br />

erheblich zuträglicher. Genau dies ist <strong>in</strong> vielen <strong>der</strong> im Verl<strong>auf</strong> <strong>der</strong> Dekolonisation<br />

neu entstandenen Staaten nicht erfolgt. Sie blieben Klientelstrukturen verhaftet.<br />

Wo <strong>der</strong> Austausch e<strong>in</strong>er politischen Klasse <strong>auf</strong> die Installierung neuer Klientelbeziehungen<br />

und die Entmachtung <strong>der</strong> alten Patrone h<strong>in</strong>ausläuft, ist mit e<strong>in</strong>er periodischen<br />

Abfolge von Bürgerkriegen zu rechnen, die jedoch nicht zu <strong>der</strong> vom<br />

Republikanismus erhofften Selbstre<strong>in</strong>igung führt, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> <strong>der</strong>en Folge sich die<br />

Korruption immer tiefer <strong>in</strong> die politische und soziale Ordnung h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>frisst.<br />

Staatlichkeit verbleibt dort im Stadium <strong>der</strong> Prekarität. Wir sprechen <strong>in</strong>zwischen<br />

von fail<strong>in</strong>g states o<strong>der</strong> failed states. Sie bilden den Endpunkt <strong>der</strong> Totalkorrumpierung<br />

e<strong>in</strong>er politischen Ordnung.<br />

Über diesen grundsätzlichen Fragen sollte man den Aspekt <strong>der</strong> Alimentierung<br />

von Amtsträgern nicht unterschätzen: ihre lebenslange Versorgung, <strong>der</strong>en Höhe<br />

sich nicht an <strong>in</strong>dividuell messbarer Leistung bemaß, son<strong>der</strong>n an die Position<br />

<strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Amtshierarchie gebunden war. Auf dieser Alimentierung, die im<br />

19. Jahrhun<strong>der</strong>t durch e<strong>in</strong>e entsprechende Altersversorgung ergänzt wurde, war<br />

die Erwartung begründet, dass sich die Amts<strong>in</strong>haber den Verpflichtungen des<br />

<strong>Die</strong>nstes überlassen und nicht nach zusätzlichen Erwerbsmöglichkeiten Ausschau<br />

halten würden. <strong>Die</strong> konsequente Fernhaltung <strong>der</strong> staatlichen Beamtenschaft<br />

vom Erwerbspr<strong>in</strong>zip sollte Korruptionsresistenz herstellen. Obendre<strong>in</strong><br />

vertraute man <strong>in</strong> <strong>der</strong> juridischen Korruptionsprävention dar<strong>auf</strong>, dass die Drohung<br />

mit dem Verlust <strong>der</strong> lebenslangen Versorgung e<strong>in</strong>e h<strong>in</strong>reichende Abschreckung<br />

gegenüber den Versuchungen <strong>der</strong> Korruption darstellte.<br />

Genau diese Versorgungssicherheit <strong>der</strong> Staatsbeamten, von <strong>der</strong> Bürokratie über<br />

die Polizei bis zum Militär, ist <strong>in</strong> den als prekär identifizierbaren Staaten nicht<br />

gegeben. Im schlimmsten Fall beg<strong>in</strong>nen die Staatsbediensteten wegen ausbleiben<strong>der</strong><br />

o<strong>der</strong> zum<br />

Lebensunterhalt<br />

nicht h<strong>in</strong>reichen<strong>der</strong><br />

Gehaltszahlungen<br />

damit, sich zusätzlicheErwerbschancen<br />

zu eröffnen,<br />

bzw. begreifen die<br />

begrenzte Zeit, <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> sie e<strong>in</strong> Amt<br />

<strong>in</strong>nehaben, als die<br />

Spanne, die sie zur<br />

Bereicherung nutzen<br />

müssen. Sie<br />

plün<strong>der</strong>n den Staat<br />

aus, um sich gegen<br />

e<strong>in</strong>e ungewisse Zu-<br />

E<strong>in</strong>e noch zu entwirrende Vernetzung<br />

Thomas Dashuber<br />

DER FAILED STATE<br />

IST DER ENDPUNKT<br />

DER KORRUMPIERUNG<br />

EINER POLITISCHEN<br />

ORDNUNG<br />

25


DIE LANGFRISTIGEN<br />

KOSTEN DER VERNETZUNG<br />

WERDEN DIE VORTEILE<br />

BEI WEITEM ÜBERSCHIESSEN<br />

26<br />

kunft zu sichern. <strong>Die</strong> hoheitlichen Aufgaben des Staates werden <strong>auf</strong> diese Weise<br />

„feudalisiert“, und <strong>der</strong> Verfall <strong>der</strong> staatlichen Ordnung beschleunigt sich. Am<br />

Schluss s<strong>in</strong>d die Reste des Staatsapparats damit beschäftigt, Ressourcen für ihre<br />

Versorgung abzuschöpfen, ohne dafür e<strong>in</strong>e Gegenleistung zu erbr<strong>in</strong>gen. Aus <strong>der</strong><br />

Tauschbeziehung zwischen politischer Klasse und Volk ist e<strong>in</strong> bloßes Ausplün<strong>der</strong>ungsverhältnis<br />

geworden.<br />

Was den Zerfall von Staatlichkeit an den Rän<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Wohlstandszonen<br />

kennzeichnet, ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> OECD-Welt so nicht zu beobachten. Aber auch hier<br />

erodiert die frühere Korruptionsresistenz. Es ist zu fragen, <strong>in</strong>wieweit die zunehmende<br />

Netzwerkbildung, die ke<strong>in</strong>eswegs <strong>auf</strong> wirtschaftliche und wissenschaftliche<br />

Fel<strong>der</strong> begrenzt bleibt, Formen von Kooperation und Vertrauensbildung hervorbr<strong>in</strong>gt,<br />

die nicht nur zu e<strong>in</strong>er Korrumpierung von E<strong>in</strong>zelpersonen, son<strong>der</strong>n<br />

<strong>der</strong> gesamten politischen Ordnung führt. E<strong>in</strong> Indikator solcher Netzwerkbildung<br />

ist die Ausbreitung von Nichtregierungsorganisationen, die sich unter Verweis<br />

<strong>auf</strong> die von ihnen verfolgten ethisch hochstehenden Ziele dem <strong>in</strong>stitutionellen<br />

Misstrauen entziehen. Unter <strong>der</strong> Parole <strong>der</strong> Privatisierung und <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung<br />

nach Effektivierung greift das schnell <strong>auf</strong> die klassische Bürokratie über.<br />

Netzwerke können Misstrauen als funktionales Element des politischen<br />

Systems nicht <strong>in</strong>tegrieren; Elitenzirkulation ist ihnen ebenso fremd wie <strong>in</strong>stitutionell<br />

abgesicherte Karrieren. Dabei ist <strong>auf</strong>fällig, dass unter dem Diktat von<br />

Beschleunigungszwängen das e<strong>in</strong>stige Wissen um die Vorteile von Entschleunigung<br />

verlorengegangen ist. Angesichts <strong>der</strong> Erfor<strong>der</strong>nisse <strong>in</strong>ternationaler Konkurrenz<br />

und unter dem hegemonialen E<strong>in</strong>fluss neoliberaler Ideologien kommt es so<br />

zu e<strong>in</strong>em schrittweisen Abbau nicht nur bürokratischer Großorganisationen,<br />

son<strong>der</strong>n auch des <strong>in</strong> sie verwobenen Netzes von Kompetenzverteilungen und<br />

Kontrollmechanismen. <strong>Die</strong> unerwünschten Effekte dieser Entwicklung werden<br />

uns <strong>in</strong> Form steigen<strong>der</strong> Korruption mit Sicherheit ereilen. <strong>Die</strong> Folge werden eilig<br />

<strong>in</strong> Gang gesetzte Prozesse des Umsteuerns se<strong>in</strong>. Das Fatale daran ist jedoch, dass<br />

das Heilmittel dann im Aufbau neuer Bürokratien und nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>herstellung<br />

o<strong>der</strong> Erneuerung des kunstvollen Gewebes <strong>der</strong> Gewaltenteiligkeit liegen<br />

wird. <strong>Die</strong> Gewaltenteilung war e<strong>in</strong>e effektive Lösung für den E<strong>in</strong>bau von Misstrauen<br />

<strong>in</strong> das politische System bei gleichzeitiger Neutralisierung <strong>der</strong> damit verbundenen<br />

negativen Effekte. Vor dieser Herausfor<strong>der</strong>ung erweist sich Netzwerkbildung<br />

als unterkomplex und kontraproduktiv. <strong>Die</strong> langfristigen Kosten <strong>der</strong><br />

Vernetzung werden <strong>der</strong>en kurzfristige Vorteile bei weitem überschießen. <strong>Die</strong><br />

politische Vernunft ist dabei, den Suggestionen ökonomischer Anreize zu erliegen.<br />

Das wird uns teuer zu stehen kommen.<br />

<strong>Die</strong> österreichische Frauenm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> Maria Rauch-Kallat beim Network<strong>in</strong>g<br />

Bundeskanzleramt Wien, 30. 11. 2005<br />

www.bmgf.gv.at


Das iranische Atomprogramm<br />

Verbot <strong>auf</strong> Verdacht<br />

<strong>Die</strong> Frage ist nicht mehr: Wie kann man Iran das Atomprogramm verbieten?, son<strong>der</strong>n: Kann<br />

man es überhaupt? Und wo bleibt dann die Sicherheit nicht nur <strong>der</strong> Nahost-Region? <strong>Die</strong> Lösung<br />

kann nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Übere<strong>in</strong>kommen aller Beteiligten liegen.<br />

Von Andreas Zumach<br />

Seit Mitte 2005 ist <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationale Konflikt um das iranische Atomprogramm<br />

ständig und <strong>in</strong> bedrohlicher Weise eskaliert. E<strong>in</strong> militärisches Vorgehen<br />

<strong>der</strong> USA gegen Iran mit all se<strong>in</strong>en voraussagbaren verheerenden Konsequenzen<br />

ist – trotz <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage <strong>der</strong> Republikaner bei den Kongresswahlen Anfang<br />

November – auch weiterh<strong>in</strong> nicht auszuschließen.<br />

Von den meisten westlichen Politikern und Medien wird <strong>der</strong> irreführende E<strong>in</strong>druck<br />

vermittelt, als habe <strong>der</strong> Konflikt erst mit <strong>der</strong> Wahl des neuen iranischen Präsidenten<br />

Mahmoud Ahmad<strong>in</strong>edschad im Sommer 2005 begonnen. Und als sei<br />

Teherans Atomprogramm wirklich <strong>der</strong> Kern des Problems.<br />

Tatsächlich geht es um die strategisch hochbedeutsame Frage, woh<strong>in</strong> sich das<br />

wichtigste Land im Herzen <strong>der</strong> seit 60 Jahren (und voraussichtlich auch <strong>in</strong> den<br />

nächsten vier Jahrzehnten) bedeutendsten und konfliktreichsten Weltregion entwickeln<br />

wird. Iran liegt im Zentrum <strong>der</strong> nahöstlichen/mittelöstlichen/zentralasiatischen<br />

Region. E<strong>in</strong>er Region aus 25 Staaten, die im Norden begrenzt wird<br />

von Russland, im Osten von Ch<strong>in</strong>a und Indien, im Süden vom Indischen Ozean<br />

und <strong>der</strong> Arabischen See und im Westen vom Mittelmeer und <strong>der</strong> Türkei. In dieser<br />

Region liegen rund 85 Prozent <strong>der</strong> Weltölreserven und 90 Prozent <strong>der</strong> Weltgasreserven<br />

(unter Berücksichtigung <strong>der</strong> russischen Reserven). Innerhalb dieser<br />

Region ist Iran das aus vielerlei Gründen bei weitem bedeutsamste Land. Es verfügt<br />

über die zweitgrößten Gasreserven <strong>der</strong> Welt (nach Russland) und über die<br />

drittgrößten Ölvorräte (nach Saudi-Arabien und Irak). Ke<strong>in</strong> Land <strong>in</strong> <strong>der</strong> Region<br />

hat so viele Außengrenzen wie Iran – nämlich acht. Darunter s<strong>in</strong>d sehr sensible, <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Vergangenheit zum Teil militärisch umstrittene Grenzen: unter diesen die<br />

über tausend Kilometer lange Westgrenze zum Irak; die südwestliche Küstengrenze<br />

zum Persischen Golf, <strong>der</strong> weltweit wichtigsten Wasserstraße zum Transport<br />

von Öl von den För<strong>der</strong>län<strong>der</strong>n <strong>auf</strong> die Weltmärkte; die beiden Grenzen im<br />

Südosten zu Pakistan und Afghanistan; im Nordosten die Grenzen zu zwei exsowjetischen<br />

Republiken; die nördliche Küstengrenze zum Kaspischen Meer,<br />

unter dessen Boden große Vorräte an Öl und Gas liegen. Und schließlich im<br />

Nordwesten die Grenzen zu Armenien und <strong>der</strong> Türkei, mit <strong>der</strong> es ebenso Konflikte<br />

geben könnte im Zusammenhang mit den kurdischen M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten <strong>in</strong> beiden<br />

Län<strong>der</strong>n und <strong>der</strong>en Streben nach e<strong>in</strong>em geme<strong>in</strong>samen kurdischen Staat <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Region.<br />

Iran ist das Land mit <strong>der</strong> jüngsten Bevölkerung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt. In ke<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en<br />

Land ist <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> unter 20-Jährigen und <strong>der</strong> unter 30-Jährigen an <strong>der</strong><br />

Gesamtbevölkerung so groß. Iran ist e<strong>in</strong> Land mit e<strong>in</strong>er eigenständigen, jahrtausendealten,<br />

reichen Kultur, Geschichte und Tradition. Und schließlich ist Iran<br />

seit 1979 die e<strong>in</strong>zige erklärtermaßen islamische Republik, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die wesentlichen<br />

politischen Entscheidungen nicht von weltlichen, son<strong>der</strong>n von religiösen Führern<br />

bestimmt werden. Zudem erkennt Iran seit <strong>der</strong> islamischen Revolution die<br />

Existenz des Staates Israel grundsätzlich nicht an. Woh<strong>in</strong> wird sich dieses gewichtigste<br />

Land <strong>der</strong> bedeutsamsten Weltregion <strong>in</strong> den nächsten Jahren entwickeln?<br />

Mit wem wird es strategische Partnerschaften e<strong>in</strong>gehen beim Verk<strong>auf</strong> von Öl,<br />

beim Bau von Pipel<strong>in</strong>es, beim K<strong>auf</strong> von Waffen? Mit Ch<strong>in</strong>a, Indien und Russland?<br />

O<strong>der</strong> wird Iran wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> das „westliche Lager“ zurückkehren und damit<br />

unter den stärkeren E<strong>in</strong>fluss und die Kontrolle <strong>der</strong> USA, wie zu Zeiten <strong>der</strong> Schah-<br />

Diktatur zwischen 1953 und 1979?<br />

27


WILLTEHERAN<br />

DIE ATOMBOMBE?<br />

EIN KLARES JA ODER NEIN<br />

WÄRE UNSERIÖS<br />

28<br />

<strong>Die</strong>se Fragen s<strong>in</strong>d von höchstem geostrategischen Interesse – nicht nur <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton,<br />

wo dieses Interesse am offensichtlichsten ist, son<strong>der</strong>n auch <strong>in</strong> Paris,<br />

London und Berl<strong>in</strong>, aber eben auch <strong>in</strong> Pek<strong>in</strong>g, Moskau und Neu-Delhi.<br />

Ohne diese Interessenlage sowie den historischen Kontext seit Anfang <strong>der</strong> 50er<br />

Jahre ist nicht wirklich zu verstehen, warum <strong>der</strong> Konflikt um das iranische Atomprogramm<br />

und um die Frage, ob Teheran nun Uran anreichern darf o<strong>der</strong> nicht, <strong>in</strong><br />

den letzten 18 Monaten so virulent geblieben ist.<br />

DARF IRAN URAN ANREICHERN? Nach den Bestimmungen des Atomwaffensperrvertrages<br />

darf Iran die atomare Technologie ohne jede E<strong>in</strong>schränkung zur<br />

Energiegew<strong>in</strong>nung nutzen und damit auch Urananreicherung betreiben – selbstverständlich<br />

unter den im Sperrvertrag vere<strong>in</strong>barten Kontrollen durch die Internationale<br />

Atomenergieorganisation (IAEO) <strong>in</strong> Wien. Unabhängig von dieser<br />

e<strong>in</strong>deutig mit Ja zu beantwortenden völkerrechtlichen Frage ist es politisch, ökonomisch<br />

und ökologisch unvernünftig, dass die Führung <strong>in</strong> Teheran <strong>auf</strong> die atomare<br />

Energie setzt, anstatt <strong>auf</strong> nachhaltige und ökologische Energieträger wie<br />

Sonne, W<strong>in</strong>d, Wasser und Biomasse, für die Iran große Kapazitäten hätte.<br />

<strong>Die</strong> Regierungen des EU-Trios Frankreich, Großbritannien und Deutschland<br />

haben die falsche Behauptung verbreitet, Teheran habe mit <strong>der</strong> im September<br />

2005 angekündigten und im Frühjahr 2006 vollzogenen Wie<strong>der</strong><strong>auf</strong>nahme <strong>der</strong><br />

Aktivitäten zur Urananreicherung die „Pariser Vere<strong>in</strong>barung“ mit <strong>der</strong> EU vom<br />

November 2004 „gebrochen“ und „die rote L<strong>in</strong>ie überschritten“ (so Bundeskanzler<strong>in</strong><br />

Angela Merkel <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Münchener „Internationalen Sicherheitskonferenz“<br />

Anfang Februar 2006). Fast sämtliche Medien haben diese falsche Behauptung –<br />

offensichtlich ungeprüft – übernommen und weiterverbreitet.<br />

Tatsächlich hatte die iranische Führung <strong>in</strong> <strong>der</strong> „Pariser Vere<strong>in</strong>barung“ mit <strong>der</strong><br />

EU vom November 2004 lediglich zugesagt, die Aktivitäten zur Urananreicherung<br />

„vorläufig auszusetzen“ als „Geste des guten Willens“ und „für die Dauer“<br />

von Verhandlungen mit <strong>der</strong> EU über e<strong>in</strong>e engere wirtschaftliche, nukleartechnologische<br />

und sicherheitspolitische Kooperation. Als diese Verhandlungen im Juli<br />

2005 scheiterten, waren aus Teheraner Sicht die Voraussetzungen für die fortgesetzte<br />

Suspendierung <strong>der</strong> Aktivitäten zur Urananreicherung nicht mehr gegeben.<br />

Als Grund für das Scheitern dieser Verhandlungen haben die Regierungen des<br />

EU-Trios die irreführende und von den meisten Medien kritiklos verbreitete<br />

Behauptung <strong>auf</strong>gestellt, Teheran habe e<strong>in</strong> „sehr weitreichendes Angebot“ <strong>der</strong> EU<br />

abgelehnt. Tatsächlich scheiterten die Verhandlungen <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie, weil das<br />

EU-Trio die iranische Führung gleich zu Verhandlungsbeg<strong>in</strong>n im Januar 2005<br />

mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung konfrontierte, dauerhaft und endgültig <strong>auf</strong> die Anreicherung<br />

von Uran zu verzichten. Zum Zweiten konnte das EU-Trio Teheran nicht die verlangten<br />

militärischen Sicherheitsgarantien bieten, weil die USA sich strikt weigerten,<br />

ihren Verzicht <strong>auf</strong> e<strong>in</strong>en Angriff gegen Iran zu erklären. Schließlich hatte<br />

das „weitreichende Angebot“ des EU-Trios e<strong>in</strong>en entscheidenden Haken: Zwar<br />

stellte das Trio Teheran im Gegenzug zu e<strong>in</strong>em dauerhaften Verzicht <strong>auf</strong> die Urananreicherung<br />

die Lieferung von Leichtwasserreaktoren sowie von nuklearen<br />

Brennstäben durch europäische Konzerne <strong>in</strong> Aussicht. Doch e<strong>in</strong>e vertragliche<br />

Garantie für diese Angebote gab das EU-Trio Teheran nicht – aus Sorge, die<br />

europäischen Lieferfirmen könnten von den USA mit Sanktionen belegt und <strong>in</strong><br />

ihren US-Geschäften beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t werden.<br />

WILL TEHERAN DIE ATOMBOMBE? <strong>Die</strong>se Frage lässt sich seriöserweise bislang<br />

nicht mit e<strong>in</strong>em klaren Ja o<strong>der</strong> Ne<strong>in</strong> beantworten. Sicher ist allerd<strong>in</strong>gs, dass die<br />

Fraktion <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> politischen und militärischen Eliten Irans, die e<strong>in</strong>e eigene<br />

Atomwaffe für die e<strong>in</strong>zig verlässliche Schutzgarantie gegen Angriffe von außen<br />

halten, seit Anfang <strong>der</strong> 50er Jahre des letzten Jahrhun<strong>der</strong>ts stetig stärker geworden<br />

ist. Und für diese fatale Entwicklung trägt die Politik des Westens gegenüber Iran<br />

e<strong>in</strong>e erhebliche Mitverantwortung.<br />

Im Jahr 1950 fanden im Iran Wahlen statt – freie, geheime, allgeme<strong>in</strong>e Wahlen<br />

unter voller gleichberechtigter Teilnahme <strong>der</strong> Frauen. <strong>Die</strong> aus diesen Wahlen hervorgegangene<br />

Regierung von Premierm<strong>in</strong>ister Mohammed Mossadegh verstaatlichte<br />

die iranischen Ölfel<strong>der</strong>, die damals immer noch unter vollständiger Kontrolle<br />

US-amerikanischer und britischer Ölkonzerne waren. Das Ziel <strong>der</strong><br />

Verstaatlichung: <strong>Die</strong> Erlöse aus dem Verk<strong>auf</strong> des iranischen Öls sollten nicht län-


majpalmer.com<br />

ger <strong>in</strong> die Taschen ausländischer Konzerne fließen, son<strong>der</strong>n endlich dem iranischen<br />

Volk zugutekommen. In Wash<strong>in</strong>gton und London nahm man Premierm<strong>in</strong>ister<br />

Mossadegh diese Verstaatlichung übel. 1953 wurde <strong>der</strong> demokratisch<br />

gewählte Premierm<strong>in</strong>ister Irans mit tatkräftiger Hilfe <strong>der</strong> CIA und des britischen<br />

Auslandsgeheimdienstes gestürzt und an se<strong>in</strong>er Stelle die blutige Schah-Diktatur<br />

<strong>in</strong>stalliert. <strong>Die</strong>ses für die Iraner hochtraumatische Ereignis wirkt bis heute fort.<br />

Nicht nur bei älteren Iranern, die die Ereignisse <strong>der</strong> 50er Jahre noch bewusst miterlebt<br />

haben. Auch jungen Iranern s<strong>in</strong>d diese Ereignisse sehr präsent. Der Sturz<br />

<strong>der</strong> Regierung Mossadegh und die nachfolgenden 27 Jahre <strong>der</strong> Diktatur des<br />

Schahs, <strong>der</strong> von den USA und Westeuropa politisch und militärisch unterstützt<br />

wurde und im Gegenzug die Lieferung preiswerten Öls garantierte, hat das Verhältnis<br />

Irans zum Westen und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e zu den USA nachhaltig belastet. Der<br />

Sturz des Schah-Regimes durch die islamische Revolution im Jahre 1979 hat weitere<br />

Traumata geschaffen – diesmal <strong>auf</strong> Seiten <strong>der</strong> USA. Denn im Zuge dieser<br />

Revolution stürmten islamische Studenten die US-Botschaft <strong>in</strong> Teheran, hielten<br />

sie über 400 Tage besetzt und nahmen die amerikanischen Diplomaten und Botschaftsangehörigen<br />

als Geiseln. E<strong>in</strong>e noch vom demokratischen Präsidenten<br />

Jimmy Carter angeordnete militärische Aktion zur Befreiung <strong>der</strong> Geiseln scheiterte<br />

kläglich. <strong>Die</strong> für diese Befreiungsaktion e<strong>in</strong>gesetzten US-Hubschrauber<br />

stürzten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Sandsturm über <strong>der</strong> iranischen Wüste ab.<br />

Als Reaktion <strong>auf</strong> die islamische Revolution <strong>in</strong> Teheran verhängten die USA<br />

umfassende Wirtschaftssanktionen gegen Iran. <strong>Die</strong>se trafen das Land, für das die<br />

USA während <strong>der</strong> Schah-Diktatur <strong>der</strong> wichtigste Handels- und Technologiepartner<br />

waren, sehr hart.<br />

E<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>s e<strong>in</strong>schneidendes Ereignis, das bis heute erhebliche<br />

Nachwirkungen hat <strong>in</strong> <strong>der</strong> iranischen Gesellschaft und für die Politik des Landes,<br />

war <strong>der</strong> Golfkrieg mit Irak von 1980 bis 1988. In diesem Krieg war Irak unter Saddam<br />

Husse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Aggressor. Unter an<strong>der</strong>em für diesen Krieg wurde Irak von<br />

(West-)Deutschland, den USA, Großbritannien und Frankreich <strong>auf</strong>gerüstet mit<br />

konventionellen Waffen sowie mit den Grundsubstanzen, dem Know-how und<br />

den Produktionsanlagen zur Herstellung atomarer, chemischer und biologischer<br />

Massenvernichtungswaffen. <strong>Die</strong> Sowjetunion lieferte Bagdad die Scud-Raketen,<br />

die Saddam Husse<strong>in</strong> dann im zweiten Golfkrieg vom Frühjahr 1991 gegen Israel<br />

abschoss.<br />

<strong>Die</strong> künstliche schwimmende Insel „Hercules“, die die USA im Iran-Irak-Krieg 1987 bis 1989<br />

zum bewaffneten Schutz <strong>der</strong> Öltransporte im nördlichen Persischen Golf stationierten<br />

DIE SOWJETUNION<br />

LIEFERTE SADDAM HUSSEIN<br />

DIE SCUD-RAKETEN<br />

GEGEN ISRAEL<br />

29


TEHERAN LIEFERTE<br />

PERSONEN AN DIE USA AUS,<br />

DIE AUF DER US-LISTE<br />

DERTERRORISTEN STANDEN<br />

30<br />

Im Krieg gegen Iran setzte Irak 63-mal Chemiewaffen e<strong>in</strong> – nicht nur gegen iranische<br />

Soldaten, son<strong>der</strong>n auch gegen Zivilisten und mit verheerenden Folgen.<br />

<strong>Die</strong> iranische Führung appellierte acht Jahre lang immer wie<strong>der</strong> an den UN-<br />

Sicherheitsrat, e<strong>in</strong>zugreifen und die irakische Aggression sowie den völkerrechtswidrigen<br />

E<strong>in</strong>satz von Chemiewaffen zu beenden. Vergeblich. Denn nicht nur die<br />

drei westlichen Vetomächte USA, Großbritannien und Frankreich, auch die<br />

Sowjetunion unterstützte se<strong>in</strong>erzeit den Krieg Iraks gegen die islamischen Teufel<br />

<strong>in</strong> Teheran. Moskau fürchtete damals e<strong>in</strong> Überschwappen des islamischen E<strong>in</strong>flusses<br />

aus dem Iran <strong>in</strong> die zentralasiatischen Republiken <strong>der</strong> damaligen Sowjetunion<br />

an <strong>der</strong> Nordostgrenze Irans.<br />

Vor diesem H<strong>in</strong>tergrund ist es vielleicht verständlich, dass sich <strong>in</strong> den<br />

politischen und militärischen Eliten Irans ke<strong>in</strong> großes Vertrauen entwickelt hat<br />

zur UNO o<strong>der</strong> zu multilateralen Rüstungskontrollverträgen. Stattdessen wurde<br />

die zunächst sehr kle<strong>in</strong>e Fraktion <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> iranischen Politik gestärkt, die<br />

den e<strong>in</strong>zig verlässlichen Schutz gegen e<strong>in</strong>en Angriff von außen <strong>in</strong> eigenen Atomwaffen<br />

sieht. <strong>Die</strong>se Fraktion existierte bereits <strong>in</strong> den 50er Jahren zu Zeiten <strong>der</strong><br />

Schah-Diktatur und wurde damals von Wash<strong>in</strong>gton und Paris unterstützt.<br />

<strong>Die</strong> Fraktion <strong>der</strong> Atomwaffenbefürworter <strong>in</strong> Teheran und <strong>der</strong> Hardl<strong>in</strong>er auch <strong>in</strong><br />

an<strong>der</strong>en politischen Fragen wurde weiter erheblich gestärkt durch die im Wesentlichen<br />

von den USA bestimmte Konfrontationspolitik des Westens gegenüber<br />

Iran seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Dabei gab es zum<strong>in</strong>dest<br />

im ersten Jahr nach diesen Terroranschlägen zwar nicht offiziell, aber h<strong>in</strong>ter den<br />

Kulissen e<strong>in</strong>e enge Zusammenarbeit zwischen Wash<strong>in</strong>gton und Teheran bei <strong>der</strong><br />

Bekämpfung des Terrorismus. Während des von USA Anfang Oktober 2001<br />

begonnenen Krieges gegen Mitglie<strong>der</strong> des Al-Kaida-Netzwerks <strong>in</strong> Afghanistan<br />

sowie gegen die Taliban-Regierung <strong>in</strong> Kabul hielt Iran den US-Streitkräften <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

iranisch-afghanisch-pakistanischen Grenzregion den Rücken frei. Und Teheran<br />

lieferte zahlreiche Personen an die USA aus, die Wash<strong>in</strong>gton <strong>auf</strong> die Liste mutmaßlicher<br />

Terroristen gesetzt hatte.<br />

Trotz dieser Unterstützung durch Teheran erklärte US-Präsident George Bush<br />

im Januar 2002 Iran geme<strong>in</strong>sam mit Irak und Nordkorea zur „Achse des Bösen“<br />

<strong>in</strong> dieser Welt. Im September 2002 veröffentlichte die Bush-Adm<strong>in</strong>istration ihre<br />

neue nationale Sicherheitsstrategie. Dar<strong>in</strong> reklamierten die USA das Recht <strong>auf</strong><br />

präventives militärisches Vorgehen gegen Staaten, die von Wash<strong>in</strong>gton <strong>der</strong> Unterstützung<br />

des Terrorismus und/o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Entwicklung von Massenvernichtungswaffen<br />

verdächtigt werden. In Ausführungsdokumenten des Pentagon zu dieser<br />

Scud-Rakete <strong>auf</strong> Lastwagen (Afghanistan, 2004)<br />

www.ddrafg.com


www.iranwatch.org<br />

Urananreicherungsanlage Natanz, Iran<br />

neuen Strategie werden Iran und an<strong>der</strong>e Staaten namentlich genannt als potenzielles<br />

Ziel präventiver Militärschläge <strong>der</strong> USA.<br />

In den letzten fünf Jahren seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001<br />

haben die USA gegen Afghanistan und Irak – zwei <strong>der</strong> acht unmittelbaren Nachbarstaaten<br />

Irans – Krieg geführt und die dortigen Regierungen gestürzt. Den Irak<br />

halten die USA weiterh<strong>in</strong> militärisch besetzt, <strong>in</strong> Afghanistan führen sie weiterh<strong>in</strong><br />

Krieg und <strong>in</strong> vier weiteren Nachbarlän<strong>der</strong>n Irans bef<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong>zwischen ebenfalls<br />

US-amerikanische Streitkräfte <strong>auf</strong> mehr o<strong>der</strong> weniger dauerhaften Militärbasen.<br />

Dass <strong>in</strong>folge dieser Entwicklung <strong>in</strong> Teheran die Wahrnehmung e<strong>in</strong>er<br />

militärischen Bedrohung und e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>kreisung durch US-Streitkräfte entstanden<br />

ist, kann nicht verwun<strong>der</strong>n. Daher wären die von Teheran verlangten, von <strong>der</strong><br />

Regierung Bush bislang aber verweigerten Nichtangriffsgarantien e<strong>in</strong> wichtiger<br />

Schritt zum Abbau <strong>der</strong> iranischen Bedrohungswahrnehmungen und damit zur<br />

Deeskalation des Konflikts. E<strong>in</strong>mal entstandene Bedrohungswahrnehmungen<br />

s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> politischer Faktor – und zwar unabhängig davon, ob die als Bedrohung<br />

wahrgenommene Seite nur über die militärischen Potenziale für e<strong>in</strong>en Angriff<br />

verfügt o<strong>der</strong> tatsächlich die Absicht zu e<strong>in</strong>em solchen Angriff hat. Das gilt auch<br />

mit Blick <strong>auf</strong> das israelische Atomwaffenarsenal mit <strong>in</strong>zwischen rund 300 e<strong>in</strong>setzbaren<br />

Sprengköpfen. <strong>Die</strong>ses Arsenal wird nicht nur <strong>in</strong> Teheran, son<strong>der</strong>n auch <strong>in</strong><br />

an<strong>der</strong>en Hauptstädten <strong>der</strong> Region Naher und Mittlerer Osten als Problem und<br />

Bedrohung wahrgenommen.<br />

EIN AUSWEGLOSER KONFLIKT? <strong>Die</strong> Deeskalation des Iran-Konflikts und se<strong>in</strong>e<br />

politische Lösung s<strong>in</strong>d durchaus möglich. Allerd<strong>in</strong>gs nicht isoliert, son<strong>der</strong>n nur<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em größeren geografischen und politischen Kontext.<br />

<strong>Die</strong> International Crisis Group hat im Frühjahr 2006 e<strong>in</strong>en ausführlichen und<br />

detaillierten Vorschlag unterbreitet zur Deeskalation des Streits um das iranische<br />

Atomprogramm und darüber h<strong>in</strong>aus zur schrittweisen Lösung aller Konflikte, die<br />

zwischen Iran und den USA bzw. dem gesamten Westen existieren – bis h<strong>in</strong> zur<br />

völligen Normalisierung <strong>der</strong> politischen, diplomatischen und wirtschaftlichen<br />

Beziehungen. <strong>Die</strong> im Zusammenhang mit Iran relevanten sicherheitspolitischen<br />

Probleme werden sich nur dauerhaft lösen lassen im Rahmen e<strong>in</strong>er Konferenz für<br />

Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen/Mittleren Osten. Teilnehmer dieser<br />

Konferenz müssten zum<strong>in</strong>dest die arabischen Staaten, Iran und Israel se<strong>in</strong>, möglicherweise<br />

auch Pakistan und Afghanistan. Erstes Ziel wäre die Schaffung e<strong>in</strong>er<br />

Zone frei von atomaren, chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen.<br />

E<strong>in</strong>e <strong>der</strong>artige Konferenz unter Teilnahme Israels wird es allerd<strong>in</strong>gs nur<br />

geben, wenn sich die USA und die EU aktiv dafür e<strong>in</strong>setzen.<br />

DIE DEESKALATION<br />

DES KONFLIKTS<br />

IST IN EINEM GRÖSSEREN<br />

POLITISCHEN RAHMEN<br />

MÖGLICH<br />

31


32<br />

Im Norden Englands reift die Keimzelle<br />

für die Zukunft <strong>der</strong> öffentlichen Verwaltung. Seit<br />

Juli 2005 lässt dort <strong>der</strong> Bezirk East Rid<strong>in</strong>g <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Grafschaft Yorkshire Aufgaben se<strong>in</strong>er Verwaltung<br />

von e<strong>in</strong>em privaten <strong>Die</strong>nstleister erledigen. Mitarbeiter<br />

des Arvato-Konzerns zahlen dort im Auftrag<br />

des Bezirks Wohngeld aus, nehmen Steuern e<strong>in</strong><br />

und betreuen die Bürgerbüros. <strong>Die</strong> Kooperation<br />

<strong>der</strong> öffentlichen Hand mit dem kommerziellen<br />

Unternehmen soll beiden Seiten nützen: East<br />

Rid<strong>in</strong>g verspricht sich e<strong>in</strong>en besseren Service für<br />

se<strong>in</strong>e 320 000 Bürger, während Arvato wichtige<br />

Erfahrungen für e<strong>in</strong>en weltweiten Milliardenmarkt<br />

sammelt: die Privatisierung staatlicher<br />

<strong>Die</strong>nstleistungen.<br />

Arvato ist nicht irgendwer: Das Unternehmen ist<br />

e<strong>in</strong>e Tochter von Europas größtem Medienkonzern,<br />

Bertelsmann. Ke<strong>in</strong>e Frage: <strong>Die</strong> Kooperation<br />

<strong>in</strong> Yorkshire dient Arvato als Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gslager, um<br />

se<strong>in</strong>e <strong>Die</strong>nste auch <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n anzubieten.<br />

„East Rid<strong>in</strong>g ist unser Versuchslabor auch für<br />

Deutschland“, sagt Arvato-Vorstandsmitglied<br />

Rolf Buch, <strong>der</strong> für e<strong>in</strong>en großen Teil des <strong>Die</strong>nstleistungsgeschäfts<br />

verantwortlich ist.<br />

Public-Private Partnerships (PPPs), die E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung<br />

privaten Kapitals und Fachwissens <strong>in</strong> die<br />

Erfüllung staatlicher Aufgaben, ist <strong>in</strong> England stärker<br />

verbreitet als <strong>in</strong> Deutschland. Nach Angaben<br />

<strong>der</strong> Europäischen Investitionsbank werden <strong>in</strong> England<br />

bereits 15 bis 25 Prozent <strong>der</strong> Investitionen <strong>der</strong><br />

öffentlichen Hand für öffentlich-private Kooperation<br />

ausgegeben, während es hierzulande gerade<br />

e<strong>in</strong>mal vier Prozent s<strong>in</strong>d. Schon seit <strong>der</strong> Amtszeit<br />

von Margaret Thatcher werden <strong>in</strong> Großbritannien<br />

Straßen, Krankenhäuser, Gefängnisse, Altenheime,<br />

Brücken und Sozialwohnungen geme<strong>in</strong>sam<br />

mit <strong>der</strong> Privatwirtschaft gebaut und unterhalten –<br />

getrieben vom Glauben, gew<strong>in</strong>norientierte Unternehmen<br />

könnten die Leistungen besser und billiger<br />

als <strong>der</strong> Staat erbr<strong>in</strong>gen.<br />

In Deutschland propagierte die rot-grüne Regierung<br />

erst vor etwa drei Jahren massiv die Kooperation<br />

mit dem privaten Sektor, verbunden mit <strong>der</strong><br />

Public-Private Partnership<br />

Mit wem <strong>der</strong> Staat<br />

im Bett liegt<br />

Immer stärker wird die Privatwirtschaft <strong>in</strong> die F<strong>in</strong>anzierung und Umsetzung öffentlicher Aufgaben e<strong>in</strong>gebunden. Drohende<br />

Risiken werden gerne kle<strong>in</strong>geredet. Dabei zeigen die bisherigen Erfahrungen, dass durch Public-Private Partnerships (PPPs)<br />

öffentliches Eigentum oft an Kapitaleigner verschleu<strong>der</strong>t und die Gesellschaft nach neoliberalen Maximen deformiert wird.<br />

Von Tarik Ahmia<br />

Hoffnung, trotz <strong>der</strong> Verschuldung <strong>der</strong> öffentlichen<br />

Haushalte f<strong>in</strong>anzpolitisch handlungsfähig zu bleiben.<br />

Der E<strong>in</strong>stieg <strong>in</strong> die bislang größte deutsche PPP<br />

misslang jedoch gründlich. Das Autobahnmautsystem<br />

Toll Collect endete vor Gericht: Weil das<br />

System zunächst nicht funktionierte, for<strong>der</strong>t die<br />

Bundesregierung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Klage von den drei<br />

Betreibern DaimlerChrysler, Telekom und Cofi-<br />

Route bis heute e<strong>in</strong>e Entschädigung von 5,1 Milliarden<br />

Euro. Der Ausgang des Verfahrens ist ungewiss.<br />

Nicht e<strong>in</strong>mal die Rechnungshöfe o<strong>der</strong> Bundestagsabgeordnete<br />

bekommen E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> den<br />

17 000 Seiten umfassenden Toll-Collect-Vertrag.<br />

Das Bundesverkehrsm<strong>in</strong>isterium stuft ihn als<br />

„Geheim“ e<strong>in</strong>. Trotz des ernüchternden Starts werden<br />

<strong>in</strong> Deutschland (negative) Erfahrungen an<strong>der</strong>er<br />

Län<strong>der</strong> nur nach und nach zur Kenntnis<br />

genommen.<br />

<strong>Die</strong> verschiedenen Spielarten <strong>der</strong> PPPs<br />

bieten ganz unterschiedliche Risiken und Chancen<br />

für die öffentliche Hand. Vorherrschend werden <strong>in</strong><br />

Deutschland Kooperationen vor allem <strong>in</strong> Beton<br />

gegossen: <strong>in</strong> Form von Straßen, Brücken, Gefängnissen,<br />

Krankenhäusern und an<strong>der</strong>en öffentlichen<br />

Gebäuden.<br />

<strong>Die</strong>se Form <strong>der</strong> „Partnerschaft“ sorgt jedoch für<br />

heftige Kritik, denn sie bildet den <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

von Kommunen gern genutzten Schleichweg,<br />

große Investitionen an den aktuellen Haushaltsplänen<br />

vorbeizuschmuggeln. Das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> verdeckten<br />

Kredit<strong>auf</strong>nahme ist dabei stets das gleiche:<br />

Der Investor übernimmt die Bau- und Unterhaltskosten,<br />

die Kommune verpflichtet sich, das Bauwerk<br />

20 o<strong>der</strong> 30 Jahre lang zu mieten. Nicht selten<br />

betragen die Mietkosten das Doppelte des<br />

ursprünglich e<strong>in</strong>gesetzten Kapitals. E<strong>in</strong> sicheres<br />

Geschäft für jeden Investor. <strong>Die</strong> Bundes- und<br />

Landesrechnungshöfe warnten deshalb erst vor<br />

kurzem, PPPs seien ke<strong>in</strong>e neue Geldquelle: „Langfristig<br />

können sie gefährlich se<strong>in</strong>, weil die F<strong>in</strong>anzie-


ungslast <strong>in</strong> die Zukunft verschoben wird“, heißt es<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen Erklärung <strong>der</strong> Rechnungshöfe.<br />

<strong>Die</strong>se Formen <strong>der</strong> Kooperation s<strong>in</strong>d für den Staat<br />

meist teurer als steuerf<strong>in</strong>anzierte Investitionen,<br />

denn Privatunternehmen f<strong>in</strong>anzieren m<strong>in</strong>destens<br />

80 Prozent <strong>der</strong> Investitionen für PPP mit Hilfe von<br />

Krediten. Doch für Privatfirmen s<strong>in</strong>d Kredite im<br />

Schnitt etwa zwei Prozent teurer als für die öffentliche<br />

Hand. <strong>Die</strong> F<strong>in</strong>anzierung aus Steuermitteln<br />

wäre also eigentlich immer am billigsten. H<strong>in</strong>zu<br />

kommen PPP-spezifische Kosten für Managergehälter<br />

und Beratungsgebühren. Doch trotz <strong>der</strong><br />

immanenten Preistreiberei rechtfertigt <strong>der</strong> Verweis<br />

<strong>auf</strong> leere öffentliche Kassen auch noch so fehlkalkulierte<br />

Kooperationen mit <strong>der</strong> Privatwirtschaft.<br />

So geschehen <strong>in</strong> Frankfurt am Ma<strong>in</strong>, als im Jahr<br />

2005 dort das Bildungszentrum Ostend als PPP<br />

gebaut wurde. Hier g<strong>in</strong>g für die Kommune so<br />

ziemlich alles schief, was schiefgehen konnte. Das<br />

Revisionsamt <strong>der</strong> Stadt bilanzierte am Ende nüchtern,<br />

<strong>der</strong> Gebäudekomplex mit Abendgymnasium,<br />

Volkshochschule und Konservatorium werde die<br />

Stadt im L<strong>auf</strong> des 20-jährigen Leas<strong>in</strong>gvertrages<br />

sehr viel mehr kosten als e<strong>in</strong> Eigenbau <strong>der</strong> Stadt.<br />

Letztlich werde Frankfurt für den 54-Millionen-<br />

Euro-Bau 104 Millionen Euro Miete bezahlen,<br />

auch deshalb, weil <strong>der</strong> private Investor Südleas<strong>in</strong>g<br />

GmbH die Baukosten zu Lasten <strong>der</strong> Stadt gedrückt<br />

hatte: E<strong>in</strong>e billige Wärmedämmung treibt die<br />

Heizkosten <strong>in</strong> die Höhe – die Stadt muss dafür blechen,<br />

denn sie alle<strong>in</strong> ist für die Betriebskosten<br />

zuständig.<br />

Honorare für Anwälte, Projektentwickler und<br />

Kreditvermittler trieben die Investitionskosten<br />

weiter nach oben. Wo da die versprochenen „25<br />

Prozent E<strong>in</strong>sparungen gegenüber e<strong>in</strong>er konventionellen<br />

Beschaffung“ übrig bleiben sollen, brachte<br />

die Kämmerer <strong>in</strong> Erklärungsnot. „<strong>Die</strong> Rechnung<br />

ist nicht nachvollziehbar“, stellt SPD-Fraktionschef<br />

Klaus Oesterl<strong>in</strong>g im Frankfurter Rat fest.<br />

Mit e<strong>in</strong>em Kostenvorteil von m<strong>in</strong>destens 15 Prozent<br />

argumentiert <strong>der</strong> hessische Landkreis Offenbach,<br />

<strong>der</strong> das bundesweit größte PPP-Projekt für<br />

öffentliche Schulen betreibt (u.a. <strong>in</strong> Haßloch). Seit<br />

Ende 2004 sanieren und bewirtschaften die Hoch-<br />

Tief AG und <strong>der</strong> Gebäudemanagementfirma SKE<br />

dort 90 Schulen. „17 Schulen wurden bislang saniert,<br />

zeitlich liegen wir voll im Plan“, so e<strong>in</strong>e Sprecher<strong>in</strong><br />

des Kreises Offenbach zum Zwischenstand.<br />

Über e<strong>in</strong>en Zeitraum von 15 Jahren erhalten die<br />

Unternehmen dafür 780 Millionen Euro. Weitere<br />

30 Millionen Euro Beraterhonorar kostete <strong>der</strong><br />

4000-seitige geheime Vertrag. „In Eigenregie hätte<br />

uns das 960 Millionen Euro gekostet“, sagt die<br />

Sprecher<strong>in</strong> des Kreises Offenbach. Unabhängig<br />

überprüfen lässt sich diese Zahl jedoch kaum.<br />

E<strong>in</strong>sparmöglichkeiten können sich durchaus ergeben:<br />

beim Personal. Hausmeister und Re<strong>in</strong>igungskräfte<br />

werden von den privaten Firmen gestellt und<br />

unterliegen nicht mehr dem Tarifvertrag des<br />

öffentlichen <strong>Die</strong>nstes. „Unsere PPP ist gelebter<br />

ontario.cupe.ca<br />

Thatcherismus“, me<strong>in</strong>t Monheims Bürgermeister<br />

Thomas Dünchheim nicht ohne Stolz.<br />

<strong>Die</strong> Verlockungen von PPP-Projekten für haushaltsgeplagte<br />

Politiker s<strong>in</strong>d ähnlich offensichtlich<br />

wie die damit verbundenen langfristigen Risiken<br />

für die öffentliche Hand.<br />

Etwas an<strong>der</strong>s sieht die Sache bei <strong>der</strong> Übernahme<br />

öffentlicher Verwaltungstätigkeiten durch Privatunternehmen<br />

aus. Denn dieses Geschäft ist für den<br />

Investor im Vergleich mühseliger und mit Risiko<br />

behaftet. Gew<strong>in</strong>ne s<strong>in</strong>d dem privaten <strong>Die</strong>nstleister<br />

nicht garantiert. Nur wenn es ihm gel<strong>in</strong>gt (wie im<br />

Beispiel East Rid<strong>in</strong>g), durch verbesserte Arbeitsabläufe<br />

und Organisationsstruktur die Kosten zu<br />

senken, kann er e<strong>in</strong>en Gew<strong>in</strong>n erwirtschaften.<br />

Dem öffentlichen Haushalt entstehen dieselben<br />

Kosten, die er ohneh<strong>in</strong> für se<strong>in</strong>e Verwaltung ausgegeben<br />

hätte.<br />

„Wir s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage, Arbeitsprozesse effektiver<br />

zu steuern und die besten Prozesse e<strong>in</strong>setzen zu<br />

können, die wir auch bei an<strong>der</strong>en Kunden verwenden“,<br />

sagt Christoph Baron, <strong>der</strong> bei Arvato für das<br />

Geschäftsfeld Öffentliche <strong>Die</strong>nstleistungen <strong>in</strong><br />

Deutschland zuständig ist. Etwa 500 städtische<br />

Angestellte East Rid<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d für das Projekt zu<br />

Arvato gewechselt. „Sie s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Form<br />

schlechter gestellt als die Council-Mitarbeiter“,<br />

versichert Baron. Sollte das Projekt nach acht Jahren<br />

nicht verlängert werden, könnten sie wie<strong>der</strong> <strong>in</strong><br />

ihren bisherigen Job zurückkehren. <strong>Die</strong> ehemals<br />

Protest gegen die Privatisierung e<strong>in</strong>es Krankenhauses<br />

Hamilton, Ontario (Kanada), 1. Mai 2006<br />

öffentlich Bediensteten direkt zu beschäftigen<br />

erlaubt es dem Konzern, Arbeitsabläufe nach se<strong>in</strong>en<br />

Vorstellungen zu verän<strong>der</strong>n und die Mitarbeiter<br />

dort e<strong>in</strong>zusetzen, wo sie benötigt werden.<br />

An<strong>der</strong>s als <strong>in</strong> Deutschland gibt es <strong>in</strong> East Rid<strong>in</strong>g<br />

nur wenig Sorge, durch die E<strong>in</strong>führung mo<strong>der</strong>ner<br />

Verwaltungspraktiken Jobs zu gefährden. „Arvato<br />

wollte mit uns zusammenarbeiten, weil unsere<br />

kommunalen <strong>Die</strong>nstleistungen bereits e<strong>in</strong>en sehr<br />

guten Ruf hatten“, sagt David Nolan, Vorsitzen<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> Liberalen Demokraten <strong>in</strong> East Rid<strong>in</strong>g. „Im landesweiten<br />

Behörden-Rank<strong>in</strong>g <strong>der</strong> britischen Zentralregierung<br />

belegt unsere Verwaltung e<strong>in</strong>en Platz<br />

im oberen Viertel“, sagt <strong>der</strong> Politiker. Nolan<br />

33


34<br />

gehörte im vergangenen Jahr zu den erklärten Kritikern<br />

des Projektes. „Das PPP mit Arvato ist nur<br />

e<strong>in</strong>e als Partnerschaft verkleidete Privatisierung“,<br />

sagt Nolan auch noch heute. Er glaubt, dass es für<br />

East Rid<strong>in</strong>g ke<strong>in</strong>en Unterschied mache, dass<br />

Arvato die Verwaltungsarbeiten übernommen<br />

habe. „Re<strong>in</strong> adm<strong>in</strong>istrative Aufgaben können sehr<br />

gut von Privatfirmen übernommen werden.“ Entscheidend<br />

sei jedoch, dass strategische Entscheidungen<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Kontrolle <strong>der</strong> öffentlichen Hand<br />

verblieben. „Dazu gehören zum Beispiel Planungsverfahren,<br />

Rechtsvorschriften, aber auch Strategien<br />

für IT-Konzepte“, so Nolan. <strong>Die</strong> Zusammenarbeit<br />

mit Arvato verl<strong>auf</strong>e auch nach e<strong>in</strong>em Jahr<br />

Erfahrung ohne größere Probleme.<br />

„Es geht nicht darum, <strong>auf</strong> Teufel komm raus<br />

Kosten e<strong>in</strong>zusparen, son<strong>der</strong>n vor allem die Leistung<br />

zu verbessern“, sagt Arvato-Manager Christoph<br />

Baron. Denn für den Bezirk East Rid<strong>in</strong>g<br />

bedeutet e<strong>in</strong>e gute Qualität se<strong>in</strong>er <strong>Die</strong>nstleistungen<br />

bares Geld. „Seit den 80er Jahren wird die örtliche<br />

Ebene <strong>in</strong> England durch Mittelzuweisungen<br />

<strong>der</strong> Zentralregierung für die Qualität ihrer Arbeit<br />

belohnt o<strong>der</strong> bestraft. Wer beson<strong>der</strong>s gut ist, bekommt<br />

mehr Geld.“<br />

In East Rid<strong>in</strong>g wird diese Leistung anhand von<br />

mehr als 100 Schlüssel<strong>in</strong>dikatoren ermittelt. Dazu<br />

gehört etwa, wie oft das Telefon kl<strong>in</strong>gelt, bis e<strong>in</strong><br />

Mitarbeiter den Anruf beantwortet.<br />

„In England gibt es e<strong>in</strong>en konkreten Anreiz für<br />

die Verwaltung, besser zu werden“, sagt Christoph<br />

Baron. <strong>Die</strong>se Form <strong>der</strong> Leistungsmessung <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Verwaltung gebe es <strong>in</strong> Deutschland nicht.<br />

<strong>Die</strong> öffentliche Verwaltung <strong>in</strong> Deutschland<br />

mit ihren etwa 4,8 Millionen Beschäftigten<br />

bietet reichlich Potenzial für Verbesserungen.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs hat sich die E<strong>in</strong>führung mo<strong>der</strong>ner Arbeitsprozesse<br />

immer wie<strong>der</strong> als hartnäckig schwieriges<br />

Unterfangen herausgestellt. Gründe dafür<br />

gibt es viele: <strong>Die</strong> kameralistisch orientierte Verwaltung<br />

ist vor allem <strong>auf</strong> Verlässlichkeit und Aufgabenerfüllung<br />

ausgelegt – mo<strong>der</strong>ne, effiziente und<br />

bürgerfreundliche Arbeitsabläufe genießen ke<strong>in</strong>e<br />

Priorität. Dazu steckt die öffentliche Verwaltung<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Dilemma, aus dem sie aus eigener Kraft<br />

kaum entkommen kann.<br />

L<strong>auf</strong>end erf<strong>in</strong>den Beamte neue Durchführungsvorschriften,<br />

Fachverfahren und Arbeitsgruppen –<br />

e<strong>in</strong> Teufelskreis für weniger Effizienz und mehr<br />

Adm<strong>in</strong>istration. Ihre eigentlichen Aufgaben können<br />

sie dabei leicht aus den Augen verlieren.<br />

„Langfristig beansprucht diese Art <strong>der</strong> Verwaltung<br />

immer mehr Personal. Gleichzeitig werden<br />

die Verfahren komplizierter und kundenunfreundlicher“,<br />

sagt <strong>der</strong> Unternehmensberater<br />

Bernhard Roland [Name von <strong>der</strong> Redaktion geän<strong>der</strong>t],<br />

<strong>der</strong> die öffentliche Hand bei <strong>der</strong> Kooperation<br />

mit <strong>der</strong> Privatwirtschaft und <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung<br />

von Verwaltungsverfahren berät. Seit zehn<br />

Jahren entwickelt Roland Verbesserungen für<br />

ArchivErnst-Reuter-Schule<br />

öffentliche Verwaltungsstrukturen. Er me<strong>in</strong>t:<br />

„<strong>Die</strong>se Organisationsform scheitert an sich selbst,<br />

wenn es darum geht, die effizientesten Verfahren<br />

für <strong>Die</strong>nstleistungen anzubieten.“<br />

In <strong>der</strong> Tat fällt es nicht schwer, fragwürdige Aufgaben<br />

und <strong>Die</strong>nste im deutschen Verwaltungswesen<br />

zu f<strong>in</strong>den. Beispiel Kriegsopferfürsorge: Bis<br />

heute s<strong>in</strong>d die Kommunen für die Zusatzrente<br />

zuständig, obwohl es seit etwa 30 Jahren kaum<br />

neue Antragsteller gibt. Für das komplexe Regelwerk<br />

halten die 323 Kommunen bis heute eigene<br />

Sachbearbeiter vor. Auch <strong>der</strong> Bund pflegt e<strong>in</strong>en<br />

fragwürdigen Umgang mit se<strong>in</strong>en Ressourcen: Bis<br />

heute s<strong>in</strong>d nicht weniger als 400 Bedienstete <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>e eigene Bundesbehörde abkommandiert, um<br />

sich dem Schicksal von verschollenen Wehrmachtsoldaten<br />

zu widmen.<br />

Auch die Bundesagentur für Arbeit ist e<strong>in</strong>e fragwürdige<br />

Job-Masch<strong>in</strong>e – vor allem für sich selbst:<br />

90 000 Menschen arbeiten dort. In Holland ist die<br />

Idee e<strong>in</strong>er solchen Behörde unbekannt. Der Vermittlungsmarkt<br />

ist privatisiert und die Arbeitslosenquote<br />

mit 6,6 Prozent deutlich niedriger als<br />

hierzulande.<br />

Unklar ist auch, wieso etwa das Bundesm<strong>in</strong>isterium<br />

für Wirtschaft mit eigenem Personal „late<strong>in</strong>amerikanische<br />

Genussmittel“ beobachtet. Offensichtlich<br />

ist die Beschaffung von Informationen<br />

über Zigarren und Kaffee von so staatstragendem<br />

Interesse, dass diese Aufgabe nur eigenen Bediensteten<br />

anvertraut werden kann. Das gleiche M<strong>in</strong>isterium<br />

gibt jedes Jahr Millionen für ökonomische<br />

Gutachten und Forschungs<strong>in</strong>stitute aus. Parallel<br />

dazu leistet sich die Behörde e<strong>in</strong>e eigene 60-köpfige<br />

Forschungsabteilung. Dabei ist es Verwaltungen<br />

gesetzlich verboten, selbst zu forschen. So soll<br />

verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t werden, dass Behörden den Forschungse<strong>in</strong>richtungen<br />

Konkurrenz machen. Doch<br />

die Regelung sche<strong>in</strong>t nicht nur im Wirtschaftsm<strong>in</strong>isterium,<br />

son<strong>der</strong>n auch beim Umweltbundesamt<br />

Haßloch, Ernst-Reuter-Schule: Abriss <strong>der</strong> alten Turnhalle<br />

o<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Physikalisch-Technischen Bundesanstalt<br />

<strong>auf</strong> taube Ohren zu stoßen: Sie alle beschäftigen<br />

nennenswerte Teile ihres Personals mit Forschungs<strong>auf</strong>gaben.<br />

<strong>Die</strong> Beispiele s<strong>in</strong>d symptomatisch für e<strong>in</strong>en <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Tat aus dem Ru<strong>der</strong> l<strong>auf</strong>enden öffentlichen Appa-


at, <strong>der</strong> sich immer weniger an den Bedürfnissen<br />

<strong>der</strong> realen Welt orientiert. Als Retter präsentiert die<br />

Politik die private Wirtschaft. Doch sie ist <strong>in</strong> diesem<br />

Spiel ke<strong>in</strong>eswegs <strong>der</strong> natürliche Gegner träger<br />

Bürokraten. „Ineffiziente Bürokratie und Unternehmen<br />

<strong>der</strong> Privatwirtschaft s<strong>in</strong>d vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

abhängig. Sie s<strong>in</strong>d zwei Seiten e<strong>in</strong> und <strong>der</strong>selben<br />

Medaille“, sagt Unternehmensberater Bernhard<br />

Roland. <strong>Die</strong> Privatwirtschaft profitiere eben von<br />

<strong>der</strong> Unfähigkeit <strong>der</strong> öffentlichen Verwaltung, ihre<br />

Arbeitsabläufe und Organisationsformen effizient<br />

zu gestalten. „Arvato hat überhaupt ke<strong>in</strong> Interesse<br />

am Gesundschrumpfen des öffentlichen Sektors.<br />

Arvato will nur die Aufgabendurchführung übernehmen“,<br />

sagt Roland. <strong>Die</strong> <strong>der</strong>zeitige Bilanz <strong>der</strong><br />

Kooperation mit privaten Unternehmen ist für ihn<br />

ernüchternd: „In Deutschland gibt es überwiegend<br />

nur gescheiterte Beispiele für PPP. Es ist hierzulande<br />

nichts an<strong>der</strong>es als e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Form von Lobbyismus.“<br />

<strong>Die</strong> politischen und ökonomischen<br />

Verflechtungen des sich so diskret wie überparteilich<br />

gebenden Arvato-Konzerns liefern e<strong>in</strong> an-<br />

Ernst-Reuter-Schule: die neue Turnhalle<br />

schauliches Beispiel, welche Rolle die Bertelsmann-Tochter<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Umsetzung e<strong>in</strong>es von<br />

neoliberalen Werten geprägten Gesamtkonzeptes<br />

spielt. <strong>Die</strong> Grundlage dafür schuf <strong>der</strong> Nachkriegs-<br />

Bertelsmann-Chef Re<strong>in</strong>hard Mohn. Se<strong>in</strong>e Weltanschauung<br />

verklärt die Steuerungsverfahren aus <strong>der</strong><br />

ArchivErnst-Reuter-Schule<br />

Betriebswirtschaftslehre zu e<strong>in</strong>em gesellschaftlichen<br />

Leitbild.<br />

Alle gesellschaftlichen Bereiche, von <strong>der</strong> Müllentsorgung<br />

bis zur Schulpolitik, sollen <strong>in</strong> Mohns Welt<br />

<strong>der</strong> gleichen Systematik von Profit-Centern, Budgetierung<br />

sowie Leistungsvergleichen unterworfen<br />

werden und müssen sich nach den Kernpunkten<br />

<strong>der</strong> Bertelsmann-Ideologie behaupten: Effizienz,<br />

gemessen am f<strong>in</strong>anziellen Erfolg sowie am Wettbewerb,<br />

nach <strong>der</strong> Mohn-Devise: „So wenig Staat wie<br />

möglich.“<br />

Arvato nimmt <strong>in</strong> dieser Mission die Rolle des ausführenden<br />

Organs e<strong>in</strong>. <strong>Die</strong> Service-Tochter ist das<br />

ökonomische Herz des Medienkonzerns. 45 700<br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong>sgesamt 88 000 Bertelsmänner arbeiten bei<br />

Arvato. Während Bertelsmann über se<strong>in</strong>e Fernseh-<br />

Tochter RTL das Volk vergnügt, mit über 100 Verlagen<br />

<strong>in</strong> 16 Län<strong>der</strong>n – darunter Gruner&Jahr und<br />

Random House – die Welt mit Gedrucktem versorgt,<br />

ist Arvato <strong>der</strong> mächtige, stille <strong>Die</strong>nstleister<br />

im H<strong>in</strong>tergrund.<br />

Arvato macht mehr Umsatz als Axel Spr<strong>in</strong>ger und<br />

ist für sich genommen nach RTL das zweitgrößte<br />

Medienunternehmen <strong>in</strong> Deutschland. Doch <strong>der</strong><br />

diskrete Medien- und Market<strong>in</strong>gdienstleister zeigt<br />

sich selten den Endkunden und arbeitet vor allem<br />

für an<strong>der</strong>e Unternehmen. Jedes zweite DAX-<br />

Unternehmen nutzt die <strong>Die</strong>nste des Konzerns, <strong>der</strong><br />

2005 mit 270 Tochterfirmen 4,4 Milliarden Euro<br />

Umsatz machte.<br />

Arvato macht nahezu alles, was we<strong>der</strong> Lärm noch<br />

Dreck macht und solide Renditen verspricht. Der<br />

<strong>Die</strong>nstleister entwickelt Internet-Produkte <strong>der</strong><br />

Zukunft, repariert und verschickt e<strong>in</strong>en Großteil<br />

<strong>der</strong> Handys <strong>in</strong> Deutschland, betreibt Kundenb<strong>in</strong>dungsprogramme<br />

für an<strong>der</strong>e Konzerne und druckt<br />

unter an<strong>der</strong>em Zeitschriften wie Vogue o<strong>der</strong> National<br />

Geographic. Arvato ist auch e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> größten<br />

Adressenhändler Deutschlands und Betreiber von<br />

Call-Centern. Mit e<strong>in</strong>em durchschnittlichen jährlichen<br />

Wachstum von knapp zehn Prozent sucht<br />

<strong>der</strong> Konzern ständig nach neuen Geschäftsfel<strong>der</strong>n.<br />

Öffentliche <strong>Die</strong>nstleistungen gehören seit e<strong>in</strong>em<br />

Jahr <strong>in</strong> das Portfolio des umtriebigen Outsourc<strong>in</strong>g-<br />

Spezialisten.<br />

<strong>Die</strong> ideologische Vorarbeit dafür wird von <strong>der</strong><br />

konzerneigenen Bertelsmann Stiftung geleistet.<br />

Als Lobbygruppe mit gesellschaftspolitischen Zielen<br />

gehört die Stiftung zu den zentralen Ideenlieferanten<br />

<strong>der</strong> Politik. Sie hat den rot-grünen Kurs h<strong>in</strong><br />

zu weniger Staat und mehr Eigenverantwortung<br />

mit Konzepten, Studien und Konferenzen maßgeblich<br />

unterfüttert. <strong>Die</strong> Hartz-Reformen, Studiengebühren<br />

o<strong>der</strong> die Riester-Rente s<strong>in</strong>d nicht<br />

zuletzt durch den E<strong>in</strong>fluss <strong>der</strong> Denkfabrik aus<br />

Gütersloh Realität geworden. „Bertelsmann versteht<br />

es perfekt, den Staat zu nutzen“, sagt Unternehmensberater<br />

Bernhard Roland.<br />

Für diese Arbeit lässt sich Deutschlands größte<br />

und reichste Unternehmensstiftung vom Steuerzahler<br />

bezahlen: Weil Re<strong>in</strong>hard Mohn <strong>der</strong> Stiftung<br />

76 Prozent von Bertelsmann überschrieben hat,<br />

35


konnte <strong>der</strong> Konzern gut zwei Milliarden Euro Erbschafts-<br />

und Schenkungssteuer sparen. Daraus<br />

speist sich <strong>der</strong> Haushalt <strong>der</strong> Stiftung. Mit <strong>der</strong>zeit<br />

65 Millionen Euro jährlich werden die 300 Mitarbeiter<br />

bezahlt, die etwa 100 Projekte betreuen. Sie<br />

bereiten mit ihren Studien ganz eigenständig den<br />

Boden für Arvatos zukünftige Geschäftsfel<strong>der</strong>. „In<br />

Deutschland gibt es e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>sparpotenzial von 80<br />

Milliarden Euro bei den Bürokratiekosten“, verspricht<br />

etwa Tobias Ernst, Projektmanager bei <strong>der</strong><br />

Bertelsmann Stiftung, Politikern mit verzweifelter<br />

Haushaltslage.<br />

Es ist ke<strong>in</strong> Zufall, dass Arvato <strong>in</strong> dem<br />

beson<strong>der</strong>s privatisierungsfreundlichen Großbritannien<br />

se<strong>in</strong>e ersten Testballons für Verwaltungsdienstleistungen<br />

fliegen lässt. Immerh<strong>in</strong> war es das<br />

Thatcher-England, das sich beson<strong>der</strong>s entschlossen<br />

dem seit Mitte <strong>der</strong> 80er Jahre von WTO, IWF<br />

und OECD propagierten Leitbild <strong>der</strong> „Good<br />

Governance“ verpflichtet fühlt. Das Konzept orientiert<br />

sich im Wesentlichen an dem neoliberalen<br />

Grundsatz, alle Lebensbereiche den Marktzwängen<br />

zu unterwerfen. Noch rigi<strong>der</strong> als im katholisch<br />

geprägten Weltbild Re<strong>in</strong>hard Mohns s<strong>in</strong>d die strategischen<br />

Ziele von Good Governance Gew<strong>in</strong>nmaximierung,<br />

ungeh<strong>in</strong><strong>der</strong>te ökonomische Expansion<br />

und verstärkte Kapitalisierung weiter gesellschaftlicher<br />

Bereiche. Politik und Wirtschaft<br />

drohen hier gleichgeschaltet zu werden. <strong>Die</strong> Pr<strong>in</strong>zipien<br />

zur Erreichung dieser Ziele heißen Privatisierung,<br />

Liberalisierung, Deregulierung und Kommerzialisierung.<br />

Konsequent werden <strong>auf</strong> diese Art<br />

vorhandene öffentliche Unternehmen und Güter<br />

ausgezehrt.<br />

E<strong>in</strong> erstes sichtbares Signal für die Umsetzung des<br />

Vorhabens wurde <strong>in</strong> England mit <strong>der</strong> Privatisierung<br />

<strong>der</strong> britischen Bahn gesetzt. Es folgte <strong>der</strong> Verk<strong>auf</strong><br />

vieler europäischer Energie- und Wasserversorger<br />

sowie Post- und Telekommunikationsunternehmen.<br />

Der Verk<strong>auf</strong> <strong>der</strong> öffentlichen Infrastruktur war<br />

gleichzeitig die Antwort <strong>der</strong> Neoliberalen <strong>auf</strong> die<br />

Krise <strong>der</strong> öffentlichen Haushalte. Dabei haben<br />

gerade die vorausgegangenen neoliberalen Politikentscheidungen<br />

gezielt diese Krise herbeigeführt,<br />

denn immer neue Steuersenkungen haben <strong>der</strong><br />

Steuerbasis ebenso geschadet wie dogmatisch vollzogene<br />

Sparmaßnahmen <strong>der</strong> Beschäftigung und<br />

<strong>der</strong> Konjunktur.<br />

Das Ziel dieser neoliberalen Strategie ist es, den<br />

Staat systematisch <strong>in</strong> die politische Handlungsunfähigkeit<br />

zu führen, <strong>in</strong>dem man ihn f<strong>in</strong>anziell austrocknet.<br />

Ohne F<strong>in</strong>anzkraft verliert <strong>der</strong> Staat se<strong>in</strong>e<br />

politische Handlungsfähigkeit. Das ist – aus neoliberaler<br />

Sicht – bemerkenswert gut gelungen: In<br />

Deutschland hat man es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zeitraum von<br />

nicht e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>er Generation geschafft, die<br />

öffentlichen Haushalte <strong>in</strong> die Krise zu lenken.<br />

Sie wird entsprechend <strong>der</strong> neoliberalen Logik<br />

nun als perfekter Sachzwang <strong>in</strong>strumentalisiert,<br />

37


38<br />

um dem ehemals starken Staat den nächsten Schlag<br />

zu versetzen: die Konvertierung öffentlichen Eigentums<br />

<strong>in</strong> den privaten Besitz. Sie eröffnet den<br />

Kapitaleignern und privatwirtschaftlichen Unternehmen<br />

gleichzeitig neue Anlage- und Investitionsmöglichkeiten<br />

– und realisiert die angestrebte<br />

Umverteilung von unten nach oben. Je länger dieser<br />

Prozess andauert, desto stärker werden die<br />

Gesellschaftsmodelle des Wohlfahrtsstaates, aber<br />

auch die Grundlagen demokratischer Zivilgesellschaften<br />

untergraben. Auch die <strong>in</strong> Deutschland<br />

grundgesetzlich garantierte „Gleichheit <strong>der</strong> Lebensverhältnisse“<br />

wird durch die Neuausrichtung<br />

öffentlicher Angebote durch PPP e<strong>in</strong>mal mehr <strong>in</strong><br />

Frage gestellt.<br />

Dass durch die neoliberalen Wirtschaftsrezepte<br />

ganze gesellschaftliche Bereiche <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Strecke<br />

bleiben, ficht die Marktideologen nicht an. Im<br />

Gegenteil, denn ihre Mission ist es, e<strong>in</strong>e Rechtfertigungsideologie<br />

dafür zu liefern, dass sich die ökonomisch<br />

Starken <strong>auf</strong> Kosten <strong>der</strong> Schwachen bereichern<br />

und sich die Gesellschaft entsprechend<br />

formiert. So hat etwa <strong>der</strong> Wettbewerb unter Englands<br />

Schulen zu e<strong>in</strong>er sozialen Segregation geführt,<br />

die sich <strong>in</strong> Gew<strong>in</strong>ner- und Verliererschulen<br />

<strong>auf</strong>teilt: <strong>Die</strong> Begriffe „Star-Schulen“ und „Ausguss-Schulen“<br />

haben sich für solche Schulen etabliert.<br />

Zu allem Übel bezahlen die englischen Steuerzahler<br />

für e<strong>in</strong> schlechteres System mehr Geld als<br />

früher. Der britische Bildungsforscher Richard<br />

Hatcher hat ermittelt, dass über e<strong>in</strong>en Zeitraum<br />

von 30 Jahren schulische PPP-<strong>Die</strong>nstleistungen<br />

etwa zehn Prozent teurer s<strong>in</strong>d als staatliche. Auch<br />

die Qualität privater Bildungsträger ist dort nicht<br />

überzeugend: Lediglich e<strong>in</strong>es von zehn untersuchten<br />

privaten Bildungsunternehmen lieferte im Jahr<br />

2004 nach e<strong>in</strong>er Analyse <strong>der</strong> britischen Aufsichtsbehörde<br />

OFSTED e<strong>in</strong>e befriedigende Leistung.<br />

<strong>Die</strong> übrigen neun wurden als mangelhaft o<strong>der</strong> ungenügend<br />

bewertet.<br />

Ungeachtet <strong>der</strong> britischen Erfahrungen schaltet<br />

die Bundesregierung schon bald ihre PPP-Bemühungen<br />

e<strong>in</strong>en Gang höher. Noch im Dezember soll<br />

die zweite Auflage des „PPP- Beschleunigungsgesetzes“<br />

<strong>in</strong> den Bundestag kommen. Den Vorgänger<br />

hatte Rot-Grün noch kurz vor <strong>der</strong> Bundestagswahl<br />

im vergangen Jahr im Eiltempo durch das Gesetzgebungsverfahren<br />

geboxt.<br />

<strong>Die</strong> ungebrochene Euphorie <strong>der</strong> deutschen Politik<br />

für PPP lässt <strong>der</strong>zeit fast ke<strong>in</strong>en Raum, um <strong>auf</strong><br />

unübersehbare Risiken h<strong>in</strong>zuweisen. Zu groß ist<br />

<strong>der</strong> Glaube an die heilende Kraft des Marktes.<br />

Dabei s<strong>in</strong>d mehr Vorsicht bei <strong>der</strong> Umsetzung von<br />

PPP sowie e<strong>in</strong> Verbot schädlicher PPP-Spielarten<br />

nötig. Ohne e<strong>in</strong>e solche kritische Distanz werden<br />

viele PPPs ihr wahres Wesen erst dann enthüllen,<br />

wenn es zu spät ist – als öffentlich-private Abzocke<br />

und Bauernfängerei.


Steigt e<strong>in</strong> Reisen<strong>der</strong> <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Spandau<br />

aus und will nach Rhe<strong>in</strong>sberg, das, wie die Landkarte<br />

suggeriert, nicht allzu weit entfernt ist. Er<br />

braucht mit dem Zug zwei Stunden. Der fährt mal<br />

vor und mal zurück und umkreist dabei gleich mehrere<br />

Seen. In <strong>der</strong> Tat: Das kle<strong>in</strong>e Land Brandenburg<br />

kann den Besucher recht groß dünken. Das Wort<br />

„dünken“ stammt aus e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Zeit. Aber es<br />

passt zu Brandenburg, <strong>der</strong> Streusandbüchse, mit<br />

den wun<strong>der</strong>baren Schlössern und Menschen, die <strong>auf</strong><br />

Fürsten und klare Befehle warten. Auf die sie natürlich<br />

fluchen, aber nicht zu laut. Auch die neuen Landesfürsten<br />

wie Matthias Platzek o<strong>der</strong> Manfred Stol-<br />

<strong>Die</strong> vernachlässigte Streusandbüchse<br />

Ich fühl mich so Brandenburg<br />

Fontanes Wan<strong>der</strong>ungen durch die Mark Brandenburg liegen mehr als 120 Jahre zurück. Wie ist die Stimmung heute <strong>in</strong> dieser<br />

Region, die sich immer schon von Berl<strong>in</strong> über den Tisch gezogen vorkommt o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>fach übersehen wird? Fotos und Bildunterschriften<br />

s<strong>in</strong>d mit freundlicher Erlaubnis des Fotografen entnommen aus dem Buch von Harald Hauswald und Lutz Rathenow<br />

Gewendet. Vor und nach dem Mauerfall (Jaron Verlag, Berl<strong>in</strong> 2006).<br />

Von Lutz Rathenow<br />

pe wählen sie geduldig immer wie<strong>der</strong>. Man hat sich<br />

eben an diesen Politikertypus gewöhnt, <strong>der</strong> den tröstenden<br />

Ton beherrscht, den <strong>der</strong> Brandenburger<br />

braucht, seit er nicht mehr regelmäßig zur Kirche<br />

geht.<br />

<strong>Die</strong> Welt und die Politik s<strong>in</strong>d schlecht – und <strong>der</strong><br />

Märker fühlt sich beson<strong>der</strong>s vernachlässigt. Von den<br />

Berl<strong>in</strong>ern, die ohneh<strong>in</strong> viel mehr Geld haben und<br />

ihn politisch über den Tisch ziehen. Von den Wessis,<br />

weil sie ihm die schönsten Häuser und Schlösser<br />

wegk<strong>auf</strong>en. O<strong>der</strong> mit selbstbewusster Geste alles<br />

erst besichtigen und dann doch verschmähen. Und<br />

er weiß nicht so recht, welche Haltung er schlimmer<br />

<strong>Die</strong> Deutsche nicht-ganz-so-demokratische Republik war umgeben von unüberw<strong>in</strong>dlichen Grenzen. <strong>Die</strong> schönste und erholsamste<br />

war immer die Ostsee.<br />

39


40<br />

f<strong>in</strong>den soll. Und vom Rest <strong>der</strong> Welt wird er sowieso<br />

ignoriert, <strong>der</strong> frech zur Ostseeküste durchfährt o<strong>der</strong><br />

<strong>in</strong> die sächsischen Metropolen Dresden, Leipzig<br />

reist und zu den Sehenswürdigkeiten des Harzes<br />

und jenen des Freistaates Thür<strong>in</strong>gen.<br />

„<strong>Die</strong> Landschaft ist karg, weit und e<strong>in</strong> wenig traurig“,<br />

schreibt <strong>der</strong> ehemalige Herausgeber e<strong>in</strong>er Potsdamer<br />

Zeitung. Der Brandenburger selbst gibt sich<br />

weniger traurig als mürrisch. Gründe dafür f<strong>in</strong>det er<br />

genug. Es klagen die Gastwirte, Taxifahrer und alle<br />

an<strong>der</strong>en, die davon leben wollen, wovon sie schwer<br />

leben können. Und es wurmt sie, <strong>auf</strong> jene angewiesen<br />

zu se<strong>in</strong>, denen sie misstrauen. „Der Märker mag<br />

die Fremden nicht“, sagt mir <strong>der</strong> Leiter e<strong>in</strong>es Literaturmuseums,<br />

<strong>der</strong> froh ist, nur e<strong>in</strong>mal verprügelt<br />

worden zu se<strong>in</strong>. Aus Versehen o<strong>der</strong> zielgerichtet, das<br />

wurde selbst im Gerichtssaal nicht klar. Vielleicht<br />

hatten es die Angeklagten auch vergessen. Sie gaben<br />

sich wortkarg, debil träge und entschuldigten sich<br />

pflichtbewusst lustlos. Pflichtbewusst lustlos s<strong>in</strong>d <strong>in</strong><br />

Brandenburg zu oft Schlüsselworte für das gastronomische<br />

Erlebnis, das dann ke<strong>in</strong>es wird, o<strong>der</strong> für den<br />

<strong>Die</strong>nstleistungsbereich. In Brandenburg gibt es<br />

ke<strong>in</strong>e bayrische Gastfreundlichkeit o<strong>der</strong> Thür<strong>in</strong>ger<br />

Herzlichkeit, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e beflissene Mürrischkeit,<br />

<strong>der</strong> etwas Devotes anhaftet.<br />

Kürzlich bedankte ich mich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Drogerie für<br />

das Wechselgeld. <strong>Die</strong> Verkäufer<strong>in</strong> wünschte mir<br />

demonstrativ laut e<strong>in</strong>en „Guten Tag“ Ich erwi<strong>der</strong>te<br />

den Wunsch und fügte e<strong>in</strong>en weiteren für den<br />

Abend h<strong>in</strong>zu. <strong>Die</strong> Frau konterte mit drei nett geme<strong>in</strong>ten<br />

Floskeln, aber mit teilnahmsloser Miene<br />

dah<strong>in</strong>geschnarrt. Ich hielt mit weiteren guten Wünschen<br />

mit. Immer bissiger wurden immer höflichere<br />

Sätze ausgetauscht. <strong>Die</strong> Frau gab nicht <strong>auf</strong> <strong>in</strong> ihrer<br />

verquälten Absicht, beson<strong>der</strong>s nett zu se<strong>in</strong>.<br />

Ne<strong>in</strong>, Brandenburg ist ke<strong>in</strong> Nazi-Land. <strong>Die</strong> Fremdenfe<strong>in</strong>dlichkeit<br />

beg<strong>in</strong>nt beim Blick <strong>in</strong> den Spiegel<br />

und ist e<strong>in</strong>e, die aus kartoffelfeldgrauen Vorzeiten<br />

kommt und sich durch Sprüche outet wie „Was <strong>der</strong><br />

Bauer nicht kennt, isst er nicht“. „<strong>Die</strong> Brandenburger“,<br />

das war im Zweiten Weltkrieg e<strong>in</strong>e Speziale<strong>in</strong>heit<br />

für Sabotageaktionen h<strong>in</strong>ter den fe<strong>in</strong>dlichen<br />

L<strong>in</strong>ien. Beson<strong>der</strong>s mutige Leute, benutzt von e<strong>in</strong>er<br />

verbrecherischen Politik. Aber diese militärischen<br />

Traditionen br<strong>in</strong>gen dem Brandenburger wenig für<br />

die Gegenwart. Ehemalige Kriege als Fluchtwege<br />

aus bäuerlicher Arbeitsabhängigkeit und Tristesse.<br />

„In den Staub mit allen Fe<strong>in</strong>den Brandenburgs“ -auch<br />

so e<strong>in</strong> berühmter Satz aus schlachtbewusster<br />

Zeit, <strong>der</strong> <strong>in</strong>s Leere fällt, wenn e<strong>in</strong>er ke<strong>in</strong>e Fe<strong>in</strong>de<br />

mehr hat. Nur noch potenzielle Geldgeber, die nie<br />

genügend herausrücken. Auch Bitten und Betteln<br />

will gelernt se<strong>in</strong>, und die Jugend verlässt das Land<br />

Richtung Westen o<strong>der</strong> geht nach Berl<strong>in</strong>.<br />

„Berl<strong>in</strong>, da ist das Leben“, s<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>e Hip-Hop-<br />

Gruppe mit trauriger Stimme. E<strong>in</strong> Freund spielt mir<br />

ihren Song vor, er lebt formal <strong>in</strong> Brandenburg, aber<br />

eigentlich noch im Speckgürtel r<strong>in</strong>gs um die Hauptstadt,<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Speckgürtel-Mischkultur zweier ver-<br />

Ke<strong>in</strong> Stück Ostdeutschlands blüht heute so <strong>auf</strong>, ist so gefragt wie die attraktiven Orte <strong>der</strong> Ostseeküste und vor allem die vorgelagerten Inseln<br />

Rügen, Usedom und Hiddensee.


schiedener Mentalitäten. Der Sänger<br />

klagt über die vielen Landstraßenraser<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Mark. Man möchte Wetten<br />

abschließen, ob je<strong>der</strong> Fünfte o<strong>der</strong> nur<br />

je<strong>der</strong> Sechste gerade den Straßenverkehr<br />

für se<strong>in</strong>en Suizidversuch nutzt.<br />

„Ich fühl mich so Brandenburg“, so<br />

endet das Lied, und <strong>der</strong> Hörer nimmt<br />

ihm diesen Superlativ für „traurig“<br />

problemlos ab.<br />

<strong>Die</strong> Langeweile als Existenzform. Dass <strong>in</strong><br />

diesem brandenburgischen Dorf die<br />

Gaststätte als Kulturhaus deklariert wird,<br />

än<strong>der</strong>t nichts daran (oben).<br />

Viel los ist auch heute hier nicht.<br />

In Zeiten allgeme<strong>in</strong>er Beschleunigung<br />

wirken die ereignislosen Zonen noch<br />

deprimieren<strong>der</strong>. Tote Hose eben,<br />

<strong>in</strong> Wittenberg und an<strong>der</strong>swo (l<strong>in</strong>ks).<br />

41


<strong>Die</strong> Weite des Landes und die günstigen Bodenpreise<br />

lassen natürlich dieses Land zum Rückzugsgebiet<br />

für all jene werden, die es <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> nicht schaffen<br />

o<strong>der</strong> denen die Stadt zu bunt und anstrengend<br />

sche<strong>in</strong>t. So lebt natürlich auch die DDR <strong>in</strong> Brandenburg<br />

vitaler weiter so wie alle an<strong>der</strong>en Vergangenheiten<br />

vor ihr. Ke<strong>in</strong> Wun<strong>der</strong> bei e<strong>in</strong>er Gegend, <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> sehr alte Bücher von Theodor Fontane großflächig<br />

noch als Reiseführer benutzt werden können.<br />

Was tun? Neubesiedlung durch Zuwan<strong>der</strong>er<br />

för<strong>der</strong>n, damit sich die aus Polen e<strong>in</strong>wan<strong>der</strong>nden<br />

Wölfe nicht zu e<strong>in</strong>sam fühlen.<br />

42<br />

Ersatzteile waren Mangelware. Doch wer wollte darüber<br />

meckern, wenn er nach jahrelanger Wartezeit endlich<br />

e<strong>in</strong>en Trabant se<strong>in</strong> Eigen nennen (oben)?<br />

Für viele ist bis heute e<strong>in</strong> Trabbi mehr als e<strong>in</strong> Auto. Wer noch<br />

e<strong>in</strong>en hat, zeigt ihn gern her (rechts).


New York ist nicht Amerika. Es ist e<strong>in</strong>e<br />

Art amerikanischer Brückenkopf am Ufer <strong>der</strong> Welt.<br />

Also e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zigartiger Beobachtungsposten.<br />

Was aber sieht man von New York aus <strong>in</strong> diesem<br />

Sommer 2006? Zunächst e<strong>in</strong>mal, dass die Welt<br />

heute ke<strong>in</strong> so sicherer Platz mehr ist wie kurz nach<br />

dem blutigen Angriff <strong>auf</strong> die Tw<strong>in</strong> Towers vor fünf<br />

Jahren. <strong>Die</strong> Welt ist gefährlich. Weil wir ke<strong>in</strong>es <strong>der</strong><br />

großen Übel, die unseren Planeten befallen, unter<br />

Kontrolle haben – den Terrorismus, die Verbreitung<br />

<strong>der</strong> Massenvernichtungswaffen, die globale<br />

Erwärmung, die weltweiten Epidemien, die <strong>in</strong>ternational<br />

organisierte Krim<strong>in</strong>alität. Weil <strong>der</strong> Krisenbogen,<br />

<strong>der</strong> sich vom Nahen Osten bis nach Südostasien<br />

erstreckt, Erschütterungen von bisher unbekanntem<br />

Ausmaß erlebt. Im Nahen Osten wütete<br />

zwar seit Generationen e<strong>in</strong>e markante, aber doch<br />

mehr o<strong>der</strong> weniger beherrschte Krise: <strong>der</strong> Konflikt<br />

zwischen Israel und Paläst<strong>in</strong>a. Heute aber haben wir<br />

vier ebenso schwere Krisen, die sich jedoch je<strong>der</strong><br />

Kontrolle zu entziehen sche<strong>in</strong>en: Der israelischpaläst<strong>in</strong>ensische<br />

Konflikt nimmt e<strong>in</strong>e hoffnungslose<br />

Wendung; während ich schreibe, bricht e<strong>in</strong>e<br />

mör<strong>der</strong>ische Eskalation aus zwischen Israel, <strong>der</strong><br />

Hamas und <strong>der</strong> Hisbollah; <strong>der</strong> Irak geht weiter se<strong>in</strong>en<br />

Weg <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Inferno; und im Fall des Iran wachsen<br />

die Spannungen mit dem Anspruch <strong>auf</strong> die<br />

Atomwaffe.<br />

Werfen wir e<strong>in</strong>en Blick weiter nach Osten: <strong>Die</strong><br />

Taliban s<strong>in</strong>d im Begriff, <strong>in</strong> Afghanistan wie<strong>der</strong> Fuß<br />

zu fassen; mit ger<strong>in</strong>gen Mitteln s<strong>in</strong>d sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage,<br />

die Institutionen, die die Völkergeme<strong>in</strong>schaft dort<br />

errichtet, zu destabilisieren; b<strong>in</strong> Laden ist noch immer<br />

nicht gefasst; die Spannungen um Kaschmir<br />

zwischen Indien und Pakistan verm<strong>in</strong><strong>der</strong>n sich<br />

nicht; Nordkorea br<strong>in</strong>gt se<strong>in</strong> Störpotenzial zur Geltung;<br />

Taiwan bleibt von Ch<strong>in</strong>a bedroht. Zwischen<br />

Japan, Ch<strong>in</strong>a und <strong>der</strong>en benachbarten Staaten<br />

wächst das Misstrauen. Nicht im Zentrum <strong>der</strong><br />

Bruchl<strong>in</strong>ien, aber verbunden mit ihnen durch die<br />

Fluktuation <strong>der</strong> Terroristen, den Handel mit Waffen<br />

und Drogen, die Beweglichkeit <strong>der</strong> organisierten<br />

Krim<strong>in</strong>alität (e<strong>in</strong>schließlich ihrer F<strong>in</strong>anzierung),<br />

gel<strong>in</strong>gt es auch Afrika nicht, se<strong>in</strong>e Krisenherde unter<br />

Kontrolle zu br<strong>in</strong>gen.<br />

EINE VERLORENE WETTE: <strong>Die</strong> Welt ist gefährlich.<br />

Der „Augenblick <strong>der</strong> Unipolarität“ ist schon bald<br />

E<strong>in</strong> Blick aus Amerika<br />

<strong>Die</strong> Welt <strong>auf</strong> Französisch<br />

Den Autor, e<strong>in</strong>en aus den USA heimgekehrten Diplomaten, beschäftigt unter an<strong>der</strong>em e<strong>in</strong>e gewisse Angst vor <strong>der</strong> deutschen<br />

EU-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 und vor den Beschlüssen, die danach Frankreich umzusetzen hat.<br />

Von François Gorand<br />

wie<strong>der</strong> vorbei. Das ist heute e<strong>in</strong>e kaum noch orig<strong>in</strong>elle<br />

Beobachtung. Was daran jedoch überraschen<br />

kann, ist die Schnelligkeit, mit <strong>der</strong> die amerikanische<br />

Vorherrschaft an ihre Grenzen gelangt ist. Jeden<br />

Tag sieht man e<strong>in</strong> gewissermaßen machtloses Amerika,<br />

sei es im Nahen Osten, <strong>in</strong> Afghanistan o<strong>der</strong><br />

auch im Sudan; an<strong>der</strong>swo sieht sich Amerika<br />

gezwungen, sich zu arrangieren mit se<strong>in</strong>en Gegnern<br />

von gestern, etwa mit Russland und Ch<strong>in</strong>a, o<strong>der</strong>,<br />

schwieriger noch, mit se<strong>in</strong>en mehr o<strong>der</strong> weniger<br />

folgsamen Verbündeten. <strong>Die</strong> schlimmsten Fälle<br />

(noch aus <strong>der</strong> Zeit vor dem Flächenbrand im Nahen<br />

Osten) s<strong>in</strong>d hier <strong>der</strong> Irak, <strong>der</strong> Iran, Nordkorea.<br />

Offenkundig trägt hierbei die Politik <strong>der</strong> Neo-Konservativen<br />

e<strong>in</strong>en erheblichen Teil <strong>der</strong> Verantwortung<br />

für die jüngsten Entwicklungen. Selbstsicher,<br />

viel zu selbstsicher <strong>in</strong> ihrer Übermacht, glaubte die<br />

Regierung Bush ihr Mandat dadurch <strong>in</strong> Angriff nehmen<br />

zu können, dass sie – vom Internationalen<br />

Strafgerichtshof ganz abgesehen – die großen <strong>in</strong>ternationalen<br />

Vere<strong>in</strong>barungen <strong>in</strong>fragestellte, die den<br />

strategischen Beziehungen immerh<strong>in</strong> e<strong>in</strong> M<strong>in</strong>imum<br />

an Stabilität verliehen hatten: den Raketen-Abwehr-<br />

Vertrag mit Russland und das Teststoppabkommen.<br />

Sie hat sich außerdem über zahlreiche an<strong>der</strong>e multilaterale<br />

Verpflichtungen h<strong>in</strong>weggesetzt. Mit diesem<br />

Verhalten hat sie den Geltungsraum des Rechts<br />

<strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Geme<strong>in</strong>schaft beträchtlich<br />

reduziert. Nach dem 11. September, berauscht<br />

von ihrem schnellen Erfolg <strong>in</strong> Afghanistan,<br />

glaubte sie den Augenblick gekommen, ihre Rechnung<br />

mit dem Irak zu begleichen. Gleichzeitig hat<br />

die Regierung Bush ke<strong>in</strong>e Gelegenheit ausgelassen,<br />

die arabisch-muslimische Welt (wie man hier sagt)<br />

zu „antagonisieren“.<br />

Man kann, so sche<strong>in</strong>t es, Gründe dafür f<strong>in</strong>den, dass<br />

die ursprüngliche Idee <strong>der</strong> Neo-Konservativen,<br />

wenigstens unter bestimmten Bed<strong>in</strong>gungen, plausibel<br />

war: den Angriff <strong>auf</strong> die Zwill<strong>in</strong>gstürme zur<br />

Legitimierung e<strong>in</strong>es großen Demokratisierungsprojekts<br />

zu benützen, dem <strong>der</strong> Nahe Osten unterworfen<br />

werden sollte. <strong>Die</strong>se Wette ist gescheitert. Amerika<br />

blieb im irakischen Sand stecken o<strong>der</strong> stolperte <strong>in</strong><br />

den Gassen von Bagdad und Basra <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Falle.<br />

Heute ist <strong>der</strong> Gedanke e<strong>in</strong>er Nichtverbreitung von<br />

Atomwaffen weitgehend unglaubwürdig; <strong>der</strong><br />

Westen o<strong>der</strong> doch wenigstens die USA s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Welt e<strong>in</strong> Anlass zu Spott und Hohn; die amerikani-<br />

43


44<br />

sche Armee wird nicht mehr wie bisher gefürchtet.<br />

Angesichts <strong>der</strong> überaus ernsten Zukunftsgefahren<br />

(<strong>der</strong> Atomprogramme Nordkoreas und des Iran),<br />

haben Amerika und se<strong>in</strong>e Verbündeten heute we<strong>der</strong><br />

die Legitimität noch das militärische Potenzial,<br />

diese beiden Krisen aus e<strong>in</strong>er Position <strong>der</strong> Stärke heraus<br />

anzugehen. <strong>Die</strong> Handschrift <strong>der</strong> Neo-Konservativen<br />

(und von Tony Blair) ist <strong>auf</strong> den Landkarten<br />

weith<strong>in</strong> erkennbar: Kabul, Bagdad, Basra, Teheran,<br />

Süd-Libanon, Gaza. Kompliment, me<strong>in</strong>e Herren!<br />

EINE NEUE MÄCHTEKONSTELLATION: Das ist <strong>der</strong><br />

Befund, <strong>der</strong> sich feststellen lässt. Aber jetzt treten wir<br />

e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en Schritt zurück und versuchen, etwas<br />

aus ihm zu lernen.<br />

Es hat sich also <strong>in</strong> sehr kurzer Zeit e<strong>in</strong>e neue Konstellation<br />

vom Machtzentren ergeben o<strong>der</strong> doch<br />

<strong>der</strong>en Neubewertung. <strong>Die</strong> Politik <strong>der</strong> Neo-Konservativen<br />

hat e<strong>in</strong>e zweifellos unvermeidliche Tendenz<br />

nur beschleunigt. Ihre Absicht war es, e<strong>in</strong>en Vorteil<br />

im brutalen Gewaltmarsch auszunützen, aber damit<br />

beschleunigten George W. Bush und se<strong>in</strong>e Berater<br />

nur das Ende <strong>der</strong> unipolaren Welt, das auch ohne sie<br />

e<strong>in</strong>getreten wäre. <strong>Die</strong> unipolare Welt war ja das Ergebnis<br />

des Verschw<strong>in</strong>dens <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Mitspieler,<br />

gewissermaßen e<strong>in</strong>e automatisch unipolare Welt.<br />

Notwendigerweise musste <strong>der</strong> Tag kommen, an dem<br />

die früheren Akteure wie<strong>der</strong> <strong>auf</strong> die Bühne zurückkehren<br />

und zudem neue Mitspieler <strong>auf</strong>treten würden.<br />

Aber verlieren wir nicht die Größenordnungen<br />

aus dem Blick: Amerika bewahrt sich trotzdem e<strong>in</strong>e<br />

absolute militärische Übermacht (selbst wenn sie<br />

<strong>auf</strong> den Schauplätzen <strong>der</strong> aktuellen Krise nur<br />

schwierig e<strong>in</strong>zusetzen ist); das Land ist immer noch,<br />

wie Madele<strong>in</strong>e Albright sagte, „die unverzichtbare<br />

Großmacht“, <strong>der</strong> Mittelpunkt <strong>der</strong> globalisierten<br />

Welt. <strong>Die</strong> Politik <strong>der</strong> USA wird jetzt e<strong>in</strong>e gewisse<br />

Kursän<strong>der</strong>ung erfahren. Condoleezza Rice als Außenm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong><br />

symbolisiert e<strong>in</strong>e Wendung zum<br />

Realismus, auch wenn es noch zu früh ist für e<strong>in</strong>e abschließende<br />

Beurteilung <strong>der</strong> Tragweite dieser Verän<strong>der</strong>ung.<br />

Und jedenfalls wird e<strong>in</strong>e neue US-Regierung<br />

im Jahr 2009 die Karten wie<strong>der</strong> neu mischen.<br />

<strong>Die</strong> geostrategische Macht <strong>der</strong> USA ist also nicht<br />

mehr das, was sie e<strong>in</strong>mal war. Parallel dazu ist <strong>der</strong><br />

Schwung des amerikanischen Wirtschaftsmotors<br />

ebenfalls im Schw<strong>in</strong>den: Schon zeichnen sich die<br />

ökonomischen Schwergewichte von morgen ab,<br />

Ch<strong>in</strong>a und Indien. Man muss deshalb nicht gleich<br />

e<strong>in</strong>e neue Weltkarte zeichnen. Vor etwa e<strong>in</strong>em Jahrzehnt<br />

sprach man bereits vom Nie<strong>der</strong>gang <strong>der</strong> USA<br />

und von Japan als <strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest wirtschaftlichen<br />

Großmacht <strong>der</strong> Zukunft. Der Anteil von Indien<br />

und Ch<strong>in</strong>a am Welt-Bruttosozialprodukt beträgt<br />

aber lediglich 2 bzw. 4 Prozent gegenüber 29 Prozent<br />

für die USA. Gleichwohl ist es e<strong>in</strong>e Tatsache, dass die<br />

beiden asiatischen Riesen Indien und Ch<strong>in</strong>a, falls<br />

ihr Wirtschaftswachstum <strong>auf</strong> dem <strong>der</strong>zeitigen<br />

Niveau (6 bzw. 9,5 Prozent im Schnitt <strong>der</strong> letzten<br />

zehn Jahre) stetig bleibt, und unter Berücksichtigung<br />

ihres Bevölkerungsreichtums <strong>in</strong> dieselbe Liga<br />

gehören werden wie die USA und Japan. (...)<br />

DIE RÜCKKEHR DER LEIDENSCHAFTEN: Wenn wir<br />

e<strong>in</strong>s gelernt haben seit dem 11. September, dann<br />

dies: Über unsere traditionellen Erklärungsschablonen<br />

(wirtschaftliche, militärische, demografische<br />

Daten) hat sich e<strong>in</strong>e neue Sichtweise gelegt,<br />

e<strong>in</strong>e Erkenntnis kultureller Gegebenheiten. Freilich:<br />

<strong>Die</strong> Informierten unter uns mussten nicht <strong>auf</strong><br />

Professor Hunt<strong>in</strong>gton warten, um die Bedeutung<br />

<strong>der</strong> Kultur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geopolitik zu sehen. Milan Kun<strong>der</strong>a<br />

hat schon Anfang <strong>der</strong> 80er Jahre die Lage <strong>der</strong><br />

osteuropäischen Län<strong>der</strong> brilliant beschrieben, als er<br />

von e<strong>in</strong>em „gekidnappten Westen“ sprach. Pierre<br />

Hassner hat <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er schönen Untersuchung <strong>der</strong><br />

„Revanche <strong>der</strong> Leidenschaften“ die Diskussion <strong>auf</strong><br />

das richtige Niveau angehoben. Ganz im Gegensatz<br />

zu den Erwartungen <strong>der</strong> Aufklärung mil<strong>der</strong>t das<br />

vernünftige Interesse nicht immer die Leidenschaft,<br />

es kann sogar vorkommen, dass die Leidenschaften<br />

gegen das Interesse zum Zug kommen. <strong>Die</strong><br />

Globalisierung br<strong>in</strong>gt ethnische und religiöse<br />

Geme<strong>in</strong>schafts-Identitäten <strong>in</strong> helllichten Zorn.<br />

Wir verän<strong>der</strong>n den Titel von Hassners Studie nur<br />

e<strong>in</strong> wenig und stellen e<strong>in</strong>fach fest: <strong>Die</strong> Globalisierung<br />

bedeutet auch die Rückkehr <strong>der</strong> Leidenschaften.<br />

E<strong>in</strong>e dieser Leidenschaften haben wir bereits <strong>in</strong><br />

Aktion gesehen, e<strong>in</strong>e ansteckende Variante, und<br />

zwar <strong>auf</strong> dem weltweiten Schauplatz <strong>der</strong> Nach-<br />

Afghanistan-Zeit: die amerikanische Hybris. E<strong>in</strong>e<br />

an<strong>der</strong>e leidenschaftliche Kraft steckt <strong>in</strong> <strong>der</strong> antiwestlichen<br />

und anti-amerikanischen Haltung vieler<br />

Län<strong>der</strong> <strong>der</strong> Dritten Welt. Solche Leidenschaften<br />

wurzeln <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em äußerst stark erregten Gefühl <strong>der</strong><br />

Ungerechtigkeit. Und sie werden nicht schwächer<br />

durch die E<strong>in</strong>beziehung dieser Län<strong>der</strong> <strong>in</strong> die globalisierte<br />

Welt, im Gegenteil: Sie werden noch schärfer.<br />

Es wäre e<strong>in</strong>e Illusion, zu glauben, <strong>der</strong> Fortschritt <strong>der</strong><br />

westlichen Ideen g<strong>in</strong>ge Hand <strong>in</strong> Hand mit e<strong>in</strong>er<br />

wirtschaftlichen Verflechtung, ebenso wie <strong>der</strong> frühere<br />

Glaube an die Konvergenz <strong>der</strong> Systeme <strong>in</strong> Ost<br />

und West. (...)<br />

WAS ZU TUN IST: Wir wollen hier nicht e<strong>in</strong> Programm<br />

für die Außenpolitik Frankreichs präsentieren.<br />

Aber nachdem wir als ihr Ziel den Übergang<br />

von e<strong>in</strong>er Weltmacht zu e<strong>in</strong>er „globalen Macht“ vorschlagen,<br />

müssten unsere Landsleute und die Regierung<br />

ganz gehörig umdenken. Sehen wir uns e<strong>in</strong>ige<br />

Beispiele dafür an:<br />

- <strong>Die</strong> Beziehung zwischen Innen- und Außenpolitik:<br />

Sie for<strong>der</strong>t von uns <strong>in</strong> <strong>der</strong> globalisierten Welt<br />

noch mehr als bisher. Wir können das Problem <strong>der</strong><br />

Auslän<strong>der</strong><strong>in</strong>tegration nicht anständig lösen ohne<br />

e<strong>in</strong>e große Mittelmeer-Politik und e<strong>in</strong>e Entwicklungspolitik<br />

für Afrika. Wir werden ke<strong>in</strong> selbsttragend<br />

Wirtschaftswachstum haben, ohne dass wir<br />

uns besser e<strong>in</strong>fügen <strong>in</strong> die globalisierte Welt. Im<br />

Augenblick erleben wir e<strong>in</strong>e schizophrene Zweiteilung<br />

zwischen e<strong>in</strong>em Frankreich, das sich <strong>auf</strong> den<br />

ausländischen Märkten zu behaupten sucht, und<br />

e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Frankreich, das im Zeitalter des Vorsorgestaats<br />

steckengeblieben ist. Wir können unse-


en Rang als globale Macht – im Klartext: unsere<br />

Sicherheit – nur erhalten, wenn wir unsere Denkund<br />

Handlungsgewohnheiten <strong>der</strong> globalen Welt<br />

anpassen (und nicht umgekehrt).<br />

- <strong>Die</strong> Kommunikations-Schlacht: <strong>Die</strong> globale<br />

Welt ist heute <strong>in</strong> hohem Maß e<strong>in</strong>e Welt <strong>der</strong> Wahrnehmungen.<br />

Wir haben e<strong>in</strong>en entscheidenden<br />

Rückschlag erlitten, als CNN sich entschloss, se<strong>in</strong>e<br />

Europa-Zentrale nicht <strong>in</strong> Paris, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> London<br />

zu errichten. Wer <strong>in</strong> den USA lebt, kann täglich<br />

feststellen, wie wenig und wie schlecht<strong>in</strong>formiert<br />

die hiesigen Medien über Frankreich berichten.<br />

Deshalb ist die Schaffung e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>ternationalen<br />

Frankreich-Sen<strong>der</strong>s (<strong>der</strong> ganz sicher zweisprachig<br />

se<strong>in</strong> wird) e<strong>in</strong>e absolute strategische Notwendigkeit.<br />

Auch wird künftig das bloße Lippenbekenntnis<br />

zur Frankophonie nicht mehr ausreichen; dieser<br />

Gedanke, <strong>der</strong> bis eben noch lediglich nostalgisch<br />

aussah, ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt, wie sie ist, plötzlich e<strong>in</strong>e tragfähige<br />

Idee; hier müssen wir zu ihrer Verwirklichung<br />

die nötigen Mittel bereitstellen. (...)<br />

- Frankreich als Initiative und Vorbild: Wir haben<br />

viel mehr Chancen, als wir oft glauben. Nennen wir<br />

nur e<strong>in</strong> Beispiel: das bereits erwähnte Kernwaffenverbreitungsverbot.<br />

<strong>Die</strong> Erfolgschancen des Westens<br />

im Fall des Iran wären erheblich höher, wenn<br />

die gesamte Nicht-Verbreitung nicht <strong>der</strong>art durchlöchert<br />

wäre, wie es im Augenblick <strong>der</strong> Fall ist. Es ist<br />

unrealistisch, zwischen heute und <strong>der</strong> Amtsübernahme<br />

<strong>der</strong> nächsten US-Regierung bedeutsame<br />

Fortschritte <strong>in</strong> <strong>der</strong> Abrüstung zu erwarten. An<strong>der</strong>erseits<br />

ist es durchaus denkbar, neue Voraussetzungen<br />

für die Debatte zu schaffen, <strong>in</strong>dem wir e<strong>in</strong>e<br />

an<strong>der</strong>e Dimension des Konflikts betonen, nämlich<br />

die Beziehung zwischen Nuklearmächten und Län<strong>der</strong>n,<br />

die sich e<strong>in</strong>e zivile Nutzung <strong>der</strong> Atomkraft<br />

zulegen wollen. <strong>Die</strong> Zahl solcher Län<strong>der</strong> wird <strong>in</strong><br />

Zukunft <strong>auf</strong>grund <strong>der</strong> Vermehrung von Schwellenlän<strong>der</strong>n<br />

und <strong>der</strong> wachsenden Verbreitung <strong>der</strong> technologischen<br />

Voraussetzungen zunehmen. Es sollte<br />

möglich se<strong>in</strong> (e<strong>in</strong>en ähnlichen Vorschlag gibt es<br />

bereits von Herrn El-Baradei), e<strong>in</strong>e Partnerschaft<br />

<strong>auf</strong>zubauen, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die Nuklearmächte sich verpflichten,<br />

den Technologie-Transfer zu erleichtern<br />

und den Zugang zu Kernbrennstoffen zu garantieren,<br />

und im Gegenzug die überprüfbare Zusicherung<br />

zu erhalten, dass transferierte Techniken und<br />

Brennstoffe nicht weiterverbreitet werden. E<strong>in</strong>e<br />

solche Initiative kann heute nicht die Aufgabe e<strong>in</strong>es<br />

e<strong>in</strong>zelnen Landes se<strong>in</strong>. Vielmehr ist dafür e<strong>in</strong>e<br />

Koalition zu bilden, an <strong>der</strong> selbstverständlich<br />

Europa beteiligt ist, aber auch die Vere<strong>in</strong>igten Staaten,<br />

da ja Bush selbst bereits Gedanken vorgetragen<br />

hat, die <strong>in</strong> diese Richtung gehen. Wenn sich e<strong>in</strong>e<br />

geme<strong>in</strong>same Plattform bilden ließe aus großen und<br />

kle<strong>in</strong>en Län<strong>der</strong>n, dann würden sich die Extremisten<br />

bald an den Rand gedrängt sehen. Das <strong>in</strong>ternationale<br />

Klima würde sich <strong>auf</strong>hellen, und es gäbe<br />

wie<strong>der</strong> Chancen für e<strong>in</strong>e multilaterale Vere<strong>in</strong>barung<br />

zur Nicht-Verbreitung. Das wäre e<strong>in</strong>e Initiative,<br />

bei <strong>der</strong> auch <strong>der</strong> ke<strong>in</strong>eswegs ger<strong>in</strong>ge Vorbildcharakter<br />

Frankreichs zur Geltung käme.<br />

45


46<br />

Wir könnten vergleichbare Chancen auch bei<br />

e<strong>in</strong>er Reihe an<strong>der</strong>er großer Problemfälle demonstrieren:<br />

beim Terrorismus, bei <strong>der</strong> Gefährdung <strong>der</strong><br />

Umwelt o<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Energieverknappung. Ganz<br />

allgeme<strong>in</strong> lässt sich sagen: Es ist <strong>in</strong> unserem Interesse,<br />

mit allen Kräften zu allen Initiativen beizutragen,<br />

die die Entstehung e<strong>in</strong>er global governance<br />

begünstigen – wie wir es ja bereits seit <strong>der</strong> Präsidentschaft<br />

von Jacques Chirac (sogar unter wenig hilfreichen<br />

Umständen: gegen die Multilateralismus-<br />

Allergie <strong>der</strong> Bush-Regierung) bereits begonnen<br />

haben. Das ist für uns e<strong>in</strong> wesentlicher Faktor für<br />

e<strong>in</strong>e stärkere Rolle Frankreichs als globaler Macht<br />

und für <strong>der</strong>en künftige Verstetigung.<br />

- <strong>Die</strong> europäische Dimension: Wir müssen unser<br />

Europa-Projekt umformulieren. Der nächste <strong>französisch</strong>e<br />

Präsident wird <strong>in</strong> die europäischen Institutionen<br />

Bewegung br<strong>in</strong>gen müssen, um damit auch<br />

unseren Landsleuten das Gefühl zu geben, dass Europa<br />

s<strong>in</strong>nvoll ist. Müssen wir jedoch diesen Prozess<br />

wirklich so be<strong>auf</strong>sichtigen und beherrschen, wie wir<br />

es im Umgang mit den Deutschen zu tun gewohnt<br />

s<strong>in</strong>d? Das ist womöglich nicht unverzichtbar. Wenn<br />

die Neugestaltung <strong>der</strong> EU-Institutionen durch<br />

an<strong>der</strong>e Län<strong>der</strong> bewirkt wird (und dabei wird es nicht<br />

alle<strong>in</strong> um die Institutionen gehen können), muss das<br />

für Frankreich ke<strong>in</strong> Drama se<strong>in</strong>. In jedem Fall wird<br />

sie nicht gegen uns und nicht ohne uns vor sich<br />

gehen. Verteidigen wir also unsere Interessen, br<strong>in</strong>gen<br />

wir unsere Ideen e<strong>in</strong>, tragen wir zur Neugestaltung<br />

bei, auch ohne dass wir die ersten Beweger s<strong>in</strong>d.<br />

In diesem Zusammenhang beunruhigt e<strong>in</strong><br />

bestimmtes Proce<strong>der</strong>e <strong>der</strong> EU-Treffen, das sich seit<br />

dem letzten <strong>französisch</strong>en EU-Vorsitz (im Jahr<br />

2000) abzeichnet: die Erstellung e<strong>in</strong>es Aufgabenkatalogs<br />

unter deutschem Vorsitz samt <strong>der</strong> Verpflichtung,<br />

ihn unter <strong>französisch</strong>em Vorsitz (im zweiten<br />

Halbjahr 2007) <strong>in</strong> Ergebnisse umzusetzen. <strong>Die</strong>ses<br />

Arbeitsschema erlaubt uns weniger als jedes an<strong>der</strong>e,<br />

unsere Positionen und Interessen zu vertreten, und<br />

lädt uns außerdem die Verantwortung für das Nicht-<br />

Erreichen <strong>der</strong> Ziele <strong>auf</strong>. <strong>Die</strong>ses vergiftete Geschenk<br />

sollten wir mit großer Vorsicht entgegennehmen.<br />

Wir sollten uns vor allem nicht <strong>in</strong> den Prioritäten<br />

täuschen: Frankreich ist von Natur aus e<strong>in</strong>e europäische<br />

Macht und wird <strong>in</strong> allen europäischen Fragen<br />

<strong>in</strong>soweit e<strong>in</strong> größeres Gewicht haben, als es sich <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Welt se<strong>in</strong>en Platz als globale Macht sichert.<br />

Geben wir uns also nicht länger dem schiefen (und<br />

realitätsfernen) E<strong>in</strong>druck h<strong>in</strong>, wir existierten global<br />

lediglich <strong>auf</strong> dem Umweg über Europa. Das ist e<strong>in</strong>e<br />

Wahrnehmung, die man außerhalb des Alten Kont<strong>in</strong>ents<br />

nirgendwo antrifft.<br />

- <strong>Die</strong> westliche Dimension: Es gibt noch e<strong>in</strong>e weitere<br />

Denkgewohnheit, mit <strong>der</strong> wir brechen sollten:<br />

<strong>der</strong> Neigung, uns draußen als e<strong>in</strong> Land zu präsentieren,<br />

das se<strong>in</strong>e Verankerung im Westen nicht wirklich<br />

ver<strong>in</strong>nerlicht hat. In <strong>der</strong> Welt von heute mit 6,5 Milliarden<br />

Bewohnern stellt <strong>der</strong> Westen allerhöchstens<br />

e<strong>in</strong>e Milliarde; Probleme <strong>der</strong> Identität werden zusehends<br />

wesentlicher; <strong>in</strong>nerhalb unserer Grenzen<br />

haben wir den Ehrgeiz, Menschen aus an<strong>der</strong>en Kulturen<br />

als <strong>der</strong> unseren zu <strong>in</strong>tegrieren: In e<strong>in</strong>er solchen<br />

Welt müssen wir uns als das präsentieren, was wir<br />

s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>e westliche Macht. Freilich e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e<br />

westliche Macht als die angelsächsischen Län<strong>der</strong> mit<br />

ihrem spezifischen historischen Erbe. Auch <strong>in</strong> dieser<br />

Lage sollten wir nicht <strong>auf</strong> unsere Identität verzichten<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Welt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> jede ethnische Gruppe <strong>auf</strong> <strong>der</strong><br />

ganzen Welt die ihre zu behaupten sucht. E<strong>in</strong> geeignetes<br />

Mittel, bei dem wir wirklich wir selbst und<br />

unbeugsam westlich s<strong>in</strong>d, ist <strong>in</strong> unserer Außenpolitik<br />

das Bemühen, die Werte, zu <strong>der</strong>en Verbreitung<br />

wir so viel beigetragen haben, stärker zu verteidigen:<br />

die Menschenrechte, die Demokratie, die Herrschaft<br />

des Rechts, die Toleranz.<br />

Der Text ist die auszugsweise Übersetzung (von Philipp Reuter)<br />

des Artikels Lettre d’Amérique, <strong>in</strong>: Commentaire, no. 115,<br />

Automne 2006. Wir danken <strong>der</strong> Redaktion von Commentaire<br />

für die freundliche Genehmigung.<br />

Jacques Chirac und Angela Merkel, die Ratspräsident<strong>in</strong> bis Mitte 2007<br />

Georges Boulougouris © EC


<strong>Die</strong> H<strong>in</strong>dus, denen oft nachgesagt wird,<br />

e<strong>in</strong>e eher <strong>in</strong>tuitive Beziehung zum Göttlichen zu<br />

haben, mögen <strong>in</strong> ihrer äußeren Ersche<strong>in</strong>ung ganz<br />

dem mo<strong>der</strong>nen, gebildeten Weltbürger entsprechen,<br />

doch ihre <strong>in</strong>nere Landschaft ist durchdrungen<br />

von e<strong>in</strong>er selbstverständlichen Verbundenheit mit<br />

Religion und Spiritualität. Der Besuch bedeuten<strong>der</strong><br />

Tempel und Pilgerorte, regelmäßiges rituelles Fasten<br />

und die H<strong>in</strong>wendung zu tradierten religiösen Praktiken<br />

o<strong>der</strong> zu e<strong>in</strong>em persönlichen Guru haben mit<br />

<strong>der</strong> Globalisierung und ihren weltlichen Verlockungen<br />

nicht etwa abgenommen, son<strong>der</strong>n – <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> städtischen Mittelschicht – seit den 80er<br />

Jahren eher noch an Zul<strong>auf</strong> gewonnen.<br />

<strong>Die</strong> Geschichte des H<strong>in</strong>duismus ist von gegensätzlichen<br />

Strömungen bestimmt, aus <strong>der</strong>en Zusammenwirken<br />

und Synthese <strong>der</strong> H<strong>in</strong>duismus <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

heutigen Gestalt mit se<strong>in</strong>en vielfältigen Lehren und<br />

Kulten hervorgegangen ist. <strong>Die</strong>se Vielfalt kann und<br />

soll im Folgenden nicht dargestellt werden. Vielmehr<br />

soll es um die Frage gehen, wie die Mo<strong>der</strong>ne<br />

religiöse Vorstellungen im gegenwärtigen Indien<br />

bee<strong>in</strong>flusst und welche Antworten die Religion <strong>auf</strong><br />

diese gewaltigen gesellschaftlichen Transformationsprozesse<br />

gibt. Es geht uns also um mo<strong>der</strong>ne<br />

Entwicklungen wie den <strong>auf</strong>keimenden „H<strong>in</strong>du-<br />

Nationalismus” o<strong>der</strong> die verän<strong>der</strong>ten religiösen<br />

Praktiken <strong>der</strong> städtischen Mittelschicht, bei <strong>der</strong><br />

zwar nicht die Religion, wohl aber religiöse Normen<br />

und Werte ihre bisher sichere Bestimmung verloren<br />

haben und neu ausgehandelt werden. Unser Blick<br />

richtet sich im Folgenden <strong>auf</strong> den H<strong>in</strong>du-Nationalisten<br />

und den „flexiblen H<strong>in</strong>du“ und ihre unterschiedlichen<br />

Antworten <strong>auf</strong> die Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />

<strong>der</strong> Globalisierung.<br />

DER HINDU-NATIONALIST: Mit <strong>der</strong> Suche nach<br />

alternativen Lebensformen als Antwort <strong>auf</strong> die<br />

Mo<strong>der</strong>ne hat sich <strong>in</strong> Indien e<strong>in</strong> nationalistisch motivierter,<br />

religiöser Aktivismus herausgebildet, <strong>der</strong><br />

starken E<strong>in</strong>fluss <strong>auf</strong> die gegenwärtige Neuformulierung<br />

des H<strong>in</strong>duismus nimmt. Der „H<strong>in</strong>du-Nationalist”,<br />

von dem wir hier sprechen, gehört dem<br />

Sanghparivar an. <strong>Die</strong>s ist e<strong>in</strong> Netzwerk politischer,<br />

sozialer, kultureller und religiöser Bewegungen, die<br />

sich um den Rashtriya Sevak Sangh (RSS, „Nationale<br />

Freiwilligenorganisation”) gruppieren. <strong>Die</strong><br />

Indien heute<br />

Der flexible H<strong>in</strong>du<br />

Auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, wie <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er ganzen Geschichte, verhält sich <strong>der</strong> <strong>in</strong>dische H<strong>in</strong>duismus ausgesprochen elastisch:<br />

Ihm ersche<strong>in</strong>t immer sehr viel mehr gleichzeitig möglich als nur das fundamentalistische E<strong>in</strong>e.<br />

Von Sudhir Kakar<br />

Wurzeln <strong>der</strong> diversen nationalistischen Gruppen<br />

lassen sich <strong>auf</strong> Reformbewegungen des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

zurückführen, beispielsweise <strong>auf</strong> den Arya<br />

Samaj, die aus e<strong>in</strong>em Wi<strong>der</strong>stand gegenüber <strong>der</strong><br />

Dom<strong>in</strong>anz europäischer Kultur und christlicher<br />

missionarischer Offensiven entstanden s<strong>in</strong>d. Bereits<br />

<strong>in</strong> den 20er Jahren, mit <strong>der</strong> Gründung des RSS,<br />

begann <strong>der</strong> Zul<strong>auf</strong> zu den H<strong>in</strong>du-Nationalisten.<br />

Doch die Periode, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sich <strong>der</strong> RSS am stärksten<br />

ausweitete, fiel <strong>in</strong> die 80er und 90er Jahre – jene<br />

Epoche, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die ökonomische Liberalisierung<br />

und <strong>der</strong> Anfang <strong>der</strong> Integration Indiens <strong>in</strong> die globale<br />

Weltwirtschaft zu tiefgreifenden gesellschaftlichen<br />

Verän<strong>der</strong>ungen führte. Der Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Globalisierung<br />

fällt <strong>in</strong> Indien mit <strong>der</strong> Explosion des<br />

H<strong>in</strong>du-Nationalismus zusammen.<br />

Der H<strong>in</strong>du-Nationalist begegnet den<br />

Mo<strong>der</strong>nisierungsprozessen und sich wandelnden<br />

Familienstrukturen mit <strong>der</strong> Neuformulierung h<strong>in</strong>duistischer<br />

Werte und Normen. Zum e<strong>in</strong>en ruft er<br />

dazu <strong>auf</strong>, die Familienatmosphäre frei von kultureller<br />

Verschmutzung zu halten. Er betrachtet die Invasion<br />

westlicher Werte als Verschwörung von Kräften,<br />

die erpicht dar<strong>auf</strong> s<strong>in</strong>d, Indien zu schwächen<br />

und die Wurzeln se<strong>in</strong>er kulturellen Verankerung<br />

auszureißen. Dar<strong>auf</strong> reagiert <strong>der</strong> H<strong>in</strong>du-Nationalist<br />

damit, dass er direkt <strong>in</strong> die Familienpolitik e<strong>in</strong>zugreifen<br />

versucht. Dabei wird <strong>der</strong> Frau primär die<br />

Rolle <strong>der</strong> Vermittler<strong>in</strong> von Tradition zugeschrieben<br />

und dem Mann die Rolle des Familienversorgers<br />

und Beschützers.<br />

Zum an<strong>der</strong>en werden Glaubensvorstellungen neu<br />

formuliert, die das Ziel haben, die <strong>in</strong> Kasten, Sekten<br />

und Lokaltraditionen zersplitterte H<strong>in</strong>du-Geme<strong>in</strong>schaft<br />

zu e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>heit zusammenschweißen, um sie<br />

gegen die Herausfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Globalisierung zu<br />

wappnen. Medien und mo<strong>der</strong>ne Technologien spielen<br />

bei <strong>der</strong> Durchsetzung dieser Ziele e<strong>in</strong>e nicht<br />

unerhebliche Rolle. Sie haben mit <strong>der</strong> Revolution<br />

globaler Kommunikation (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e des Fernsehens<br />

und des Internets) den Prozess <strong>der</strong> Homogenisierung<br />

h<strong>in</strong>duistischer Traditionen vorangetrieben.<br />

Das Fernsehen beispielsweise, das Ende <strong>der</strong> 80er<br />

Jahre zu e<strong>in</strong>em echten Massenmedium geworden<br />

ist, beschwor nicht nur Visionen e<strong>in</strong>er schnell<br />

47


48<br />

Swami Agnivesh hat sowohl dem Nationalismus abgeschworen,<br />

als auch e<strong>in</strong>ige religiöse Praktiken <strong>auf</strong>gegeben:<br />

Seit 1968 hat er nicht mehr gebetet.<br />

erreichbaren Konsumwelt her<strong>auf</strong>, son<strong>der</strong>n produzierte<br />

auch e<strong>in</strong>e Reihe mythologischer Serien, von<br />

<strong>der</strong> die Verfilmung des Ramayana- Epos bei se<strong>in</strong>er<br />

Erstausstrahlung (1987) <strong>in</strong> ganz Indien die höchsten<br />

jemals verbuchten E<strong>in</strong>schaltquoten erreichte.<br />

<strong>Die</strong> Serie des Ramayana-Epos, die <strong>auf</strong> e<strong>in</strong> vergangenes<br />

goldenes Zeitalter zurückgreift, def<strong>in</strong>iert aus <strong>der</strong><br />

Perspektive des H<strong>in</strong>du-Nationalisten, was den Kern<br />

h<strong>in</strong>duistischer Kultur ausmacht. <strong>Die</strong> Serie hat <strong>in</strong><br />

ihrer Breitenwirkung nicht nur Gott Rama zur<br />

nationalen, pan-<strong>in</strong>dischen Integrationsfigur <strong>auf</strong>steigen<br />

lassen, son<strong>der</strong>n auch die vielen regionalen<br />

Traditionen des großen Epos <strong>in</strong> ihrer Vielfalt abgewertet<br />

und an den Rand gedrängt, <strong>in</strong>dem die Version<br />

bevorzugt wurde – und sich Millionen<br />

Zuschauern e<strong>in</strong>prägte –, die dem H<strong>in</strong>du-Nationalisten<br />

am meisten am Herzen lag.<br />

Heute, am Anfang des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts, ist <strong>der</strong><br />

H<strong>in</strong>du-Nationalismus mit se<strong>in</strong>er Tendenz zur<br />

Homogenisierung von Mythen, Symbolen und <strong>der</strong><br />

<strong>in</strong>dischen Göttervielfalt zu e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> mächtigsten<br />

politischen und kulturellen Kräfte Indiens geworden.<br />

E<strong>in</strong>en <strong>in</strong>tegrativen Rahmen – das „kulturelle<br />

Fundament“ – für diese neue nationale Solidarität<br />

aller H<strong>in</strong>dus zu schaffen und zu festigen ist die Aufgabe<br />

<strong>der</strong> Vishwa H<strong>in</strong>du Parishad (VHP), des religiösen<br />

Arms <strong>der</strong> H<strong>in</strong>du-Nationalisten. Sie versucht mit<br />

aller Gewalt, sich als führende – wenn nicht e<strong>in</strong>zige<br />

– repräsentative Institution aller H<strong>in</strong>dus weltweit<br />

darzustellen. Identitätsstiftende Term<strong>in</strong>ologien wie<br />

H<strong>in</strong>dutva werden dabei vom H<strong>in</strong>du-Nationalisten<br />

ebenso als Schlachtrufe zur Schaffung e<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>du-<br />

E<strong>in</strong>heit genutzt wie die Frage <strong>der</strong> Religionszuge-<br />

swamiagniveshi.com<br />

hörigkeit. Als H<strong>in</strong>du bezeichnet <strong>der</strong> H<strong>in</strong>du-Nationalist<br />

jeden, solange dessen Glaube <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong><br />

Grenzen e<strong>in</strong>es noch ungeteilten Indiens se<strong>in</strong>en<br />

Ursprung hat, was Buddhisten, Ja<strong>in</strong>s und Sikhs e<strong>in</strong>schließt,<br />

Christen und Muslime h<strong>in</strong>gegen ausschließt.<br />

Dabei ist dem H<strong>in</strong>du-Nationalisten <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

<strong>der</strong> Missionsdrang christlicher Institutionen<br />

e<strong>in</strong> Dorn im Auge, denn Konversion unterhöhlt den<br />

Nationalismus.<br />

In e<strong>in</strong>em geme<strong>in</strong>samen Appell, <strong>der</strong> sich gegen die<br />

Missionstätigkeit an<strong>der</strong>er Religionen wandte, gelang<br />

es <strong>der</strong> VHP, die Unterstützung öffentlicher Persönlichkeiten<br />

wie zum Beispiel des Dalai Lama und<br />

e<strong>in</strong>flussreicher religiöser H<strong>in</strong>du-Führer zu gew<strong>in</strong>nen.<br />

Laut VHP muss <strong>der</strong> Missionierung an<strong>der</strong>er Religionen<br />

hartnäckig wi<strong>der</strong>standen werden, da sie<br />

„Bru<strong>der</strong> gegen Bru<strong>der</strong> stellt“, den Frieden <strong>der</strong><br />

H<strong>in</strong>du-Geme<strong>in</strong>schaft zerstört und <strong>in</strong> gewalttätigen<br />

Handlungen mündet, wobei sie das Beispiel <strong>der</strong><br />

zum Christentum konvertierten Bevölkerung <strong>in</strong><br />

Nordost-Indien anführen, die e<strong>in</strong>en unabhängigen<br />

Staat for<strong>der</strong>t.<br />

Viele Beobachter <strong>in</strong> Indien sehen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

VHP e<strong>in</strong>e fundamentalistische Organisation, die<br />

den traditionellen H<strong>in</strong>duismus stark verzerrt. In<br />

dem Bemühen, e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>ende H<strong>in</strong>du-Identität zu<br />

schaffen und <strong>in</strong> ihrem Kern zu def<strong>in</strong>ieren, filtern<br />

Vertreter <strong>der</strong> VHP nur e<strong>in</strong>ige Schlüsseldoktr<strong>in</strong>en<br />

und Praktiken aus <strong>der</strong> vielfältigen und gewaltigen<br />

Anzahl h<strong>in</strong>duistischer Traditionen heraus. So gel<strong>in</strong>gt<br />

es <strong>der</strong> VHP Schritt für Schritt, die Zersplitterung<br />

des H<strong>in</strong>duismus <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e verschiedenen sampradayas<br />

(Sekten) <strong>in</strong>sofern <strong>auf</strong>zulösen, als religiöse<br />

Autoritäten des H<strong>in</strong>duismus heute <strong>in</strong>zwischen rout<strong>in</strong>emäßig<br />

von e<strong>in</strong>em H<strong>in</strong>du dharma sprechen, statt<br />

zwischen Vaishnavismus o<strong>der</strong> Shivaismus zu differenzieren<br />

– um hier nur die zwei größten Sekten zu<br />

erwähnen, jede mit mehreren hun<strong>der</strong>t Millionen<br />

Anhängern.<br />

Der H<strong>in</strong>du-Nationalist mag <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Vorstellungen<br />

vom gesellschaftlichen und familiären Zusammenleben<br />

von zutiefst konservativen Gedanken und<br />

Rollenmustern geleitet werden; er mag <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Angst vor kultureller Überfremdung – <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

durch missionierende Religionen und die kulturelle<br />

und ökonomische Globalisierung – <strong>auf</strong> e<strong>in</strong>e Erstarkung<br />

<strong>der</strong> H<strong>in</strong>du-Nation h<strong>in</strong>arbeiten und bereit<br />

se<strong>in</strong>, se<strong>in</strong>e Ideologien notfalls auch mit Gewalt zu<br />

verbreiten. Doch se<strong>in</strong> Blick und se<strong>in</strong> Handlungsspielraum<br />

werden dabei entscheidend von zwei b<strong>in</strong>denden<br />

Elementen <strong>der</strong> h<strong>in</strong>duistischen Religion und<br />

Kultur begrenzt: <strong>der</strong> Toleranz und <strong>der</strong> Universalität.<br />

Er ist nicht frei von diesen zwei Hauptelementen se<strong>in</strong>er<br />

religiös-kulturellen Identität, die sich durch die<br />

große Erzählung des H<strong>in</strong>duismus – das grand récit –<br />

ziehen und se<strong>in</strong>e Begegnung mit an<strong>der</strong>en Religionen,<br />

säkularen Ideologien und historischen Kräften<br />

prägen.<br />

<strong>Die</strong> h<strong>in</strong>duistische Toleranz ist gekennzeichnet<br />

durch die Bereitschaft, sich mit an<strong>der</strong>en Weltvor-


50<br />

stellungen ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>zusetzen und Verän<strong>der</strong>ungen<br />

zu akzeptieren, ohne dabei die eigenen und<br />

wesentlichen Grundüberzeugungen aus dem Blick<br />

zu verlieren. <strong>Die</strong> h<strong>in</strong>duistische Universalität unterscheidet<br />

sich vom Universalismus-Anspruch an<strong>der</strong>er<br />

großer Religionen: Sie schließt die Überzeugung<br />

e<strong>in</strong>, dass die wichtigsten E<strong>in</strong>sichten des H<strong>in</strong>duismus<br />

auch allen an<strong>der</strong>en Religionen zugrundeliegen. Der<br />

„fremde Glaube“ ist letztendlich immer auch Teil<br />

des eigenen.<br />

Beide Aspekte haben Folgen für den Handlungsspielraum<br />

des H<strong>in</strong>du-Nationalisten und unterscheiden<br />

se<strong>in</strong> Verhalten maßgeblich von nationalistischen<br />

und fundamentalistischen Aktivisten an<strong>der</strong>er<br />

Religionen. Beg<strong>in</strong>nen wir mit dem Thema <strong>der</strong> Toleranz.<br />

<strong>Die</strong> Militanz des H<strong>in</strong>du-Nationalisten br<strong>in</strong>gt ihn<br />

häufig <strong>in</strong> Konflikt mit dem Toleranz-Thema des<br />

h<strong>in</strong>duistischen grand récit. Der H<strong>in</strong>du-Nationalist<br />

ersche<strong>in</strong>t gespalten zwischen e<strong>in</strong>em radikalen<br />

Wi<strong>der</strong>stand gegenüber allen fremden E<strong>in</strong>flüssen,<br />

die die Wurzeln <strong>der</strong> H<strong>in</strong>du-Geme<strong>in</strong>schaft untergraben,<br />

und <strong>der</strong> Ethik <strong>der</strong> Toleranz, die für die H<strong>in</strong>du-<br />

Religion (den H<strong>in</strong>du dharma) bestimmend ist,<br />

obgleich er <strong>in</strong> <strong>der</strong> gegenwärtigen Phase stärker <strong>in</strong><br />

Richtung militanter Ufer zu steuern sche<strong>in</strong>t. Schon<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Gründungsurkunde <strong>der</strong> VHP sieht sich <strong>der</strong><br />

H<strong>in</strong>du-Nationalist gezwungen, sich <strong>der</strong> Offenheitsund<br />

Toleranzfor<strong>der</strong>ung des H<strong>in</strong>duismus zuzuwenden.<br />

So kann man lesen, dass „die H<strong>in</strong>du-Gesellschaft<br />

heute mit Herausfor<strong>der</strong>ungen gewaltiger<br />

Ausmaße konfrontiert (ist), die <strong>in</strong> ihrem Charakter<br />

(...) zutiefst komplex s<strong>in</strong>d. Aber Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />

und Probleme, Diffamierungen und Wandel, Entsetzen<br />

und Unterdrückung s<strong>in</strong>d <strong>der</strong> H<strong>in</strong>du-Geme<strong>in</strong>schaft<br />

(samaj) nicht fremd (...) <strong>Die</strong> Geschichte<br />

steht als eloquentes Beispiel dafür, dass die H<strong>in</strong>du-<br />

Geme<strong>in</strong>schaft nie wi<strong>der</strong>strebend o<strong>der</strong> allergisch<br />

gegenüber Wie<strong>der</strong>anpassungen ihres äußeren Verhaltens<br />

war, allerd<strong>in</strong>gs ohne dabei ihre Seele und<br />

ihren Geist zu opfern.“<br />

Auch bei dem für H<strong>in</strong>du-Nationalisten<br />

zentralen Thema <strong>der</strong> religiösen Konversion achtet<br />

<strong>der</strong> H<strong>in</strong>du-Nationalist streng dar<strong>auf</strong>, sich nicht offen<br />

gegen Individuen zu stellen, die sich aus freier<br />

Wahl e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Glauben zuwenden. Mit<br />

großer Militanz aber reagiert er, wenn es sich um<br />

Konversionen handelt, die <strong>auf</strong>grund f<strong>in</strong>anzieller<br />

Verlockungen und an<strong>der</strong>er Bestechungen stattf<strong>in</strong>den<br />

(überwiegend von Missionaren des Christentums).<br />

Trotz se<strong>in</strong>er immer wie<strong>der</strong> durchbrechenden<br />

Militanz <strong>in</strong> <strong>der</strong> Abgrenzung zum Islam und zur verwestlichten<br />

Mo<strong>der</strong>ne fühlt sich <strong>der</strong> Nationalist<br />

nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage, e<strong>in</strong> Ideal <strong>auf</strong>zugeben, das sich mit<br />

Mahatma Gandhis bekannten Worten etwa so umreißen<br />

lässt:<br />

„Ich will nicht, dass me<strong>in</strong> Haus <strong>auf</strong> allen vier Seiten<br />

Wände hat und se<strong>in</strong>e Fenster zugestopft s<strong>in</strong>d. Ich<br />

möchte, dass die Kulturen aller Län<strong>der</strong> so frei wie<br />

möglich durch me<strong>in</strong> Haus geweht werden. Aber ich<br />

weigere mich, dass sie mir den Halt unter me<strong>in</strong>en<br />

Füßen wegblasen.“<br />

Obwohl <strong>der</strong> H<strong>in</strong>du-nationalistische Diskurs reich<br />

an Bil<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>es gefestigten Glaubens ist, <strong>der</strong> viele<br />

Angriffe im Angesicht großer Stürme überlebt und<br />

ausgehalten hat – vom militanten Islam und von<br />

missionierenden Christen bis zu den Kräften des<br />

Kolonialismus und <strong>der</strong> Globalisierung –, kann <strong>der</strong><br />

H<strong>in</strong>du-Nationalist sich nicht ganz dazu durchr<strong>in</strong>gen,<br />

diese Begegnungen alle<strong>in</strong> als Konfrontation zu<br />

betrachten. <strong>Die</strong> For<strong>der</strong>ung nach Toleranz hält ihn<br />

davon ab, se<strong>in</strong>e Antwort <strong>auf</strong> die Globalisierung<br />

lediglich <strong>in</strong> Begriffen von Verlierern und Gew<strong>in</strong>nern<br />

zu artikulieren. Denn die Prozesse <strong>der</strong> Integration,<br />

Transformation, Wie<strong>der</strong>behauptung und<br />

Neubelebung haben ihm nicht nur neues Selbstbewusstse<strong>in</strong>,<br />

son<strong>der</strong>n auch e<strong>in</strong> starkes Forum für die<br />

Durchsetzung se<strong>in</strong>er Interessen und Ideologien gegeben.<br />

<strong>Die</strong> Fe<strong>in</strong>dseligkeit des H<strong>in</strong>du-Nationalisten<br />

gegenüber <strong>der</strong> Globalisierung wird zum Teil dadurch<br />

entschärft, dass er sie als e<strong>in</strong>e zweite Mo<strong>der</strong>nisierung<br />

betrachtet, die ihm e<strong>in</strong>e Möglichkeit bietet,<br />

an ihrer Gestaltung aktiv mitzuwirken.<br />

In den letzten zwanzig Jahren ist es dem H<strong>in</strong>du-<br />

Nationalisten möglicherweise gelungen, die traditionellen<br />

Unterschiede <strong>der</strong> Doktr<strong>in</strong>en zu verwischen,<br />

mit denen sich die Sekten im H<strong>in</strong>duismus<br />

vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> abheben. Was er allerd<strong>in</strong>gs bisher noch<br />

nicht geschafft hat, ist, die Denkweise <strong>der</strong> Traditionalisten,<br />

die noch immer die Mehrheit aller H<strong>in</strong>dus<br />

bilden, maßgeblich zu verän<strong>der</strong>n – zum<strong>in</strong>dest was<br />

se<strong>in</strong> Verhalten <strong>auf</strong> die Herausfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> äußeren<br />

Welt angeht. Der Traditionalist neigt weniger<br />

dazu, sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Defensive zu fühlen o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en<br />

ideologisch festgelegten aktivistischen Standpunkt<br />

e<strong>in</strong>zunehmen, als <strong>der</strong> H<strong>in</strong>du-Nationalist. Das Toleranz-Thema<br />

des grand récit h<strong>in</strong>terlässt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Vorstellungen und Handlungen entsprechend tiefere<br />

Spuren. So mag <strong>der</strong> H<strong>in</strong>du-Nationalist Jesus<br />

Christus als e<strong>in</strong>e Persönlichkeit respektieren, die <strong>der</strong><br />

Verehrung und des Respekts wert ist (e<strong>in</strong>e Höflichkeit,<br />

die sich übrigens nicht <strong>auf</strong> den Propheten<br />

Mohammed erstreckt), e<strong>in</strong> traditioneller Vaishnava<br />

h<strong>in</strong>gegen hat nicht e<strong>in</strong>mal Schwierigkeiten, Jesus <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>en Sohn Krishnas zu verwandeln und ihm den<br />

Status e<strong>in</strong>es Avatars zu geben, genauso wenig wie e<strong>in</strong><br />

Vaishnava-Guru e<strong>in</strong> Problem damit hat, se<strong>in</strong>e Lehrreden<br />

mit Beispielen aus dem Evangelium und aus<br />

dem Leben christlicher Heiliger zu schmücken.<br />

Größere Toleranz sche<strong>in</strong>t aber auch mit größerer<br />

Gleichgültigkeit e<strong>in</strong>herzugehen. Dementsprechend<br />

kümmert sich <strong>der</strong> H<strong>in</strong>du-Traditionalist – im Gegensatz<br />

zum H<strong>in</strong>du-Nationalisten – nicht so sehr um<br />

die Auswirkungen <strong>der</strong> Globalisierung <strong>auf</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Glauben und tendiert stattdessen dazu (falls er ihnen<br />

überhaupt se<strong>in</strong>e Aufmerksamkeit schenkt), sie als<br />

Angelegenheiten zu betrachten, mit denen „westliche<br />

Antworten <strong>auf</strong> westliche Fragen“ gefunden werden<br />

müssen.<br />

Das zweite große Thema – die Universalität – entfacht<br />

im H<strong>in</strong>du-Nationalisten e<strong>in</strong>erseits die Hoff-


nung, sich mit se<strong>in</strong>er Religion zum Weltenführer<br />

<strong>auf</strong>zuschw<strong>in</strong>gen. An<strong>der</strong>erseits liegt ihm aber daran,<br />

sich klar gegen das E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen aller fremden E<strong>in</strong>flüsse<br />

abzugrenzen. So betrachtet <strong>der</strong> H<strong>in</strong>du-Nationalist<br />

den H<strong>in</strong>duismus als universal, weil er <strong>auf</strong> e<strong>in</strong>er<br />

ewigen, mystischen Wahrheit beruht: <strong>der</strong> grundlegenden<br />

E<strong>in</strong>heit <strong>der</strong> gesamten belebten und unbelebten<br />

Schöpfung. Wenn alle Religionen also verschiedene<br />

Wege zur gleichen Wahrheit s<strong>in</strong>d – ekam sat,<br />

viprah bahudda vadanti (e<strong>in</strong>e Wahrheit, viele Wege,<br />

sie zu erreichen) –, dann ist <strong>der</strong> „fremde Glaube“<br />

zuletzt nur e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> unendlichen Ersche<strong>in</strong>ungsformen<br />

des H<strong>in</strong>duismus. Alle Religionen dieser Welt<br />

ersche<strong>in</strong>en ihm <strong>in</strong> ihrem Kern h<strong>in</strong>duistisch. Entsprechend<br />

wird e<strong>in</strong> religiöser Pluralismus nicht nur<br />

vom Traditionalisten und vom flexiblen H<strong>in</strong>du,<br />

son<strong>der</strong>n genauso vom H<strong>in</strong>du-Nationalisten akzeptiert.<br />

Denn schließlich ist es nur e<strong>in</strong> Pluralismus <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Ersche<strong>in</strong>ung.<br />

Der H<strong>in</strong>du-Nationalist würde allerd<strong>in</strong>gs argumentieren,<br />

dass man über die äußere Ersche<strong>in</strong>ung<br />

h<strong>in</strong>ausgehen müsse, um die höheren Ebenen spiritueller<br />

Evolution zu erreichen. Er schließt also e<strong>in</strong>e<br />

Hierarchie <strong>der</strong> verschiedenen Glaubensrichtungen<br />

nicht aus: Es gibt zwar viele Wege, aber nicht alle dieser<br />

Wege s<strong>in</strong>d gleichwertig. Se<strong>in</strong>e Toleranz gegenüber<br />

„ger<strong>in</strong>geren religiösen Ordnungen“ steht entsprechend<br />

mit <strong>der</strong> Hoffnung <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung, dass<br />

<strong>der</strong> h<strong>in</strong>duistische dharma sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Universalismus<br />

<strong>in</strong> naher Zukunft global durchsetzen wird.<br />

Der H<strong>in</strong>du-Nationalist sieht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Globalisierung<br />

nicht nur e<strong>in</strong>e Gefahr <strong>der</strong> Überfremdung, son<strong>der</strong>n<br />

genauso se<strong>in</strong>e Chance, das „H<strong>in</strong>du-Ethos“ weltweit<br />

als universales ethisches Wertesystem <strong>der</strong> Menschheit<br />

zu etablieren. Er ist <strong>der</strong> Überzeugung, dass sich<br />

bei <strong>der</strong> ethisch-religiösen Globalisierung, die die<br />

<strong>der</strong>zeitige ökonomische Globalisierung ablösen<br />

wird, <strong>der</strong> H<strong>in</strong>duismus weltweit durchsetzten wird.<br />

So formulierte K. S. Sudarshan (für lange Zeit e<strong>in</strong>er<br />

<strong>der</strong> Hauptideologen des RSS und nun ihr Vorsitzen<strong>der</strong>),<br />

dass <strong>in</strong> den kommenden Jahren „<strong>der</strong> Welt H<strong>in</strong>dutva<br />

als höchste Philosophie und höchster Lebensweg<br />

(gelten) wird“, wobei „<strong>der</strong> Glaube im endgültigen<br />

Sieg des H<strong>in</strong>du-Denkens nicht <strong>auf</strong> bl<strong>in</strong>dem<br />

Glauben <strong>auf</strong>baut, son<strong>der</strong>n <strong>auf</strong> tiefer <strong>in</strong>nerer Bewusstwerdung,<br />

dass die H<strong>in</strong>du-Philosophie <strong>auf</strong> Gesetzen<br />

beruht, die nicht e<strong>in</strong>fach H<strong>in</strong>du-Gesetze<br />

s<strong>in</strong>d, son<strong>der</strong>n universale Gesetze, die für alle gelten“.<br />

Verglichen mit dem Traditionalisten und dem flexiblen<br />

H<strong>in</strong>du drückt <strong>der</strong> Nationalist e<strong>in</strong>e gewisse<br />

Beunruhigung gegenüber e<strong>in</strong>igen Folgen <strong>der</strong> Universalität<br />

aus. Er fragt sich, ob H<strong>in</strong>dus die Thematik<br />

<strong>der</strong> Universalität mit ihrem vedischen Diktum vasudhaiva<br />

kutumbkam (Das Universum ist e<strong>in</strong>e Familie)<br />

nicht zu stark <strong>auf</strong> Kosten <strong>der</strong> Entwicklung e<strong>in</strong>es<br />

h<strong>in</strong>duistischen Geme<strong>in</strong>schaftsgefühls betont haben<br />

– e<strong>in</strong>es Geme<strong>in</strong>schaftsgefühls, das <strong>in</strong> <strong>der</strong> heutigen<br />

Welt vonnöten ist, um den Herausfor<strong>der</strong>ungen militanter<br />

Glaubensrichtungen als geschlossene Front<br />

begegnen zu können. Er sorgt sich, ob das Konzept<br />

des vishvabandhutva (<strong>der</strong> universellen Bru<strong>der</strong>schaft)<br />

nicht zu e<strong>in</strong>er Schwächung des deshband-<br />

hutva (<strong>der</strong> nationalen Bru<strong>der</strong>schaft) geführt hat –<br />

also zu e<strong>in</strong>em Mangel an Nationalgefühl. Im H<strong>in</strong>du-Nationalisten<br />

wohnen also zwei mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> im<br />

Wi<strong>der</strong>spruch bef<strong>in</strong>dliche Seelen: die des Universalismus<br />

<strong>der</strong> H<strong>in</strong>du-dharma-Toleranz und die des<br />

Nationalismus <strong>der</strong> H<strong>in</strong>dutva-Militanz.<br />

DER FLEXIBLE HINDU: Neben den „H<strong>in</strong>du-Nationalisten“<br />

möchten wir den „flexiblen H<strong>in</strong>du“ stellen:<br />

städtisch, <strong>in</strong> mo<strong>der</strong>ner Weise gebildet und zur<br />

wachsenden Mittelklasse gehörend. Der flexible<br />

H<strong>in</strong>du kann Traditionalist se<strong>in</strong>, <strong>in</strong>dem er spezifische<br />

h<strong>in</strong>duistische Rituale <strong>in</strong> se<strong>in</strong> religiöses Leben <strong>auf</strong>nimmt<br />

o<strong>der</strong> wie<strong>der</strong>belebt. Er kann ebenso e<strong>in</strong><br />

Nationalist se<strong>in</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Sympathie für gewisse<br />

Haltungen <strong>der</strong> VHP – beispielsweise die Ablehnung<br />

christlicher und muslimischer Missionstätigkeit.<br />

Von beiden unterscheidet ihn jedoch, dass er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

religiösen Ansichten und Glaubensvorstellungen<br />

eklektischer ist als <strong>der</strong> Traditionalist und weniger<br />

ideologisch als <strong>der</strong> Nationalist.<br />

Der flexible H<strong>in</strong>du betrachtet religiöse Festlichkeiten<br />

und Rituale als wichtigen Ausdruck se<strong>in</strong>er Identität.<br />

<strong>Die</strong> häuslichen Rituale und Fastenpraktiken,<br />

das Feiern religiöser Feste und das Aufsuchen von<br />

Pilgerstätten, die den h<strong>in</strong>duistischen Festkalen<strong>der</strong><br />

strukturieren, werden von ihm auch als e<strong>in</strong>e willkommene<br />

Abwechslung zur täglichen Rout<strong>in</strong>e gesehen.<br />

<strong>Die</strong> sich wandelnden Lebensumstände <strong>der</strong><br />

städtischen Mittelschicht erlauben ihm aber kaum,<br />

die Vorbereitungen und Umstände zu bewältigen,<br />

die mit den Festlichkeiten o<strong>der</strong> dem E<strong>in</strong>halten von<br />

Fastenpraktiken verbunden s<strong>in</strong>d. <strong>Die</strong> zunehmende<br />

Berufstätigkeit von Frauen und weniger helfende<br />

Hände von an<strong>der</strong>en Frauen <strong>der</strong> erweiterten Familie<br />

und die Hektik des Großstadtlebens haben entsprechend<br />

zu e<strong>in</strong>er Mo<strong>der</strong>nisierung e<strong>in</strong>er Vielzahl von<br />

Ritualen und Festabläufen geführt. Der flexible<br />

H<strong>in</strong>du begrüßt diese – oft kreativen – Verän<strong>der</strong>ungen<br />

und passt die herkömmlichen Rituale se<strong>in</strong>en<br />

verän<strong>der</strong>ten Lebensumständen an.<br />

<strong>Die</strong> stärkere Orientierung an den eigenen Bedürfnissen<br />

statt an traditionellen Vorschriften wird von<br />

e<strong>in</strong>igen befürwortet, von an<strong>der</strong>en als Verfall <strong>der</strong> Tradition<br />

und als konsumorientierte Vergnügungssucht<br />

beklagt. Überwiegend jedoch – was uns wie<strong>der</strong><br />

zum Toleranz-Thema des grand récit führt –<br />

wird verän<strong>der</strong>ten Ritualabläufen und <strong>der</strong> Verkürzung<br />

<strong>auf</strong>wendiger religiöser Praktiken mit Toleranz<br />

begegnet. Der flexible H<strong>in</strong>du argumentiert, dass die<br />

<strong>in</strong>nere Haltung (die bhakti und <strong>der</strong> Glaube) ausschlaggebend<br />

s<strong>in</strong>d und weniger die Aufrechterhaltung<br />

von Regeln, die die Älteren festgelegt haben.<br />

Ähnlich verhält es sich mit Pilgerfahrten, die e<strong>in</strong><br />

beliebtes Ziel familiärer Ausflüge und Urlaubsreisen<br />

s<strong>in</strong>d. Erst die Mo<strong>der</strong>ne ließ Pilgerfahrten zu e<strong>in</strong>em<br />

echten Massenphänomen werden: Stärkere Mobilität,<br />

e<strong>in</strong> verbessertes öffentliches Transportsystem,<br />

mehr Geld und die überwiegend geregelten Berufsverhältnisse<br />

erlauben es dem flexiblen H<strong>in</strong>du, an<br />

verlängerten Wochenenden o<strong>der</strong> während <strong>der</strong><br />

Ferien touristische Pilgerziele mit <strong>der</strong> Familie anzu-<br />

51


52<br />

steuern. Das Interesse an Pilgerfahrten beschränkt<br />

sich dabei nicht <strong>auf</strong> die ältere Generation, auch<br />

Jugendliche und junge Erwachsene unternehmen<br />

sie im Kreise <strong>der</strong> Familie o<strong>der</strong> mit Freunden, weil<br />

sich dabei Geme<strong>in</strong>schaft und Vergnügen mit religiösen<br />

Interessen verb<strong>in</strong>den lassen.<br />

<strong>Die</strong> Breitenwirkung <strong>der</strong> Medien und<br />

neuen Technologien – das Internet, mythologische<br />

Comics, Fernsehserien und K<strong>in</strong>ofilme – führen<br />

nicht nur zu e<strong>in</strong>er stärkeren Homogenisierung h<strong>in</strong>duistischer<br />

Rituale, son<strong>der</strong>n sie s<strong>in</strong>d für die jüngere<br />

Generation auch die wichtigste Quelle <strong>der</strong> Vermittlung<br />

religiösen Wissens. Charismatische Fernseh-<br />

Gurus rezitieren täglich <strong>in</strong> diversen Fernsehkanälen<br />

Textstellen aus den heiligen Schriften und bauen<br />

sich, ähnlich wie die Medienpriester Amerikas, e<strong>in</strong><br />

schillerndes Imperium <strong>auf</strong>, mit Anhängern, die vornehmlich<br />

aus <strong>der</strong> traditionellen Mittelklasse stammen.<br />

Mit e<strong>in</strong>em täglichen Fernsehkonsum von etwa<br />

zwei bis drei Stunden und e<strong>in</strong>er Vorliebe für religiöse<br />

Sendungen und Familiendramen s<strong>in</strong>d es die Hausfrauen,<br />

die diesen medialen E<strong>in</strong>flüssen am stärksten<br />

ausgesetzt s<strong>in</strong>d. <strong>Die</strong> Breitenwirkung <strong>der</strong> Massenmedien,<br />

die bestimmte Gottheiten und Heilige <strong>in</strong>s<br />

Zentrum ritueller Verehrung stellen, begünstigt <strong>in</strong><br />

den schnelllebigen Metropolen Götter- und Heiligenmoden,<br />

die sich wie an<strong>der</strong>e Moden über e<strong>in</strong>en<br />

bestimmten Zeitraum <strong>auf</strong>bauen und genauso auch<br />

wie<strong>der</strong> „entladen“ können.<br />

Bemerkenswert an <strong>der</strong> gegenwärtigen religiösen<br />

Entwicklung ist, dass Heiler und Wun<strong>der</strong>gurus wie<br />

Mata Nirmala Devi, Shri Shri Ravi Shankar o<strong>der</strong><br />

Sathya Sai Baba <strong>in</strong> ihrer Popularität und Anziehungskraft<br />

die kontemplativen, meditierenden<br />

Gurus – beispielsweise den bedeutenden Heiligen<br />

Ramana Maharishi – weitgehend abgelöst haben.<br />

Puja-Zeremonie, Mumbai, November 2002<br />

Kontemplative Gurus, die mit <strong>der</strong> Upanischaden-<br />

Tradition verbunden werden, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> jüngeren<br />

Generation <strong>der</strong> Mittel- und Oberschicht nicht länger<br />

<strong>der</strong> Fokus spiritueller Interessen. Vielmehr wendet<br />

sich <strong>der</strong> flexible H<strong>in</strong>du solchen Gurus und religiösen<br />

Praktiken zu, die wenig Zeit<strong>auf</strong>wand, dafür<br />

aber hohes religiöses Verdienst versprechen. Gurus<br />

wie Sathya Sai Baba o<strong>der</strong> Shri Shri Ravi Shankar treffen<br />

mit ihren Weltanschauungen das „religiöse<br />

Gefühl“ des flexiblen H<strong>in</strong>dus, da sie sich auch ganz<br />

an den zwei großen Themen des h<strong>in</strong>duistischen<br />

grand récit orientieren: <strong>der</strong> Toleranz und <strong>der</strong> Universalität.<br />

So vere<strong>in</strong>en sich beispielsweise <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sathya-<br />

Sai-Baba-Bewegung – e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> größten Guru-<br />

Bewegungen <strong>der</strong> Gegenwart – religiöse Stilelemente<br />

aus verschiedensten Traditionen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em wilden<br />

Eklektizismus. Aspekte des Shivaismus, Vaishnavismus,<br />

Shaktismus und des Christentums werden –<br />

ganz im S<strong>in</strong>ne des postmo<strong>der</strong>nen Relativismus –<br />

neu ausgelegt und als „Universalismus“ deklariert.<br />

<strong>Die</strong>ser Anspruch <strong>auf</strong> Universalität, den wir bereits<br />

beim H<strong>in</strong>du-Nationalisten <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er hoffnungsvollen<br />

Vision e<strong>in</strong>er weltweiten Vorherrschaft des H<strong>in</strong>duismus<br />

gesehen haben, drückt sich auch <strong>in</strong> dem<br />

religiösen Symbol <strong>der</strong> Sathya-Sai-Baba-Geme<strong>in</strong>schaft<br />

aus: e<strong>in</strong>em fünfblättrigen Lotus, <strong>auf</strong> dessen<br />

Blättern das h<strong>in</strong>duistische Om-Zeichen, das christliche<br />

Kreuz, das zoroastrische Feueremblem, das<br />

buddhistische Rad und <strong>der</strong> islamische Halbmond<br />

mit Stern abgebildet s<strong>in</strong>d.<br />

Ähnlich wie die Sathya-Sai-Baba-Bewegung und<br />

an<strong>der</strong>e religiöse Geme<strong>in</strong>schaften ist das Sammelbecken<br />

New Age, das seit Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> 90er Jahre<br />

zunehmend auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>dischen Mittelschicht<br />

Fuß fasst, exemplarisch für e<strong>in</strong>e postmo<strong>der</strong>ne Religiosität,<br />

die im h<strong>in</strong>duistischen Relativismus und<br />

Inklusivismus bereits vorweggenommen sche<strong>in</strong>t.<br />

WHO/P. Virot


Praktiken des New Age lassen sich dabei relativ<br />

wi<strong>der</strong>standsfrei <strong>in</strong> den traditionellen religiösen Alltag<br />

des flexiblen H<strong>in</strong>dus <strong>in</strong>tegrieren. Sie setzen<br />

we<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Entfremdung von <strong>der</strong> religiösen Tradition<br />

noch e<strong>in</strong>en Bruch mit ihr voraus. Ob man sogenannte<br />

traditionelle religiöse Praktiken verfolgt<br />

o<strong>der</strong> aber Kristalle <strong>in</strong> den Taschen trägt und sich im<br />

Gläserrücken übt, erregt die Gemüter <strong>in</strong> Indien<br />

nicht übermäßig, denn die Ausübung religiöser<br />

Praktiken ist hier schon immer e<strong>in</strong>e ausgeprägt <strong>in</strong>dividuelle<br />

Angelegenheit gewesen. E<strong>in</strong> H<strong>in</strong>du kann<br />

Heiligenfiguren an<strong>der</strong>er Religionen problemlos<br />

neben h<strong>in</strong>duistischen Göttern im Hausaltar verehren,<br />

ebenso wie sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> städtischen Mittelschicht<br />

New-Age-Importe aus westlichen Industrienationen<br />

spannungsfrei mit bestehenden Religionspraktiken<br />

vere<strong>in</strong>en lassen.<br />

Mit dem E<strong>in</strong>zug des New Age <strong>in</strong> Metropolen wie<br />

Bombay, Delhi o<strong>der</strong> Bangalore etablieren sich nicht<br />

nur neue Praktiken wie beispielsweise Reiki, Pranic<br />

Heal<strong>in</strong>g, Lama Fera, Tarot o<strong>der</strong> Feng-Shui, son<strong>der</strong>n<br />

auch Begriffe und Konzepte des <strong>in</strong>dischen Kulturraumes<br />

– beispielsweise die alt<strong>in</strong>dische Araa-Lehre –<br />

werden aus dem Westen rückimportiert. Kurse zur<br />

Stressbewältigung komplett mit Meditations- o<strong>der</strong><br />

Yogaübungen stehen genauso <strong>auf</strong> dem Programm<br />

wie Astrologie, Aromatherapie, ägyptisches Tarot,<br />

Bach-Blüten, Aura-Lesen, Magnet-Heilung, Zen<br />

o<strong>der</strong> Channel<strong>in</strong>g.<br />

Egal wie „verwestlicht“ <strong>der</strong> flexible H<strong>in</strong>du auch<br />

se<strong>in</strong> mag, die Beibehaltung spezifischer Fastengelübde,<br />

das Aufsuchen von Pilgerorten, die H<strong>in</strong>wendung<br />

zu Gurus o<strong>der</strong> die Integration von New-<br />

Age-Praktiken geben ihm e<strong>in</strong>en Rückbezug zur<br />

Tradition und e<strong>in</strong>e positive Bestätigung se<strong>in</strong>er Identität.<br />

<strong>Die</strong> Antwort des flexiblen H<strong>in</strong>dus <strong>auf</strong> die<br />

Mo<strong>der</strong>ne ist nicht die Abwendung von se<strong>in</strong>er religiösen<br />

Tradition, son<strong>der</strong>n vielmehr ihre Umgestaltung<br />

und Anpassung an se<strong>in</strong>e verän<strong>der</strong>ten Lebensverhältnisse.<br />

Der H<strong>in</strong>du-Nationalist mag diese offene Haltung<br />

des flexiblen H<strong>in</strong>dus missbilligen und <strong>in</strong> ihm den <strong>in</strong>dischen<br />

Vorläufer <strong>der</strong> Globalisierung sehen. Er mag<br />

die Religiosität des flexiblen H<strong>in</strong>dus als „karnevalistisch“<br />

abwerten und <strong>auf</strong> ihn herabschauen, wenn er<br />

sich ohne Differenzierung mit religiösen Stilelementen<br />

schmückt, die sich aus allen Teilen dieses<br />

Globus und aus verschiedensten Geschichtsepochen<br />

zusammenf<strong>in</strong>den, ohne dass <strong>der</strong> Mensch e<strong>in</strong><br />

Gespür für Rituale und geschichtliche Epochen entwickelt,<br />

die diesen Elementen e<strong>in</strong>st ihre Integrität<br />

verliehen. Dennoch kann <strong>der</strong> H<strong>in</strong>du-Nationalist<br />

den flexiblen H<strong>in</strong>du – aus Gründen <strong>der</strong> Offenheit<br />

und Toleranz – nicht aus <strong>der</strong> h<strong>in</strong>duistischen Geme<strong>in</strong>schaft<br />

ausschließen. E<strong>in</strong> solcher Ausschluss<br />

wäre für den H<strong>in</strong>du-Nationalisten e<strong>in</strong> Verrat an<br />

e<strong>in</strong>er se<strong>in</strong>er größten Ikonen, an dem Aktivisten-<br />

Mönch Swami Vivekananda, dessen e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gliche<br />

Worte er häufig zitiert: „Wir tolerieren nicht nur,<br />

son<strong>der</strong>n wir akzeptieren jede Religion, wir beten <strong>in</strong><br />

den Moscheen <strong>der</strong> Mohammedaner, verehren den<br />

Feueraltar <strong>der</strong> Zoroaster und knien vor dem Kreuz<br />

<strong>der</strong> Christen, wohl wissend, dass alle Religionen e<strong>in</strong>schließlich<br />

des niedrigsten Fetischismus <strong>der</strong><br />

menschlichen Seele viele Bemühungen kosten, das<br />

Unendliche zu erfassen und zu realisieren – e<strong>in</strong> je<strong>der</strong><br />

determ<strong>in</strong>iert durch se<strong>in</strong>e Umstände, se<strong>in</strong>e Geburt<br />

und Beziehungen.“<br />

Bei allen Unterschieden ist die Verquickung religiöser<br />

Ideale H<strong>in</strong>du-nationalistischer Bewegungen<br />

mit <strong>der</strong> Wertbildung <strong>der</strong> <strong>auf</strong>steigenden städtischen<br />

Mittelschicht vielfach beobachtet worden. Es wird<br />

allerd<strong>in</strong>gs leicht übersehen, dass die konsumorientierte<br />

Mittelklasse h<strong>in</strong>sichtlich ihrer Interessen <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Lebensgestaltung sowohl größter Träger als auch<br />

<strong>der</strong> am meisten gefürchtete <strong>in</strong>nere Fe<strong>in</strong>d H<strong>in</strong>dunationalistischer<br />

Bewegungen ist. Der flexible<br />

H<strong>in</strong>du identifiziert sich mit e<strong>in</strong>er Vielzahl <strong>der</strong> religiösen<br />

und kulturellen Werte nationalistischer<br />

Gruppen, zum Beispiel <strong>der</strong> Angst vor e<strong>in</strong>er kulturellen<br />

„Verwestlichung“ und dem Übergriff e<strong>in</strong>er<br />

aggressiven muslimisch-arabischen Welt. Er ist aber<br />

genauso auch „Rattenfänger“ e<strong>in</strong>er ganzen Generation:<br />

Im Establishment fest verwurzelt, ist <strong>der</strong> englischsprechende,<br />

me<strong>in</strong>ungsbildende flexible H<strong>in</strong>du<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>dischen Gesellschaft e<strong>in</strong> Segment, das e<strong>in</strong>e<br />

om<strong>in</strong>öse Konkretisierung e<strong>in</strong>er ansonsten abstrakten<br />

globalen Bedrohung ist. Er wird für den H<strong>in</strong>du-<br />

Nationalisten zu e<strong>in</strong>er Bedrohung <strong>auf</strong>grund se<strong>in</strong>er<br />

Offenheit gegenüber <strong>der</strong> liberalen o<strong>der</strong> vielmehr<br />

„unzüchtigen“ westlichen Sexualmoral, die auch<br />

durch Fernsehprogramme und Werbung, wie beispielsweise<br />

Körperpflege und Mode, <strong>in</strong> die H<strong>in</strong>dufamilien<br />

getragen wird. Der H<strong>in</strong>du-Nationalist protestiert<br />

– häufig im stillen E<strong>in</strong>verständnis mit dem<br />

Traditionalisten – gegen die Allgegenwart, Bedeutung<br />

und Manifestation des sexuellen Selbst, das im<br />

westlichen Kunst- und Literaturdiskurs des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

so zentral ist. Er degradiert Schönheitswettbewerbe<br />

o<strong>der</strong> freiere Geschlechtermischung als<br />

e<strong>in</strong>e Form <strong>der</strong> „kulturellen Verschmutzung“ und<br />

verdammt alle Ersche<strong>in</strong>ungsformen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nität,<br />

die die S<strong>in</strong>ne erregen, statt sie zu beruhigen;<br />

die das s<strong>in</strong>nliche Feuer schüren, statt se<strong>in</strong>e Flammen<br />

zu löschen.<br />

„Lasst uns die H<strong>in</strong>dus zum H<strong>in</strong>duismus bekehren,<br />

und alles wird gut werden“, ist dementsprechend<br />

e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Schlachtrufe des H<strong>in</strong>du-Nationalisten<br />

unter Berufung <strong>auf</strong> Swami Ch<strong>in</strong>mayananda, e<strong>in</strong>en<br />

<strong>der</strong> Grün<strong>der</strong> <strong>der</strong> VHP – e<strong>in</strong>e Aufgabe, die von Seiten<br />

des H<strong>in</strong>du-Nationalisten ironischerweise „Missionseifer“<br />

erfor<strong>der</strong>t.<br />

Verkürzt ausgedrückt, H<strong>in</strong>du-Nationalist und flexibler<br />

H<strong>in</strong>du s<strong>in</strong>d „Vettern“, die <strong>in</strong> ihrer Weltanschauung<br />

Aspekte des h<strong>in</strong>duistischen grand récit<br />

teilen, zugleich aber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Spannung zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

stehen, die sich <strong>in</strong> naher Zukunft wohl kaum <strong>auf</strong>lösen<br />

wird.<br />

Der Text ist e<strong>in</strong> vom Autor überarbeiteter Auszug aus dem<br />

Manuskript von Sudhir und Kathar<strong>in</strong>a Kakar, <strong>Die</strong> In<strong>der</strong>.<br />

Porträt e<strong>in</strong>er Gesellschaft, C. H. Beck, München 2006<br />

53


54<br />

Vor knapp hun<strong>der</strong>t Jahren, 1912/1913,<br />

veröffentlichte Freud se<strong>in</strong>e erste kulturtheoretische<br />

Abhandlung: Totem und Tabu. In den Jahren dar<strong>auf</strong><br />

folgten zahlreiche weitere Arbeiten, <strong>in</strong> denen er sich<br />

mit zentralen gesellschaftlichen Problemen ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzte.<br />

Manche dieser Arbeiten werden auch<br />

von Freuds Gegnern als „genial“ bezeichnet, aber sie<br />

s<strong>in</strong>d nach wie vor nicht unumstritten. So kann man<br />

die Frage stellen: S<strong>in</strong>d Freuds kulturanalytische E<strong>in</strong>sichten<br />

heute noch gültig, leisten sie e<strong>in</strong>en Beitrag<br />

für die Analyse des beunruhigenden Konfliktes, den<br />

wir mit Hunt<strong>in</strong>gton als clash of civilisations bezeichnen<br />

können? Eignen sich Freuds kulturtheoretische<br />

Gedanken dazu, diesen Konflikt genauer zu verstehen?<br />

Freud leitete se<strong>in</strong>e Kulturtheorie aus den empirisch<br />

gewonnenen Beobachtungen vom menschlichen<br />

E<strong>in</strong>zelschicksal se<strong>in</strong>er Patienten sowie <strong>der</strong> ihn umgebenden<br />

Gesellschaft ab. Se<strong>in</strong>er Auffassung nach enthielt<br />

das menschliche Unbewusste die Repräsentanz<br />

sowohl des Trieblebens als auch die vererbte Geschichte<br />

des Menschengeschlechtes. In diesem als<br />

zeitlos, geschichtslos und von ke<strong>in</strong>erlei Moral getrübt<br />

gedachten Unbewussten sieht es nicht gut aus:<br />

Mordlust und archaisches Erbe drängen triebhaft<br />

ans Tageslicht, wenn sich e<strong>in</strong> geeigneter Anlass bietet<br />

und Kultur<strong>in</strong>stitutionen nicht zur Verfügung<br />

stehen, um diese Triebe <strong>in</strong> Schach zu halten. Erst seit<br />

dem Fall <strong>der</strong> Mauer, seit dem Ende des Kommunismus<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Sowjetunion und im Prozess des zunehmenden<br />

Verständnisses des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts, <strong>in</strong>nerhalb<br />

dessen e<strong>in</strong> weiteres Mal drastisch offenbar<br />

wurde, zu welch grauenerregenden Mordtaten und<br />

Verbrechen Menschen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage s<strong>in</strong>d, kann <strong>der</strong><br />

skeptischen Kulturtheorie Freuds Gerechtigkeit<br />

wi<strong>der</strong>fahren: „Wir s<strong>in</strong>d nicht Herr im eigenen<br />

Haus“, sagte Freud im H<strong>in</strong>blick <strong>auf</strong> die zuweilen<br />

überhandnehmende Herrschaft des Unbewussten<br />

über das Bewusste.<br />

Dass wir oft nicht „Herr im eigenen Haus“ s<strong>in</strong>d,<br />

zeigt sich nicht nur an <strong>in</strong>dividuellen Neurosen, son<strong>der</strong>n<br />

auch an den sich triebhaft durchsetzenden,<br />

gewalttätigen gesellschaftlichen Konflikten, die das<br />

gesamte 20. Jahrhun<strong>der</strong>t durchzogen haben und<br />

sich ebenso zu Beg<strong>in</strong>n des neuen Jahrtausends zeigen,<br />

wenn auch <strong>in</strong> neuem Gewand: dem des religiösen<br />

Fundamentalismus.<br />

E<strong>in</strong> kulturpsychoanalytischer Versuch<br />

Der Islam und <strong>der</strong> Westen<br />

Lässt sich e<strong>in</strong> psychoanalytischer Begriff wie „narzisstische Kränkung“ vom Individualfall und sozusagen von Wien aus <strong>auf</strong> große<br />

Gruppen von Menschen, gar <strong>auf</strong> e<strong>in</strong>en ganzen an<strong>der</strong>en Kulturkreis übertragen und damit das Phänomen „Terrorismus“ erklären?<br />

Von Siegl<strong>in</strong>de Eva Tömmel<br />

Obwohl schon 1983 <strong>in</strong> Beirut <strong>der</strong> erste islamistische<br />

Angriff <strong>auf</strong> amerikanische Militärs stattgefunden<br />

hat, bedeutete für viele Menschen <strong>der</strong> westlichen<br />

Zivilisation erst <strong>der</strong> 11. September e<strong>in</strong><br />

plötzliches erschrecktes Aufwachen aus e<strong>in</strong>em langen<br />

Traum von e<strong>in</strong>er zunehmend liberaler, demokratischer<br />

und friedlieben<strong>der</strong> werdenden Welt. Der<br />

dschihadistische Angriff <strong>auf</strong> das World Trade Center<br />

<strong>in</strong> New York und das Pentagon war Programm für<br />

die Zukunft und Symbol zugleich: Der Westen<br />

sollte an se<strong>in</strong>er empf<strong>in</strong>dlichsten Stelle getroffen werden,<br />

und er sollte spüren, sehen und hören, dass <strong>der</strong><br />

Islamismus, <strong>der</strong> von politischen Beobachtern lange<br />

Zeit als eher von <strong>in</strong>neren Konflikten zerrissen wahrgenommen<br />

wurde, sich nunmehr aggressiv nach<br />

außen wandte und sich nicht dem Vorbild des<br />

Westens mit se<strong>in</strong>en liberalen Kultur- und Wertvorstellungen<br />

beugen werde.<br />

<strong>Die</strong>ser Angriff war <strong>der</strong> Anfang e<strong>in</strong>er Kette<br />

von verheerenden Anschlägen: Madrid, London,<br />

Indonesien, Bagdad täglich; im letzten Moment vereitelte<br />

Anschläge <strong>in</strong> London und neuerd<strong>in</strong>gs auch <strong>in</strong><br />

ruhigen Vorortzügen Deutschlands: Weltweit muss<br />

sich die Menschheit mit <strong>der</strong> Tatsache „neuer Kriege“<br />

(Herfried Münkler) ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzen.<br />

Dass es sich bei den Anschlägen nicht um die Taten<br />

e<strong>in</strong>zelner Fanatiker handelt, son<strong>der</strong>n dass die Wut<br />

und <strong>der</strong> Hass die Normalbevölkerung <strong>der</strong> Gesellschaften<br />

vieler muslimischer Län<strong>der</strong> umfasst, konnten<br />

westliche Bürger kürzlich im sogenannten Karikaturenstreit<br />

erleben.<br />

Kaum hatte sich die Lage etwas beruhigt, bot <strong>der</strong><br />

während se<strong>in</strong>es Deutschlandbesuches gehaltene<br />

Regensburger Universitätsvortrag Papst Benedikts<br />

XVI. e<strong>in</strong>en neuen Anlass, Muslime mit <strong>der</strong> nun<br />

schon bekannten Empörung <strong>auf</strong> die Straße zu treiben<br />

und gegen die angebliche „Beleidigung des<br />

gesamten Islam“ zu protestieren.<br />

Indessen g<strong>in</strong>g es Benedikt XVI. <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Vortrag<br />

e<strong>in</strong>deutig um die Bestimmung des Verhältnisses von<br />

Glauben und Vernunft, d.h. um die im Christentum<br />

<strong>in</strong>zwischen selbstverständliche Argumentation,<br />

dass vernünftiges Handeln e<strong>in</strong>e Analogie zum<br />

Wesen Gottes darstelle. Damit erteilte er freilich<br />

e<strong>in</strong>er Verbreitung des Glaubens mit den Mitteln <strong>der</strong><br />

Gewalt e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige Absage. <strong>Die</strong> empörten Reak-


tionen zum Beispiel <strong>in</strong> <strong>der</strong> Türkei beruhten denn<br />

auch <strong>auf</strong> e<strong>in</strong>er – später e<strong>in</strong>gestandenen – Unkenntnis<br />

des Orig<strong>in</strong>altextes.<br />

<strong>Die</strong>se unterschiedlichen Anlässe zeigen, wie leicht<br />

e<strong>in</strong>e große muslimische Sympathisantenszene für<br />

die Sache <strong>der</strong> Islamisten zu aktivieren ist.<br />

Angehörigen <strong>der</strong> westlichen, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

<strong>der</strong> europäischen Kultur fällt es offenbar<br />

schwer zu begreifen, welche Wertvorstellungen<br />

Muslime haben, wor<strong>auf</strong> sie ihre Glaubens<strong>in</strong>halte<br />

gründen, wie ihr Denken und Handeln motiviert<br />

ist. Sie s<strong>in</strong>d eurozentrisch gewöhnt an die Trennung<br />

von Kirche und Staat und an die selbstverständliche<br />

Ausrichtung des politischen Handelns an liberalen<br />

Wertvorstellungen. Fast lässt sich sagen, freiheitliche<br />

Wertvorstellungen seien bereits <strong>in</strong> <strong>der</strong> vorbewussten<br />

Triebstruktur verankert. Aus diesem<br />

Grund fragen Leitartikler aller politischen Provenienz<br />

ratlos, wieso E<strong>in</strong>zeltäter, bis dah<strong>in</strong> harmlose<br />

Studenten, erzogen <strong>in</strong> westlichen Werten, Profiteure<br />

westlichen Vertrauens und Adressaten beson<strong>der</strong>er<br />

f<strong>in</strong>anzieller und menschlicher För<strong>der</strong>ung,<br />

plötzlich Bärte tragen, <strong>in</strong> ihren Kellern beten,<br />

Attentate planen und sie ausführen. Hier<strong>auf</strong> gibt es<br />

e<strong>in</strong>e Antwort: Das im Koran offenbarte Wort<br />

Allahs, nach <strong>der</strong> Vorstellung <strong>der</strong> Muslime <strong>der</strong> absolut<br />

transzendente Gott, <strong>der</strong> <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise mit<br />

menschlichen Kategorien zu erfassen ist, auch nicht<br />

mit menschlichen Vorstellungen von Vernunft und<br />

Wahrheit, ist ihnen wichtiger als alle <strong>in</strong>dividuellen<br />

Freiheiten e<strong>in</strong>schließlich <strong>der</strong> vermuteten Versuchung<br />

zum Wohlleben und zur Untugend.<br />

Das Wort „Islam“ bedeutet „Unterwerfung“. Seit<br />

den E<strong>in</strong>gebungen Mohammeds ist damit geme<strong>in</strong>t,<br />

dass sich je<strong>der</strong> Mensch, gleichgültig welcher Herkunft<br />

und Religion, dem Islam anschließen müsse,<br />

an<strong>der</strong>nfalls dürfe er benachteiligt, unter Umständen<br />

auch getötet werden. So steht es geschrieben im<br />

Koran. Nach Auffassung <strong>der</strong> Muslime, die sich nach<br />

den Worten des Koran und <strong>der</strong> Hadithe richten, ist<br />

die Weltgeschichte erst beendet, wenn <strong>der</strong> Islam sich<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em weltumspannenden Friedensstaat durchgesetzt<br />

hat. <strong>Die</strong> Zeit, dieses Ziel zu erreichen, ist nach<br />

Auffassung vieler Muslime <strong>in</strong>zwischen gekommen.<br />

Aus westlicher Sicht ist die <strong>der</strong>zeit weltweite<br />

Fundamentalisierung des Islam die Folge e<strong>in</strong>er<br />

verpassten Mo<strong>der</strong>nisierungschance.<br />

Nach e<strong>in</strong>er berühmten Zählung <strong>der</strong> UNO ist die<br />

Anzahl <strong>der</strong> im L<strong>auf</strong>e <strong>der</strong> letzten tausend Jahre <strong>in</strong><br />

allen arabischen Län<strong>der</strong>n <strong>in</strong>sgesamt übersetzten ausländischen<br />

Bücher so hoch wie die e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zigen<br />

Jahres <strong>in</strong> Spanien. 1948 wurde die Allgeme<strong>in</strong>e<br />

Erklärung <strong>der</strong> Menschenrechte von allen muslimischen<br />

Län<strong>der</strong>n mit Ausnahme Saudi-Arabiens<br />

unterschrieben. <strong>Die</strong> Entwicklungserfor<strong>der</strong>nisse<br />

s<strong>in</strong>d jedoch gescheitert, die Nationalstaaten funktionieren<br />

nicht. <strong>Die</strong> arabischen Staaten s<strong>in</strong>d wirtschaftlich<br />

weniger erfolgreich als die asiatischen,<br />

<strong>der</strong>en Entwicklungsstand 1945 genauso hoch war<br />

wie <strong>der</strong> <strong>der</strong> arabischen Län<strong>der</strong>. <strong>Die</strong> Öl-Monarchien<br />

haben 500 Milliarden Dollar <strong>in</strong> den Westen, nicht<br />

<strong>in</strong> die arabischen Staaten <strong>in</strong>vestiert. Sie geben den<br />

höchsten Prozentsatz des Brutto<strong>in</strong>landsprodukts<br />

für die Rüstung aus. <strong>Die</strong> arabische Elite geht <strong>in</strong> den<br />

Westen, weil sie <strong>in</strong> den eigenen Län<strong>der</strong>n ke<strong>in</strong>e<br />

Chance hat.<br />

Auch an <strong>der</strong> Unterdrückung <strong>der</strong> Hälfte ihrer<br />

Bevölkerung, <strong>der</strong> Unterdrückung aller ihrer weiblichen<br />

Mitglie<strong>der</strong> nämlich, verbunden mit dem<br />

immer noch weitgehenden Ausschluss <strong>der</strong> Frauen<br />

und Mädchen von Bildung, Wissen und produktiver<br />

Tätigkeit, lässt sich absehen, wie sehr sich die<br />

islamische Kultur von kreativen Möglichkeiten<br />

ihrer Entwicklung selbst abgeschottet hat. An E<strong>in</strong>zelschicksalen,<br />

an im Namen des Islam zwangsverheirateten,<br />

geste<strong>in</strong>igten und vergewaltigten Frauen<br />

sowie an <strong>der</strong>en Rechtsunsicherheit wird sichtbar,<br />

wie grausam diese Praktik <strong>in</strong>dividuell ist. Und<br />

schließlich lässt sich an <strong>der</strong> Verfolgung führen<strong>der</strong><br />

Intellektueller <strong>in</strong> den islamischen Staaten ablesen,<br />

wie <strong>der</strong> islamische Fundamentalismus se<strong>in</strong>e eigenen<br />

Dichter und Philosophen missachtet. Salman Rushdie,<br />

Naghib Machfus und Orhan Pamuk s<strong>in</strong>d hierfür<br />

nur e<strong>in</strong>ige wenige, beson<strong>der</strong>s bekanntgewordene<br />

Beispiele.<br />

300 Jahre Bedeutungslosigkeit (etwa von 1683,<br />

dem Rückschlag <strong>der</strong> Türken vor Wien, bis 1979, <strong>der</strong><br />

Rückkehr des Ajatollah Chome<strong>in</strong>i aus dem Pariser<br />

Exil) h<strong>in</strong>terließen tiefe Spuren <strong>der</strong> Demütigung <strong>in</strong><br />

den Angehörigen <strong>der</strong> islamischen Kultur. Man kann<br />

von e<strong>in</strong>er kollektiven narzisstischen Kränkung sprechen,<br />

die die Menschen <strong>der</strong> zum Stolz tendierenden<br />

islamischen Kultur durch die europäische Überlegenheit<br />

erlitten haben. <strong>Die</strong>se Kränkung ist nicht nur<br />

tief im kollektiven Gedächtnis <strong>der</strong> Muslime gespeichert,<br />

son<strong>der</strong>n es wird auch tagtäglich daran er<strong>in</strong>nert.<br />

Je<strong>der</strong> Fehler <strong>der</strong> amerikanischen und <strong>der</strong> europäischen<br />

Regierungen wird als weitere schwere Kränkung<br />

<strong>in</strong> die psychische Struktur e<strong>in</strong>gebaut. Abu<br />

Ghraib, Guantánamo und viele an<strong>der</strong>e Verbrechen<br />

westlicher Län<strong>der</strong> gelten als „Beweis“ für die<br />

Schlechtigkeit <strong>der</strong> „Ungläubigen“. <strong>Die</strong> phantasmatische<br />

Demütigung reicht von <strong>der</strong> Er<strong>in</strong>nerung an die<br />

Kreuzfahrer bis zum Kosovo.<br />

Nach psychoanalytischer Auffassung<br />

entsteht e<strong>in</strong>e narzisstische Kränkung im Individuum<br />

<strong>auf</strong>grund e<strong>in</strong>er tiefen Verletzung des Selbst<br />

und des Selbstwertgefühls.<br />

Individuell entsteht e<strong>in</strong>e narzisstische Störung<br />

dann, wenn das für das Überleben notwendige<br />

Objekt gleichzeitig als bedrohlich, ja traumatisierend<br />

erlebt wird. Weil das unreife Selbst <strong>auf</strong> Hilfe<br />

angewiesen ist, ergibt sich e<strong>in</strong> Zirkel massiver und<br />

nicht mehr zu bewältigen<strong>der</strong> Gewalt. So kommt es<br />

sowohl zu e<strong>in</strong>er Entwicklungshemmung als auch zu<br />

ständiger Wut, die sich nur <strong>in</strong> gewalttätigen Ausbrüchen<br />

(„narzisstische Wut“) Erleichterung ver-<br />

55


56<br />

schaffen kann. Bezogen <strong>auf</strong> Gruppen und größere<br />

Kollektive wie Staaten und Nationen s<strong>in</strong>d die<br />

Abläufe ähnlich: Zwar s<strong>in</strong>d diese komplexer, vielgestaltiger<br />

und wi<strong>der</strong>sprüchlicher; aber so wie Großgruppen,<br />

etwa Ethnien, Staaten und Nationen, e<strong>in</strong><br />

gedachtes geme<strong>in</strong>sames Selbstwertgefühl, e<strong>in</strong>en<br />

kollektiven Narzissmus besitzen, <strong>der</strong> wie e<strong>in</strong> Kleid<br />

um das Selbst <strong>der</strong> Individuen sitzt und dieses<br />

schützt, kann es auch zu e<strong>in</strong>er tödlichen Kränkung<br />

dieses kollektiven Narzissmus kommen.<br />

Am Anfang e<strong>in</strong>er solchen Kränkung steht <strong>der</strong> narzisstische<br />

Fusionswunsch: d.h. die Lust an <strong>der</strong> Verschmelzung<br />

mit dem als omnipotent vermuteten<br />

Objekt. So wurde die westliche Zivilisation <strong>in</strong> den<br />

vergangenen drei Jahrhun<strong>der</strong>ten von zahlreichen<br />

Muslimen als omnipotent erlebt. Viele wollten teilhaben<br />

an <strong>der</strong> vermuteten Omnipotenz <strong>der</strong> zuerst<br />

kolonialisierenden, dann sie freisetzenden Gesellschaft<br />

und Zivilisation. Aber die Sehnsucht nach<br />

Verschmelzung wurde stets auch von e<strong>in</strong>em Wunsch<br />

nach Abgrenzung begleitet, <strong>der</strong> Absicht, die eigene<br />

muslimische Identität zu bewahren. Dabei kam es<br />

nach und nach zu sehr unterschiedlichen Formen<br />

<strong>in</strong>dividueller und kultureller Abwehrbewegungen,<br />

die als „Entwicklungshemmung“ zu beschreiben<br />

s<strong>in</strong>d und schließlich <strong>in</strong> dem heutigen Phänomen des<br />

dschihadistischen Kampfes kulm<strong>in</strong>ieren. <strong>Die</strong><br />

ersehnte Fusion mit <strong>der</strong> gefühlten Potenz des<br />

Westens und die gleichzeitige Furcht, sich <strong>in</strong> ihr <strong>auf</strong>zulösen,<br />

wurden so übermächtig, dass schließlich<br />

<strong>der</strong> gegenwärtige Zirkel von Mord und Selbstmord<br />

<strong>in</strong> Gang gesetzt wurde.<br />

In diesem Prozess handelt es sich nicht<br />

nur um das Ausleben e<strong>in</strong>er angenommenen Opferrolle,<br />

son<strong>der</strong>n auch um die Freisetzung von Phantasien:<br />

An<strong>der</strong>s wären die verbrecherischen Taten nicht<br />

zu bewältigen.<br />

Mohammed Atta, <strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er medial ausgeleuchteten<br />

Propagandaschlacht gegen die USA den Nordturm<br />

des World Trade Centers zum E<strong>in</strong>sturz<br />

brachte, hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en h<strong>in</strong>terlassenen Aufzeichnungen<br />

mitgeteilt, welche <strong>in</strong>dividuellen Phantasien<br />

se<strong>in</strong>e Mordtat begleiteten: Er re<strong>in</strong>igte sich ausführlich<br />

vor se<strong>in</strong>er Tat, ke<strong>in</strong>e Frau sollte bei se<strong>in</strong>em<br />

Begräbnis (sic) anwesend se<strong>in</strong>, die narzisstisch phantasierte<br />

„Re<strong>in</strong>heit“ war se<strong>in</strong> Programm, gerade auch<br />

vor und während des Tötungsaktes. Für se<strong>in</strong>e Tat<br />

wähnte er sich künftig belohnt, weil er glaubte, dass<br />

ihn im Himmel zahlreiche Jungfrauen erwarteten.<br />

Vamik Volkan, Psychoanalytiker türkischer Herkunft<br />

<strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton, erzählt von islamistischen<br />

Camps für Kriegswaisen aus Paläst<strong>in</strong>a, <strong>in</strong> denen<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit dem generellen Nachnamen „Arafat“ zu<br />

Selbstmordattentätern erzogen werden: Sie kennen<br />

ke<strong>in</strong>e Mutter, überhaupt ke<strong>in</strong>e Frauen, sie haben<br />

nur e<strong>in</strong> kollektives Ich. Bei beg<strong>in</strong>nen<strong>der</strong> Geschlechtsreife<br />

werden den Kriegswaisen Frauen im<br />

Himmel versprochen, <strong>in</strong> <strong>der</strong>en Genuss sie allerd<strong>in</strong>gs<br />

erst nach vollzogenem Selbstmordattentat für die<br />

Sache des Islam gelangen können.<br />

Sigmund Freud hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Arbeit Massenpsychologie<br />

und Ich-Analyse (1921) beschrieben, wie es<br />

möglich ist, dass Menschen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Masse kollektiv<br />

ihr vernunftgeleitetes Ich abgeben und an se<strong>in</strong>e<br />

Stelle e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames Objekt setzen. Wenn nämlich<br />

Individuen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Masse regredieren, setzen sie<br />

an die Stelle ihres <strong>in</strong>dividuellen Ich e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames<br />

Objekt, mit dem sie sich geme<strong>in</strong>sam identifizieren.<br />

So handeln sie ohne <strong>in</strong>dividuelle Verantwortung,<br />

losgelöst von persönlicher Schuld, als e<strong>in</strong> Wesen.<br />

Grundlage für das Ersetzen des Ich durch e<strong>in</strong><br />

Objekt ist die menschliche Bereitschaft zu libid<strong>in</strong>öser<br />

H<strong>in</strong>gabe, die Fähigkeit, selbstlos im <strong>Die</strong>nst e<strong>in</strong>es<br />

An<strong>der</strong>en die Ziele e<strong>in</strong>es An<strong>der</strong>en zu erfüllen. <strong>Die</strong>se<br />

Fähigkeit wird normalerweise <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familie entwickelt.<br />

Sie ist grundsätzlich libid<strong>in</strong>öser Natur und<br />

sorgt dafür, dass nicht egoistische Strebungen, son<strong>der</strong>n<br />

<strong>auf</strong> den An<strong>der</strong>en bezogenes und im günstigen<br />

Falle gutwilliges Handeln im Vor<strong>der</strong>grund steht.<br />

<strong>Die</strong>se Fähigkeit des Menschen, e<strong>in</strong><br />

„Objekt“ an die Stelle des Ich zu setzen, ist <strong>der</strong> Natur<br />

<strong>der</strong> Sache nach flexibel, nicht festgelegt. In <strong>der</strong><br />

Masse kann es aber geschehen, dass diese bl<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>em<br />

Objekt folgt, das morden, töten, zerstören will.<br />

<strong>Die</strong> menschliche Geschichte ist voller Beispiele für<br />

diese Art <strong>der</strong> malignen Regression. Man muss sich<br />

nur die Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> fanatisierten Deutschen vor Hitler<br />

und Goebbels anschauen, um zu verstehen, was<br />

damit geme<strong>in</strong>t ist.<br />

Derzeit sche<strong>in</strong>t an die Stelle des Ich zahlloser pr<strong>in</strong>zipiell<br />

gutwilliger Muslime <strong>auf</strong>grund e<strong>in</strong>er tief sitzenden<br />

Kränkung das „Objekt“, <strong>der</strong> Islam, getreten<br />

zu se<strong>in</strong>. Zu untersuchen wäre allerd<strong>in</strong>gs, ob die im<br />

Vergleich zur westlichen Erziehung eher kollektive<br />

Ausrichtung <strong>der</strong> muslimischen Sozialisation bzw.<br />

Ich- und Über-Ich-Bildung dies nicht nur begünstigt<br />

hätte, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e günstige Voraussetzung für<br />

diese Psychodynamik bildet.<br />

Waltet <strong>in</strong> den dschihadistischen Angriffen <strong>der</strong> von<br />

Sigmund Freud <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en letzten Jahren immer wie<strong>der</strong><br />

beschworene Todestrieb? Ist es se<strong>in</strong>e Macht, die<br />

un<strong>auf</strong>haltsam wirksam wird, so dass se<strong>in</strong> Gegenspieler,<br />

die libid<strong>in</strong>öse Besetzung des Lebens, ke<strong>in</strong>e<br />

Chance hat? O<strong>der</strong> ist nicht vielmehr die Verführung<br />

<strong>der</strong> Massen zu fehlgeleiteter H<strong>in</strong>gabe an das Vaterland,<br />

auch an religiöse Verpflichtungen, die eigentliche<br />

Ursache für die verbreitete Kampfbereitschaft<br />

gegen die narzisstische Kränkung des Kollektivs?<br />

Von <strong>der</strong> Beantwortung dieser Frage hängt es ab,<br />

welche politischen und diplomatischen Maßnahmen<br />

gegen den Dschihadismus zu ergreifen s<strong>in</strong>d:<br />

militärische Härte, Diplomatie, Gew<strong>in</strong>nung <strong>der</strong><br />

„Herzen und des Verstandes“ <strong>der</strong> gutwilligen Muslime<br />

(Tony Corn); harte und weiche Maßnahmen<br />

also <strong>in</strong> <strong>der</strong> jeweils richtigen Mischung.<br />

<strong>Die</strong> Chance, dass die Macht <strong>der</strong> libid<strong>in</strong>ösen Besetzung<br />

stärker se<strong>in</strong> wird als die <strong>der</strong> aggressiven,<br />

besteht. <strong>Die</strong> Stimme <strong>der</strong> Vernunft ist leise, können<br />

wir mit Sigmund Freud sagen, aber beharrlich und<br />

unüberhörbar.


Unser romantisches Erbe spiegelt sich<br />

unter an<strong>der</strong>em <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er eigentümlichen Denkfigur<br />

wi<strong>der</strong>, <strong>der</strong> Vorstellung nämlich, dass e<strong>in</strong> Menschenleben<br />

sich <strong>in</strong> wenigen Momenten, ja vielleicht <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Augenblick gleichsam verdichtet<br />

und jener stets verborgene <strong>in</strong>nere Kern e<strong>in</strong>es Dase<strong>in</strong>s<br />

plötzlich sichtbar wird. Solch e<strong>in</strong>e Szene enthüllt<br />

das Rätsel e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>dividuellen Existenz; von<br />

dort aus sche<strong>in</strong>en alle Wege, die die Person zurücklegte<br />

und späterh<strong>in</strong> gehen wird, offenbar zu werden.<br />

Nun ist es e<strong>in</strong>fach, diese Denkfigur als küchenpsychologisches<br />

Konstrukt zu entlarven – als autobiografische<br />

o<strong>der</strong> biografische Krücke, leicht zu durchschauen<br />

für je<strong>der</strong>mann. Denn die unendlichen<br />

Facetten, aus denen sich e<strong>in</strong> Leben zusammensetzt,<br />

lassen sich nicht <strong>auf</strong> den e<strong>in</strong>en zentralen Dreh- und<br />

Angelpunkt reduzieren. Das Schicksal des E<strong>in</strong>zelnen<br />

ist immer komplexer als jede Interpretation.<br />

Und dennoch haben die magischen biografischen<br />

Momente auch heutzutage nichts von ihrer Fasz<strong>in</strong>ationskraft<br />

e<strong>in</strong>gebüßt. Das gilt für das Genre <strong>der</strong><br />

Er<strong>in</strong>nerungsliteratur, ebenso für die fiktiven Erzählweisen.<br />

So hat beispielsweise <strong>der</strong> <strong>französisch</strong>e Literaturnobelpreisträger<br />

Claude Simon e<strong>in</strong> ganzes Romanwerk<br />

um e<strong>in</strong>en solchen existenziellen Augenblick herumgruppiert,<br />

den <strong>der</strong> Schriftsteller selbst erlebt hatte.<br />

Am 17. Mai 1940 sah er als Soldat mit an, wie e<strong>in</strong><br />

Kavallerieoberst <strong>der</strong> <strong>französisch</strong>en Armee <strong>in</strong> Flan<strong>der</strong>n<br />

von deutschen Heckenschützen nie<strong>der</strong>geschossen<br />

wurde. Zwischen 1947 und 1997 verarbeitete<br />

Simon diese Szene mehrfach literarisch, am<br />

e<strong>in</strong>drucksvollsten <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Roman <strong>Die</strong> Straße <strong>in</strong><br />

Flan<strong>der</strong>n (1960). Ulrich Raulff, von 1997 bis 2000<br />

Leiter des Feuilletons <strong>der</strong> Frankfurter Allgeme<strong>in</strong>en<br />

Zeitung und heute Direktor des Deutschen Literaturarchivs<br />

<strong>in</strong> Marbach, hat dieser Kriegsszene und<br />

ihrem Nachwirken bei Simon e<strong>in</strong>en klugen Essay<br />

gewidmet (Der unsichtbare Augenblick, Gött<strong>in</strong>gen<br />

1999). Simons Rittmeister de Reixach, dem Tod<br />

entgegenreitend, <strong>der</strong> ihn <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er Kugel ereilt,<br />

während er den Säbel hochreißt, <strong>in</strong> dessen Stahl sich<br />

die Maisonne spiegelt: <strong>Die</strong>ses Bild wird vom Erzähler<br />

Georges, <strong>der</strong> als Dragoner dem Ende se<strong>in</strong>es<br />

Kommandeurs zusah, im Roman unzählige Male<br />

beschrieben. Es ist <strong>der</strong> Ausgangspunkt für e<strong>in</strong>e manische<br />

Annäherung an das Leben des Toten. <strong>Die</strong><br />

endlose Er<strong>in</strong>nerungsarbeit, an <strong>der</strong> <strong>der</strong> Leser teilhat,<br />

Das Bild e<strong>in</strong>er Epoche<br />

Aus dem Zweimannloch<br />

Das Buch Ich nichtvon Joachim Fest ist mehr als e<strong>in</strong>e Jugend-Autobiografie: Aus <strong>der</strong> Distanz e<strong>in</strong>es –nicht immer unumstrittenen<br />

– Lebens ergibt sich e<strong>in</strong> Blick <strong>auf</strong> die dunkelste Zeit <strong>der</strong> deutschen Geschichte und die bewahrte Integrität e<strong>in</strong>er Familie.<br />

Von Alexan<strong>der</strong> Cammann<br />

erzeugt e<strong>in</strong>en fotografisch genauen E<strong>in</strong>druck dieses<br />

existenziellen Moments, des gewaltsamen Übergangs<br />

vom Leben zum Tod.<br />

Joachim Fest, <strong>der</strong> am 11. September verstorbene<br />

Publizist und langjährige Mitherausgeber <strong>der</strong> Frankfurter<br />

Allgeme<strong>in</strong>en, hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em großen, zu Recht<br />

gefeierten Er<strong>in</strong>nerungsbuch Ich nicht e<strong>in</strong>en ähnlich<br />

magischen Moment festgehalten. Se<strong>in</strong>e Episode<br />

schil<strong>der</strong>t er mit fotografischer Genauigkeit, gleichsam<br />

<strong>in</strong> Simon’scher Präzision. Den Leser – und das<br />

ist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang das Entscheidende –<br />

lässt er dadurch rückwirkend teilhaben an diesem<br />

schicksalhaften Augenblick <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Leben. Und<br />

es entsteht e<strong>in</strong>e jener verdichteten Szenen, von <strong>der</strong><br />

man glaubt, sie könne viele Geheimnisse, vielleicht<br />

sogar den Wesenskern des Autors offenbaren:<br />

Am 8. März 1945 erhielt <strong>der</strong> Soldat Fest nachts<br />

unweit <strong>der</strong> kle<strong>in</strong>en Geme<strong>in</strong>de Unkel am Rhe<strong>in</strong> von<br />

se<strong>in</strong>em Oberfeldwebel den Befehl, e<strong>in</strong> Zweimannloch<br />

zu graben: <strong>auf</strong> vorgeschobenem Posten <strong>auf</strong><br />

e<strong>in</strong>er Wiese, während <strong>der</strong> Rest <strong>der</strong> Kompanie weit<br />

entfernt im sicheren Wald ebenfalls Erdlöcher aushob.<br />

Oberfeldwebel Mahlmann hatte im Herbst<br />

1944 versucht, Fest wegen zersetzen<strong>der</strong> Bemerkungen<br />

vor das Kriegsgericht zu br<strong>in</strong>gen; nur mit Glück<br />

war Fest dem wenigstens vorläufig, „bis zum Endsieg“,<br />

entgangen. Am an<strong>der</strong>en Morgen begab sich<br />

Mahlmann zu Fest <strong>in</strong> das Zweimannloch. In se<strong>in</strong>en<br />

Er<strong>in</strong>nerungen beschreibt Fest nun den kurzen Disput<br />

zwischen dem brotkauenden, durchaus rotzigen<br />

Gefreiten und se<strong>in</strong>em verhassten Vorgesetzten. Statt<br />

Fest, so wie diesem eigentlich von Mahlmann befohlen<br />

wurde, erhebt sich im Gefolge dieser Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />

fast schon resigniert dessen Vorgesetzter,<br />

um über dem Grubenrand nach den Amerikanern<br />

Ausschau zu halten. Sofort wird er von e<strong>in</strong>er Kugel<br />

tödlich getroffen, was Fest erst nach e<strong>in</strong>igen Sekunden<br />

begreift. Auch 60 Jahre später gel<strong>in</strong>gt ihm e<strong>in</strong><br />

genaues Abbild dieses Todes und <strong>der</strong> Empf<strong>in</strong>dungen<br />

des zufällig Überlebenden: „Zu ke<strong>in</strong>er Zeit habe ich<br />

vergessen, was mir durch den Kopf g<strong>in</strong>g, als ich ihn<br />

reglos und mit offenem Mund, die e<strong>in</strong>dunkelnden<br />

Blutbahnen <strong>auf</strong> dem Gesicht, neben mir liegen sah:<br />

Manchmal, wie selten auch immer, trifft es die Richtigen.<br />

Ich müsste, hielt ich mir neben dem Toten im<br />

Erdloch vor, e<strong>in</strong> wenig Mitgefühl für ihn haben. Ich<br />

brachte nichts <strong>der</strong>gleichen <strong>auf</strong>.“ Wenig später, dem<br />

Erdloch unter Schüssen entronnen und kurz vor <strong>der</strong><br />

57


58<br />

Gefangennahme durch die Amerikaner, verzehrt er<br />

die „Eiserne Ration“, die er dem toten Oberfeldwebel<br />

abgenommen hatte: „‚E<strong>in</strong>en <strong>Die</strong>nst wenigstens<br />

leistest du mir!‘, hatte ich dabei gedacht.“<br />

E<strong>in</strong> leichtes Schau<strong>der</strong>n befällt den heutigen, friedliche<br />

Zeiten gewohnten Leser angesichts dieser kaltblütig<br />

beschriebenen Schlüsselszene des Buches.<br />

Hier ist sie, besagte Verdichtung: e<strong>in</strong> existenzieller<br />

Moment <strong>der</strong> Entscheidung über Leben und Tod,<br />

glücklich die Bedrohung überstanden, <strong>in</strong> ihr den<br />

Fe<strong>in</strong>d gesehen und statt se<strong>in</strong>er überlebt. Zudem blitzen<br />

<strong>in</strong> diesem Augenblick und se<strong>in</strong>er Überlieferung<br />

viele Ingredienzien <strong>der</strong> Fest’schen Charaktermischung<br />

<strong>auf</strong>: die Kälte des Beobachters, die leidenschaftliche<br />

Innenzonen gut verbirgt und zugleich<br />

befeuert; nassforsche Frechheit; ke<strong>in</strong> Heroismus,<br />

aber Mut; e<strong>in</strong> Überheblichkeit nicht scheuendes<br />

Selbstbewusstse<strong>in</strong>, das aus dem Bewusstse<strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Überlegenheit herrührt; e<strong>in</strong>e Fähigkeit zu e<strong>in</strong>er<br />

sche<strong>in</strong>bar zurückgenommenen Darstellungsweise,<br />

die um den Erfolg gerade solcher gleichsam <strong>in</strong>direkt<br />

überwältigenden Form beim Leser genau weiß (e<strong>in</strong>e<br />

Form zudem, die e<strong>in</strong>ige Eitelkeiten tarnen kann);<br />

e<strong>in</strong>e – berechtigte – Schonungslosigkeit: „Oberfeldwebel<br />

Mahlmann war tot. Aber se<strong>in</strong> Ableben<br />

berührte mich nicht. Wie leicht, sagte ich mir, wäre<br />

es für ihn gewesen, <strong>auf</strong> das Kriegsgericht gegen mich<br />

zu verzichten o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges kameradschaftliches<br />

Wort von sich zu geben. Aber dazu war er nie fähig<br />

gewesen.“ Kühle und Leidenschaftlichkeit waren<br />

bei Joachim Fest <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er seltenen Mischung <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

verwoben.<br />

<strong>Die</strong> Präzision, mit <strong>der</strong> diese Episode geschil<strong>der</strong>t<br />

wird, rührt, wie unschwer zu erkennen ist, von <strong>der</strong><br />

lebenslangen schwelenden Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit<br />

diesem Erlebnis. Dar<strong>in</strong> ähnelt Fest dem ewigen<br />

erzählerischen Kreisen Claude Simons um den Tod<br />

des Rittmeisters <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Straße <strong>in</strong> Flan<strong>der</strong>n. Fests<br />

mitleidloser Blick <strong>auf</strong> den toten Nazifeldwebel<br />

beruht <strong>auf</strong> se<strong>in</strong>er frühen Gegnerschaft zum Nationalsozialismus<br />

und alldem, was er <strong>in</strong> den vergangenen<br />

Jahren im Dritten Reich erlebt hatte. Und von<br />

jenem Moment <strong>in</strong> <strong>der</strong> Grube aus <strong>in</strong> die Zukunft<br />

Fests weiterschreitend: Er war dem Tod als 18-Jähriger<br />

um Haaresbreite entronnen, und diese Erfahrung<br />

könnte als geheimer Antrieb fungiert haben,<br />

als Motor e<strong>in</strong>es Lebens und gleichzeitig als Bestätigung<br />

von An<strong>der</strong>sartigkeit, jenes stolzen „Ich nicht“,<br />

das den Er<strong>in</strong>nerungen ihren Titel gab. So schreibt<br />

Fest über se<strong>in</strong>e wie<strong>der</strong>beg<strong>in</strong>nende Schulzeit im<br />

Januar 1947 <strong>in</strong> Freiburg, nach Krieg und Gefangenschaft:<br />

„Ich hockte gleichsam immer noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

E<strong>in</strong>mannloch, von dem die an<strong>der</strong>en bislang nicht<br />

e<strong>in</strong>mal gehört hatten.“<br />

Dennoch galt das für sehr viele Deutsche se<strong>in</strong>er<br />

Generation, die die Gewalt des Krieges noch am<br />

eigenen Leib verspürt haben. <strong>Die</strong> Bundesrepublik<br />

entstammt unzähligen solcher Zweimannlöcher.<br />

Das Überleben war dabei nur e<strong>in</strong>e Zufälligkeit, die<br />

man nur allzu genau erlebte. Unter <strong>der</strong> diffus empfundenen<br />

Schuld des Überlebenden gegenüber dem<br />

unschuldig zu Tode Gekommenen konnte man <strong>auf</strong><br />

Dauer leiden. In <strong>der</strong> Familie Fest überlebten von<br />

drei Brü<strong>der</strong>n die beiden jüngeren. Der Älteste,<br />

Wolfgang, starb im Oktober 1944 im Lazarett,<br />

nachdem er von se<strong>in</strong>em Bataillonskommandeur<br />

trotz Lungenentzündung an die Front getrieben<br />

worden war. Es s<strong>in</strong>d bewegende Seiten, <strong>in</strong> denen<br />

Fest von <strong>der</strong> Erschütterung erzählt, die diese Nachricht<br />

bei <strong>der</strong> Familie und ihm auslöst. Wie<strong>der</strong> protokolliert<br />

er die Überlieferung von Wolfgangs letzten<br />

Stunden <strong>in</strong> schrecklich sezieren<strong>der</strong> Genauigkeit.<br />

Und doch bleibt <strong>der</strong> E<strong>in</strong>druck e<strong>in</strong>er dem Anlass entsprechend<br />

heruntergedimmten, die Gefühle transformierenden<br />

Erzählung. E<strong>in</strong> „unnennbares Unglück“<br />

sei <strong>der</strong> Tod des Bru<strong>der</strong>s für die Familie<br />

gewesen – die Mutter verließ <strong>in</strong> den ihr verbleibenden<br />

25 Jahren sofort den Raum, sobald die Rede <strong>auf</strong><br />

Wolfgang kam. Selbst <strong>der</strong> Großvater, den die beiden<br />

Schwestern von Fest stets als hartherzig empfunden<br />

hatten, schloss sich nach <strong>der</strong> Todesnachricht für<br />

zwei Tage unansprechbar <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Zimmer e<strong>in</strong> – um<br />

mit verwe<strong>in</strong>ten Augen zurückzukehren.<br />

Der jüngere Bru<strong>der</strong> W<strong>in</strong>fried entkam<br />

dagegen wie Joachim nur knapp. Lange nach Kriegsende<br />

berichtete er davon Joachim bei ihrer Wie<strong>der</strong>begegnung.<br />

E<strong>in</strong> Kommando hatte ihn und an<strong>der</strong>e <strong>in</strong><br />

den letzten Kriegstagen als Deserteure verhaftet, und<br />

<strong>auf</strong> dem Marsch zur mutmaßlichen H<strong>in</strong>richtung<br />

floh er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em günstigen Augenblick <strong>in</strong> den Wald,<br />

von den Wachen vergeblich verfolgt. Tatsächlich<br />

seien die verbliebenen elf später erschossen worden.<br />

„Tief ist <strong>der</strong> Brunnen <strong>der</strong> Vergangenheit.“ So<br />

beg<strong>in</strong>nt Thomas Manns Tetralogie Joseph und se<strong>in</strong>e<br />

Brü<strong>der</strong>. Er schloss die Frage an: „Sollte man ihn nicht<br />

unergründlich nennen?“ Joachim Fest teilte diese<br />

Skepsis mit se<strong>in</strong>em lebenslangem Idol. Anfang und<br />

Ende <strong>der</strong> K<strong>in</strong>dheits- und Jugen<strong>der</strong><strong>in</strong>nerungen<br />

gehören dem Zweifel: „<strong>Die</strong> Vergangenheit ist stets<br />

e<strong>in</strong> imag<strong>in</strong>äres Museum.“ Der eigene Formwille und<br />

<strong>der</strong> zeitliche Abstand würden die Ereignisse färben;<br />

die ungetrübte biografische Wahrheit sei „nicht zu<br />

haben“, zitiert Fest am Ende Sigmund Freud. Natürlich<br />

ist <strong>der</strong> Autor sich <strong>der</strong> Schwierigkeiten bewusst,<br />

die mit <strong>der</strong> Schil<strong>der</strong>ung von Ereignissen e<strong>in</strong>hergehen,<br />

die so lange zurückliegen. <strong>Die</strong>se rückblickende<br />

Konstruktionsleistung ist <strong>in</strong> ihrer nachträglichen<br />

Suggestionskraft oft höchst fragwürdig. Gerade<br />

solch e<strong>in</strong>e Schlüsselszene wie die des Zweimannlochs<br />

bleibt anfällig für Stilisierungen. Dennoch hat Fest<br />

sich <strong>der</strong> problematischen Er<strong>in</strong>nerungsarbeit unterzogen<br />

– mit staunenswert präzisem Ergebnis, gerade<br />

auch <strong>in</strong> solchen zentralen Episoden. Woher diese<br />

Sicherheit? Der Leser hat den E<strong>in</strong>druck, jenen so<br />

weit entfernten Jahren <strong>der</strong> braunen Diktatur so nah<br />

wie selten sonst zu se<strong>in</strong>. Klar und e<strong>in</strong>deutig wird das<br />

Leben <strong>der</strong> Familie Fest <strong>in</strong> den dreißiger und vierziger<br />

Jahren beschrieben, als ob dem Autor schon e<strong>in</strong>e Verfilmung<br />

vorgeschwebt hätte, so wie sie zur Zeit anhand<br />

<strong>der</strong> Er<strong>in</strong>nerungen se<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>st im Feuilleton für<br />

Literatur zuständigen Redakteurs Marcel Reich-<br />

Ranicki entsteht.


<strong>Die</strong> Genauigkeit <strong>der</strong> Fest’schen Er<strong>in</strong>nerungen verblüffte<br />

viele Beobachter unter an<strong>der</strong>em auch deshalb,<br />

weil gleichzeitig Günter Grass se<strong>in</strong> literarisches<br />

Er<strong>in</strong>nerungsbuch Beim Häuten <strong>der</strong> Zwiebel vorlegte.<br />

Kurz vor se<strong>in</strong>em Tod – und vor dem Ersche<strong>in</strong>en se<strong>in</strong>es<br />

eigenen Buches – schlug Fest angesichts des späten<br />

Bekenntnisses von Grass, <strong>in</strong> den letzten Kriegsmonaten<br />

1944/1945 bei <strong>der</strong> Waffen-SS gekämpft zu<br />

haben, noch e<strong>in</strong>mal se<strong>in</strong>e (vorletzte) Schlacht. Er<br />

attackierte Grass vehement und warf ihm via BILD,<br />

Spiegel, Weltwoche und Cicero lautstark das jahrelange<br />

Schweigen vor, gerade angesichts <strong>der</strong> öffentlichen<br />

Rolle, die dieser zeitlebens gespielt hatte. Zudem<br />

stieß er sich an den von Grass beschriebenen<br />

Er<strong>in</strong>nerungslücken aus jener Zeit, die diesem nur<br />

noch verschwommen präsent war. Das war von Fest<br />

<strong>in</strong> dieser breit zitierten Heftigkeit, bei aller jahrelang<br />

gepflegten Gegnerschaft zu Grass (<strong>der</strong> <strong>in</strong> Ich nicht am<br />

Ende auch e<strong>in</strong>en kritischen Absatz bekommt), nicht<br />

son<strong>der</strong>lich nobel; es sieht selten gut aus, wenn zwei<br />

alte verdiente Männer aus ihren E<strong>in</strong>mannlöchern<br />

nicht herauskommen und sich öffentlich bekriegen.<br />

Doch beson<strong>der</strong>s fe<strong>in</strong>s<strong>in</strong>nig war Fest nie, wenn es<br />

gegen den Moralismus <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>tellektuellen L<strong>in</strong>ken<br />

g<strong>in</strong>g. Da fuhr er, ebenso wie die Gegenseite, auch<br />

schweres Geschütz <strong>auf</strong>. Tatsächlich störte jedoch im<br />

Falle Grass die diffuse, zudem literarisch verbrämte<br />

Rekonstruktion <strong>der</strong> Vergangenheit auch viele an<strong>der</strong>e<br />

Leser und Rezensenten. Dass das verspätete SS-<br />

Bekenntnis bei e<strong>in</strong>em lauten Vergangenheits-Aufarbeiter<br />

wie Grass mehr als unschön und kopfschüttelnd<br />

zu kritisieren ist, versteht sich von selbst. Lange<br />

kann man sich darüber Gedanken machen, wie sehr<br />

Grass diesen geheimen, von ihm verschwiegenen,<br />

höchst persönlichen „Schuldmotor“ brauchte, um<br />

se<strong>in</strong> Werk und se<strong>in</strong>e öffentliche Rolle auszufüllen.<br />

Jenseits solcher Moral- und Geschmacksfragen<br />

jedoch ist die Frage weitaus <strong>in</strong>teressanter, warum <strong>in</strong><br />

den Fest’schen Er<strong>in</strong>nerungen alles deutlich erkennbar<br />

ist, was bei Grass im Grauschleier allenfalls schemenhaft<br />

sichtbar wird.<br />

Mit beiden Büchern liegen die Ergebnisse<br />

zweier gänzlich unterschiedlicher lebenslanger<br />

Beschäftigungen mit selbst erlebter Vergangenheit<br />

vor – und es ist e<strong>in</strong>er beson<strong>der</strong>en Laune des Schicksals<br />

zu verdanken, dass das deutsche Publikum beide<br />

Formen gleichzeitig studieren kann. Der Schriftsteller<br />

musste zeitlebens das Material se<strong>in</strong>er Vergangenheit<br />

verformen, verän<strong>der</strong>n, variieren, um daraus<br />

Literatur zu erschaffen. <strong>Die</strong>s geschah <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em allmählichen<br />

Prozess, <strong>in</strong> dem die künstlerische Fiktion<br />

naturgemäß immer wichtiger war als die Realität.<br />

Der verschwommene Blick zurück, von Grass selber<br />

als Problem formuliert, entstand aus se<strong>in</strong>er Arbeit<br />

als Schriftsteller. <strong>Die</strong> Phantasie stand da immer über<br />

<strong>der</strong> Wirklichkeit. An<strong>der</strong>e Autoren g<strong>in</strong>gen seit jeher<br />

an<strong>der</strong>s vor im Umgang mit dem Material<br />

Geschichte, er<strong>in</strong>nert sei an Walter Kempowski o<strong>der</strong><br />

Uwe Johnson. Doch jüngst hat <strong>der</strong> junge Schriftsteller<br />

Daniel Kehlmann, wahrlich ke<strong>in</strong> großer Anhän-<br />

Anonym<br />

ger <strong>der</strong> Blechtrommler-Ästhetik, dar<strong>auf</strong> h<strong>in</strong>gewiesen,<br />

dass Grass nur hierzulande als Realist rezipiert,<br />

im Ausland dagegen sehr viel stärker <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er surrealistischen<br />

Tradition gesehen würde. So verstanden,<br />

folgt die diffuse Er<strong>in</strong>nerung des Literaturnobelpreisträgers<br />

dessen jahrzehntelanger Schaffenslogik.<br />

Auch die von ihm erlebte Realität se<strong>in</strong>er existenziellen<br />

Erfahrung <strong>der</strong> letzten Kriegsmonate wurde von<br />

ihm förmlich ausgesaugt, bis sie nur noch als Er<strong>in</strong>nerungsschatten<br />

<strong>in</strong> wackeligen Strichen nachzuzeichnen<br />

war – kompensiert mit kräftiger Phantasie.<br />

Vorhalten kann man dem Schriftsteller dessen verschwommenen<br />

Blick zurück kaum, da er aus se<strong>in</strong>em<br />

arbeitsbed<strong>in</strong>gt verfremdenden Umgang mit <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

herrührt.<br />

Joachim Fest hat dagegen den an<strong>der</strong>en Weg<br />

gewählt, seit den 1950er Jahren. In all se<strong>in</strong>en<br />

Büchern, die sich mit <strong>der</strong> NS-Vergangenheit ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzten,<br />

kam es <strong>auf</strong> die genaue Rekonstruktion<br />

an. Er tra<strong>in</strong>ierte diesen Rückblick, den Umgang und<br />

die E<strong>in</strong>ordnung von Fakten. <strong>Die</strong> Sicht des Historikers<br />

wie des Journalisten unterschied sich vom<br />

Selbstverständnis des Künstlers und Schriftstellers.<br />

Der diagnostische Blick, den Fest <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en historischen<br />

Werken e<strong>in</strong>geübt hatte, kam ihm nun bei se<strong>in</strong>en<br />

eigenen Jugen<strong>der</strong><strong>in</strong>nerungen zu Hilfe. Joachim<br />

Fest hat sich also am Ende se<strong>in</strong>es Lebens noch e<strong>in</strong>mal<br />

tief <strong>in</strong> den Brunnen se<strong>in</strong>er Vergangenheit h<strong>in</strong>abgelassen.<br />

Ganz so unergründlich, wie Thomas<br />

Mann me<strong>in</strong>te, war er doch nicht; erstaunlich viel<br />

för<strong>der</strong>te Fest mit Hilfe zahlreicher Gesprächsnotizen,<br />

<strong>der</strong> familiären Überlieferung und Recherchen<br />

bei e<strong>in</strong>stigen Weggefährten zutage. Hier zeigten sich<br />

die Vorteile e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>takten Familie: Immer wie<strong>der</strong><br />

gab es die Diskussionen über die Vergangenheit,<br />

jenes Deuten und Interpretieren dessen, was <strong>der</strong> Familie<br />

Fest während des Nationalsozialismus wi<strong>der</strong>fahren<br />

war. <strong>Die</strong>ses Klima <strong>der</strong> familiären Diskussionen<br />

sowie mit lebenslangen Jugendfreunden hat<br />

Grass nicht erlebt. Er schuf sich se<strong>in</strong>e Existenz weitgehend<br />

neu und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bee<strong>in</strong>druckenden Energieleistung<br />

aus sich heraus, <strong>auf</strong> Kosten <strong>der</strong> Er<strong>in</strong>nerung,<br />

wie sich heute herausstellt. Bis zu ihrem<br />

Tod hat dagegen die Mutter Fest erst ihren Mann,<br />

später dann Joachim immer wie<strong>der</strong> gebeten, das von<br />

ihnen geme<strong>in</strong>sam Erlebte <strong>auf</strong>zuschreiben –<br />

Zweiter Weltkrieg: Funker <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zweimannloch<br />

59


60<br />

zunächst vergeblich, ke<strong>in</strong>er verspürte so recht Lust<br />

zu dieser mühsamen und nerven<strong>auf</strong>reibenden<br />

Form. Davon war die Mutter sehr enttäuscht, wie<br />

Fest <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch gesteht. Doch irgendwann<br />

begann er dann mit Notizen, <strong>der</strong> gesprächsweisen<br />

Er<strong>in</strong>nerung und den Erkundigungen bei Schulfreunden<br />

und Mitgefangenen, die sich am Ende zu<br />

diesem Buch formen. Insofern s<strong>in</strong>d se<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerungen<br />

auch die E<strong>in</strong>lösung e<strong>in</strong>es familiären Vermächtnisses.<br />

Und Gerechtigkeit für unsere Väter<br />

und Großväter: Ausspielen sollte man beide Modi<br />

des autobiografischen Rückblicks, denjenigen von<br />

Fest und denjenigen von Grass, nicht gegene<strong>in</strong>an<strong>der</strong>.<br />

Sie bleiben unterschiedlich und jeweils s<strong>in</strong>nvoll.<br />

Schauen wir nochmals <strong>auf</strong> die Jahre vor jener existenziellen<br />

Szene im Zweimannloch:<br />

In Karlshorst, e<strong>in</strong>em eher kle<strong>in</strong>bürgerlichen Stadtteil<br />

im Berl<strong>in</strong>er Osten, wuchs <strong>der</strong> 1926 geborene<br />

Fest <strong>auf</strong>. Das Politische war das Schicksal se<strong>in</strong>er<br />

Familie. Der Vater Johannes, verwundet im Ersten<br />

Weltkrieg, war Schulrat und gründete 1919 im<br />

Süden Berl<strong>in</strong>s mehrere Bezirksverbände <strong>der</strong> katholischen<br />

Zentrumspartei. Später stieg er im republiktreuen<br />

„Reichsbanner“-Verband, jener Truppe zur<br />

Verteidigung <strong>der</strong> Republik, die kämpferische Sozialdemokraten,<br />

Zentrumsleute und Liberale vere<strong>in</strong>te,<br />

<strong>in</strong> führende Positionen <strong>auf</strong>. Bürgerlich, republikanisch,<br />

katholisch, preußisch: <strong>Die</strong>se vier ethischen<br />

Eckpfeiler prägten die Familie. E<strong>in</strong>e M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit<br />

waren sie, wenn man genauer h<strong>in</strong>schaut, im Grunde<br />

schon zu Zeiten <strong>der</strong> Weimarer Republik: Demokraten<br />

gab es bekanntlich von Anbeg<strong>in</strong>n an nicht allzu<br />

viele – und es wurden gegen Ende immer weniger.<br />

Gleich 1933 wird <strong>der</strong> Vater von den Nazis wegen<br />

se<strong>in</strong>er politischen Ges<strong>in</strong>nung entlassen. Fortan verteidigt<br />

er <strong>in</strong> vehementer Kompromisslosigkeit gegenüber<br />

den braunen Machthabern se<strong>in</strong> privates<br />

Refugium und se<strong>in</strong>e fünf K<strong>in</strong><strong>der</strong>. Ende Februar,<br />

nach dem Reichstagsbrand, fuhr <strong>der</strong> Vater mit den<br />

beiden ältesten Söhnen, Wolfgang und dem 6-jährigen<br />

Joachim, <strong>in</strong>s Berl<strong>in</strong>er Zentrum: Dort versuchte<br />

er ihnen den Ernst <strong>der</strong> Stunde zu verdeutlichen und<br />

erklärte ihnen, die beiden Jungs offenbar überfor<strong>der</strong>nd,<br />

die Bedeutung des Reichstags. <strong>Die</strong> Lage <strong>der</strong><br />

Familie wird schwieriger, nicht nur wegen <strong>der</strong> Risiken<br />

für Leib und Leben. <strong>Die</strong> Existenz sichert das<br />

Mietshaus, <strong>in</strong> dem die Familie selber, nunmehr <strong>auf</strong><br />

verkle<strong>in</strong>erter Fläche, wohnt sowie wohl auch <strong>der</strong><br />

Großvater. <strong>Die</strong>ser hatte um die Jahrhun<strong>der</strong>twende<br />

maßgeblich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Stadtentwicklungsgesellschaft<br />

für Karlshorst gearbeitet und fängt nun, lange nach<br />

se<strong>in</strong>er Pensionierung, wie<strong>der</strong> bei e<strong>in</strong>er Bank an, <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> es <strong>der</strong> 70-Jährige rasch zum Filialleiter br<strong>in</strong>gt.<br />

Als die durch materielle und psychische Bedrängnis<br />

verzweifelte Mutter ihren Mann 1936 <strong>auf</strong>for<strong>der</strong>t,<br />

doch pro forma <strong>der</strong> NSDAP beizutreten, weil<br />

solche Lippenbekenntnisse als Überlebenstechnik<br />

für kle<strong>in</strong>e Leute legitim seien, erleben die heimlichen<br />

Zuhörer Joachim und Wolfgang den unbeugsamen<br />

Vater: „Wir s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>en Leute. Nicht<br />

<strong>in</strong> solchen Fragen!“ Dar<strong>in</strong> lag nicht so sehr Stolz als<br />

vielmehr die E<strong>in</strong>sicht, nicht gegen das Gewissen<br />

leben zu können. Folgerichtig lautete das biblische<br />

Motto, das Vater Fest den beiden ältesten Söhnen<br />

mitgab: „Auch wenn alle mitmachen – ich nicht!“<br />

Vielfach hat man das Buch als Hommage an den<br />

Vater gelesen. Tatsächlich ist die Standhaftigkeit, die<br />

dieser Mann an den Tag legt, zutiefst bee<strong>in</strong>druckend.<br />

Doch <strong>der</strong> Autobiograf Fest ist zu klug,<br />

um hier e<strong>in</strong> geglättetes Bild zu zeichnen. In die Verehrung<br />

für den Vater, <strong>der</strong> unter großen Gefahren<br />

politische Kontakte mit Gleichges<strong>in</strong>nten pflegt,<br />

mischen sich auch zart-spöttische Töne für den<br />

„Schulmeister“, wie die Brü<strong>der</strong> ihn manchmal<br />

nannten. <strong>Die</strong> Bildungsbürgerlichkeit, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sie <strong>auf</strong>wuchsen,<br />

hatte ihre Grenzen: Als e<strong>in</strong> jüdischer<br />

Freund <strong>der</strong> Eltern Joachim die Buddenbrooks ausleihen<br />

wollte, verbot <strong>der</strong> Vater die Lektüre und<br />

schickte das Buch verstimmt zurück: Er hatte Thomas<br />

Mann die antirepublikanischen Betrachtungen<br />

e<strong>in</strong>es Unpolitischen nicht verziehen. War Lübeck als<br />

geistige Lebensform zu protestantisch? Dass Mann<br />

schon 1922 mit se<strong>in</strong>er Rede Von deutscher Republik<br />

zum Verteidiger von Weimar mutiert war, blieb<br />

offenbar unerheblich. Romanlektüre fand <strong>der</strong> bildungsbeflissene<br />

Vater Fest ohneh<strong>in</strong> überflüssig. Hier<br />

spürt man e<strong>in</strong>e gewisse Enge des kle<strong>in</strong>bürgerlichen<br />

Berl<strong>in</strong>er Ostens, vielleicht auch die des Aufsteigers:<br />

Se<strong>in</strong> Vater war noch Landwirt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Neumark. Von<br />

weiteren geistigen Horizonten zur gleichen Zeit im<br />

Berl<strong>in</strong>er Westen, also im großbürgerlichen Grunewald<br />

o<strong>der</strong> Dahlem, künden die Er<strong>in</strong>nerungsbücher<br />

des Gelehrtensohnes Nicolaus Sombart (Jugend <strong>in</strong><br />

Berl<strong>in</strong>) o<strong>der</strong> auch des langjährigen Freundes von Joachim<br />

Fest Wolf Jobst Siedler (E<strong>in</strong> Leben wird besichtigt).<br />

Politisch jedoch sah man im Hause Fest klarer.<br />

Den Alltag <strong>in</strong> <strong>der</strong> Diktatur schil<strong>der</strong>t Fest anschaulich:<br />

stille Verzweiflung und Zornesausbrüche <strong>der</strong><br />

Eltern, Gestapo-Heimsuchungen, die Straßenseite<br />

wechselnde e<strong>in</strong>stige Bekannte, die Solidarität<br />

gleichges<strong>in</strong>nter Freunde. <strong>Die</strong> idyllischen Momente<br />

des Heranwachsens bleiben stets von Gefährdung<br />

überschattet. Dennoch gibt es sie: Ferien <strong>auf</strong> dem<br />

Land bei Onkel und Großvater, Opernbesuche mit<br />

Tante Dolly, Ausflüge nach Potsdam-Sanssouci,<br />

Fußballleidenschaft und Abenteuer <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>s Proletariervierteln,<br />

dazu immer wie<strong>der</strong> die vorlauten<br />

Frechheiten von Joachim. Oft und allzu gerne stilisiert<br />

sich <strong>der</strong> Autor als <strong>in</strong>telligent-vorwitziger Berl<strong>in</strong>er<br />

Rabauken, ob nun gegenüber den vergleichsweise<br />

toleranten Eltern o<strong>der</strong> beschränkten Lehrern.<br />

<strong>Die</strong>se Er<strong>in</strong>nerungen zeigen e<strong>in</strong>e männliche<br />

Welt, kaum e<strong>in</strong> Wort wird über die jüngeren<br />

Schwestern verloren. Fests Frauengestalten bleiben<br />

– wie übrigens auch se<strong>in</strong>e katholische Prägung –<br />

unscharf, mit Ausnahme <strong>der</strong> rührend fe<strong>in</strong>fühlig,<br />

zugleich <strong>in</strong> beklemmen<strong>der</strong> Offenheit geschil<strong>der</strong>ten<br />

Mutter. Sie trug <strong>in</strong> diesen Jahren die Hauptlast, was<br />

sich noch lange Jahre nach Kriegsende <strong>in</strong> erschütternd<br />

trostlosen Lebensrückblicken nie<strong>der</strong>schlägt –<br />

vom Sohn <strong>in</strong> den kargen, gedämpften Worten verständnisvoll<br />

überliefert.


Wegen e<strong>in</strong>er Hitlerkarikatur, die Joachim <strong>in</strong> die<br />

Schulbank schnitzte, müssen die drei Brü<strong>der</strong> 1942<br />

die Schule verlassen und kommen nach Freiburg <strong>auf</strong><br />

e<strong>in</strong> katholisches Internat. Joachim meldet sich nach<br />

Arbeitsdienst- und Flakhelferzeit zur Wehrmacht,<br />

um <strong>der</strong> SS zu entgehen. Das führt zu heftigen Konflikten<br />

mit dem Vater: „Zum Verbrecherkrieg Hitlers“<br />

melde man sich pr<strong>in</strong>zipiell nicht freiwillig, so<br />

dessen Maxime. Jacob Burckhardts Kultur <strong>der</strong><br />

Renaissance wird von Joachim während <strong>der</strong> Bahnfahrten<br />

von Berl<strong>in</strong> nach Freiburg studiert, <strong>in</strong>mitten<br />

fanatischer Volksgenossen. Hier sche<strong>in</strong>t rückblickende<br />

Eitelkeit durch – Kompensation für Karlshorst?<br />

-, auch wenn die Kunst <strong>in</strong> jenen Jahren tatsächlich<br />

<strong>in</strong> zahllosen Gesprächen unter Freunden<br />

e<strong>in</strong>e Art Trost bot, von dem man sich heute kaum<br />

mehr e<strong>in</strong>e Vorstellung machen kann. Das Freiheit<br />

verheißende Fanfarensignal <strong>in</strong> Beethovens Fidelio<br />

blieb <strong>in</strong> <strong>der</strong> Realität aber aus, was Joachim mit tiefer<br />

Skepsis erfüllte.<br />

„Stolz <strong>auf</strong> die Abweichung“: So beschrieb Fests<br />

jüngerer Bru<strong>der</strong> W<strong>in</strong>fried Jahrzehnte später e<strong>in</strong>e<br />

typische Charaktereigenschaft dieser ungewöhnlichen<br />

Familie. Im Wissen um die eigene Opposition<br />

gegenüber dem Nationalsozialismus trat er entsprechend<br />

selbstbewusst gegenüber den Amerikanern<br />

<strong>auf</strong>, <strong>in</strong> <strong>der</strong>en Gefangenschaft er nach se<strong>in</strong>em Überleben<br />

im Zweimannloch rasch geriet. Nach an<strong>der</strong>thalb<br />

Jahren im Lager <strong>in</strong> Frankreich trifft er die Familie<br />

<strong>in</strong> Freiburg und Berl<strong>in</strong> allmählich wie<strong>der</strong>. Auch<br />

<strong>der</strong> Vater kehrte aus russischer Gefangenschaft<br />

heim, wenngleich <strong>in</strong> vielem e<strong>in</strong> gebrochener Mann.<br />

Es war überstanden, doch um den Preis lasten<strong>der</strong>,<br />

elementarer Erfahrungen.<br />

Für Joachim Fest beg<strong>in</strong>nt jedenfalls die Zeit allmählicher<br />

Entfaltung <strong>in</strong> <strong>der</strong> frühen Bundesrepublik.<br />

Noch etwas ziellos landet er im Journalismus –<br />

gerne hätten wir gewusst, was se<strong>in</strong> Vater zu dieser<br />

doch vergleichsweise unseriösen, wenig bürgerlichen<br />

Berufswahl se<strong>in</strong>es Sohnes gesagt hat, <strong>der</strong> doch<br />

eigentlich lange „Privatgelehrter“ hatte werden wollen,<br />

sehr zum Amüsement <strong>der</strong> Familie.<br />

Durch se<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>dheit und Jugend war Joachim<br />

Fest früh antitotalitär und nonkonform geimpft.<br />

Das zeitlebens skeptische Menschenbild des konservativen<br />

Fest rührte sicher auch von Leuten wie dem<br />

Gefreiten Schnei<strong>der</strong> her, <strong>der</strong> Fest durch Denunziation<br />

im Zusammenspiel mit dem Oberfeldwebel<br />

fast vors Kriegsgericht gebracht hätte und nach <strong>der</strong><br />

Gefangennahme durch die Amerikaner lauthals<br />

me<strong>in</strong>te, von den Verbrechen <strong>der</strong> Nazis nichts<br />

gewusst zu haben. Daher war Fest später <strong>der</strong> normative<br />

Überschuss <strong>der</strong> bundesrepublikanischen L<strong>in</strong>ken<br />

e<strong>in</strong> Gräuel: „Den Muff von 1000 Jahren hatten<br />

die 68er <strong>in</strong> ihren Jeans“ – Fest war nie zimperlich<br />

gegenüber Gegnern; gerne stürzte er sich <strong>in</strong> die geistige<br />

Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> L<strong>in</strong>ken. Se<strong>in</strong>e<br />

allerletzte Schlacht, nach Grass, schlug er posthum<br />

gegen Jürgen Habermas, die, Ende Oktober öffentlich<br />

geworden, rasch zur Farce zu werden drohte und<br />

die e<strong>in</strong>en Schatten <strong>auf</strong> das Er<strong>in</strong>nerungswerk warf:<br />

Gegen Ende se<strong>in</strong>er Jugen<strong>der</strong><strong>in</strong>nerungen notierte<br />

Andreas Pöhlmann<br />

Fest ohne Namensnennung, aber entschlüsselbar,<br />

jenes mittlerweile wi<strong>der</strong>legte Gerücht, Habermas<br />

hätte e<strong>in</strong>en 1945 als HJ-Führer verfassten Brief<br />

Jahre später, als er ihn <strong>in</strong> die Hände bekam, verschluckt,<br />

um se<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>stige nationalsozialistische<br />

Überzeugung zu verbergen. Alexan<strong>der</strong> Fest, <strong>der</strong><br />

Sohn und dazu Verleger se<strong>in</strong>es Vaters, hat klargestellt,<br />

dass <strong>der</strong> sterbende Joachim Fest dieses<br />

Gerücht im Manuskript nicht mehr hat korrigieren<br />

können. Dennoch ahnt man bei <strong>der</strong> Lektüre <strong>der</strong><br />

Habermas-Passage im Buch wie<strong>der</strong> etwas von jener<br />

Mischung aus Kühle und Leidenschaftlichkeit,<br />

durch die er se<strong>in</strong>en l<strong>in</strong>ken Antipoden auch mit<br />

unfe<strong>in</strong>en Mitteln zu Leibe rücken konnte – die ihn<br />

ihrerseits über viele Jahrzehnte als <strong>in</strong>tellektuelle<br />

Zentralgestalt deutscher Bürgerlichkeit durchaus<br />

hasserfüllt betrachteten.<br />

Es ist e<strong>in</strong> Glück, dass Joachim Fest, <strong>der</strong> am<br />

8. Dezember 80 Jahre alt geworden wäre, diese Jugen<strong>der</strong><strong>in</strong>nerungen<br />

vor se<strong>in</strong>em Tod am 11. September<br />

noch vollenden konnte. Denn <strong>in</strong> <strong>der</strong> Summe<br />

legte <strong>der</strong> „Metabürger“ Fest (Durs Grünbe<strong>in</strong>) damit<br />

e<strong>in</strong> Buch vor, das wie kaum e<strong>in</strong> zweites als Longseller<br />

über die Jahre h<strong>in</strong>weg pädagogisch im wohlverstandenen<br />

S<strong>in</strong>ne wirken könnte. Denn es handelt sich<br />

um e<strong>in</strong>e demokratische Verhaltenslehre, <strong>in</strong> guten<br />

wie vor allem <strong>in</strong> schlechten Zeiten, voller Anschauung<br />

und Dramatik, <strong>in</strong> stilistischer Meisterschaft<br />

und dabei selbst <strong>in</strong> ihren offen dargebotenen kle<strong>in</strong>en<br />

Schwächen menschliches Maß beweisend. Joachim<br />

Fest ist es gelungen, E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Werdegang<br />

zu bieten und zugleich e<strong>in</strong> Hausbuch deutscher Bürgerlichkeit<br />

zu verfassen.<br />

In den siebziger Jahren hatte Fests älterer Freund,<br />

<strong>der</strong> Publizist und e<strong>in</strong>stige Emigrant Sebastian Haffner,<br />

Fests großer Hitler-Biografie se<strong>in</strong>e berühmten<br />

Anmerkungen zu Hitler gleichsam komplementär<br />

zur Seite gestellt. Drei Jahrzehnte später s<strong>in</strong>d beide<br />

wie<strong>der</strong>um vere<strong>in</strong>t, über den Tod h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong> ihren Vermächtnissen:<br />

Künftig wird man Haffners posthume,<br />

im Jahr 2000 erschienene Geschichte e<strong>in</strong>es<br />

Deutschen und Fests Ich nicht als die beiden autobiografischen<br />

Tugendlehren lesen, die <strong>der</strong> deutschen<br />

Geschichte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts entstammen<br />

und diese als Mahnung überdauern.<br />

61


62<br />

Es stimmt nicht, dass Englisch die l<strong>in</strong>gua<br />

franca <strong>der</strong> Welt ist. Es gibt nur fremdsprachliche<br />

Varianten davon.<br />

Am schlimmsten ist dabei die Imitation des Amerikanischen:<br />

Hier werden alle Rs so h<strong>in</strong>gebungsvoll<br />

zungengerollt, dass <strong>in</strong> diesem Dauerlaut alle Vokale<br />

<strong>auf</strong> Nimmerwie<strong>der</strong>hören verschw<strong>in</strong>den. Durchaus<br />

gewöhnungsfähig ist dagegen das, was Franzosen für<br />

Englisch halten: Man muss dabei nur wissen, dass sie<br />

alle Wörter, die irgendwie <strong>französisch</strong> aussehen<br />

(etwa „strategy“ o<strong>der</strong> „<strong>in</strong>formation society“), selbstbewusst<br />

<strong>französisch</strong> aussprechen; aber dar<strong>auf</strong> kann<br />

man sich ja e<strong>in</strong>stellen. Gut verständlich ist die polnische<br />

Englisch-Variante. Sie ist nüchtern, trocken,<br />

unaffektiert, zielt erst gar nicht <strong>auf</strong> e<strong>in</strong>e Ähnlichkeit<br />

und ist deshalb auditiv durchsichtig.<br />

Im Augenblick b<strong>in</strong> ich gerade <strong>der</strong> US-Imitation<br />

ausgesetzt. Wir, e<strong>in</strong>e gute Handvoll Zuhörer, haben<br />

vor uns vier Personen <strong>auf</strong> e<strong>in</strong>er Bühne und rechts,<br />

weiter vorne, den Mo<strong>der</strong>ator an e<strong>in</strong>em Pult stehend<br />

und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em schier endlosen Redefluss gefangen. Es<br />

stört nicht, dass <strong>der</strong> Redner unverständlich redet,<br />

weil wir alles, was er sagt, auch <strong>auf</strong> den weltweit<br />

unvermeidlichen PowerPo<strong>in</strong>t-Projektionen mitlesen<br />

können.<br />

Wir s<strong>in</strong>d <strong>auf</strong> dem <strong>in</strong>ternationalen Ökonomischen<br />

Forum, das <strong>in</strong> diesem Jahr zum 16. Mal <strong>in</strong> dem kle<strong>in</strong>en<br />

südpolnischen Kurort stattf<strong>in</strong>det, <strong>in</strong> Krynica-<br />

Zdrój, fast an <strong>der</strong> grünen Grenze zur Slowakei. Im<br />

Kern besteht das Städtchen aus e<strong>in</strong>em etwa mandelförmigen<br />

Promenade-Platz, den neoklassizistische<br />

Gebäude und altmo<strong>der</strong>ne Neubauten e<strong>in</strong>rahmen:<br />

<strong>auf</strong> <strong>der</strong> Ostseite das Neue Kurhaus, das Hauptgebäude<br />

und das Alte Badehaus und gegenüber vor<br />

allem das schöne Alte Kurhaus.<br />

In diesen Gebäuden treffen sich jährlich Anfang<br />

September etwa tausend Menschen. <strong>Die</strong> meisten<br />

kommen naturgemäß aus Polen (über e<strong>in</strong> Drittel),<br />

fast ebenso viele aus Osteuropa, etwa 20 Prozent<br />

s<strong>in</strong>d Westeuropäer, 10 Prozent Russen. E<strong>in</strong> gutes<br />

Drittel <strong>der</strong> Teilnehmer vertritt Industrie und Wirtschaft<br />

im weitesten S<strong>in</strong>n, aber auch die Abgesandten<br />

zahlreicher Universitäten, Forschungs<strong>in</strong>stitute und<br />

Th<strong>in</strong>k-Tanks s<strong>in</strong>d ebenso stark vertreten, zahlreicher<br />

als die Politiker (knapp 20 Prozent) o<strong>der</strong> die<br />

Presse (e<strong>in</strong> knappes Zehntel). Als Nachbarn <strong>in</strong><br />

Reportage<br />

Der an<strong>der</strong>e Wirtschaftsgipfel<br />

Alle reden, e<strong>in</strong>mal im Jahr, von Davos und se<strong>in</strong>em Weltwirtschaftsforum. Kaum jemand vom Ökonomischen Forum, das seit<br />

dem Ende des Kommunismus alljährlich <strong>in</strong> Krynica (Südpolen) stattf<strong>in</strong>det. Es ist im Begriff, se<strong>in</strong>en eigenen Stil und se<strong>in</strong>e eigene<br />

Agenda zu f<strong>in</strong>den (http://www.forum-ekonomiczne.pl).<br />

Von Fritz R. Glunk<br />

europa diskutieren sie <strong>in</strong> 140 kle<strong>in</strong>en und großen<br />

Veranstaltungen drei Tage lang Mikro- und Makroökonomie,<br />

<strong>in</strong>ternationale Beziehungen, Bildung<br />

und Kultur sowie Sicherheits-, Energie- und gesellschaftliche<br />

Fragen.<br />

Wichtig ist hier, wer e<strong>in</strong>e Assistent<strong>in</strong> herbeiw<strong>in</strong>ken<br />

kann, um dem Journalisten e<strong>in</strong>e Antwort (o<strong>der</strong> auch<br />

nur e<strong>in</strong>e Visitenkarte) zu geben. Am liebsten tun das<br />

prom<strong>in</strong>ente russische Teilnehmer.<br />

<strong>Die</strong> Plenumssitzung am 7. September morgens ist<br />

überraschend dünn besucht; im ehrwürdigen<br />

Balowa-Saal im ersten Stock des Alten Kurhauses<br />

belegen 80 Zuhörer erkennbar nicht die 170 Sitze.<br />

<strong>Die</strong> Statements <strong>auf</strong> dem Podium s<strong>in</strong>d von unterschiedlichem<br />

Gewicht. Viviane Red<strong>in</strong>g, EU-Kommissar<strong>in</strong><br />

für Informationsgesellschaft und Medien,<br />

trägt eher Bekanntes vor: Sie lobt Europas Lebensqualität,<br />

nennt Ch<strong>in</strong>a und Indien „Herausfor<strong>der</strong>ungen“,<br />

beklagt das Fehlen von 50 000 europäischen<br />

Ingenieuren, hält die fernsehfähigen Handys für<br />

e<strong>in</strong>en Durchbruch (sie sagt: e<strong>in</strong>e killer-application)<br />

und sieht durch die Breitband-Internet-Anb<strong>in</strong>dung<br />

<strong>in</strong> den nächsten Jahren 250 000 neue Jobs entstehen.<br />

Frau Professor Gronkiewicz-Waltz (Polen) hält<br />

dem alten Kont<strong>in</strong>ent se<strong>in</strong>en Protektionismus vor<br />

und lobt den freien Markt <strong>in</strong> den USA. Der frühere<br />

Premierm<strong>in</strong>ister <strong>der</strong> Slowakei, Mikulás Dzur<strong>in</strong>da,<br />

hält die Gesundheit für den höchsten Wert (wenn<br />

auch für teuer), und im Übrigen komme es nicht<br />

dar<strong>auf</strong> an, Geld auszugeben, son<strong>der</strong>n Geld „zu<br />

schaffen“. Der polnische Wirtschaftsm<strong>in</strong>ister Andrzej<br />

Kaczmarek plädiert für e<strong>in</strong>en Wissenstransfer<br />

nach Polen, getragen durch private Investitionen, da<br />

öffentliches Geld nicht mehr vorhanden sei. Durch<br />

den Saal zieht sich e<strong>in</strong> spürbarer Duft von Neoliberalismus<br />

und die Angst, Europa werde die Lissabon-<br />

Agenda verlieren, also das Ziel verfehlen, bis 2010<br />

<strong>der</strong> wettbewerbsfähigste Wirtschaftsraum <strong>der</strong> Welt<br />

zu werden.<br />

Ergiebiger s<strong>in</strong>d die kle<strong>in</strong>en Veranstaltungen mit<br />

zwei o<strong>der</strong> drei Dutzend Zuhörern. Hier ist auch die<br />

Themenstellung zupacken<strong>der</strong>, nicht selten provokant:<br />

„Europa – Erweiterung o<strong>der</strong> Untergang?“ zum<br />

Beispiel. Es herrschen auch an<strong>der</strong>e, weniger nur allgeme<strong>in</strong>gültige<br />

Töne vor. Josef Hochgerner, Wissenschaftlicher<br />

Leiter des Wiener Zentrums für Soziale


Fotos: www.forum-ekonomiczne.pl<br />

Krynica: Das Alte Kurhaus an <strong>der</strong> Promenade<br />

Innovation, bejaht die Frage, ob wir die Globalisierung<br />

noch bee<strong>in</strong>flussen können; es seien <strong>in</strong> Europa<br />

soziale Lösungen erfor<strong>der</strong>lich, und die könnten bald<br />

sogar e<strong>in</strong> Exportartikel werden. <strong>Die</strong> Diskussion<br />

belebt sich: Welche Rolle spiele denn Europa künftig<br />

noch, wenn Ch<strong>in</strong>a e<strong>in</strong>mal die Fabrik <strong>der</strong> Welt sei<br />

und Indien <strong>der</strong>en <strong>in</strong>tellektuelles Zentrum? Gibt es<br />

überhaupt e<strong>in</strong>en „europäischen Traum“ für die<br />

Nicht-Europäer <strong>auf</strong> dem Kont<strong>in</strong>ent? Und dann,<br />

natürlich, <strong>der</strong> Islam, das sei doch e<strong>in</strong>e politische<br />

Religion. Professor Ahmet Ev<strong>in</strong> <strong>auf</strong> dem Podium<br />

hält dem Frager entgegen, die Menschenrechte seien<br />

immerh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e religiöse Idee. Sanft wi<strong>der</strong>spricht<br />

ihm Josef Hochgerner: Wesentlich sei und bleibe das<br />

staatliche Pr<strong>in</strong>zip des Säkularismus.<br />

Kritisch geht es auch bei „Städte als die Schöpfer e<strong>in</strong>er<br />

neuen europäischen Identität“ zur Sache, wenigstens<br />

anfangs, als die Stadt „e<strong>in</strong> Raum zum Austausch<br />

von Ideen“ genannt wird.<br />

Am frühen Nachmittag besuche ich die<br />

Podiumsdiskussion zum Thema „<strong>Die</strong> Iran-Krise<br />

und <strong>der</strong> kaukasische Islam“. Das Thema ist attraktiv:<br />

Nach e<strong>in</strong>er halben Stunde s<strong>in</strong>d wir 26 Zuhörer.<br />

Arif Yusunow, aserbaidschanischer Politikwissenschaftler,<br />

beg<strong>in</strong>nt mit <strong>der</strong> These, die Iran-Krise<br />

betreffe die gesamte Region. Nasib Nasibli, Parlamentsabgeordneter<br />

aus Aserbaidschan, gesteht dem<br />

Iran e<strong>in</strong> „nation build<strong>in</strong>g“ zu wie im Europa des 18.<br />

und 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts; se<strong>in</strong> Land, umgeben von<br />

amerikanischen Militärbasen, könne gar ke<strong>in</strong>e<br />

an<strong>der</strong>e Politik verfolgen als e<strong>in</strong> „Gleichgewicht zwischen<br />

den USA und dem Iran“, „zwischen zwei Feuern“<br />

könne man nicht neutral bleiben. Und er fügt<br />

h<strong>in</strong>zu, dass schließlich 24 Prozent <strong>der</strong> Iraner Aserbaidschan<strong>der</strong><br />

seien. Der Politikwissenschaftler Sanikidze<br />

aus Georgien schließt daran an und erwähnt<br />

die starke georgische M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit im Iran. Se<strong>in</strong>e<br />

Frage, ob Georgien <strong>in</strong> dieser Krise vermitteln könne,<br />

bleibt ohne Antwort.<br />

Dann spricht <strong>der</strong> russische<br />

Wissenschaftler Zurab Tadua<br />

wenig Überraschendes: Im<br />

Kaukasus, <strong>in</strong> Tschetschenien,<br />

überhaupt <strong>in</strong> Südrussland<br />

gebe es radikale islamische<br />

Gruppierungen, Wahhabiten<br />

und an<strong>der</strong>e; jetzt aber, nachdem<br />

die Pläne, e<strong>in</strong>en Scharia-<br />

Staat zu errichten (wofür<br />

alle<strong>in</strong> Saudi-Arabien 23 Milliarden<br />

Dollar gespendet habe),<br />

vereitelt seien, stabilisiere sich<br />

die Situation mehr o<strong>der</strong> weniger.<br />

In dieser Perspektive sei<br />

Russland dem Iran geradezu<br />

dankbar für se<strong>in</strong>e schiitische<br />

Opposition gegen den sunnitischen<br />

Wahhabismus. E<strong>in</strong><br />

russischer Ethnologe, Akhmet<br />

Yarlikapov, zeichnet e<strong>in</strong> etwas<br />

an<strong>der</strong>es Bild: Man sei im Iran <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Suche nach<br />

e<strong>in</strong>er Sunniten und Schiiten übergreifenden, „geme<strong>in</strong>samen<br />

islamischen Identität“; <strong>auf</strong> diese Weise<br />

suche man die Isolierung des Iran <strong>in</strong> <strong>der</strong> islamischen<br />

Welt zu überw<strong>in</strong>den; <strong>der</strong> Gedanke sei bei jungen<br />

Iranern und Iraner<strong>in</strong>nen beliebt und werde <strong>in</strong> Diskussionsveranstaltungen<br />

<strong>auf</strong>gegriffen. An<strong>der</strong>erseits<br />

h<strong>in</strong><strong>der</strong>e Saudi-Arabien se<strong>in</strong>e eigene (sunnitische)<br />

Bevölkerung daran, die (schiitische) Hisbollah zu<br />

unterstützen. George Sanikidze ist an<strong>der</strong>er Me<strong>in</strong>ung:<br />

Es gebe gar ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit unter Muslimen.<br />

Schließlich habe Khame<strong>in</strong>i zum Beispiel Ahmad<strong>in</strong>edschad<br />

(„<strong>der</strong> alles an<strong>der</strong>e als e<strong>in</strong> religiöser Führer<br />

ist“) <strong>in</strong> den Sattel gehoben und nicht den gläubigen<br />

Rafsandschani.<br />

Das Publikum dankt mit e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Applaus.<br />

Und tatsächlich: <strong>Die</strong>se Podiumsdiskussion hat den<br />

Mittelpunkt <strong>der</strong> eigenen Welterfahrung und -wahrnehmung<br />

von Europa weg nach Zentralasien verschoben.<br />

Und mit e<strong>in</strong>em Mal ergeben sich an<strong>der</strong>e<br />

Durchblicke und mit ihnen ganz an<strong>der</strong>e Fragen.<br />

Mit 35 Zuhörern noch besser besucht ist das<br />

Thema „<strong>Die</strong> Säulen <strong>der</strong> europäischen Identität“.<br />

Hier demontiert gleich zu Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Regierungssprecher<br />

<strong>der</strong> Tschechischen Republik, Edvard<br />

Outrata, das tragende Thema: Identität sei etwas für<br />

e<strong>in</strong>e Person, nicht aber für e<strong>in</strong>en Staat o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e<br />

Gebilde. Viel wesentlicher sei hier die Frage <strong>der</strong><br />

Grenze, speziell die Frage <strong>der</strong> Türkei. Dar<strong>auf</strong> Valery<br />

Bulhakau, Chefredakteur <strong>der</strong> weißrussischen oppositionellen<br />

Kulturzeitschrift Arche: E<strong>in</strong>e weißrussische<br />

Identität gebe es deshalb nicht, weil Russland<br />

sie leugne und dem Land verweigere. <strong>Die</strong> slowakische<br />

Schauspieler<strong>in</strong> und Politiker<strong>in</strong> Magdalena<br />

Vášáryová trägt etwas feierlich den Grund für die<br />

europäische Identitätssuche vor: die Angst vor <strong>der</strong><br />

Erosion <strong>der</strong> Idee Europa. Speziell <strong>in</strong> ihrem noch EUjungen<br />

Land erlebe sie zu wenig Optimismus, zu viel<br />

Apathie aus zu viel Katastrophen-Erfahrung. <strong>Die</strong><br />

Diskussion entwirrt e<strong>in</strong> wenig die L<strong>in</strong>ien: Identität<br />

63


64<br />

Der polnische Premierm<strong>in</strong>ister Jaroslaw Kaczynski und <strong>der</strong> ukra<strong>in</strong>ische<br />

Ex-Premierm<strong>in</strong>ister Viktor Fjodorowitsch Janukowitsch <strong>in</strong> Krynica, 2006<br />

sei e<strong>in</strong>fach das Gefühl, <strong>auf</strong> etwas stolz se<strong>in</strong> zu dürfen<br />

(auch wenn, wie die Schauspieler<strong>in</strong> e<strong>in</strong>wirft, Chop<strong>in</strong><br />

„Franzose“ gewesen sei).<br />

Auf <strong>der</strong> abendlich noch recht belebten Promenade<br />

zwischen den Kurhäusern ist Prom<strong>in</strong>enz leicht<br />

erkennbar. Man sieht schon aus mittlerer Entfernung<br />

im Dunkeln e<strong>in</strong>en gleißenden Lichtfleck, um<br />

den e<strong>in</strong>e Traube von Menschen hängt und sich langsam<br />

mit ihm fortbewegt. Im Näherkommen wird<br />

auch die Fernsehkamera sichtbar, die dem Berühmten,<br />

<strong>der</strong> vielleicht nur zu se<strong>in</strong>em eskortierten Wagen<br />

will, <strong>in</strong>mitten <strong>der</strong> Menge zu folgen versucht. In<br />

unserem Fall ist es, sagt jemand aus <strong>der</strong> Traube, e<strong>in</strong><br />

ehemaliger M<strong>in</strong>isterpräsident Polens.<br />

Am nächsten Tag regnet es anfallsweise,<br />

und das freut die Veranstalter und Mo<strong>der</strong>atoren,<br />

weil <strong>der</strong> Regen ihnen Publikum zutreibt.<br />

Für das Thema „<strong>Die</strong> Zukunft <strong>der</strong> Globalisierung“<br />

<strong>in</strong>teressieren sich immerh<strong>in</strong> über zwei Dutzend Teilnehmer.<br />

Das Podium wird von zwei Franzosen<br />

beherrscht: Jean-Jacques Bonnaud (Vorstandsvorsitzen<strong>der</strong><br />

von Galaxy, Technologie-F<strong>in</strong>ancier) und<br />

Jean-Pierre Pagé (Politologe von Sciences-Po, Paris).<br />

Pagé spricht, <strong>in</strong> dem erwähnten französisierten Englisch,<br />

über e<strong>in</strong>e „neue Form <strong>der</strong> Globalisierung“.<br />

Was <strong>auf</strong> dem Podium Peter Jungen, den Präsidenten<br />

des <strong>auf</strong>recht neoliberalen European Enterprise<br />

Institute <strong>in</strong> Brüssel, zu erbittern sche<strong>in</strong>t: Es sei e<strong>in</strong>fach<br />

unmoralisch, die Globalisierung zu attackieren<br />

(das Wortspiel mit attac kommt nicht ganz durch),<br />

weil das e<strong>in</strong> Angriff <strong>auf</strong> die Ärmsten <strong>der</strong> Welt sei;<br />

und Adam Smith, <strong>der</strong> Vater <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> „unsichtbaren<br />

Hand des Marktes“, sei immerh<strong>in</strong> „Moral-Professor“<br />

gewesen. Der Fehler sei nicht die Globalisierung,<br />

son<strong>der</strong>n zu wenig Globalisierung. Der<br />

russische Politologe Dimitri Kuwal<strong>in</strong> zieht den Rahmen<br />

enger und beschränkt sich <strong>auf</strong> kle<strong>in</strong>ere Räume:<br />

Russland zum Beispiel könne gar nicht versuchen,<br />

das polnische Pro-Kopf-E<strong>in</strong>kommen<br />

zu erreichen, das sei unrealistisch; <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>em Land könne man jetzt hier<br />

e<strong>in</strong>e reiche Region sehen und nur<br />

zwanzig Kilometer weiter e<strong>in</strong>e<br />

Gegend <strong>in</strong> bitterer Armut.<br />

Bevor ich zu me<strong>in</strong>er eigenen Veranstaltung<br />

muss, schaue ich noch bei<br />

„Braucht Europa zu se<strong>in</strong>er Identität<br />

e<strong>in</strong> Sozial-Modell?“ kurz vorbei. Jozef<br />

Pacolet, Politikwissenschaftler aus<br />

Belgien, nennt Schweden als Vorbild:<br />

<strong>Die</strong> Schrumpfung und Alterung <strong>der</strong><br />

Gesellschaft sei nicht das Problem,<br />

son<strong>der</strong>n die Lösung; denn wenn man<br />

das schwedische Modell <strong>der</strong> Altenpflege<br />

beispielsweise <strong>auf</strong> Polen übertrage,<br />

würde das sofort 1,9 Millionen<br />

neue Arbeitsplätze schaffen.<br />

Und dann auch noch <strong>auf</strong> e<strong>in</strong>en<br />

Sprung zu dem Thema „<strong>Die</strong> Türkei<br />

am Scheideweg: türkische Außenpolitik nach Osten<br />

und Westen“. Das Podium ist wegen <strong>der</strong> Zusammenlegung<br />

mit <strong>der</strong> Veranstaltung „Zypern - Türkei“<br />

mit zehn Personen heillos überfüllt. Der Istanbuler<br />

Politologe Mansur Akgün wirbt gerade für die endliche<br />

Aufnahme <strong>der</strong> Türkei <strong>in</strong> die EU; Serdar Denktas,<br />

<strong>der</strong> Außenm<strong>in</strong>ister von Nord-Zypern, ist vehement<br />

dagegen: Mit <strong>der</strong> Türkei habe Europa ke<strong>in</strong>e<br />

geme<strong>in</strong>same Vision <strong>der</strong> Zukunft, man solle erst e<strong>in</strong>mal<br />

e<strong>in</strong> Zypern ohne griechische Dom<strong>in</strong>anz schaffen.<br />

Und noch e<strong>in</strong>mal schaut die Irak-Krise here<strong>in</strong>:<br />

E<strong>in</strong> Iran mit Nuklearwaffen, me<strong>in</strong>t Lenore G. Mart<strong>in</strong><br />

von <strong>der</strong> Harvard University, sei für die Türkei<br />

völlig unannehmbar.<br />

Auf dem Podium, das ich mo<strong>der</strong>ieren soll, sitzen<br />

neben mir drei Personen: Professor Dr. Peter Hampe,<br />

Wirtschaftswissenschaftler an <strong>der</strong> Universität<br />

Dresden; Peter Bauer, Mitglied des Vorstands von<br />

Inf<strong>in</strong>eon Technologies AG; und Professor Dr. Franz-<br />

Josef Ra<strong>der</strong>macher aus Ulm (den ich für die Nummer<br />

10 dieser Zeitschrift <strong>in</strong>terviewt hatte). Zuerst<br />

gibt Peter Hampe e<strong>in</strong>e klärende Übersicht zu den<br />

treibenden Faktoren <strong>der</strong> Globalisierung. Nach ihm<br />

spricht Peter Bauer aus <strong>der</strong> Praxis e<strong>in</strong>es effektiv weltweit<br />

tätigen Konzerns über die Bedeutung sogenannter<br />

„Leitmärkte“, aber auch über das bevorstehende<br />

Angebot von Autos aus ch<strong>in</strong>esischer<br />

Fabrikation. Zuletzt beleuchtet Franz-Josef Ra<strong>der</strong>macher<br />

die Nachteile e<strong>in</strong>er wuchernden Entwicklung,<br />

die von <strong>der</strong> Informations-Technologie vorangetrieben<br />

wird, und die skandalösen Gefahren e<strong>in</strong>es<br />

steigenden Handelsdefizits <strong>der</strong> USA und <strong>der</strong> globalen<br />

Ungleichheiten <strong>der</strong> E<strong>in</strong>kommensverteilung.<br />

<strong>Die</strong> Diskussion mit den etwa 30 Zuhörern ist lebhaft:<br />

e<strong>in</strong> Marokkaner, <strong>der</strong> sich als Bloomberg-Journalist<br />

vorstellt, fragt nach <strong>der</strong> Rolle <strong>der</strong> Erziehung <strong>in</strong><br />

Europa; an<strong>der</strong>e Fragen beziehen sich <strong>auf</strong> die Bedeutung<br />

<strong>der</strong> Arbeitskosten weltweit, e<strong>in</strong>e mögliche<br />

Umgestaltung <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen F<strong>in</strong>anzmärkte,<br />

die Geschichte <strong>der</strong> Globalisierung (sie habe doch<br />

schon vor wenigstens hun<strong>der</strong>t Jahren begonnen).


Bermet Akajewa und Iskan<strong>der</strong> Asadullajew (Kirgistan) sowie Anatoli Kasatschenko (Kasachstan)<br />

<strong>auf</strong> dem Podium über „Der Islam <strong>in</strong> den Län<strong>der</strong>n Zentralasiens“, Krynica, September 2006<br />

Auch Hochgerner (<strong>der</strong> mit Professor Dr. Ra<strong>der</strong>macher<br />

bereits gut bekannt ist) und Bonnaud s<strong>in</strong>d<br />

gekommen. Es ist sicher voreilig, hier gleich von<br />

Netzwerken zu sprechen; aber es ist e<strong>in</strong> gutes Zeichen,<br />

wenn <strong>in</strong>telligente Menschen sich bei relevanten<br />

Anlässen wie<strong>der</strong>sehen.<br />

Ich b<strong>in</strong> <strong>in</strong> diesem September zum dritten Mal <strong>in</strong><br />

Krynica. Me<strong>in</strong>e Erfahrungen mit dem Forum gehen<br />

nicht so weit zurück, dass sich schon Entwicklungsl<strong>in</strong>ien<br />

zu erkennen gäben. Aber e<strong>in</strong>ige D<strong>in</strong>ge fielen<br />

mir dieses Mal doch <strong>auf</strong> gegenüber früher: zwei<br />

Äußerlichkeiten und e<strong>in</strong>e Art Stimmungsän<strong>der</strong>ung.<br />

<strong>Die</strong> Parks- und Wiesenflächen, die im Süden <strong>der</strong><br />

Promenade um die Häuser herumliegen, s<strong>in</strong>d nicht<br />

mehr leer wie früher. <strong>Die</strong>smal hat man die Wiese <strong>auf</strong><br />

<strong>der</strong> Westseite mit e<strong>in</strong>em Dutzend fünf Meter hoher<br />

„Fesselballons“ vollgestellt, mit kurzen Seilen am<br />

Boden verankert. Es s<strong>in</strong>d nachts beleuchtete Plastikkugeln,<br />

versehen mit dem hohen Schriftzug von<br />

Partner-Unternehmen des Forums: So werben hier<br />

<strong>der</strong> polnische Energiekonzern Orlen, <strong>der</strong> deutsche<br />

Mischkonzern PCC aus Duisburg und an<strong>der</strong>e.<br />

Der zweite neuartige und e<strong>in</strong>em „Westen“ nachempfundene<br />

Gag s<strong>in</strong>d die vielen Mädchen-Gruppen:<br />

Durchweg gutaussehende, hohe Figuren <strong>in</strong><br />

hellblau- o<strong>der</strong> magenta-metallic glänzenden Phantasie-Uniformen<br />

o<strong>der</strong> unter wallenden Umhängen<br />

verteilen <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Promenade Werbung an die Teilnehmer,<br />

o<strong>der</strong> sie stehen zwischen sechs Seat-PKWs<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Wiese und lächeln <strong>auf</strong> mittlere Entfernung<br />

<strong>in</strong>s Ungefähre. In e<strong>in</strong>em Ort, <strong>der</strong> die jahrzehntelangen<br />

Spuren e<strong>in</strong>es realsozialistischen Verfalls noch<br />

nicht ganz beseitigt hat, fallen diese weith<strong>in</strong> schimmernden<br />

Mannequ<strong>in</strong>s seltsam aus dem Rahmen.<br />

Äußerlich ist hier nur Glitter, Beiwerk, nachgemachtes<br />

Ornament (und wird vielleicht im nächsten<br />

Jahr noch <strong>auf</strong>dr<strong>in</strong>glicher daherkommen). <strong>Die</strong><br />

tiefere Bedeutung liegt jedoch <strong>in</strong> dem wahrgenommenen<br />

Zwang zur Imitation des Westens.<br />

Das Ökonomische Forum ist ja e<strong>in</strong>e nur leicht<br />

abgewandelte Neu<strong>auf</strong>lage des jährlichen Weltwirtschaftsforums<br />

<strong>in</strong> Davos. Wohlme<strong>in</strong>ende Scherzbolde<br />

nennen Krynica deshalb auch manchmal „das<br />

Davos des Ostens“, als ob damit <strong>der</strong> polnische<br />

Kurort beson<strong>der</strong>s geadelt würde (während <strong>in</strong> Wirklichkeit<br />

nur <strong>der</strong> Abstand unterstrichen wird). Ich<br />

habe aber – bei aller Namensähnlichkeit – nicht den<br />

E<strong>in</strong>druck, als wollten die Organisatoren hier irgende<strong>in</strong>em<br />

Schweizer Vorbild nachjagen. Und das ist<br />

auch gut so.<br />

Denn das Forum Krynica ist etwas ganz an<strong>der</strong>es, es<br />

ist nicht e<strong>in</strong>mal hauptsächlich e<strong>in</strong> „Ökonomisches<br />

Forum“, und zwar schon wegen <strong>der</strong> Fülle <strong>der</strong> Nicht-<br />

Wirtschaftsthemen, von denen Konkurrenz-Orte<br />

nur träumen können. Genau besehen treten sie<br />

sogar gewichtiger <strong>auf</strong> als die Wirtschaftsthemen:<br />

Von den <strong>in</strong>sgesamt neun Themengruppen befassen<br />

sich sechs mit eher „weichen“ Materien (Erziehung<br />

und Kultur, Staat und Reformen, Internationale<br />

Politik, Regionen, Gesellschaft, europäische Nachbarschaft)<br />

und nur drei mit Wirtschaft (Bus<strong>in</strong>ess<br />

und Management, Makroökonomie, New Economy).<br />

Mit dieser Gewichtung sche<strong>in</strong>t mir Krynica<br />

ernsthafter, umfassen<strong>der</strong>, im besten S<strong>in</strong>n europäischer<br />

angelegt und mith<strong>in</strong> zukunftsfähiger als <strong>der</strong><br />

Davoser L<strong>auf</strong>steg <strong>der</strong> Eitelkeiten. Und: Krynica<br />

wird während des Forums nicht mit Stacheldraht<br />

e<strong>in</strong>gehüllt.<br />

Am letzten Vormittag mache ich e<strong>in</strong><br />

Angebot des üppigen Rahmenprogramms mit: e<strong>in</strong>en<br />

Ausflug <strong>auf</strong> den Jaworzyna Krynicka, den 1114<br />

Meter hohen Gipfel im nahen Mittelgebirge <strong>der</strong><br />

Ost-Beskiden. An <strong>der</strong> Talstation <strong>der</strong> Gondelbahn<br />

warten geschlossene Restaurants <strong>auf</strong> die W<strong>in</strong>tersaison,<br />

abseits stehen schwere Planierraupen und<br />

Schneekanonen. E<strong>in</strong>e breite Skipiste kommt aus<br />

dem Mischwald herunter, sie ist <strong>in</strong> voller sichtbarer<br />

Länge bis <strong>auf</strong> die dunkelbraune Muttererde abgefahren.<br />

Oben s<strong>in</strong>d die Gipfelrestaurants geöffnet,<br />

e<strong>in</strong>es ist für die Teilnehmer des Forums reserviert,<br />

mit e<strong>in</strong>em großzügigen kalten und warmen Buffet<br />

und <strong>auf</strong> den Holzdielen Tanz zur Volksmusik e<strong>in</strong>er<br />

Drei-Mann-Kapelle. <strong>Die</strong> Sonne sche<strong>in</strong>t wie<strong>der</strong>,<br />

man sitzt angenehm warm <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Terrasse. Weiter<br />

draußen formieren sich Wolken und verhängen den<br />

Blick <strong>in</strong> die Ferne.<br />

65


66<br />

Was ist die Sachdef<strong>in</strong>ition e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>terreligiösen Dialogs?<br />

Das hängt zunächst am Begriff <strong>der</strong> Religion. Wir<br />

können e<strong>in</strong>en materialen und e<strong>in</strong>en funktionalen Religionsbegriff<br />

unterscheiden. Religion als Glaube an<br />

Gott wäre e<strong>in</strong>e materiale Def<strong>in</strong>ition, was aber nicht <strong>auf</strong><br />

alle Religionen zutrifft. Der funktionale Begriff lautet:<br />

Religion bewirkt S<strong>in</strong>norientierungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gesellschaft,<br />

sie hält Gesellschaften zusammen, sie schafft e<strong>in</strong><br />

Wertesystem, das selbst nicht weiter begründet werden<br />

muss. Aber auch <strong>in</strong> diesen Funktionen unterscheiden<br />

sich Religionen, weshalb man <strong>in</strong> <strong>der</strong> Religionswissenschaft<br />

von jedem Def<strong>in</strong>itionsversuch abgekommen ist.<br />

Trotzdem braucht man Def<strong>in</strong>itionen.<br />

Me<strong>in</strong>es Erachtens s<strong>in</strong>d Religionen unterschiedliche<br />

Arten von Systemen, menschliche Kont<strong>in</strong>genz zu bewältigen.<br />

Das kann sich <strong>in</strong> Institutionen ausdrücken,<br />

es kann sich <strong>in</strong> Lebensformen ausdrücken, die eher<br />

unausgesprochen s<strong>in</strong>d, etwa <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kunst, <strong>in</strong> ungeschriebenen<br />

Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens,<br />

wie zum Beispiel <strong>in</strong> Stammesgesellschaften.<br />

Wenn man also vom <strong>in</strong>terreligiösen Dialog spricht,<br />

muss man wissen, dass man es mit ganz unterschiedlichen<br />

Größen zu tun hat, die hier mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />

Dialog treten. Dialog heißt zunächst e<strong>in</strong>mal Begegnung,<br />

und zwar bewusste, gewollte Begegnung, die<br />

manchmal ergebnisoffen, manchmal ergebnisorientiert<br />

ist. Dialog ist nicht nur das Mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong>-Sprechen,<br />

son<strong>der</strong>n Kommunikation mit allen S<strong>in</strong>nen und<br />

<strong>in</strong> sozialen Kontexten.<br />

In diesem S<strong>in</strong>ne hat es <strong>in</strong>terreligiöse Dialoge schon<br />

immer gegeben. Dort, wo Religionen <strong>auf</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>treffen,<br />

reiben sie sich ane<strong>in</strong>an<strong>der</strong>; sie müssen sich <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

übersetzen, und so ist letztlich jede Sprachform <strong>der</strong><br />

Übersetzung e<strong>in</strong>e Form des <strong>in</strong>terreligiösen Dialogs.<br />

Religionen s<strong>in</strong>d weltweite Institutionen, die über<br />

Macht und sowohl über ökonomische als auch über<br />

Def<strong>in</strong>itionsmittel verfügen, die e<strong>in</strong>e Gesellschaft bestimmen.<br />

Sie begegnen e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> im Dialog, meistens<br />

ergebnisorientiert mit <strong>der</strong> Absicht, etwas Gutes zu tun,<br />

Frieden zu stiften (zum Beispiel das Projekt „Weltethos“),<br />

<strong>in</strong> Konfliktsituationen e<strong>in</strong>en Ausgleich zu<br />

suchen, manchmal aber auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Dialog, <strong>der</strong> –<br />

sagen wir es etwas pathetisch: – <strong>der</strong> Wahrheitsf<strong>in</strong>dung<br />

dient.<br />

Es gibt Dialoge von verschiedener politischer Brisanz,<br />

auch <strong>in</strong>terkonfessionelle Dialoge, und daneben die Dialoge,<br />

die im Augenblick beson<strong>der</strong>s laut gefor<strong>der</strong>t werden,<br />

Interreligiöse Dialoge<br />

Reden ist Gold<br />

Ist das öffentliche Verlangen nach <strong>in</strong>terkulturellen und <strong>in</strong>terreligiösen „Dialogen“ <strong>der</strong> Ausdruck e<strong>in</strong>es wirklichen Bedarfs o<strong>der</strong><br />

nur e<strong>in</strong>er Krise? Und bewirkt er, was er zwischen Menschen manchmal stiften kann, auch für Kollektive: e<strong>in</strong> friedliches Leben?<br />

Interview mit Professor Dr. Michael von Brück<br />

genauer: den Dialog zwischen e<strong>in</strong>em – noch undef<strong>in</strong>ierten<br />

– Christentum und e<strong>in</strong>em – schwer zu def<strong>in</strong>ierenden<br />

– Islam. Wer führt diesen Dialog?<br />

Ich muss hier weiter ausholen. Schon die Frage, ob es<br />

sich um e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>terreligiösen o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>terkonfessionellen<br />

Dialog handelt, verschiebt sich im L<strong>auf</strong> <strong>der</strong><br />

Geschichte. Im 16. Jahrhun<strong>der</strong>t treten Katholizismus<br />

und Protestantismus, die mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> streitenden<br />

Gruppen, als unterschiedliche Religionen <strong>auf</strong>. Sie<br />

haben unterschiedliche Machtansprüche, unterschiedliche<br />

Def<strong>in</strong>itionen, unterschiedliche Kriterien,<br />

wie man zu gültigen Überzeugungen kommt. In diesem<br />

Kontext, <strong>in</strong> diesem europäischen Rahmen damals<br />

s<strong>in</strong>d sie zwei Religionen, die <strong>auf</strong>grund des militärischen<br />

Patts gezwungen waren, mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />

Dialog zu treten. Ähnliches sehen wir auch <strong>in</strong>nerhalb<br />

des protestantischen Lagers, etwa zwischen Lutheranern<br />

und Calv<strong>in</strong>isten. Wir wissen heute auch, dass <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>igen asiatischen Kulturen Protestantismus und<br />

Katholizismus als zwei verschiedene Religionen wahrgenommen<br />

werden. Es hängt also sehr an dem sozialen<br />

und kulturellen Kontext, wer hier als Sprecher wahrgenommen<br />

wird, <strong>in</strong> welcher Weise und mit welcher Def<strong>in</strong>itionsmacht.<br />

Wenn man diese historischen Zusammenhänge<br />

im H<strong>in</strong>terkopf hat, dann weiß man, dass<br />

solche Unterscheidungen (Wer ist hier eigentlich <strong>der</strong>


Sprecher? O<strong>der</strong>: Haben wir es mit e<strong>in</strong>er Religion o<strong>der</strong><br />

„nur“ mit e<strong>in</strong>er Konfession zu tun?) relativ s<strong>in</strong>d, das<br />

heißt relational bezogen <strong>auf</strong> den politischen Kontext.<br />

Deshalb ist Ihre Frage, wer führt den Dialog zwischen<br />

Muslimen und Christen, nur <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es solches<br />

Rahmens zu beantworten. In Ägypten zum Beispiel<br />

stellt sich <strong>der</strong> Kontext völlig an<strong>der</strong>s dar als <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a<br />

o<strong>der</strong> eben <strong>in</strong> Deutschland. Man muss jeweils klären:<br />

Wer s<strong>in</strong>d die Gruppen, wie s<strong>in</strong>d sie organisiert, mit<br />

welchem Ziel treffen sie sich? Wenn Sie <strong>auf</strong> Deutschland<br />

bezogen fragen, dann haben wir die Schwierigkeit,<br />

dass we<strong>der</strong> die beiden Kirchen für das ganze Spektrum<br />

des gegenwärtigen Christentums sprechen<br />

können, noch können bestimmte islamische Organisationen<br />

(etwa <strong>der</strong> Zentralrat <strong>der</strong> Muslime o<strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>e) für das ganze Spektrum <strong>der</strong> Muslime sprechen.<br />

Das macht die Sache schwierig. Normalerweise haben<br />

wir e<strong>in</strong>e asymmetrische Wahrnehmung, d.h. man sagt:<br />

Das Christentum ist durch die Kirchen verfasst und<br />

def<strong>in</strong>iert, und <strong>der</strong> Islam hat ke<strong>in</strong>e Ansprechpartner,<br />

weil er diese Verfassung nicht hat. Das ist zwar <strong>in</strong>sofern<br />

richtig, als die Kirchen tatsächlich als Institutionen existieren,<br />

aber sie repräsentieren ke<strong>in</strong>eswegs die vielfältigen<br />

Strömungen des Christentums <strong>der</strong> Gegenwart.<br />

Was macht die an islamische Gruppierungen gerichtete<br />

For<strong>der</strong>ung e<strong>in</strong>es Dialogs <strong>der</strong>zeit so relevant und nachrichtenfähig?<br />

<strong>Die</strong> Furcht. <strong>Die</strong> Furcht, nicht nur <strong>der</strong> Politik, son<strong>der</strong>n<br />

e<strong>in</strong>er schwer bestimmbaren gesellschaftlichen<br />

Gruppe, ich kann es kaum genauer sagen, e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Luft liegende Furcht vor e<strong>in</strong>er Überfremdung durch<br />

e<strong>in</strong>en Islam, <strong>der</strong> als stark, e<strong>in</strong>heitlich, militant und –<br />

sagen wir es e<strong>in</strong>mal so: – eroberungswillig wahrgenommen<br />

wird, während das Christentum als eher <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Defensive bef<strong>in</strong>dlich, schwach, von Selbstzweifeln<br />

geplagt und argumentativ zu pluralistisch gesehen<br />

wird. <strong>Die</strong> Frage hängt natürlich zusammen mit <strong>der</strong><br />

Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg, als <strong>der</strong> Islam<br />

als vierte große Religionsgeme<strong>in</strong>schaft <strong>in</strong> Deutschland<br />

h<strong>in</strong>zukam (bis dah<strong>in</strong> hatten wir Katholizismus, Protestantismus<br />

und Judentum), mit völlig neuen Ansprüchen.<br />

Religion ist ja ke<strong>in</strong>eswegs nur im Innern des<br />

e<strong>in</strong>zelnen Menschen <strong>der</strong> Glaube an höhere Wesen o<strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>es, vielmehr – soweit wir die dokumentierte Geschichte<br />

<strong>der</strong> Religionen kennen – haben Religionen<br />

immer auch <strong>auf</strong> Rechtssysteme e<strong>in</strong>gewirkt o<strong>der</strong> gar<br />

Rechtssysteme selbst geschaffen. Im vor<strong>der</strong>en Orient,<br />

von Hammurabi bis zum Alten Testament, s<strong>in</strong>d Religionen<br />

auch Rechtskulturen gewesen, und sie s<strong>in</strong>d es<br />

bis heute. Religionen stiften Recht, <strong>in</strong>dem sie den<br />

Umgang zwischen Menschen als nicht zufällig, son<strong>der</strong>n<br />

als e<strong>in</strong>e Struktur des göttlichen Willens o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

universalen Harmonie formulieren.<br />

Das ist heute das Problem. Es treffen heute unterschiedliche<br />

Rechts<strong>auf</strong>fassungen <strong>auf</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, unterschiedliche<br />

Konzepte, wie das Zusammenspiel von<br />

Individuum und Gesellschaft geregelt wird. Wie<br />

gesagt: Das war bereits <strong>in</strong> <strong>der</strong> Reformationszeit zwischen<br />

Katholizismus und Protestantismus <strong>der</strong> Fall, so<br />

auch jetzt wie<strong>der</strong> zwischen Islam und Christentum.<br />

Dabei entstehen natürlich Konfliktpotenziale, und<br />

man hat den E<strong>in</strong>druck, da muss etwas geklärt werden,<br />

ohne dass man genau weiß, was hier geklärt werden soll<br />

und vor allem: durch wen.<br />

Wie stellt sich das heute <strong>in</strong> Mitteleuropa dar? Würden Sie<br />

auch für die heutigen Verfassungen dieser Län<strong>der</strong> sagen,<br />

dass hier Religionen noch Rechtsnormen schaffen, wie das<br />

wohl im Islam <strong>der</strong> Fall ist?<br />

So e<strong>in</strong>fach: „wie es im Islam <strong>der</strong> Fall ist“ lässt sich das<br />

nicht von diesen Län<strong>der</strong>n sagen, son<strong>der</strong>n etwas an<strong>der</strong>s:<br />

<strong>Die</strong> Art und Weise, wie die verschiedenen Gewalten im<br />

Staat o<strong>der</strong> überhaupt Menschen mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> umgehen,<br />

wie Individuum und Kollektiv <strong>auf</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zugeordnet<br />

s<strong>in</strong>d, die Rolle <strong>der</strong> Geschlechter und an<strong>der</strong>es<br />

mehr – das s<strong>in</strong>d natürlich Folgerungen aus <strong>der</strong> Geschichte<br />

des Christentums <strong>in</strong> Europa. Ich sage bewusst<br />

nicht: Werte, die das Christentum verkündet hat, denn<br />

das wäre falsch. Wir haben es hier <strong>in</strong> Europa mit e<strong>in</strong>er<br />

langen Entwicklung zu tun, die auch gegen die <strong>in</strong>stitutionalisierten<br />

Formen des Christentums durchgesetzt<br />

werden musste, etwa die Wissenschaftsfreiheit, die<br />

Me<strong>in</strong>ungsfreiheit, die Demokratie. Das heißt aber<br />

nicht (das muss man genau sehen), dass die Werte, die<br />

hier ausgehandelt wurden, nicht doch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Diskurskultur<br />

entstanden s<strong>in</strong>d, an <strong>der</strong> das Christentum <strong>in</strong><br />

Europa ganz erheblichen Anteil hatte, wenn nicht <strong>in</strong><br />

bestimmten Phasen sogar <strong>der</strong> Träger <strong>der</strong> Entwicklung<br />

war.<br />

Das ist natürlich im Islam auch so, aber doch an<strong>der</strong>s.<br />

Weil nämlich die islamische Rechtsprechung <strong>in</strong> sich<br />

hoch differenziert ist, aber ganz an<strong>der</strong>s funktioniert als<br />

im Römischen Recht, <strong>auf</strong> dem letztlich unsere Mo<strong>der</strong>ne<br />

fußt. Insofern kann man sagen: Beide Religionen<br />

o<strong>der</strong> Traditionen, die islamische Tradition <strong>auf</strong> <strong>der</strong><br />

e<strong>in</strong>en Seite und <strong>auf</strong> <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite die christlichabendländische<br />

Tradition, die jetzt <strong>in</strong> <strong>der</strong> säkularisierten<br />

Gesellschaft <strong>auf</strong>gegangen ist, setzen, wenn nicht<br />

Rechtsnormen, dann doch jeweils e<strong>in</strong>en Rechtsrahmen,<br />

wenn auch <strong>auf</strong> verschiedene Weise.<br />

Kommen unsere Probleme mit dem Islam also auch daher,<br />

dass im europäischen Westen e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Diskurskultur<br />

herrscht als <strong>in</strong> vielen islamischen Län<strong>der</strong>n?<br />

E<strong>in</strong>e Charakterisierung dieser an<strong>der</strong>en Diskurskultur<br />

überträfe me<strong>in</strong>e Kompetenz, weil ich ke<strong>in</strong> Islamwissenschaftler<br />

b<strong>in</strong>. Außerdem stellen wir hier große<br />

Unterschiede fest. In vom Osmanischen Reich geprägten<br />

Län<strong>der</strong>n haben wir e<strong>in</strong>e ganz an<strong>der</strong>e Situation als<br />

beispielsweise <strong>in</strong> <strong>in</strong>disch-islamischen Kulturen. E<strong>in</strong>e<br />

gewisse Pluralität kommt hier schon dadurch zustande,<br />

dass wir im Islam mehrere unterschiedliche<br />

Rechtsschulen haben, die gegenwärtiges positives<br />

Recht dadurch suchen, dass <strong>in</strong> Analogie zu Koranstellen<br />

und zur früheren Rechtsprechung e<strong>in</strong>e Entscheidungsf<strong>in</strong>dung<br />

– ich möchte fast sagen: – herbeizitiert<br />

wird. Das ist e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Verfahren als dasjenige, das<br />

sich <strong>in</strong> unserem Rechtsstaat herausgebildet hat. Man<br />

kann hier aber auch sehen, dass auch <strong>in</strong> islamischen<br />

Kulturen die Rechtsprechung, genauer: die Sozialisierung<br />

von Rechtsf<strong>in</strong>dungsprozessen und Rechtsnormen,<br />

im Fluss ist, dass <strong>der</strong> Islam hier verän<strong>der</strong>ungsbedürftig<br />

und verän<strong>der</strong>ungsfähig ist.<br />

67


68<br />

Wir haben es mit Ungleichzeitigkeiten zu tun. <strong>Die</strong><br />

islamischen Län<strong>der</strong>, die ja auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> ökonomischen<br />

Entwicklung nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong>selben Weise geprägt s<strong>in</strong>d wie<br />

<strong>der</strong> europäische Westen (Sie hören, dass ich den Begriff<br />

„rückständig“ bewusst vermeide), s<strong>in</strong>d an<strong>der</strong>s; die Diskurse,<br />

die Öffentlichkeit <strong>der</strong> Diskurse s<strong>in</strong>d an<strong>der</strong>s<br />

organisiert als bei uns.<br />

Ihre Ausdruckweise unterstreicht mit Recht, dass wir<br />

diesen Län<strong>der</strong>n ke<strong>in</strong>e Entwicklungsl<strong>in</strong>ien o<strong>der</strong> gar Entwicklungsgeschw<strong>in</strong>digkeiten<br />

mit universaler Geltung<br />

vorgeben sollten. Trotzdem tun wir das aber. Wir<br />

erwarten offenbar <strong>in</strong>tuitiv, dass diese Län<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en<br />

ähnlichen Weg gehen werden wie wir. Wie stehen Sie<br />

dazu?<br />

Es gibt dafür zwei Gründe, e<strong>in</strong>en kulturellen und<br />

e<strong>in</strong>en ökonomisch-politischen. Der erste hängt mit<br />

dem europäischen Fortschrittsmythos (und unserer<br />

ganzen Geschichtsphilosophie) zusammen und <strong>der</strong><br />

zweite mit den gegenwärtigen Prozessen <strong>der</strong> Globalisierung.<br />

Zum ersten Grund: <strong>Die</strong> gesamte Fortschrittsdynamik,<br />

wie sie sich seit <strong>der</strong> Renaissance <strong>in</strong> Europa entfaltet,<br />

ruht, wie mir sche<strong>in</strong>t, <strong>auf</strong> dem sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Spätantike<br />

herausbildenden Zeitverständnis, <strong>in</strong> dem<br />

e<strong>in</strong>erseits die aristotelische o<strong>der</strong> im weiteren S<strong>in</strong>ne<br />

griechische Philosophie <strong>der</strong> Zeit mit <strong>der</strong> jüdischen<br />

Apokalyptik verschmilzt. Hier entsteht e<strong>in</strong>e Zeit-<br />

Richtung, es soll e<strong>in</strong> Reich Gottes entstehen, es soll e<strong>in</strong><br />

Tausendjähriges Reich kommen. <strong>Die</strong>s, e<strong>in</strong>e Zukunftsorientiertheit<br />

<strong>der</strong> Geschichte, wurde von August<strong>in</strong>us<br />

bis h<strong>in</strong> zu Hegel kulturbestimmend. Das ist uns so<br />

selbstverständlich, dass wir es gar nicht h<strong>in</strong>terfragen.<br />

An<strong>der</strong>e Kulturen s<strong>in</strong>d hier ganz an<strong>der</strong>s. Dort kann es<br />

sogar, wie im weiten Kreis <strong>der</strong> <strong>in</strong>dischen Kultur, e<strong>in</strong>e<br />

Rückwärtsorientierung geben: Der Ursprung ist das<br />

Re<strong>in</strong>e, das man suchen muss, und im L<strong>auf</strong> <strong>der</strong><br />

Geschichte gibt es eigentlich nur Dekadenz.<br />

<strong>Die</strong>se Fortschrittsphilosophie hat sich dann seit <strong>der</strong><br />

Renaissance materialisiert, so dass mit <strong>der</strong> Entwicklung<br />

von Wissenschaft und Technik die rapide Umgestaltung<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft möglich wurde und <strong>in</strong><br />

Frankreich nach <strong>der</strong> Französischen Revolution „le<br />

progrès“ und <strong>in</strong> Deutschland „<strong>der</strong> Fortschritt“ zum<br />

großen Thema wurde. Man hat aber nun von Anfang<br />

an, nämlich im Geschichtsbild <strong>der</strong> Apokalyptik,<br />

schon den ganzen Kosmos, das heißt die gesamte<br />

bewohnbare Welt im Blick gehabt. So ist das Christentum<br />

nicht etwa e<strong>in</strong>e Religion nur des Mittelmeerraums,<br />

son<strong>der</strong>n es hat – wie übrigens vorher schon das<br />

Judentum <strong>in</strong> <strong>der</strong> Begegnung mit den Persern und den<br />

Ägyptern – über den eigenen kulturellen Rahmen<br />

h<strong>in</strong>ausgedacht und zum<strong>in</strong>dest im Mythos so etwas<br />

wie e<strong>in</strong>e Universalgeschichte antizipiert. Das prägt<br />

die gesamte Geschichte des Christentums. Und so<br />

ordnen wir heute, Hegel hat es uns ja vorgemacht, die<br />

An<strong>der</strong>en immer irgendwo e<strong>in</strong>; und obwohl wir uns<br />

über Hegel <strong>auf</strong>regen, tun wir unbewusst dasselbe<br />

dann doch.<br />

Das zweite Phänomen ist natürlich die Globalisierung.<br />

Das heißt, die an<strong>der</strong>en Kulturen s<strong>in</strong>d <strong>auf</strong> <strong>der</strong><br />

e<strong>in</strong>en Seite noch an<strong>der</strong>s, ihre An<strong>der</strong>sheit (ganz beson-<br />

<strong>der</strong>s <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kommunikation mit ihnen) wird wahrgenommen.<br />

Gleichzeitig entdecken wir aber, dass die<br />

Welt kle<strong>in</strong> geworden ist, e<strong>in</strong> „globales Dorf“, die<br />

an<strong>der</strong>en Kulturen s<strong>in</strong>d nur noch wenige Flugstunden<br />

entfernt o<strong>der</strong> – durch das Internet – e<strong>in</strong> paar Millisekunden.<br />

Wir sprechen mit ihnen, wir – <strong>in</strong> den Schichten,<br />

die diesen Austausch prägen – sprechen mit ihnen<br />

Englisch, und <strong>in</strong> diesen Bereichen ist das An<strong>der</strong>e nicht<br />

mehr an<strong>der</strong>s. Es ist e<strong>in</strong> Teil von uns selbst. Dabei entsteht<br />

natürlich e<strong>in</strong> gewisser Zug zur Vere<strong>in</strong>heitlichung<br />

und zur Bewertung am eigenen Maßstab.<br />

Mir kommt dabei e<strong>in</strong>e – vielleicht rückschrittliche – Frage<br />

<strong>in</strong> den S<strong>in</strong>n: Denken Muslime auch so wie Europäer?<br />

O<strong>der</strong> haben sie e<strong>in</strong>e völlig an<strong>der</strong>e Vorstellung von <strong>der</strong> Entwicklung<br />

<strong>der</strong> Welt?<br />

<strong>Die</strong> Geschichtskonzepte s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Kulturen<br />

selbstverständlich an<strong>der</strong>s. Das heißt, so e<strong>in</strong>e Art von<br />

Chiliasmus gibt es außer im schiitischen Islam (mit<br />

<strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>kehr des Mahdi) im islamischen Raum<br />

nicht, übrigens auch nicht im H<strong>in</strong>duismus und im<br />

Buddhismus auch nicht, auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> ch<strong>in</strong>esischen<br />

Kultur nicht (mit e<strong>in</strong>igen Ausnahmen, etwa gewissen<br />

Endzeit-Bewegungen). In Bezug <strong>auf</strong> die Globalisierung<br />

hängt die Antwort sehr davon ab, wen man <strong>in</strong><br />

islamischen Län<strong>der</strong>n befragt. Wenn Sie Geschäftsleute<br />

fragen o<strong>der</strong> Wissenschaftler, so s<strong>in</strong>d diese Menschen<br />

<strong>in</strong>nerhalb des westlichen Geschichtsmodells<br />

tätig. Wir wissen ja, dass islamistische Fundamentalisten<br />

<strong>in</strong> ihrer Abkehr vom Westen westliche Technik<br />

benutzen, aber dieser Wi<strong>der</strong>spruch wird nicht als<br />

Wi<strong>der</strong>spruch empfunden, son<strong>der</strong>n die Übernahmen<br />

s<strong>in</strong>d nur technische Güter, die nicht mit e<strong>in</strong>er kulturellen<br />

Wahrnehmung verbunden werden. Man<br />

gebraucht also die mo<strong>der</strong>ne Technik, um sich gegen<br />

die Grundlagen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen westlichen Welt zu<br />

wenden. Man lebt hier also oft <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er „Doppel-<br />

Welt“: <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt ökonomischer Austauschprozesse,<br />

und gleichzeitig versucht man, die eigenen Werte, die<br />

eigene Kultur, die Umgangsformen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft,<br />

sei es im Familienrecht o<strong>der</strong> auch im Staatsrecht,<br />

zu erhalten. Das ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Kulturen zu<br />

besichtigen und führt – jedenfalls nach me<strong>in</strong>er Beobachtung<br />

– nicht zu größeren Friktionen, als wir sie <strong>in</strong><br />

unser eigenen Kultur kennen.<br />

Wenn ich e<strong>in</strong>mal verallgeme<strong>in</strong>ern und typisieren darf:<br />

Können e<strong>in</strong>e Kultur, die <strong>auf</strong> e<strong>in</strong> Endziel h<strong>in</strong> orientiert<br />

und dafür tätig ist, und e<strong>in</strong>e Kultur, die die gegebenen<br />

Zustände beispielsweise als gottgewollt h<strong>in</strong>nimmt, e<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

(<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em nicht sehr emphatischen S<strong>in</strong>n) verstehen?<br />

Ich denke schon. E<strong>in</strong> gutes Beispiel dafür ist Ch<strong>in</strong>a<br />

o<strong>der</strong> auch Indien. Man sieht, dass es verschiedene<br />

Welt- und Erklärungsmodelle gibt; man möchte sich<br />

entwickeln im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es höheren Wohlstands; man<br />

möchte die Infrastruktur verbessern, das Bildungsund<br />

Gesundheitsniveau heben – und das ist auch <strong>in</strong><br />

Kulturen so, die nicht e<strong>in</strong>en so teleologisch gerichteten<br />

Zeitpfeil kennen. Daraus leitet man aber nicht ab,<br />

dass nun die gesamte Gesellschaft aus ihrer traditionellen<br />

Verankerung herausmüsste <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e<br />

Zukunft.


Darf ich trotzdem e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e Unterscheidung versuchen<br />

zwischen den genannten süd- und fernöstlichen Kulturen<br />

und dem islamischen Mittelmeerraum? Claude Lévi-<br />

Strauss hat e<strong>in</strong>mal gesagt, dass die jüngste aller großen<br />

Religionen, <strong>der</strong> Islam, diejenige sei, die sich am deutlichsten<br />

mit den Regelungen weltlicher Angelegenheiten befasst,<br />

während frühere Religionen dazu eher ke<strong>in</strong>e Aussagen<br />

machen.<br />

Ich halte diese Unterscheidung, wenn sie so absolut<br />

gesetzt wird, für falsch. Wenn wir uns zum Beispiel den<br />

Konfuzianismus ansehen, so wird hier das Leben <strong>der</strong><br />

Menschen bis zur Erziehung und <strong>in</strong> die engsten Beziehungen<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> geregelt. Das ist vielleicht beim Buddhismus<br />

nicht <strong>in</strong> diesem Umfang <strong>der</strong> Fall, auch nicht<br />

beim Christentum, beim Islam allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> höherem<br />

Maß. Woran liegt das? Es liegt nicht am Alter <strong>der</strong> Religion,<br />

son<strong>der</strong>n daran, <strong>in</strong> welchen Kulturen diese Religionen<br />

entstanden s<strong>in</strong>d, was sozusagen als kulturelles<br />

Substrat schon vorhanden war.<br />

Das Christentum entwickelt sich zunächst im Mittelmeerraum<br />

im Bereich des Römischen Rechts und <strong>der</strong><br />

griechischen Philosophie und f<strong>in</strong>det dort se<strong>in</strong>e grundlegenden<br />

Dogmen und Lebensformen. E<strong>in</strong>er <strong>der</strong><br />

großen Übersetzer des Christentums vom Griechischen<br />

<strong>in</strong>s Late<strong>in</strong>ische war schließlich e<strong>in</strong> Jurist: Tertullian.<br />

Das ist ke<strong>in</strong> Zufall. Hier haben wir bereits e<strong>in</strong>e<br />

Hochkultur und e<strong>in</strong>e hoch ausdifferenzierte Gesellschaft.<br />

Beim Islam liegen die D<strong>in</strong>ge an<strong>der</strong>s. Er entsteht<br />

<strong>in</strong> arabischen Stämmen, die sich jetzt erst zu größeren<br />

Verbünden zusammenschließen; <strong>der</strong> Islam ist geradezu<br />

als <strong>der</strong> Versuch <strong>in</strong>terpretierbar, Stammesfehden<br />

und -konflikte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Rahmen zu überw<strong>in</strong>den, und<br />

diesen Rahmen muss er erst setzen. Er hat also se<strong>in</strong>en<br />

Anfangsimpuls, se<strong>in</strong>e Ursprungsurkunde aus e<strong>in</strong>er<br />

grundsätzlich an<strong>der</strong>en Situation als das Christentum.<br />

<strong>Die</strong>s trägt er dann mit sich weiter. Und selbst wenn er<br />

nun <strong>auf</strong> an<strong>der</strong>e Hochkulturen trifft, wie zum Beispiel<br />

militärisch <strong>in</strong> Indien o<strong>der</strong> als die islamisierten Völker<br />

Zentralasiens nach Ch<strong>in</strong>a e<strong>in</strong>fallen, so wird dort versucht,<br />

die Identität, die er aus e<strong>in</strong>em ganz an<strong>der</strong>en Rahmen<br />

gewonnen hat, auch <strong>in</strong> jene hochkulturellen<br />

Gebilde zu importieren, und er gerät mit ihnen natürlich<br />

<strong>in</strong> Konflikt.<br />

Wir können das sehr deutlich an <strong>der</strong> Ausbreitungsdynamik<br />

von Religionen <strong>in</strong> Afrika sehen. Warum s<strong>in</strong>d<br />

dort das Christentum und <strong>der</strong> Islam so erfolgreich und<br />

nicht <strong>in</strong> Indien (abgesehen von den militärischen Erfolgen<br />

des frühen Islam)? Das hängt damit zusammen,<br />

dass wir <strong>in</strong> Indien bereits hochkulturelle, das heißt vernetzte,<br />

weitgehend professionalisierte Gesellschaftsmodelle<br />

und Strukturen haben, an<strong>der</strong>s als <strong>in</strong> Afrika.<br />

Hier werden <strong>der</strong> Islam und das Christentum, die beiden<br />

konkurrierenden Religionen, als e<strong>in</strong> das regionale<br />

Leben und Denken übergreifendes Modell empfunden<br />

und angenommen. Wobei sich dann immer, das<br />

wissen wir aus <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Religionen sehr gut,<br />

Mischformen und Neubildungen ergeben.<br />

Es gibt Islamwissenschaftler, die die sogenannte „Schließung<br />

<strong>der</strong> Pforten (<strong>der</strong> Interpretation)“ im frühen 2.<br />

Jahrtausend als Ursache für e<strong>in</strong>e fehlende Reformfähigkeit<br />

ansehen. Ist das wirklich e<strong>in</strong>e relevante Ursache?<br />

Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann. Man<br />

muss bedenken, dass das Christentum se<strong>in</strong>e Dogmen<br />

und se<strong>in</strong>e Lebensformen und Weltvorstellungen im<br />

Wesentlichen bis zum 4., 5. Jahrhun<strong>der</strong>t ausformuliert<br />

hat: die Christologie, die Zwei-Naturen-Lehre<br />

und alles, was daraus folgt. Damit wurde ja auch <strong>der</strong><br />

christliche „Rahmen“ geschlossen; ich will nicht<br />

sagen, die „Pforte geschlossen“, aber es ist doch e<strong>in</strong><br />

Rahmen, <strong>der</strong> mehr o<strong>der</strong> weniger feststand und an<br />

dem über Jahrhun<strong>der</strong>te h<strong>in</strong>weg nicht allzu viel geän<strong>der</strong>t<br />

wurde. Dann aber, ich denke wie<strong>der</strong> an die<br />

Renaissance, kommt e<strong>in</strong>e Bewegung <strong>in</strong>s Spiel, die<br />

diesen Rahmen nicht völlig sprengt, aber doch so neu<br />

<strong>in</strong>terpretiert und wie<strong>der</strong>um <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Rahmen<br />

stellt, dass wir <strong>auf</strong> allen Gebieten – im Recht, <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Kunst, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Philosophie usw. – e<strong>in</strong>e Kulturdynamik<br />

im weitesten S<strong>in</strong>n beobachten können. In dieser<br />

Perspektive wird man möglicherweise den Mangel an<br />

Reformfreudigkeit, den man im Islam etwa seit dem<br />

14. Jahrhun<strong>der</strong>t wahrnehmen kann, nicht <strong>auf</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Morphologie des Religiösen zurückführen müssen<br />

o<strong>der</strong> – wie ich me<strong>in</strong>e – können, son<strong>der</strong>n eher fragen:<br />

Wer s<strong>in</strong>d hier denn mögliche Trägergruppen für<br />

Dynamik und Verän<strong>der</strong>ung heute? Ideen fallen,<br />

wenn schon nicht vom Himmel, so doch aus dem<br />

Kopf <strong>in</strong>telligenter Menschen, aber dass Ideen die<br />

Massen ergreifen (ich benütze hier bewusst e<strong>in</strong>en<br />

Marx’schen Ausdruck), erfor<strong>der</strong>t soziale Gruppen,<br />

die solche Ideen auch tatsächlich <strong>auf</strong>nehmen. Solche<br />

Gruppenbildungen hängen an sozialen und ökonomischen<br />

Prozessen, die erst e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> Gang gesetzt<br />

werden müssen. Mit an<strong>der</strong>en Worten: Wo e<strong>in</strong> <strong>auf</strong>strebendes<br />

Bürgertum existiert, wird es auch e<strong>in</strong>e entsprechende<br />

Expansion geben, dann aber nicht nur <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Religion, son<strong>der</strong>n auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kunst. E<strong>in</strong> solches<br />

Bürgertum als Träger e<strong>in</strong>er gesellschaftlichen Verän<strong>der</strong>ung<br />

hat sich <strong>in</strong> vielen islamischen Län<strong>der</strong>n aus<br />

diversen Gründen bisher jedenfalls nicht gebildet.<br />

Wenn sich das aber e<strong>in</strong>mal än<strong>der</strong>t, kann es große Verän<strong>der</strong>ung<br />

und Rahmensprengungen freisetzen.<br />

Können Sie für solche Dynamiken auch historische Belege<br />

anführen? Haben solche Rahmensprengungen <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Gesellschaften ebenfalls stattgefunden?<br />

Ich könnte es beweisen an <strong>der</strong> Geschichte Indiens.<br />

Dort kann man sehen, wie schon im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t,<br />

natürlich angestoßen durch den Kontakt mit <strong>der</strong><br />

Kolonialmacht Großbritannien, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sogenannten<br />

Bengalischen Renaissance plötzlich e<strong>in</strong>e neue Gesellschaftsschicht<br />

entsteht, durch e<strong>in</strong> neues, kastenüberschreitendes<br />

Sozialisierungssystem, e<strong>in</strong>e sich am englischen<br />

Schul- und Bildungssystem abarbeitende<br />

Elite, die dann auch den H<strong>in</strong>duismus neu <strong>in</strong>terpretiert.<br />

Althergebrachte Denkformen, sogar Tradierungs-,<br />

Sozialisierungs- und Diskursformen usw. werden<br />

von ihr völlig über den H<strong>auf</strong>en geworfen. <strong>Die</strong><br />

Voraussetzung dafür war die neue Bildungsschicht <strong>in</strong><br />

Bengalen.<br />

Wenn ich noch e<strong>in</strong>mal <strong>auf</strong> die anfänglich genannte Furcht<br />

zurückkommen darf: Wie begründet sie sich? Wovor<br />

fürchten sich diese Menschen?<br />

69


70<br />

<strong>Die</strong> Furcht Europas vor dem zunächst e<strong>in</strong>mal ganz<br />

Fremden, das es nicht beherrschen kann, geht ja m<strong>in</strong>destens<br />

<strong>auf</strong> den Beg<strong>in</strong>n des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts zurück,<br />

die „gelbe Gefahr“ zum Beispiel. Es ist das Gefühl,<br />

dass <strong>der</strong> europäische Alle<strong>in</strong>herrschaftsanspruch, wie<br />

er sich im Kolonialismus und <strong>in</strong> den Missionsbewegungen<br />

äußerte, von an<strong>der</strong>en Kulturen zum<strong>in</strong>dest<br />

nicht übernommen, son<strong>der</strong>n deutlich <strong>in</strong>fragegestellt<br />

wird. Der große Selbstzweifel Europas beg<strong>in</strong>nt mit<br />

dem Ersten Weltkrieg, mit dem Zusammenbruch <strong>der</strong><br />

europäischen Kultur; danach sucht dieser Kont<strong>in</strong>ent<br />

se<strong>in</strong> Heil <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ferne, ex oriente lux, speziell während<br />

<strong>der</strong> zwanziger Jahren <strong>in</strong> Deutschland. Hier hofft man<br />

zwar, durch neue Impulse irgendwie weiterzukommen,<br />

aber gleichzeitig empf<strong>in</strong>det man die Gefahr <strong>der</strong><br />

Überfremdung durch an<strong>der</strong>e Kulturen. <strong>Die</strong> Kirchen<br />

spielten dabei e<strong>in</strong>e Rolle, <strong>in</strong>dem sie das Stich- und<br />

Schlagwort „Synkretismus“ politisierten: Alles, was<br />

die eigene Identität überfremden kann o<strong>der</strong> gefährdet,<br />

ist „synkretistisch“ und muss abgewehrt werden.<br />

Das ist kulturgeschichtlich uns<strong>in</strong>nig, da jede Kultur<br />

e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger Synkretismus ist. Durch die Migrationsbewegungen<br />

kommt diese Furcht noch stärker zum<br />

Zug. Europa war bisher an den Außengrenzen mit<br />

dem Islam befasst, es hat die Traumata von Konstant<strong>in</strong>opel<br />

und Wien zwar ver<strong>in</strong>nerlicht, aber auch <strong>in</strong>nerlich<br />

abgewehrt. Aber jetzt s<strong>in</strong>d die Muslime plötzlich<br />

bei uns im Lande, und zwar sichtbar, nicht mehr nur<br />

als M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Unterschicht, son<strong>der</strong>n als <strong>auf</strong>strebende<br />

Mittelschicht mit eigenen Ansprüchen.<br />

Das ist es, was Angst macht. Wir sehen e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e<br />

Lebensform, und es ist ke<strong>in</strong> Zufall, dass es gerade im<br />

Intimbereich, also bei <strong>der</strong> Stellung <strong>der</strong> Frau und <strong>der</strong><br />

Rolle <strong>der</strong> Sexualität, entsprechende Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen<br />

gibt, bis h<strong>in</strong> zur Bekleidung (im Kopftuch-<br />

Streit); das s<strong>in</strong>d die Chiffren, <strong>in</strong> denen sich die diffuse<br />

Angst Symbole sucht, an denen sie sich kristallisieren<br />

kann.<br />

An<strong>der</strong>erseits haben wir aber, wenn auch weniger zahlreich,<br />

Menschen aus m<strong>in</strong>destens ebenso fremden Kulturen,<br />

die bei uns leben, etwa In<strong>der</strong>, die sich auch <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Kleidung deutlich von an<strong>der</strong>en unterscheiden. Aber vor<br />

diesen Menschen sche<strong>in</strong>en wir nicht so viel Angst zu<br />

haben wie vor vielen Muslimen.<br />

Ich sehe drei Gründe dafür. Erstens s<strong>in</strong>d diese an<strong>der</strong>en<br />

Fremden viel weniger zahlreich, wenigstens <strong>in</strong><br />

Deutschland (Großbritannien ist da sicher e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er<br />

Fall). Zweitens stellen beispielsweise <strong>in</strong>dische o<strong>der</strong><br />

auch buddhistische Gruppen hier ke<strong>in</strong>e politischen<br />

For<strong>der</strong>ungen im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung e<strong>in</strong>es an<strong>der</strong>en<br />

Rechtssystems. Drittens, und das sche<strong>in</strong>t mir wichtig<br />

zu se<strong>in</strong>, ist „<strong>der</strong> Islam“ negativ besetzt als die Alternative<br />

zum Christentum, das heißt als <strong>der</strong> Bru<strong>der</strong> <strong>in</strong> den<br />

abrahamischen Religionen, <strong>der</strong> aber Europa fe<strong>in</strong>dlich<br />

nahesteht. <strong>Die</strong> asiatischen Kulturen s<strong>in</strong>d weit weg, mit<br />

ihnen hatten wir (vom Kolonialismus e<strong>in</strong>mal abgesehen)<br />

ke<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Geschichte. Gerade die<br />

geme<strong>in</strong>same Geschichte, e<strong>in</strong>e Geschichte <strong>der</strong> wohlgemerkt<br />

gegenseitigen Gewalt, belastet hier das Verhältnis<br />

und för<strong>der</strong>t Fe<strong>in</strong>dbil<strong>der</strong> <strong>auf</strong> Grund kollektiver<br />

Traumata.<br />

Ist das geme<strong>in</strong>same Reflektieren o<strong>der</strong> sogar Aufschreiben<br />

<strong>der</strong> geme<strong>in</strong>samen Geschichte heute nicht auch e<strong>in</strong> Verfahren,<br />

um aus den Antagonismen dieser Geschichte<br />

herauszukommen?<br />

Richtig. Das ist e<strong>in</strong>e ungeheure Aufgabe und e<strong>in</strong><br />

gewaltiger, wenn auch mühsamer Bildungsprozess. Es<br />

ist genau die Aufgabe <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Europäischen<br />

Union, <strong>der</strong> europäischen Integration, nicht lediglich <strong>in</strong><br />

Abgrenzung konstituierte Nationalgeschichten zu<br />

schreiben und zu tradieren, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same<br />

europäische Geschichte. Wie schwer das ist, wissen wir.<br />

Es gel<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong> wenig <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kunstgeschichte, weil es<br />

dort die Transparenz auch über Grenzen und Konflikte<br />

h<strong>in</strong>weg immer schon gab; es gel<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong> wenig <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Wirtschaftsgeschichte, weil zum Beispiel so große Vorbil<strong>der</strong><br />

wie Venedig tausend Jahre lang e<strong>in</strong> Netz von<br />

Beziehungen über politische o<strong>der</strong> auch religiöse Antagonismen<br />

h<strong>in</strong>weg <strong>auf</strong>rechterhalten konnten. Aber es<br />

gel<strong>in</strong>gt nur schwer <strong>in</strong> <strong>der</strong> Konfessionsgeschichte, hier<br />

stagniert das Gespräch <strong>der</strong>zeit, weil Identitätsfragen<br />

berührt s<strong>in</strong>d; und es ist noch erheblich schwieriger <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> politischen Geschichte. Aber genau hier liegt<br />

unsere Aufgabe, da stimme ich mit Ihnen übere<strong>in</strong>. Es<br />

ist e<strong>in</strong>e große Bildungs<strong>auf</strong>gabe, <strong>der</strong> wesentliche Punkt,<br />

an dem wir <strong>in</strong> Europa vorankommen müssen, um<br />

überhaupt fähig zu werden, uns e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Verfassung<br />

zu geben.<br />

Das Gleiche ist nicht nur denkbar, son<strong>der</strong>n irgendwann<br />

notwendig im H<strong>in</strong>blick <strong>auf</strong> den Mittelmeerraum.<br />

Und dazu gehört <strong>der</strong> Islam. Natürlich ist Europa<br />

nicht denkbar ohne den Islam. Nicht weil wir e<strong>in</strong>iges<br />

von ihm übernommen haben, das ist schön und gut,<br />

aber vor allem ist <strong>der</strong> Islam ständiger Teil <strong>der</strong> europäischen<br />

Kultur.<br />

Man hört im Westen manchmal die Feststellung: Ich<br />

brauche ke<strong>in</strong>en <strong>in</strong>terreligiösen Dialog, nur die Gesetze<br />

und me<strong>in</strong>e Freiheit. Das kl<strong>in</strong>gt schlank und schlüssig.<br />

Wozu brauchen wir also eigentlich diesen Dialog?<br />

Das ist e<strong>in</strong>e wenig s<strong>in</strong>nvolle Alternative. Denn<br />

Gesetze und Freiheit s<strong>in</strong>d <strong>der</strong> Ausdruck e<strong>in</strong>es kollektiven<br />

Bewusstse<strong>in</strong>s des Gesellschaft, aber dieses Bewusstse<strong>in</strong><br />

än<strong>der</strong>t sich ja dauernd angesichts verän<strong>der</strong>ter –<br />

biologischer und kultureller – Umweltbed<strong>in</strong>gungen.<br />

Zu diesen Bed<strong>in</strong>gungen gehört die Durchdr<strong>in</strong>gung<br />

unterschiedlicher religiöser Ansprüche. Der <strong>in</strong>terreligiöse<br />

Dialog ist uns also <strong>auf</strong>gezwungen, ob wir ihn wollen<br />

o<strong>der</strong> nicht.<br />

Das Gegenbild dazu ist aber auch oft das alltägliche<br />

Mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong>auskommen, das sich im praktischen Vollzug,<br />

im Aushandeln von Rechten und For<strong>der</strong>ungen, von<br />

selbst regelt. Wozu brauche ich dann noch den Dialog<br />

zwischen sozusagen scholastischen Fachleuten?<br />

Weil Konflikte <strong>auf</strong>treten und ich den H<strong>in</strong>tergrund<br />

<strong>der</strong> Konflikte kennen muss, um die Denkweise und<br />

auch die Verfahrensweise des An<strong>der</strong>en verstehen zu<br />

können, damit ich überhaupt dar<strong>auf</strong> reagieren kann.<br />

<strong>Die</strong> Fragen stellte Fritz R. Glunk.


STORY<br />

Woh<strong>in</strong> gehst du, Bru<strong>der</strong>?<br />

Der Ich-Erzähler, e<strong>in</strong> deutscher Universitätsprofessor, trifft<br />

<strong>in</strong> den USA e<strong>in</strong>en ehemaligen Studenten wie<strong>der</strong>. Zwei<br />

Ausschnitte aus dem noch unveröffentlichten Roman<br />

gleichen Titels.<br />

Abu Said war nicht mehr <strong>der</strong>selbe. <strong>Die</strong> – fast –<br />

unsichtbar gemachte Narbe war nur e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis <strong>auf</strong><br />

an<strong>der</strong>e Verän<strong>der</strong>ungen. Offenbar g<strong>in</strong>g es ihm<br />

materiell gut. Er hatte sich neu e<strong>in</strong>gekleidet, unter<br />

dem schwarzen Flanellmantel trug er e<strong>in</strong>en<br />

schwarzen Anzug und e<strong>in</strong> schwarzes,<br />

hochgeschlossenes Hemd, ke<strong>in</strong>e Krawatte. Das<br />

Schwarz paßte gut zu ihm, se<strong>in</strong>em Ernst, se<strong>in</strong>er<br />

Unabhängigkeit, und gab ihm etwas Asketisch-<br />

Anarchisches. Er hatte sich e<strong>in</strong>en Mietwagen<br />

genommen, nicht gerade e<strong>in</strong>en <strong>der</strong> größten, aber<br />

e<strong>in</strong>en <strong>der</strong> hier mehr als komfortablen Mittelklasse.<br />

Von dem Bauernhof <strong>der</strong> Meister<strong>in</strong>, wo das raku-<br />

Fest stattgefunden hatte, fuhr er h<strong>in</strong>ter mir her zu<br />

me<strong>in</strong>em Haus im Campus. Während er den Wagen<br />

abstellte, fragte ich ihn, wie er mich denn gefunden<br />

habe.<br />

Er lachte.<br />

E<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Lachen, als das mir vertraute, nicht<br />

mehr zurückgehalten und gepreßt, son<strong>der</strong>n grade<br />

heraus und mit e<strong>in</strong>em Nachhall, <strong>der</strong> mir übertrieben<br />

vorkam.<br />

Step by step, sagte er.<br />

Aus dem alten Europa bis hierher? Wieviele<br />

Schritte waren es denn?<br />

Er lachte noch e<strong>in</strong>mal, diesmal kürzer, und w<strong>in</strong>kte ab.<br />

We<strong>der</strong> habe er nachgezählt, noch sei das jetzt, wo er<br />

mich gefunden habe, von irgendwelcher Bedeutung.<br />

Es fiel mir schwer, mich damit abzuf<strong>in</strong>den, denn es<br />

hatte etwas Unwahrsche<strong>in</strong>liches. Der Datenschutz<br />

<strong>auf</strong> dem Campus war streng. Mir selbst war es nicht<br />

gelungen, auch nur die Telefonnummer o<strong>der</strong> die<br />

Adresse e<strong>in</strong>es Kollegen aus dem gleichen<br />

Department zu erfragen, <strong>der</strong> es vorgezogen hatte,<br />

eben das vor <strong>der</strong> Öffentlichkeit geheimzuhalten.<br />

Daß Abu Said mich tatsächlich gefunden hatte,<br />

konnte nur dadurch zustandegekommen se<strong>in</strong>, daß<br />

er über Netzwerke verfügte, die ich nicht kannte.<br />

Wor<strong>in</strong> bestanden sie? Während <strong>der</strong> nächsten<br />

Wochen ertappte ich mich immer wie<strong>der</strong> dabei, daß<br />

ich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bibliothek me<strong>in</strong>en Blick schweifen ließ –<br />

<strong>auf</strong> <strong>der</strong> Suche nach Gesichtern, die ich mit Abu Said<br />

<strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung br<strong>in</strong>gen konnte.<br />

Wir tranken Tee.<br />

Ich hatte zwei Becher ausgewählt, die ich selbst<br />

gemacht hatte, japanischen Tee-Bechern<br />

nachempfunden, wie sie bei <strong>der</strong> Teezeremonie<br />

verwendet werden.<br />

Von <strong>Die</strong>trich Krusche<br />

Er bemerkte sofort, daß sie sich von allem hier<br />

üblichen Geschirr unterschieden.<br />

Handwerk, sagte er, e<strong>in</strong> Trost <strong>in</strong> diesem Land.<br />

Dann zitierte er Bertolt Brecht, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Niveareklame als das e<strong>in</strong>zige Kunstwerk bezeichnet<br />

hatte, das er <strong>in</strong> den USA gesehen habe.<br />

Ich war dr<strong>auf</strong> und dran, ihn nach se<strong>in</strong>er<br />

Doktorarbeit zu fragen – nicht, ob er noch daran<br />

arbeitete, son<strong>der</strong>n was er stattdessen jetzt tat.<br />

Als habe er me<strong>in</strong>e Gedanken erraten, lachte er <strong>auf</strong><br />

se<strong>in</strong>e neue, unbefangene und etwas ausfahrende<br />

Weise.<br />

Wie Sie sehen, sagte er, b<strong>in</strong> ich e<strong>in</strong> Versager.<br />

Versager <strong>in</strong> allem, was Berufsausbildung angeht. Als<br />

Filmemacher habe er sich versucht, zwischendurch<br />

e<strong>in</strong>mal als Bäcker, dann sogar als Wissenschaftler.<br />

Se<strong>in</strong> ehemaliger Lehrer tue ihm jetzt noch leid.<br />

Übrigens sei er auch als Pilot gescheitert. Zum<br />

zweiten Mal schon. Das erstemal, als er noch ganz<br />

jung war, bei <strong>der</strong> pakistanischen Luftwaffe,<br />

neuerd<strong>in</strong>gs hier. Nicht tauglich. Schon bei den<br />

körperlichen Tests, Gleichgewichtss<strong>in</strong>n,<br />

Sehvermögen, Koord<strong>in</strong>ation <strong>der</strong> Bewegungen etc.<br />

Hier habe man ihn zu allem Überfluß auch noch als<br />

schwerhörig e<strong>in</strong>gestuft. Er sei schon froh, daß man<br />

ihn <strong>in</strong> diesem Lande wenigstens Auto fahren lasse.<br />

Das mit <strong>der</strong> Pilotenausbildung hielt ich für<br />

Phantasie. Das pauschale Herumnörgeln an den<br />

Vere<strong>in</strong>igten Staaten wurde mir denn doch zu viel.<br />

Warum bist du dann überhaupt hergekommen,<br />

wenn dir alles hier nicht paßt?<br />

Er warf mir e<strong>in</strong>en Blick zu, <strong>in</strong> dem Überraschung<br />

und Triumph lagen. Ich hatte du gesagt, und er<br />

zögerte ke<strong>in</strong>en Augenblick, dar<strong>auf</strong> e<strong>in</strong>zugehen.<br />

Das kann ich dir sagen. Bei uns zu Hause gibt es das<br />

Sprichwort: Was du nicht von de<strong>in</strong>en Lehrern lernst,<br />

lernst du von de<strong>in</strong>en Fe<strong>in</strong>den.<br />

Gleich dar<strong>auf</strong> sprach er von e<strong>in</strong>er Mission, e<strong>in</strong>er,<br />

die wir beide geme<strong>in</strong>sam hätten.<br />

Ich verstehe nicht.<br />

Er sah mich prüfend und zugleich überlegen an.<br />

E<strong>in</strong>e Selbstgewißheit g<strong>in</strong>g von ihm aus, die an<br />

Überheblichkeit grenzte.<br />

Man spricht heutzutage viel von Ch<strong>in</strong>a und<br />

Indien. <strong>Die</strong> beiden Mächte, denen angeblich die<br />

Zukunft gehört. Ihre E<strong>in</strong>wohnerzahlen, ihr<br />

wirtschaftliches Wachstum. Aber das bedeutet gar<br />

nichts. Sie werden niemals ernstzunehmende<br />

Gegenspieler <strong>der</strong> USA se<strong>in</strong>. Konkurrenten<br />

vielleicht, aber nicht Fe<strong>in</strong>de. Warum nicht? Weil sie<br />

nicht wirklich herausgefor<strong>der</strong>t s<strong>in</strong>d. Indien <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Götter-Seligkeit ist ohneh<strong>in</strong> nicht herauszufor<strong>der</strong>n,<br />

außer durch den fe<strong>in</strong>dlichen Bru<strong>der</strong>, Pakistan.<br />

71


72<br />

Ch<strong>in</strong>a? So wie die Ch<strong>in</strong>esen alles essen, s<strong>in</strong>d sie alles<br />

zu tun bereit, was ihnen gerade nützt. Auch, alles zu<br />

glauben. Ne<strong>in</strong>, fuhr er fort, es gibt nur zwei Mächte,<br />

die den USA entgegentreten müssen, weil ihre<br />

eigenen Werte es verlangen, die islamischen Völker –<br />

und Europa.<br />

Das Gespräch wurde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> kle<strong>in</strong>en<br />

Restaurants am Rande des Campus fortgesetzt,<br />

e<strong>in</strong>em Thai-Restaurant. Das Lokal war voll, die<br />

Tische standen dicht bei dicht.<br />

Ich hatte die Taschenbuchausgabe des Koran<br />

mitgenommen und zitierte die Stelle aus dem Vers<br />

157 <strong>der</strong> Sure 7, wo es heißt: Ich treffe mit me<strong>in</strong>er<br />

Strafe, wen ich will; doch me<strong>in</strong>e Barmherzigkeit<br />

umfaßt jedes D<strong>in</strong>g (...) E<strong>in</strong>e son<strong>der</strong>bare Situation.<br />

Wir saßen zwischen Menschen aus aller Herren<br />

Län<strong>der</strong>, aus allen Klimazonen dieser Erde, zwischen<br />

Schwarzen, Weißen, Braunen, Gelben, und<br />

diskutierten das Schicksal <strong>der</strong> Ungläubigen im<br />

S<strong>in</strong>ne des Islam. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß<br />

all die, die hier zusammenkommen waren <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Liberalität des größten E<strong>in</strong>wan<strong>der</strong>erlandes <strong>der</strong> Welt,<br />

durch die Grenzen, die e<strong>in</strong>e Religion zog, zerfallen<br />

sollten <strong>in</strong> Gläubige und Ungläubige, <strong>in</strong> Errettete und<br />

Verdammte. Ne<strong>in</strong>, ich brauchte mich nur<br />

umzusehen, um <strong>in</strong> <strong>der</strong> Barmherzigkeit die höchste<br />

aller göttlichen Möglichkeiten zu erkennen. Said<br />

wollte davon nichts wissen. Er war eben dar<strong>auf</strong>, <strong>auf</strong><br />

Unterschied und Trennung e<strong>in</strong>gestellt, <strong>auf</strong> Strafe, wo<br />

sie <strong>der</strong> Gerechtigkeit nach fällig war, ja <strong>auf</strong> Rache für<br />

all das Unrecht, das die Ungläubigen den Gläubigen<br />

seit so vielen Jahrhun<strong>der</strong>ten zugefügt hatten.<br />

Wo er die Nacht verbrachte, weiß ich nicht. Er sagte<br />

etwas von Freunden <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nähe. Daß er auch hier<br />

Verwandte, Bekannte, Freunde hatte, glaubte ich<br />

ohne weiteres. Es kam mir ohneh<strong>in</strong> so vor, als sei er,<br />

wo immer er geht und steht, Teil e<strong>in</strong>es Gefüges, das<br />

sich mit ihm verschiebt, sich verdichtet und wie<strong>der</strong><br />

lockert, aber ihn niemals freigibt.<br />

Am nächsten Tag, e<strong>in</strong>em Montag, hatte ich zwei<br />

Verabredungen, und wir sahen uns nicht. Der <strong>Die</strong>nstag<br />

war <strong>der</strong> Tag se<strong>in</strong>es Abflugs von New York. Wir<br />

verabredeten, daß wir geme<strong>in</strong>sam nach Manhattan<br />

fahren wollten. Se<strong>in</strong> Flug g<strong>in</strong>g gegen Abend. Schon<br />

am Vormittag fuhren wir los, um etwaige<br />

Verkehrsbeh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung noch ausgleichen zu können.<br />

In <strong>der</strong> Nähe von Stony Brook überfuhr er, ohne es zu<br />

bemerken, beim Abbiegen e<strong>in</strong> Rotlicht. Auch ich<br />

hatte nicht <strong>auf</strong>gepaßt, aber ich hatte wenigstens<br />

bemerkt, was geschehen war. Deshalb erschrak ich<br />

auch nicht weiter, als h<strong>in</strong>ter uns e<strong>in</strong> Wagen mit<br />

Blaulicht und Sirene <strong>auf</strong>tauchte. Der Wagen<br />

überholte uns, e<strong>in</strong>e Kelle w<strong>in</strong>kte uns an den Straßenrand.<br />

Abu Said sagte etwas, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Sprache, die ich<br />

nicht verstand, machte e<strong>in</strong>e Handbewegung zu<br />

me<strong>in</strong>er Seite herüber, <strong>auf</strong> das Handschuhfach, brach<br />

aber ab und fuhr, <strong>in</strong>dem er beschleunigte, weiter.<br />

Bist du verrückt, brüllte ich. Du hast e<strong>in</strong> Rotlicht<br />

überfahren. Hun<strong>der</strong>t Dollar. Willst du dafür de<strong>in</strong><br />

Leben riskieren?<br />

Er bremste scharf und hielt.<br />

E<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelner Polizist, noch ganz jung.<br />

Das Halten erst nach Verzögerung hatte ihn außer<br />

Rand und Band gebracht. Mit gezogener Waffe kam<br />

er <strong>auf</strong> uns zu.<br />

Get out, get out of there , brüllte er, und wir mußten<br />

uns, e<strong>in</strong>er neben dem an<strong>der</strong>en, mit gespreizten<br />

Be<strong>in</strong>en h<strong>in</strong>stellen, die Hände <strong>auf</strong> das Wagendach<br />

gelegt.<br />

Ke<strong>in</strong> Wort, sagte ich zu Abu Said, laß mich das<br />

machen.<br />

Wir wurden nach Waffen abgetastet.<br />

Als <strong>der</strong> Polizist etwas ruhiger wurde und im<br />

Schreien e<strong>in</strong>e Pause machte, kam ich endlich zu<br />

Worte:<br />

Sorry, Sir. Very sorry for what happened.<br />

Und bei nächster Gelegenheit:<br />

The two of us were so busy talk<strong>in</strong>g, that he just<br />

overlooked the traffic light.<br />

Und wie<strong>der</strong> etwas später.<br />

He’s my student, you know, it’s my fault too, you<br />

know.<br />

Das Wort student ließ ihn stutzen.<br />

Er ließ sich die Ausweise zeigen. Ich gab ihm me<strong>in</strong>e<br />

Identitätskarte, die mich als member of the staff an<br />

<strong>der</strong> und <strong>der</strong> Universität auswies, Abu Said<br />

präsentierte e<strong>in</strong>en englischen Paß und e<strong>in</strong>en noch<br />

ganz frischen amerikanischen Führersche<strong>in</strong>.<br />

<strong>Die</strong> Szene än<strong>der</strong>te sich.<br />

Der Polizist wollte wissen, was ich lehre und was er<br />

bei mir lerne. Das Wort Literatur war es, was ihn<br />

endgültig von unserer Harmlosigkeit überzeugte. Er<br />

erklärte se<strong>in</strong>e Heftigkeit, die Dramatik se<strong>in</strong>es<br />

E<strong>in</strong>greifens damit, daß er Schaden hatte abwenden<br />

müssen, nicht nur von an<strong>der</strong>en<br />

Verkehrsteilnehmern, auch von uns selbst. Er<br />

verzichtete <strong>auf</strong> die Geldstrafe und beließ es bei e<strong>in</strong>er<br />

Verwarnung. Begründung: Er betrachte es als e<strong>in</strong>e<br />

amerikanische Tugend (a true American virtue), mit<br />

Fremden im Lande respektvoll umzugehen.<br />

Der nächste Teil unserer Fahrt nach New York<br />

verlief schweigend. Als wir uns dem L<strong>in</strong>coln-Tunnel<br />

näherten, bat Abu Said mich, das Handschuhfach zu<br />

öffnen.<br />

Oben<strong>auf</strong> lag e<strong>in</strong> Revolver.<br />

Für den Fall <strong>der</strong> Fälle, sagte er, ohne zu mir herüberzusehen.<br />

Und natürlich nur für die Zeit <strong>in</strong> den USA.<br />

Gewalt zur Abwehr von Gewalt. Ehe ich das Land<br />

verlasse, fliegt das D<strong>in</strong>g zum Fenster h<strong>in</strong>aus.<br />

(...)<br />

Was B. dann noch erzählte, war das, was sie von<br />

Nouri nach <strong>der</strong>en Ankunft hier, also vor wenigen<br />

Tagen erst, gehört hatte. Sie sprach jetzt so, wie sie<br />

Nouri hatte sprechen hören, und es kam mir vor, als<br />

höre ich Nouri selbst. Zugleich war es so, als habe B.<br />

das, was sie erzählte, selbst erlebt.<br />

Gleich nach <strong>der</strong> Ankunft <strong>in</strong> Paläst<strong>in</strong>a hatte Hassan<br />

sich e<strong>in</strong>er radikalen Gruppe angeschlossen,<br />

e<strong>in</strong>geschworen <strong>auf</strong> den bewaffneten Kampf gegen<br />

Israel. Raketenüberfälle, Attentate mit Autobomben,<br />

Attentate mit dem Sprengsatz um den Leib. Wie sie<br />

ihn kannte, kam für ihn nur das Konsequenteste, das<br />

Radikalste <strong>in</strong> Frage. Da er von außerhalb gekommen


war, mußte er e<strong>in</strong>e Probezeit absolvieren. Man<br />

wollte sichergehen, daß er ke<strong>in</strong> israelischer Agent<br />

war. Se<strong>in</strong> Probestück, von dem sie von se<strong>in</strong>em Onkel<br />

erfuhr, <strong>der</strong> es wie<strong>der</strong> von e<strong>in</strong>em Bekannten hatte,<br />

war, irgendwo an<strong>der</strong>s, vierzig o<strong>der</strong> fünfzig Kilometer<br />

weit weg, e<strong>in</strong>en israelischen Siedler samt dessen<br />

Familie zu erschießen. Von da an war er von <strong>der</strong><br />

Gruppe angenommen. Se<strong>in</strong>e spirituelle<br />

Vorbereitung begann. Er <strong>in</strong>tensivierte alle rituellen<br />

Handlungen, Waschungen, Gebete, las im Koran<br />

und bekam mehrere Stunden am Tag<br />

Unterweisungen, religiöse, waffentechnische. Als sie<br />

ihm e<strong>in</strong>es Tages <strong>auf</strong> den Kopf zu sagte: Du bist dabei,<br />

e<strong>in</strong> Attentäter zu werden, stritt er es nicht ab,<br />

son<strong>der</strong>n sah sie nur so an, wie er sie jetzt immer<br />

ansah, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Mischung aus Traurigkeit und<br />

spöttischer Distanz. Als sie trotzdem <strong>auf</strong> ihn<br />

e<strong>in</strong>redete, alles aus sich herausschrie, was ihn von<br />

e<strong>in</strong>em Attentat <strong>auf</strong> Zivilisten, von <strong>der</strong> Gewalt gegen<br />

sich selbst abbr<strong>in</strong>gen sollte, drehte er sich weg. Von<br />

da an tat er, als gäbe es sie nicht. Dabei lebten sie<br />

nach wie vor im gleichen Raum, schliefen im<br />

gleichen Bett. Er lebte sozusagen um sie herum.<br />

Tage, Wochen, Monate. Sie hatte nur zwei<br />

Vorstellungen, die an zwei Worten h<strong>in</strong>gen: Körper<br />

das e<strong>in</strong>e, Nähe das an<strong>der</strong>e. <strong>Die</strong> Vorstellung, daß er<br />

mit Sprengstoff um den Bauch gebunden <strong>auf</strong> an<strong>der</strong>e<br />

zugehen würde, löste bei ihr das Gefühl für ihren<br />

eigenen Körper aus, den sie dazwischen<br />

phantasierte, e<strong>in</strong>e Art Schutzwall. Der Wall stand <strong>in</strong><br />

ihren Tag- und Nachtträumen son<strong>der</strong>barerweise<br />

nicht nur zwischen dem Sprengstoffgürtel und den<br />

Opfern, son<strong>der</strong>n auch zwischen dem Sprengstoff<br />

und dem Körper ihres Mannes. <strong>Die</strong>se Phantasien<br />

zwangen sie, <strong>in</strong> all den Wochen und Monaten ganz<br />

nahe bei ihm zu se<strong>in</strong>. Noch nie war sie ihrem Mann<br />

so lange so nah gewesen. Sie g<strong>in</strong>g und stand, wo er<br />

g<strong>in</strong>g und stand. Manchmal war er dr<strong>auf</strong> und dran,<br />

sie zu schlagen o<strong>der</strong> sonst irgendwie Gewalt gegen<br />

sie anzuwenden. Aber das konnte er nicht. Dessen<br />

war sie sich ganz sicher. E<strong>in</strong> sanfter Mann, e<strong>in</strong><br />

weicher Mann. Nachts im Bett versuchte sie alles,<br />

um ihn zu verführen. Manchmal gelang es ihr.<br />

E<strong>in</strong>mal hörte sie ihn danach beten und dazwischen<br />

laut <strong>auf</strong>schluchzen. Seitdem ließ sie ihn <strong>in</strong> Ruhe.<br />

Aber sie blieb ihm an <strong>der</strong> Seite. Nur <strong>in</strong> das Haus, <strong>in</strong><br />

dem die Unterweisung stattfand, durfte sie nicht mit<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Sie kam dem Haus nicht e<strong>in</strong>mal nahe,<br />

son<strong>der</strong>n wartete im Schatten e<strong>in</strong>es Feigenbaums, an<br />

e<strong>in</strong>er Stelle, von <strong>der</strong> aus sie den e<strong>in</strong>zigen E<strong>in</strong>gang im<br />

Auge behalten konnte. Wenn er sich bei se<strong>in</strong>en<br />

Ausbil<strong>der</strong>n über sie beklagt hätte, hätte man sie<br />

umgebracht.<br />

In <strong>der</strong> Nacht vor <strong>der</strong> Nacht, <strong>in</strong> <strong>der</strong> es geschehen<br />

sollte, schlief er nicht. Sie merkte, daß se<strong>in</strong> Atem<br />

an<strong>der</strong>s g<strong>in</strong>g, und war <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Hut. Zweimal<br />

versuchte er sich davonzustehlen, merkte aber<br />

immer, daß sie ihm <strong>auf</strong> den Fersen war, und drehte<br />

um. Warum er auch am Tag dar<strong>auf</strong>, als er den<br />

Rucksack mit dem Sprengstoff schon ausgehändigt<br />

bekommen hatte, niemanden <strong>auf</strong> sie ansetzen ließ,<br />

um sie gewaltsam daran zu h<strong>in</strong><strong>der</strong>n, ihm zu folgen,<br />

konnte und wollte sie ihn nicht fragen. Aber offenbar<br />

hatte er sich damit abgefunden, daß sie dabeise<strong>in</strong><br />

würde, wenn se<strong>in</strong> Leben zuende g<strong>in</strong>g. Erwartete er,<br />

daß sie untätig zusehen würde? O<strong>der</strong> ahnte er, was sie<br />

vorhatte? Sie wußte es ja selbst nicht.<br />

Der Weg zum Ort des Attentats, e<strong>in</strong>er<br />

Bushaltestelle, war e<strong>in</strong> Weg durch die Nacht. E<strong>in</strong><br />

ganzes Stück weit g<strong>in</strong>g es durch menschenleeres,<br />

wüstes Gelände, schwaches Mondlicht. Sie hielt sich<br />

etwa zehn bis zwanzig Meter h<strong>in</strong>ter ihm. Sie wußte<br />

jetzt, daß er nicht versuchen würde, ihr zu<br />

entkommen. Zwischendurch summte sie e<strong>in</strong><br />

arabisches Volkslied, das beide von ihrer K<strong>in</strong>dheit her<br />

kannten und das auch bei ihrer Hochzeit gesungen<br />

worden war. Nachdem sie es gesummt hatte, sang sie<br />

es halblaut, und die Tränen kamen ihr, als sie merkte,<br />

daß er, wenn auch kaum hörbar, mitsang.<br />

Offenbar hatte er genaue Instruktionen<br />

bekommen.<br />

Sie warteten bei e<strong>in</strong>er Kaffeebar, die normalerweise<br />

bis zum Morgengrauen offen hatte. Aber <strong>in</strong> dieser<br />

Nacht war sie zufällig geschlossen. Er saß <strong>auf</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Bank vor dem geschlossenen Tresen, sie kauerte unter<br />

e<strong>in</strong>em Riz<strong>in</strong>usbaum. Ke<strong>in</strong> Blick, ke<strong>in</strong> Wort. Daß es<br />

e<strong>in</strong> Rucksack war, den man ihm mitgegeben hatte<br />

und ke<strong>in</strong> Gürtel, hatte sie erleichtert. Auch e<strong>in</strong><br />

Rucksack liegt <strong>auf</strong> dem Körper an, aber er ist nicht<br />

daran festgezurrt. Das e<strong>in</strong>zige, was sie an sich selber<br />

spürte, war ihr deutscher Reisepaß, den sie sich <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Plastikbeutel mit e<strong>in</strong>er <strong>der</strong>ben Schnur um den<br />

Hals gebunden hatte. <strong>Die</strong> Schnur kratzte. Warum<br />

den Paß? Sie wollte nicht namenlos, nicht e<strong>in</strong>fach als<br />

die Frau des Attentäters davongehen. Damit etwas<br />

von dem Paß übrigblieb, hatte sie ihn zwischen zwei<br />

Blechplatten geklemmt, dünnes Weißblech, das sie<br />

<strong>auf</strong> e<strong>in</strong>er Abfallhalde <strong>auf</strong>gelesen und<br />

zurechtgeschnitten hatte. Sie ertappte sich dabei, wie<br />

sie immerfort den Rucksack anstarrte, den er neben<br />

sich liegen hatte. Nach wie vor die Vorstellungen von<br />

ihrem eigenen Körper, <strong>der</strong> zwischen dem Sprengstoff<br />

und dem Körper aller an<strong>der</strong>en war, nach wie vor die<br />

Phantasie, daß <strong>der</strong> Rucksack nahe war, näher bei ihr<br />

als bei allen an<strong>der</strong>en. Je länger sie da saßen, desto<br />

sicherer war sie sich ihres eigenen Körpers, desto<br />

gewisser phantasierte sie ihn als undurchdr<strong>in</strong>glich.<br />

E<strong>in</strong> Sonnen<strong>auf</strong>gang am Rande e<strong>in</strong>er Wüste. E<strong>in</strong><br />

blasses Morgenrot. Als die ersten Sonnenstrahlen<br />

über den Horizont kamen, hatte sie die Vorstellung<br />

e<strong>in</strong>er Explosion. <strong>Die</strong> Wahrheit explodiert, hörte sie<br />

sich sagen. E<strong>in</strong>mal trafen sich ihre Blicke. In e<strong>in</strong>er<br />

Bewegung <strong>der</strong> Verlegenheit, um ihrem Blick zu<br />

entkommen o<strong>der</strong> um überhaupt etwas zu tun, zog er<br />

e<strong>in</strong> Handy aus <strong>der</strong> Tasche se<strong>in</strong>er Jacke und zeigte<br />

triumphierend <strong>auf</strong> die Tastatur. Wenn <strong>der</strong><br />

Zeigef<strong>in</strong>ger die dafür vorgesehenen Tasten berührte,<br />

würde es geschafft se<strong>in</strong>. <strong>Die</strong> Luft trocken, <strong>der</strong><br />

trockene Geruch des Riz<strong>in</strong>usbaums. Sie hatte<br />

ke<strong>in</strong>erlei Er<strong>in</strong>nerungen. Sie befand sich mit dem<br />

Riz<strong>in</strong>us und dem Kratzen <strong>der</strong> Schnur an ihrem Hals<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em leeren Raum.<br />

Der Bus, <strong>auf</strong> den er wartete, kam nicht.<br />

73


74<br />

Allen G<strong>in</strong>sberg<br />

Plutonian Ode<br />

I<br />

What new element before us unborn <strong>in</strong> nature? Is there a new th<strong>in</strong>g<br />

un<strong>der</strong> the Sun?<br />

At last <strong>in</strong>quisitive Whitman a mo<strong>der</strong>n epic, detonative, Scientific<br />

theme<br />

First penned unm<strong>in</strong>dful by Doctor Seaborg with poisonous hand,<br />

named for Death’s planet through the sea beyond Uranus<br />

whose chthonic ore fathers this magma-teared Lord of Hades, Sire of<br />

aveng<strong>in</strong>g Furies, billionaire Hell-K<strong>in</strong>g worshipped once<br />

with black sheep throats cut, priest’s face averted from un<strong>der</strong>ground<br />

mysteries <strong>in</strong> a s<strong>in</strong>gle temple at Eleusis,<br />

Spr<strong>in</strong>g-green Persephone nuptialed to his <strong>in</strong>evitable Shade, Demeter<br />

mother of asphodel weep<strong>in</strong>g dew,<br />

her daughter stored <strong>in</strong> salty caverns un<strong>der</strong> white snow, black hail, gray<br />

w<strong>in</strong>ter ra<strong>in</strong> or Polar ice, immemorable seasons before<br />

Fish flew <strong>in</strong> Heaven, before a Ram died by the starry bush, before the<br />

Bull stamped sky and earth<br />

or Tw<strong>in</strong>s <strong>in</strong>scribed their memories <strong>in</strong> cuneiform clay or Crab’d flood<br />

washed memory from the skull, or Lion sniffed the lilac breeze <strong>in</strong><br />

Eden –<br />

Before the Great Year began turn<strong>in</strong>g its twelve signs, ere constellations<br />

wheeled for twenty-four thousand sunny years<br />

slowly round their axis <strong>in</strong> Sagittarius, one hundred sixty-seven thousand<br />

times return<strong>in</strong>g to this night<br />

Radioactive Nemesis were you there at the beg<strong>in</strong>n<strong>in</strong>g black Dumb<br />

tongueless unsmell<strong>in</strong>g blast of Disillusion?<br />

I manifest your Baptismal Word after four billion years<br />

I guess your birthday <strong>in</strong> Earthl<strong>in</strong>g Night, l salute your dreadful<br />

presence last<strong>in</strong>g majestic as the Gods,<br />

Sabaot, Jehova, Astapheus, Adonaeus, Elohim, Iao, Ialdabaoth, Aeon<br />

from Aeon born ignorant <strong>in</strong> an Abyss of Light,<br />

Sophia’s reflections glitter<strong>in</strong>g thoughtful galaxies, whirlpools of starspume<br />

silver-th<strong>in</strong> as hairs of E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>!<br />

Father Whitman I celebrate a matter that ren<strong>der</strong>s Self oblivion!<br />

Grand Subject that annihilates <strong>in</strong>ky hands & pages’ prayers, old<br />

Orators’ <strong>in</strong>spired Immortalities,<br />

I beg<strong>in</strong> your chant, openmouthed exhal<strong>in</strong>g <strong>in</strong>to spacious sky over<br />

silent mills at Hanford, Savannah River, Rocky Fiats, Pantex,<br />

Burl<strong>in</strong>gton, Albuquerque<br />

I yell thru Wash<strong>in</strong>gton, South Carol<strong>in</strong>a, Colorado, Texas, lowa, New<br />

Mexico,


Allen G<strong>in</strong>sberg<br />

Plutonische Ode<br />

I<br />

Welch niedagewesenes Element, das die Natur vor uns noch ungeboren ließ? Also doch<br />

Neues unter <strong>der</strong> Sonne?<br />

Endlich, neugieriger Whitman, e<strong>in</strong> mo<strong>der</strong>nes Thema, episch, zündend,<br />

wissenschaftlich,<br />

Zuerst von Dr. Seaborg unabsichtlich mit giftiger Hand verfaßt,<br />

benannt nach dem Planet des Todes <strong>in</strong> <strong>der</strong> See jenseits des Uranus,<br />

Dessen chthonisches Erz diesen magma-tränenden Herrn des Hades zeugte, Vater <strong>der</strong><br />

rasenden Furien, milliardenschwerer Höllenfürst, dem zu Ehren e<strong>in</strong>st<br />

Schwarzen Schafen die Kehlen durchgeschnitten wurden, des Priesters Angesicht<br />

von unterirdischen Mysterien abgewandt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Tempel <strong>in</strong> Eleusis,<br />

Frühl<strong>in</strong>gsgrüne Persephone verhochzeitet mit se<strong>in</strong>em unentr<strong>in</strong>nbaren Schatten, Demeter,<br />

Mutter <strong>der</strong> Asphodelen, we<strong>in</strong>te Tau,<br />

Als ihre Tochter <strong>in</strong> salzigen Kavernen unter weißem Schnee verwahrt wurde und schwarzem<br />

Hagel, grauem W<strong>in</strong>terregen und polarem Eis, unvordenkliche Gezeiten,<br />

Bevor <strong>der</strong> Fisch zum Himmel <strong>auf</strong>flog, bevor e<strong>in</strong> Wid<strong>der</strong> starb bei dem gestirnten Busch,<br />

bevor <strong>der</strong> Bulle Himmel stampft’ und Erde<br />

O<strong>der</strong> Zwill<strong>in</strong>ge ihre Namen <strong>in</strong> Keilschrift-Tafeln dauern ließen o<strong>der</strong> mürrische Flut<br />

Er<strong>in</strong>nern aus dem Schädel wusch o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Löwe den Flie<strong>der</strong>duft<br />

<strong>in</strong> Eden schnüffelte –<br />

Bevor das Große Jahr se<strong>in</strong>e zwölf Zeichen zu drehen begann, ehe die<br />

Konstellationen für vierundzwanzigtausend Sonnenjahre<br />

Langsam um ihre Achse im Schützen schwangen, um e<strong>in</strong>hun<strong>der</strong>tsiebenundsechzigtausend<br />

Mal zu dieser Nacht zurückzukehren.<br />

Radioaktive Nemesis, warst du bei dem anfänglichen schwarzen stummen<br />

zungenlosen nichtriechenden Knall <strong>der</strong> Desillusionierung?<br />

Ich offenbare de<strong>in</strong>en T<strong>auf</strong>spruch nach vier Milliarden Jahren,<br />

Ich rate de<strong>in</strong>en Geburtstag <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nacht des Erdenwurms, ich grüße de<strong>in</strong>e schreckliche<br />

Gegenwart von majestätischer Dauer wie die Götter<br />

Zebaoth, Jehova, Astapheus, Adonaeus, Elohim, Iao, Ialdabaoth, von Äon zu Äon<br />

unwissend geboren im Abgrund des Lichts,<br />

Sophias Reflektionen beglitzern gedankenvolle Galaxien, Strudelbecken <strong>der</strong> Sternengischt,<br />

silberdünn wie E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>s Haar!<br />

Vater Whitman, ich feiere e<strong>in</strong>en Gegenstand, <strong>der</strong> Selbstvergessen leistet!<br />

Großes Thema, das T<strong>in</strong>tenhände & <strong>der</strong> Seiten Gebete nichtet, alter Redner begeisterte<br />

Unsterblichkeit.<br />

Ich beg<strong>in</strong>ne de<strong>in</strong>en Sang, mit offenem Mund <strong>in</strong> den weiträumigen Himmel hauchend über<br />

stillen Mühlen <strong>in</strong> Hanford, Savannah River, Rocky Flats, Pantex,<br />

Burl<strong>in</strong>gton, Albuquerque,<br />

Ich schreie über Wash<strong>in</strong>gton, South Carol<strong>in</strong>a, Colorado, Texas, Iowa, New<br />

Mexico,<br />

75


76<br />

where nuclear reactors create a new Th<strong>in</strong>g un<strong>der</strong> the Sun, where<br />

Rockwell war-plants fabricate this death stuff trigger <strong>in</strong> nitrogen baths,<br />

Hanger-Silas Mason assembles the terrified weapon secret by ten<br />

thousands, & where Manzano Mounta<strong>in</strong> boasts to store<br />

its dreadful decay through two hundred forty millennia while our<br />

Galaxy spirals around its nebulous core.<br />

I enter your secret places with my m<strong>in</strong>d, I speak with your presence, I<br />

roar your Lion Roar with mortal mouth.<br />

One microgram <strong>in</strong>spired to one lung, ten pounds of heavy metal dust<br />

adrift slow motion over gray Alps<br />

the breadth of the planet, how long before your radiance speeds blight<br />

and death to sentient be<strong>in</strong>gs?<br />

Enter my body or not I carol my spirit <strong>in</strong>side you, Unapproachable Weight,<br />

O heavy heavy Element awakened I vocalize your consciousness to six worlds<br />

I chant your absolute Vanity. Yeah monster of Anger birthed <strong>in</strong> fear O most<br />

Ignorant matter ever created unnatural to Earth! Delusion of metalempires!<br />

Destroyer of ly<strong>in</strong>g Scientists! Devourer of covetous Generals, Inc<strong>in</strong>erator<br />

of Armies & Melter of Wars!<br />

Judgment of judgments, Div<strong>in</strong>e W<strong>in</strong>d over vengeful nations, Molester<br />

of Presidents, Death-Scandal of Capital politics! Ah<br />

civilizations stupidly <strong>in</strong>dustrious!<br />

Canker-Hex on multitudes learned or illiterate! Manufactured Spectre<br />

of human reason! O solidified imago of practitioners <strong>in</strong> Black Arts<br />

I dare your Reality, I challenge your very be<strong>in</strong>g! I publish your cause<br />

effect!<br />

I turn the Wheel of M<strong>in</strong>d on your three hundred tons! Your name<br />

enters mank<strong>in</strong>d’s ear! I embody your ultimate powers!<br />

My oratory advances on your vaunted Mystery! This breath dispels<br />

your braggart fears! I s<strong>in</strong>g your form at last<br />

beh<strong>in</strong>d your concrete & iron walls <strong>in</strong>side your fortress of rubber &<br />

translucent silicon shields <strong>in</strong> filtered cab<strong>in</strong>ets and baths of lathe oil,<br />

My voice resounds through robot glove boxes & <strong>in</strong>got cans and<br />

echoes <strong>in</strong> electric vaults <strong>in</strong>ert of atmosphere,<br />

I enter with spirit out loud <strong>in</strong>to your fuel rod drums un<strong>der</strong>ground on<br />

soundless thrones and beds of lead<br />

O density! This weightless anthem trumpets transcendent through<br />

hidden chambers and breaks through iron doors <strong>in</strong>to the Infernal Room!<br />

Over your dreadful vibration this measured harmony floats audible,<br />

these jubilant tones are honey and milk and w<strong>in</strong>e-sweet water<br />

Poured on the stone block floor, these syllables are barley groats I<br />

scatter on the Reactor’s core,<br />

I call your name with hollow vowels, I psalm your Fate close by, my<br />

breath near deathless ever at your side<br />

to Spell your dest<strong>in</strong>y, I set this verse prophetic on your mausoleum<br />

walls to seal you up Eternally with Diamond Truth! O doomed<br />

Plutonium.


Wo Kernreaktoren e<strong>in</strong> neues D<strong>in</strong>g unter <strong>der</strong> Sonne schaffen, wo Rockwell Rüstungswerke jenen<br />

Todesstoff herstellen, <strong>der</strong> ausfällt im Stickstoffbad,<br />

Hanger-Silas Manson die Schreckenswaffe im Geheimen von Zehntausenden zusammensetzen<br />

läßt & wo Manzano Mounta<strong>in</strong> damit prahlt, den furchtbaren Zerfall für<br />

Zweihun<strong>der</strong>tundvierzig Millennien zu verwahren, während unsere Galaxie sich um ihren<br />

nebeligen Kern spiralt.<br />

Ich betrete de<strong>in</strong>e geheimen Stätten mit me<strong>in</strong>em Geist, ich spreche zu de<strong>in</strong>er Gegenwart, ich brülle<br />

de<strong>in</strong> Löwengebrüll mit sterblichem Mund.<br />

E<strong>in</strong> Mikrogramm e<strong>in</strong>er Lunge e<strong>in</strong>geflößt, zehn Pfund des schweren Metallstaubs treiben<br />

<strong>in</strong> Zeitlupe über den grauen Alpen,<br />

<strong>Die</strong> Weite des Planeten, wie lange noch, bevor de<strong>in</strong> Strahlen Tod und Ver<strong>der</strong>ben <strong>auf</strong> empf<strong>in</strong>dende<br />

Wesen jagt?<br />

Dr<strong>in</strong>g <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en Körper o<strong>der</strong> nicht, ich juble me<strong>in</strong>en Geist <strong>in</strong> dich, unzugängliches Gewicht,<br />

O schweres schweres erwachtes Element, ich spreche de<strong>in</strong> Bewußtse<strong>in</strong> zu sechs Welten,<br />

Ich s<strong>in</strong>ge de<strong>in</strong>e absolute Eitelkeit. Ja, Monster des Zornes, Ausgeburt <strong>der</strong> Furcht,<br />

Unwissendste je geschaffene Materie, <strong>der</strong> Erde wi<strong>der</strong> die Natur! Irrglaube metallener Reiche!<br />

Zerstörer lügen<strong>der</strong> Wissenschaftler! Verschl<strong>in</strong>ger begehrlicher Generäle, E<strong>in</strong>äscherer <strong>der</strong> Heere &<br />

Schmelzer <strong>der</strong> Kriege!<br />

Gericht <strong>der</strong> Gerichte, Göttlicher W<strong>in</strong>d über rachsüchtigen Nationen, Ver<strong>der</strong>ber <strong>der</strong> Präsidenten,<br />

Tod <strong>der</strong> Großen Politik! Ah ihr dümmlich<br />

arbeitsamen Zivilisationen!<br />

Krebsfluch <strong>der</strong> gebildeten Massen und <strong>der</strong> Analphabeten! Gefertigtes Gespenst<br />

des Menschengeistes! Geronnene Imago <strong>der</strong> Nutzanwen<strong>der</strong> Schwarzer Künste.<br />

Ich stelle mich de<strong>in</strong>er Realität, ich for<strong>der</strong>e de<strong>in</strong> ganzes Se<strong>in</strong> heraus! Ich mache de<strong>in</strong>e Ursache<br />

bekannt und Wirkung!<br />

Ich drehe das Steuerrad des Geistes <strong>auf</strong> de<strong>in</strong>en dreihun<strong>der</strong>t Tonnen! De<strong>in</strong> Name komme vor <strong>der</strong><br />

Menschheit Ohr! Ich verleihe Ausdruck de<strong>in</strong>er höchsten Macht!<br />

Me<strong>in</strong>e Rede schreitet fort zu de<strong>in</strong>em gepriesenen Geheimnis! <strong>Die</strong>ser Atem zerstreut de<strong>in</strong>e<br />

prahlerische Furcht! Ich s<strong>in</strong>ge endlich de<strong>in</strong>e Gestalt<br />

H<strong>in</strong>ter de<strong>in</strong>en Wänden aus Beton & Stahl <strong>in</strong> de<strong>in</strong>er Festung aus Gummi & durchsche<strong>in</strong>endem<br />

Silicium schirmen <strong>in</strong> Filterschränken und Ölschaumbä<strong>der</strong>n,<br />

Me<strong>in</strong>e Stimme hallt durch Robothandschuh-Boxen & stählerne Kanister und bricht sich<br />

<strong>in</strong> elektrischen Gewölben von <strong>in</strong>erter Atmosphäre,<br />

Ich dr<strong>in</strong>ge mit lautem Übermut <strong>in</strong> de<strong>in</strong>e unterirdischen Brennstabtrommeln <strong>auf</strong> lautlosen<br />

Thronen und Betten von Blei,<br />

O Dichte! <strong>Die</strong>se schwerelose Hymne trompetet transzendent durch verborgene Kammern<br />

und bricht durch Eisentüren <strong>in</strong> den Höllenraum!<br />

<strong>Die</strong>se gemessenen Harmonien fluten hörbar über de<strong>in</strong>e schrecklichen Schw<strong>in</strong>gungen, diese<br />

jubelnden Töne s<strong>in</strong>d Milch und Honig und we<strong>in</strong>süßes Wasser,<br />

Vergossen <strong>auf</strong> dem Ste<strong>in</strong>qua<strong>der</strong>boden, diese Silben s<strong>in</strong>d Gerstenschrot, den ich <strong>auf</strong> dem<br />

Reaktorkern verstreue,<br />

Ich rufe de<strong>in</strong>en Namen mit hohlen Vokalen, ich psalmodiere nah bei de<strong>in</strong>er Parze, me<strong>in</strong> Atem,<br />

be<strong>in</strong>ahe todlos, ist immer dir zur Seite,<br />

Um de<strong>in</strong> Schicksal zu buchstabieren, ich setze dies prophetische Gedicht <strong>auf</strong> die Wände de<strong>in</strong>es<br />

Mausoleums, um dich <strong>auf</strong> ewig <strong>in</strong> diamantener Wahrheit e<strong>in</strong>zusiegeln! O verdammtes<br />

Plutonium!<br />

77


78<br />

II<br />

The Bard surveys Plutonian history from midnight lit with Mercury<br />

Vapor streetlamps till <strong>in</strong> dawn’s early light<br />

he contemplates a tranquil politic spaced out between Nations’<br />

thought-forms proliferat<strong>in</strong>g bureaucratic<br />

& horrific arm’d, Satanic <strong>in</strong>dustries projected sudden with Five Hundred<br />

Billion Dollar Strength<br />

around the world same time this text is set <strong>in</strong> Boul<strong>der</strong>, Colorado<br />

before front range of Rocky Mounta<strong>in</strong>s<br />

twelve miles north of Rocky Flats Nuclear Facility <strong>in</strong> United States on<br />

North America, Western Hemisphere<br />

of planet Earth six months and fourteen days around our Solar System<br />

<strong>in</strong> a Spiral Galaxy<br />

the local year after Dom<strong>in</strong>ion of the last God n<strong>in</strong>eteen hundred<br />

eventy eight<br />

Completed as yellow hazed dawn clouds brighten East, Denver city<br />

white below<br />

Blue sky transparent ris<strong>in</strong>g empty deep & spacious to a morn<strong>in</strong>g star<br />

high over the balcony<br />

above some autos sat with wheels to curb downhill from Flatiron’s<br />

jagged p<strong>in</strong>e ridge,<br />

sunlit mounta<strong>in</strong> meadows sloped to rust-red sandstone cliffs above<br />

brick townhouse roofs<br />

as sparrows waked whistl<strong>in</strong>g through Mar<strong>in</strong>e Street’s summer green<br />

leafed trees.<br />

III<br />

This ode to you O Poets and Orators to come, you father Whitman as<br />

I jo<strong>in</strong> your side, you Congress and American people,<br />

you present meditators, Spiritual friends & teachers, you O Master of<br />

the Diamond Arts,<br />

Take this wheel of syllables <strong>in</strong> hand, these vowels and consonants to breath’s end<br />

take this <strong>in</strong>halation of black poison to your heart, breathe out this<br />

bless<strong>in</strong>g from your breast on our creation<br />

forests cities oceans deserts rocky flats and mounta<strong>in</strong>s <strong>in</strong> the Ten<br />

Directions pacify with this exhalation,<br />

enrich this Plutonian Ode to explode its empty thun<strong>der</strong> through<br />

earthen thought-worlds<br />

Magnetize this howl with heartless compassion, destroy this mounta<strong>in</strong><br />

of Plutonium with ord<strong>in</strong>ary m<strong>in</strong>d and body speech,<br />

thus empower this M<strong>in</strong>d-guard spirit gone out, gone out, gone beyond,<br />

gone beyond me, Wake space, so Ah!<br />

July 14, 1978


II.<br />

Der Barde überblickt Plutonische Geschichte bei Mitternacht, hell von Merkur und<br />

Gaslaternen bis zum ersten Frühlicht,<br />

Er s<strong>in</strong>nt über e<strong>in</strong>er friedlichen Politik, die Abstand hält zwischen <strong>der</strong> Nationen<br />

Weltanschauungen, ihrer bürokratischen Verbreitung<br />

& entsetzlichen Bewaffnung, Satanische Industrien, mit <strong>der</strong> Macht von Fünfhun<strong>der</strong>t<br />

Milliarden Dollar aus dem Boden gestampft<br />

R<strong>in</strong>gs um die Welt, zur selben Zeit, da dieser Text erstellt wird <strong>in</strong> Boul<strong>der</strong>, Colorado,<br />

im Angesicht <strong>der</strong> Rocky Mounta<strong>in</strong>s,<br />

Zwölf Meilen nördlich <strong>der</strong> Rocky-Flats-Nuklearanlage <strong>in</strong> den Vere<strong>in</strong>igten Staaten<br />

Nordamerikas, westliche Hemisphäre<br />

Des Planeten Erde, sechs Monate und vierzehn Tage <strong>in</strong> unserem Sonnensystem <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Spiralgalaxis,<br />

Lokales Jahr Neunzehnhun<strong>der</strong>tachtundsiebzig nach <strong>der</strong> Herrschaft<br />

des letzten Gottes,<br />

Beendet, als dunstig-gelbe Morgenwolken im Osten leuchten, Denver City<br />

weiß darunter,<br />

Blauer Himmel steigt durchsichtig leer tief & geräumig zum Morgenstern<br />

hoch über dem Balkon<br />

Über e<strong>in</strong> paar Autos, die <strong>auf</strong> Rä<strong>der</strong>n saßen, um von Flatirons zerrissenem P<strong>in</strong>ienkamm<br />

talwärts zu stottern,<br />

Sonnenhelle Bergwiesen neigten sich zu rostroten Sandste<strong>in</strong>klippen<br />

über den Ziegeldächern <strong>der</strong> Stadthäuser,<br />

Während Spatzen pfeifend erwachten <strong>in</strong> den sommergrünen Bäumen entlang <strong>der</strong> Mar<strong>in</strong>e<br />

Street.<br />

III.<br />

<strong>Die</strong>se Ode für euch, ihr kommenden Redner und Poeten, dir Vater Whitman,<br />

an dessen Seite ich stehe, dem Kongreß und dem amerikanischen Volk,<br />

Euch zeitgenössischen Mittelsmännern, geistigen Freunden & Lehrern, dir, o Meister<br />

Diamantener Künste,<br />

Nehmt diesen Kranz von Silben, diese Konsonanten und Vokale bis zum letzten Atemzug,<br />

Nehmt diese Inhalation von schwarzem Gift <strong>in</strong> euer Herz, haucht diesen Segen<br />

aus euren Brüsten über unsere Schöpfung<br />

Wäl<strong>der</strong>, Städte, Ozeane, Wüsten, Felsebenen und Berge <strong>in</strong> den Zehn Richtungen,<br />

versöhnt mit diesem Hauch,<br />

Reichert diese Plutonische Ode an, bis ihr leerer Donner durch irdische Gedankenwelten<br />

explodiert,<br />

Magnetisiert dieses Geheul mit herzlosem Erbarmen, zerstört diesen Berg von Plutonium<br />

mit gewöhnlichem Gehirn und Körpersprache,<br />

Ermächtigt so diesen Vernunftwächter Geist, <strong>der</strong> ausgegangen ist, ausgegangen, weggegangen,<br />

über mich h<strong>in</strong>weggegangen, Erwache Raum, daß - Ah!<br />

14. Juli 1978<br />

Allen G<strong>in</strong>sberg: Selected Poems 1947 - 1995. Pengu<strong>in</strong> Books, London 1996<br />

Orig<strong>in</strong>alausgabe HarperColl<strong>in</strong>s, New York 1996<br />

Übersetzung aus dem Amerikanischen: Matthias Falke<br />

79


80<br />

Nichts <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Welt war mir je so herrlich schön<br />

erschienen wie diese Stadt, die man e<strong>in</strong>es Tages<br />

zerstören wird, gerade weil sie zu schön ist.<br />

(Julien Green)<br />

Nächtlicher Landeanflug <strong>auf</strong> Venedig.<br />

Von hier oben ist die Stadt kaum zu erkennen, nur<br />

kle<strong>in</strong>e Lichtoasen glänzen aus dem schwarzen Loch<br />

hervor. Kurz dar<strong>auf</strong> betritt die Reisende an <strong>der</strong> Piazzale<br />

Roma e<strong>in</strong> letztes Vaporetto, das sie <strong>in</strong> die Stadt<br />

br<strong>in</strong>gen wird. Venedig schläft – o<strong>der</strong> ist es schon tot?<br />

Ganz ruhig liegen Kanäle und Gassen, nur gelegentlich<br />

und aus <strong>der</strong> Ferne hallen e<strong>in</strong>zelne Stimmen o<strong>der</strong><br />

das Geklapper von Absätzen herüber, als liefe jemand<br />

durch die Straßen e<strong>in</strong>er abgewickelten Stadt<br />

<strong>in</strong> Osteuropa. <strong>Die</strong> Fensterläden <strong>der</strong> alten Palazzi<br />

s<strong>in</strong>d geschlossen und wirken abweisend und bedrohlich<br />

– eher sanierungsbedürftig als malerisch.<br />

Nur wenige Stunden später zeigt die Stadt ihr Taggesicht.<br />

Es wimmelt. Arbeiter mit Karren schieben<br />

Getränkekisten durch die Gassen, die Müllabfuhr<br />

laviert durch die Kanäle, Lastenboote schippern<br />

unter den Brücken h<strong>in</strong>durch, überall wird gehämmert,<br />

gesägt und geputzt, Kaffeemasch<strong>in</strong>en zischen.<br />

<strong>Die</strong> ersten Gruppen Tages-Touristen s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>getroffen.<br />

Etwas verschlafen noch schieben sie sich durch<br />

die engen Gassen. Gegen Mittag endlich bevölkern<br />

auch die Menschen <strong>in</strong> teureren Klei<strong>der</strong>n die Straßencafés<br />

und Restaurants, strömen <strong>in</strong> die Kultstätten<br />

im Arsenale und <strong>in</strong> den Giard<strong>in</strong>i.<br />

Venedig im September, zur Zeit <strong>der</strong> Architekturund<br />

Filmbiennale: Seit Monaten s<strong>in</strong>d die Hotels<br />

ausgebucht, die Stadt quillt über. Und doch: Sie<br />

schrumpft, weil ihr die Venezianer davonl<strong>auf</strong>en. <strong>Die</strong><br />

Zeitung La Repubblica warnt, die Stadt könne <strong>in</strong> 25<br />

Jahren völlig entvölkert se<strong>in</strong>. 1951 lebten im historischen<br />

Zentrum Venedigs knapp 175 000 E<strong>in</strong>wohner.<br />

Seither s<strong>in</strong>kt die Zahl kont<strong>in</strong>uierlich, 1989<br />

waren es erstmals weniger als 80 000 E<strong>in</strong>wohner,<br />

und Ende 2005 verzeichneten die amtlichen Statistiken<br />

nur noch 62 296 E<strong>in</strong>wohner. Venedig ist nicht<br />

vergleichbar mit den schrumpfenden Gegenden <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> ehemaligen DDR o<strong>der</strong> verlassenen Alpenregionen<br />

– denn an<strong>der</strong>s als diese oft an <strong>der</strong> Peripherie gelegenen<br />

Regionen, <strong>der</strong>en Arbeitsmärkte mit dem<br />

Zusammenbruch des Kommunismus o<strong>der</strong> mit dem<br />

Weggang <strong>der</strong> Touristen zum Erliegen kamen, lebt<br />

Venedig ja durch den Tourismus. Und stirbt durch<br />

ihn zugleich.<br />

Nie<strong>der</strong>gang e<strong>in</strong>er Weltstadt<br />

Ciao, Venezia<br />

Wird aus <strong>der</strong> Stadt, die tausend Jahre glänzend überlebt hat, <strong>in</strong> unserem Jahrhun<strong>der</strong>t e<strong>in</strong> Themenpark? Ohne Venezianer?<br />

Von Stefanie Oswalt<br />

Dabei s<strong>in</strong>d die beiden Hauptprobleme leicht zu<br />

benennen und wirken <strong>auf</strong> den ersten Blick paradox:<br />

Es fehlt <strong>der</strong> Stadt an Wohnraum, präziser gesagt: an<br />

Mietwohnraum – und das, obwohl zahllose Gebäude<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> gesamten Stadt leerstehen und vom Verfall<br />

bedroht s<strong>in</strong>d. Und es fehlt an Arbeit – dabei kann<br />

Venedig die Arbeit, die durch die 18 Millionen Touristen<br />

jährlich anfällt, alle<strong>in</strong> gar nicht bewältigen.<br />

Etwa 100 000 Menschen betreten und verlassen die<br />

Stadt an e<strong>in</strong>em stark frequentierten Tag: 30 000<br />

Touristen, 30 000 Gelegenheitsbesucher, 30 000<br />

Pendler und 12 000 Studenten.<br />

Aber <strong>der</strong> Reihe nach. 48 Prozent aller Wohnungen<br />

im historischen Zentrum Venedigs s<strong>in</strong>d Mietwohnungen,<br />

aber sie s<strong>in</strong>d <strong>auf</strong> dem freien Markt nicht zu<br />

bekommen. Welcher Vermieter hat gern residenti,<br />

die gesetzlich vor Mieterhöhungen und Kündigung<br />

geschützt s<strong>in</strong>d, wenn er mit Touristen e<strong>in</strong> Vielfaches<br />

verdienen kann, weil er hier nicht an Vergleichsmieten<br />

gebunden ist? Und die die Stadt zudem sicher<br />

bald wie<strong>der</strong> verlassen? Auch lassen sich an Touristen<br />

Erdgeschosswohnungen vermieten, die <strong>der</strong> Venezianer<br />

wegen <strong>der</strong> immer wie<strong>der</strong> drohenden Hochwasser<br />

(im Jahr 1966 verloren bei e<strong>in</strong>er beson<strong>der</strong>s starken<br />

Überschwemmung 16 000 Venezianer ihr<br />

gesamtes Hab und Gut), wenn irgend möglich, meidet.<br />

<strong>Die</strong> Zahl <strong>der</strong> Wohnungsagenturen ist <strong>in</strong> den<br />

letzten drei Jahren enorm gestiegen, ebenso die<br />

Anzahl <strong>der</strong> Bed-and-Breakfasts. Mit 6240 Betten<br />

stellen sie heute e<strong>in</strong> Drittel aller <strong>in</strong> Venedig überhaupt<br />

vorhandenen Betten – und weil sich damit<br />

ungeheuer viel Geld verdienen lässt, ist damit zu<br />

rechnen, dass sich dieser Trend fortsetzen wird. Aber<br />

es lässt sich auch an<strong>der</strong>s herum fragen: Welcher<br />

Familienvater <strong>in</strong>vestiert se<strong>in</strong> Geld <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e schäbige<br />

2- bis 3-Zimmerwohnung <strong>in</strong> Venedig, wenn er im<br />

Umland, etwa <strong>in</strong> Mestre, für das gleiche Geld e<strong>in</strong><br />

ganzes Reihenhaus mit Garten bekommt, e<strong>in</strong>schließlich<br />

eigener Garage für das auch von ihm so<br />

geliebte Auto?<br />

Was dem Touristen erst im Selbstversuch klar wird:<br />

Er mag <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Wohnung leben, aber damit<br />

lebt er noch lange ke<strong>in</strong> städtisches Leben, selbst<br />

wenn die Wohnung unweit <strong>der</strong> Anlegestelle Accademia<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Gasse liegt: drei Zimmer <strong>auf</strong><br />

ebenerdigem Niveau, im venezianischen Stil e<strong>in</strong>gerichtet,<br />

e<strong>in</strong> paar hässliche Plastikmöbel im „Gar-


ten“. Das Ganze kostet 150 Euro die Nacht, für hiesige<br />

Verhältnisse e<strong>in</strong> Spottpreis. Senor Gastoni, <strong>der</strong><br />

Vermieter, betreibt im eigentlichen Leben e<strong>in</strong>e<br />

V<strong>in</strong>othek, hier genehmigen sich die Gondolieri und<br />

Handwerker aus <strong>der</strong> Umgebung e<strong>in</strong> paar Happen<br />

und e<strong>in</strong> Gläschen Weißwe<strong>in</strong>. Touristen duldet <strong>der</strong><br />

wortkarge Mittfünfziger still, schließlich macht er<br />

mit den Übernachtungsgästen se<strong>in</strong>en Hauptumsatz.<br />

Sich wie <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en städtischen Zentren e<strong>in</strong>zurichten<br />

ist hier fast unmöglich. Es gibt kaum mehr<br />

Lebensmittelläden. Wo ist e<strong>in</strong>e Bäckerei? E<strong>in</strong> Metzger?<br />

Frischobst? Wer danach <strong>in</strong> Gehnähe sucht, erntet<br />

von den E<strong>in</strong>heimischen verständnislose Blicke<br />

und die umständliche Erklärung, wie er zu e<strong>in</strong>er<br />

jener „Billa“-Supermarktfilialen gelangen kann, die<br />

offenbar den Grundbedarf <strong>der</strong> verbliebenen Bevölkerung<br />

decken.<br />

Der Soziologe Thomas Krämer-Badoni beobachtet<br />

die Verän<strong>der</strong>ungen im Alltagsleben Venedigs seit<br />

1989. In se<strong>in</strong>em 2005 erschienen Buch Vivere a<br />

Venezia berichtet er von den Transport-Gondeln,<br />

die vor Jahren noch bis Mitternacht fuhren und von<br />

den E<strong>in</strong>heimischen zum täglichen E<strong>in</strong>k<strong>auf</strong> benötigt<br />

wurden. Heute s<strong>in</strong>d sie bestenfalls noch vormittags<br />

für e<strong>in</strong>ige Stunden <strong>in</strong> Betrieb. Badoni schreibt von<br />

den Ständen <strong>auf</strong> dem großen Lebensmittelmarkt <strong>in</strong><br />

Rialto, die leer bleiben – für Güter des täglichen<br />

Bedarfs gibt es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stadt ke<strong>in</strong>e Nachfrage mehr,<br />

und unmittelbar nach den Kunden ziehen auch die<br />

Händler fort. K<strong>in</strong><strong>der</strong>gärten, Schulen und Krankenhäuser<br />

müssen schließen, auch kulturelle E<strong>in</strong>richtungen.<br />

Für 15 ehemalige K<strong>in</strong>os hat <strong>der</strong> Architekturstudent<br />

Giovanni Piovene im Auftrag des<br />

Projekts „Shr<strong>in</strong>k<strong>in</strong>g Cities“ die heutige Nutzung<br />

recherchiert. Der Großteil wird für den Tourismus<br />

genutzt: als Hotel, für die Gastronomie, als Souvenirladen<br />

o<strong>der</strong> Touristenzentrum<br />

– und das <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stadt,<br />

die mit ihrer Biennale e<strong>in</strong>mal<br />

jährlich das Interesse <strong>der</strong><br />

weltweiten Film<strong>in</strong>dustrie<br />

<strong>auf</strong> sich zieht.<br />

Wie für Schrumpfungsregionen<br />

üblich (sei es <strong>in</strong> Osto<strong>der</strong><br />

Mitteleuropa, <strong>in</strong> den<br />

USA o<strong>der</strong> <strong>in</strong> Japan), verlassen<br />

die Jungen die Heimat,<br />

denn es gibt kaum lohnende<br />

Arbeitschancen. Von den<br />

drei ökonomischen Säulen<br />

Venedigs – Universität, öffentliche<br />

Verwaltung und<br />

Tourismus – gehen ke<strong>in</strong>e belebenden<br />

o<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nisierenden<br />

Impulse aus. An<strong>der</strong>e<br />

Arbeitgeber haben die Stadt<br />

längst verlassen, etwa <strong>der</strong><br />

Versicherungskonzern Generali,<br />

die Telecom Italia<br />

o<strong>der</strong> die Zeitung Gazzet-<br />

Venedig. E<strong>in</strong> Städtebild, 1897<br />

t<strong>in</strong>o. Jobs im Tourismus s<strong>in</strong>d oft nicht qualifiziert,<br />

das Gros stellen hier die e<strong>in</strong>fachen <strong>Die</strong>nstleister:<br />

Kellner <strong>in</strong> Billigrestaurants, Verkäufer von Taubenfutter<br />

o<strong>der</strong> Glasnippes. Karrierechancen s<strong>in</strong>d hier<br />

ausgeschlossen.<br />

Wer hier mit kle<strong>in</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong>n unterwegs ist, spürt<br />

<strong>der</strong> Stadt bald an, dass sie K<strong>in</strong><strong>der</strong> nicht mehr gewöhnt<br />

ist. Missbilligende Blicke für die Kle<strong>in</strong>en, für<br />

die Mütter, die versuchen, mit dem K<strong>in</strong><strong>der</strong>wagen<br />

e<strong>in</strong> schwankendes Vaporetto zu besteigen. <strong>Die</strong> Klischeevorstellung<br />

von Italien als k<strong>in</strong><strong>der</strong>freundlichem<br />

Land wird hier e<strong>in</strong>drücklich wi<strong>der</strong>legt.<br />

Nun gehörte Venedig durch se<strong>in</strong>e Insellage und<br />

se<strong>in</strong>e politische Geschichte nie zu den großen <strong>in</strong>dustriellen<br />

Zentren Italiens. <strong>Die</strong> politische Vormachtstellung<br />

im adriatischen Raum wurde durch die<br />

napoleonische und die österreichische Besetzung im<br />

19. Jahrhun<strong>der</strong>t und den Anschluss an das Königreich<br />

Italien im Jahre 1866 gebrochen. Ende des 19.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts gab es <strong>auf</strong> den peripheren Inseln <strong>der</strong><br />

Stadt aber immerh<strong>in</strong> 160 zumeist kle<strong>in</strong>e Betriebe,<br />

und die Insel Giudecca galt den E<strong>in</strong>heimischen gar<br />

als „kle<strong>in</strong>es Manchester“. Hier siedelten so renommierte<br />

Firmen wie <strong>der</strong> Uhrenhersteller Arturo Junghans,<br />

dessen 1878 (unter an<strong>der</strong>em Namen) gegründetes<br />

Unternehmen noch <strong>in</strong> den 80er Jahren des 20.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts 650 Beschäftigte zählte.<br />

Wirtschaftlichen Aufschwung nahm viel eher <strong>der</strong><br />

große Hafen Marghera <strong>auf</strong> dem venezianischen<br />

Festland, <strong>der</strong> adm<strong>in</strong>istrativ zu Venedig zählt, obwohl<br />

Festland und Insel-Venedig de facto schon<br />

immer getrennte Systeme darstellten. Wer <strong>in</strong> Marghera<br />

arbeitete, lebte auch <strong>auf</strong> dem Festland. Heute<br />

leidet auch die im Hafen angesiedelte petrochemische<br />

Industrie unter <strong>der</strong> globalen Konkurrenz. Am<br />

31. August 2006 verkündete die Zeitung La Nuova<br />

81


82<br />

die def<strong>in</strong>itive Aufgabe <strong>der</strong> Petrochemiefabriken<br />

durch die amerikanische Firma Dow Chemical.<br />

Mögen diese Bereiche auch erst <strong>in</strong> Zukunft stillgelegt<br />

werden: Schon heute strahlt das Gebiet jene<br />

depressive Aura abgewickelter Groß<strong>in</strong>dustrie aus,<br />

wie sie auch die stillgelegten Betriebe <strong>in</strong> Bitterfeld<br />

o<strong>der</strong> Eisenhüttenstadt vermitteln: abgedeckte Industriehallen,<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong>en Bodenpfützen sich <strong>der</strong> Himmel<br />

spiegelt und Gras wächst, dazwischen das rostige<br />

Skelett <strong>der</strong> Calatrava-Brücke für den Canale<br />

Grande, die nicht passte und nun seit Jahren halbherzig<br />

nachgebessert wird, und <strong>in</strong> den Ru<strong>in</strong>en<br />

pseudo-optimistische Firmenbesitzer, die müde von<br />

e<strong>in</strong>er Hoffnung <strong>auf</strong> die künftige Ansiedlung mo<strong>der</strong>ner<br />

<strong>Die</strong>nstleister sprechen. Nur: Wer die gigantischen<br />

stillgelegten Flächen sieht, vermag sich e<strong>in</strong><br />

künftiges Leben hier kaum vorzustellen.<br />

<strong>Die</strong> Stadt ist <strong>in</strong> dieser Lage hilflos. Wer hier lebt,<br />

beklagt e<strong>in</strong> völliges Fehlen von Politik. Zwar sehnen<br />

sich die politisch Verantwortlichen etwas unspezifisch<br />

nach „Young Urban Professionals“, etwa 30jährigen<br />

städtischen <strong>Die</strong>nstleistern, die die Stadt lieben,<br />

pflegen und f<strong>in</strong>anzieren könnten. Tatsächlich<br />

aber bietet Venedig für e<strong>in</strong>e solche Klientel ke<strong>in</strong>erlei<br />

Infrastruktur. Schlimmer noch, sagt Thomas Krämer-Badoni,<br />

die Stadt führe über die Notwendigkeit<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung nicht e<strong>in</strong>mal die notwendige<br />

Debatte. Als Beispiel für die Lethargie nennt er<br />

den gescheiterten Versuch im Vorfeld <strong>der</strong> Expo<br />

2000, <strong>der</strong> Stadt mo<strong>der</strong>ne Impulse zu geben. Und er<br />

stellt fest, dass die damaligen Verh<strong>in</strong><strong>der</strong>er e<strong>in</strong>er Verän<strong>der</strong>ung<br />

– Teile <strong>der</strong> Bevölkerung, l<strong>in</strong>ke Splittergruppen<br />

und die <strong>in</strong>ternationale Venedig-Lobby,<br />

etwa <strong>in</strong> Gestalt <strong>der</strong> Unesco – seit ihrem Erfolg vom<br />

Erdboden verschwunden seien.<br />

So dämmern viele Bereiche Venedigs leblos vor<br />

sich h<strong>in</strong>. Weite Teile <strong>der</strong> Sistieri (Viertel) Dorso<br />

Duro, San Marco und Giudecca stehen leer, desgleichen<br />

e<strong>in</strong>ige etwas weiter außerhalb gelegene Inseln<br />

des Archipels, die früher selbstverständlich <strong>in</strong> die<br />

Stadt e<strong>in</strong>gebunden waren.<br />

Nur mit e<strong>in</strong>em privat gecharterten Boot ist heute<br />

etwa die Insel Sacca Séssola zu erreichen. 1870, als<br />

mit dem Ausbau des Handelshafens <strong>in</strong> Santa Marta<br />

große Mengen Sand und Bauschutt freiwurden,<br />

baute man die Insel zunächst als Treibstoffmittel-<br />

Depot aus, später legten die Venezianer hier Gärten<br />

und We<strong>in</strong>berge an. Als 1911 die Cholera ausbrach,<br />

errichtete die Kommune <strong>auf</strong> Teilen <strong>der</strong> Inseln e<strong>in</strong><br />

Krankenhaus, <strong>in</strong> das ab 1914 auch Tuberkulose-<br />

Kranke e<strong>in</strong>geliefert wurden. E<strong>in</strong> Um- und Ausbau<br />

erfolgte <strong>in</strong> den dreißiger Jahren, e<strong>in</strong>e Kirche wurde<br />

errichtet. Mit se<strong>in</strong>er mo<strong>der</strong>nen Ausstattung und<br />

Betten für bis zu 440 Patienten, dem gemäßigten<br />

Klima und herrlichen mediterranen Parkanlagen<br />

stieg San Séssola zu e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> beliebtesten Kl<strong>in</strong>iken<br />

Europas <strong>auf</strong>. Das Ende kam 1980, als die Fundamente<br />

<strong>der</strong> Insel erste Schäden <strong>auf</strong>wiesen. Das Hospital<br />

musste schließen. Seit 1995 bef<strong>in</strong>det sich das<br />

Gelände unter <strong>der</strong> Verwaltung <strong>der</strong> Unesco, die die<br />

Park- und Gebäudeanlagen notdürftig unterhält<br />

und versucht, die Insel vor Vandalismus zu schützen.<br />

Im Internet bietet die Città di Venezia die 17,5<br />

Hektar große Insel an – sie hofft <strong>auf</strong> Investoren, die<br />

Sacca Séssola zu e<strong>in</strong>er Hotelanlage umbauen. Man<br />

darf gespannt se<strong>in</strong>.<br />

An<strong>der</strong>norts gab es bereits Versuche, nicht-touristisches<br />

Leben <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stadt zu halten o<strong>der</strong> wie<strong>der</strong> anzusiedeln<br />

– etwa <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Lagunenseite des Sistiero Giudecca.<br />

Auf dem Gelände <strong>der</strong> ehemaligen Uhrenfabrik<br />

Junghans s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> den letzten Jahren neue<br />

Wohnungen entstanden. Das Projekt hat <strong>in</strong>ternational<br />

Furore gemacht – lange vor se<strong>in</strong>er Fertigstellung<br />

im Jahre 2002 konnte man die Entwürfe des<br />

italienischen Architekten C<strong>in</strong>o Zucchi <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fachpresse<br />

bewun<strong>der</strong>n. Mo<strong>der</strong>n, hell und licht wirken<br />

die Gebäude mit ihren spielerischen Glaselementen,<br />

aber ihr steriler Charme reicht nicht im Ger<strong>in</strong>gsten<br />

an die historischen Bauten Venedigs heran. <strong>Die</strong><br />

Gegend sche<strong>in</strong>t nach wie vor unbelebt, und ob diese<br />

Maßnahmen wirklich „echte“, italienische Venezianer<br />

an die Stadt b<strong>in</strong>den, darf bezweifelt werden – e<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>facher Blick <strong>auf</strong> die Kl<strong>in</strong>gelschil<strong>der</strong> genügt, und<br />

man sieht, dass die Häuser, sofern sie überhaupt<br />

bezogen s<strong>in</strong>d, von vielen Auslän<strong>der</strong>n bewohnt werden.<br />

Es s<strong>in</strong>d Ferienwohnungen, Zweitwohnsitze,<br />

Spekulationsobjekte.<br />

Was aber passiert, wenn die Stadt gar nicht mehr<br />

von E<strong>in</strong>heimischen bevölkert wird? Wenn sie, immer<br />

noch atemberaubend schön, aber nur als re<strong>in</strong>e<br />

Kulissenlandschaft weiterbesteht? Stirbt dann auch<br />

<strong>der</strong> Tourismus – o<strong>der</strong> wird Venedig tatsächlich zum<br />

Themenpark mit Öffnungszeiten von 9 bis 21 Uhr?<br />

Wenn das nicht geschehen soll, muss die Stadt jetzt<br />

handeln, sonst bleiben ihr <strong>auf</strong> Dauer auch jene Besucher<br />

weg, die – an<strong>der</strong>s als die mit Lunchpaketen<br />

bepackten Tagestouristen – Geld <strong>in</strong> die Stadt br<strong>in</strong>gen.<br />

Krämer-Badoni sieht nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em qualitativ<br />

höheren, deutlich teureren Tourismus e<strong>in</strong>e Überlebenschance<br />

– <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Tourismus, <strong>der</strong> weltweite<br />

Aufmerksamkeit für die e<strong>in</strong>zigartigen Kunstschätze<br />

Venedigs garantiert und damit <strong>in</strong>ternationale Geldgeber<br />

zu <strong>der</strong>en Erhalt bewegt. Und <strong>der</strong> e<strong>in</strong><br />

anspruchsvolles Programm bedient, das den venezianischen<br />

Händlern und <strong>Die</strong>nstleistern Arbeit gibt.<br />

Den Charme von Städtereisen prägt entscheidend<br />

die e<strong>in</strong>heimische Bevölkerung und mit ihr e<strong>in</strong> spezifisches<br />

urbanes Leben. Es ist das Flair, <strong>der</strong> Geruch<br />

des alltäglichen Lebens, <strong>der</strong> Touristen nach Istanbul<br />

lockt, nach Krakau, Lubljana, Lissabon, Barcelona.<br />

Und vielleicht ist <strong>in</strong> Venedig noch mehr als <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Städten Europas das geheimnisvolle Leben <strong>der</strong><br />

Grund e<strong>in</strong>er beson<strong>der</strong>en Anziehungskraft. Ganze<br />

Literaturen s<strong>in</strong>d über die Stadt und ihre E<strong>in</strong>wohner<br />

verfasst worden – von Goethe, Dickens, Rilke,<br />

Henry James, Patricia Highsmith, Thomas Mann,<br />

um nur e<strong>in</strong>ige zu nennen. Nicht zu vergessen die<br />

Krim<strong>in</strong>alromane von Donna Leon, e<strong>in</strong>er seit 1981<br />

<strong>in</strong> Venedig lebenden amerikanischen Schriftsteller<strong>in</strong>,<br />

die bezeichnen<strong>der</strong>weise nie, nie vom schrump-


fenden, son<strong>der</strong>n immer nur vom lebendigen<br />

Venedig berichtet. Kommissar<br />

Brunetti <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Geisterstadt – undenkbar.<br />

Abschied von Venedig am späten<br />

Nachmittag. <strong>Die</strong> feuchte Hitze steht<br />

noch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stadt, Moskitos haben die<br />

Reisende übel zugerichtet. Es ist spät,<br />

das Vaporetto quillt über, steuert <strong>auf</strong>reizend<br />

langsam die Anlegestellen an. <strong>Die</strong><br />

Stimmung ist angespannt. Erst fehlen<br />

<strong>auf</strong> <strong>der</strong> Piazzale Roma die Taxen, dann<br />

stauen sich die Fahrzeuge stadtauswärts<br />

<strong>auf</strong> <strong>der</strong> Ponte de la Libertà, <strong>der</strong> Verb<strong>in</strong>dung<br />

zum Festland. Erst später wird sich<br />

die Reisende im Flugzeug erleichtert<br />

zurücklehnen, <strong>auf</strong> dem Weg zurück <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>e lebendige Stadt.<br />

Venedig, Term<strong>in</strong>al Fus<strong>in</strong>a<br />

Blick vom Festland über die Lagune<br />

nach Venedig<br />

Fotos: Christoph Petras<br />

83


Giudecca<br />

Neubauten <strong>auf</strong> dem Gelände<br />

<strong>der</strong> ehemaligen Junghans-Fabrik<br />

85


Sacca Séssola, verlassene Insel<br />

E<strong>in</strong>st e<strong>in</strong>es von Europas bedeutendsten<br />

Krankenhäusern.<br />

<strong>Die</strong> Kommune von Venedig<br />

hofft <strong>auf</strong> Investoren,<br />

die hier <strong>in</strong> den Tourismus <strong>in</strong>vestieren.<br />

87


Sacca Séssola<br />

Verlassenes Hafenareal<br />

<strong>in</strong> Porto Marghera<br />

89


Giudecca, Lagunenseite<br />

Hier stehen viele Gebäude leer,<br />

kle<strong>in</strong>e Industrien s<strong>in</strong>d verschwunden.<br />

91


Giudecca, Lagunenseite<br />

93


San Giorgio <strong>in</strong> Alga<br />

Verlassene Insel. Im Mittelalter Kloster,<br />

später Dogensitz, unter Napoleon<br />

Sprengstofflager, im Zweiten Weltkrieg<br />

Militärgelände, heute <strong>auf</strong>gegeben.<br />

95


Term<strong>in</strong>al Fus<strong>in</strong>a<br />

Verlassene Bar an <strong>der</strong> Endhaltestelle<br />

des Vaporettos, das Venedig<br />

mit dem Festland<br />

und Porto Marghera verb<strong>in</strong>det.<br />

97


Am 17. Mai 1946 riefen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Babelsberger Filmatelier deutsche Filmschaffende<br />

<strong>in</strong> Anwesenheit von Vertretern<br />

aller vier Besatzungsmächte die<br />

„DEFA – Deutsche Filmaktiengesellschaft<br />

<strong>in</strong> Gründung“ <strong>in</strong>s Leben. <strong>Die</strong><br />

neue Firma sollte zu e<strong>in</strong>er deutschen<br />

Aktiengesellschaft werden, nach deutschem<br />

Aktienrecht <strong>in</strong> <strong>der</strong> sowjetischen<br />

Besatzungszone. Knapp 14 Tage vorher<br />

hatte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em benachbarten Atelier<br />

Wolfgang Staudte den ersten deutschen<br />

Nachkriegsfilm zu drehen begonnen,<br />

<strong>Die</strong> Mör<strong>der</strong> s<strong>in</strong>d unter uns, mit Ernst<br />

Wilhelm Borchert und <strong>der</strong> damals noch<br />

unbekannten Hildegard Knef <strong>in</strong> den<br />

Hauptrollen.<br />

Der Welterfolg dieses ersten DEFA-<br />

Films wurde zu e<strong>in</strong>em Paukenschlag,<br />

dem so leicht nichts zu folgen vermochte.<br />

Der Film war, wie auch <strong>der</strong><br />

zweite, Kurt Maetzigs Ehe im Schatten<br />

(1947), ke<strong>in</strong> Ost-Film für Ost-Publikum,<br />

son<strong>der</strong>n richtete sich an alle Deutschen.<br />

Ehe im Schatten erhielt übrigens<br />

den allerersten Bambi, e<strong>in</strong>e Auszeichnung,<br />

die man <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge eher mit<br />

etwas an<strong>der</strong>en Produktionen <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung<br />

br<strong>in</strong>gen sollte.<br />

Bis etwa Ende 1946 wurde <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />

ganz allgeme<strong>in</strong> dar<strong>auf</strong> h<strong>in</strong>gearbeitet,<br />

wie<strong>der</strong> Keimzelle e<strong>in</strong>er zentralen Reichsverwaltung<br />

zu werden – auch die Russen,<br />

die da zunächst „gesamtdeutscher“<br />

98<br />

REZENSIONS-ESSAY<br />

Der Ersatz für die Träume<br />

„Mit Ihnen würd’ ich mir sogar ‘nen DEFA-Film angucken.“<br />

„N’Abend, kle<strong>in</strong>e Chef<strong>in</strong>, schon schlafen<br />

gehen?“<br />

„Deshalb hab ich die Decke vorgehängt.“<br />

„Ich wollt’ Sie nämlich <strong>in</strong>s K<strong>in</strong>o e<strong>in</strong>laden.<br />

Mit Ihnen würd’ ich mir sogar ’nen DEFA-<br />

Film ansehen.“<br />

„Ich b<strong>in</strong> untröstlich, aber schon ausgezogen.“<br />

(Spur <strong>der</strong> Ste<strong>in</strong>e , 1966, Dialog: Manfred<br />

Krug und Krystyna Stypulkowska )<br />

Entschuldigung<br />

Durch e<strong>in</strong> bedauerliches Versehen<br />

wurde für die Rezension des Wehner-<br />

Buches von Friedemann Bedürftig <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Nummer 11 <strong>der</strong> GAZETTE nicht <strong>der</strong><br />

zutreffende Autor angegeben.<br />

Der Autor <strong>der</strong> Rezension ist Bert Hoppe,<br />

Berl<strong>in</strong><br />

dachten als die kommunistischen deutschen<br />

Remigranten aus Moskau. <strong>Die</strong><br />

DEFA als filmproduzierende AG, wenngleich<br />

nicht als Publikumsgesellschaft,<br />

das bedeutete 1946 ke<strong>in</strong>e sozialistische<br />

Verstaatlichungspolitik, son<strong>der</strong>n war die<br />

selbstverständliche Fortsetzung e<strong>in</strong>er<br />

deutschen Tradition, jener <strong>der</strong> UFA.<br />

Staats<strong>in</strong>itiative ist für die deutsche Filmgeschichte<br />

seit dem Ersten Weltkrieg, als<br />

die Oberste Heeresleitung, hierbei sehr<br />

mo<strong>der</strong>n, die Gründung <strong>der</strong> UFA zur<br />

Verbreitung ihrer Interessen anregte,<br />

ke<strong>in</strong> Skandalon. <strong>Die</strong> UFA wurde vom<br />

Sprachrohr des Generals Ludendorff<br />

bald zur größten deutschen Filmgesellschaft<br />

<strong>der</strong> Weimarer Republik und 1942<br />

dank e<strong>in</strong>er Goebbels’schen Zwangsfusionierung,<br />

zur e<strong>in</strong>zigen im Reich. Was<br />

also sollte an e<strong>in</strong>er staatlichen o<strong>der</strong><br />

halbstaatlichen Filmgesellschaft im Osten<br />

Nachkriegsdeutschlands Anstößiges<br />

se<strong>in</strong>? Außerdem hatte man zu jener Zeit<br />

an<strong>der</strong>e Sorgen.<br />

Beispielsweise die Aufgabe, die weith<strong>in</strong><br />

zerstörte Struktur e<strong>in</strong>er professionellen<br />

Filmproduktion so rasch wie möglich<br />

wie<strong>der</strong> <strong>auf</strong>zubauen. <strong>Die</strong> mit dem Neuanfang<br />

verbundenen Hoffnungen erhielten<br />

1947 e<strong>in</strong>en Dämpfer, als die<br />

Sowjets gemäß dem Potsdamer Abkommen<br />

die gerade mühsam wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> Gang<br />

gesetzten Gewerke <strong>der</strong> Filmherstellung<br />

als Beute entdeckten. Kopierwerke und<br />

Technik wurden demontiert und <strong>in</strong> die<br />

Sowjetunion gebracht, die DEFA umgewandelt<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e „Deutsch-Sowjetische<br />

Aktiengesellschaft für Herstellung, Vertrieb<br />

und Verleih von Filmen aller Art“.<br />

Zunächst hatten die Sowjets e<strong>in</strong>e Aktienmehrheit<br />

von 55, dann von 51 Prozent<br />

beansprucht. Es war beson<strong>der</strong>s das<br />

Verdienst Walter Jankas, dieses kulturpolitische<br />

Und<strong>in</strong>g vom Tisch zu bekommen,<br />

nach se<strong>in</strong>er Schil<strong>der</strong>ung eher mit<br />

e<strong>in</strong>em Gewaltstreich als <strong>in</strong> sanftem Abwandeln<br />

des bisher Vere<strong>in</strong>barten. „Wir<br />

diskutierten vierzehn Tage lang. Es entstand<br />

e<strong>in</strong> neuer Vertrag, <strong>der</strong> hun<strong>der</strong>tprozentig<br />

<strong>in</strong> Ordnung war, den das Politbüro<br />

bestätigte und den die Russen<br />

akzeptierten.“ (S. 52)<br />

<strong>Die</strong> DEFA Deutsche Filmaktiengesellschaft<br />

war drei Jahre älter als <strong>der</strong> Staat,<br />

dessen e<strong>in</strong>zige Filmproduktionsgesellschaft<br />

sie werden sollte, und überlebte<br />

ihn als filmherstellen<strong>der</strong> Betrieb um<br />

nicht ganz e<strong>in</strong> Jahr. Alles, was bis 1992,<br />

bis zum Verk<strong>auf</strong> durch die Treuhand an<br />

e<strong>in</strong> <strong>französisch</strong>es Wasserunternehmen,<br />

noch nachfolgte, führt nur <strong>in</strong> anekdotisches,<br />

wenngleich bezeichnendes juristisch-wirtschaftliches<br />

Unterholz. So<br />

muten auch die beiden abschließenden<br />

Interviews <strong>in</strong> Poss/Warneckes Buch, mit<br />

den Nach-Wende-Geschäftsführern <strong>der</strong><br />

Babelsberger Studiobetriebe Volker<br />

Schlöndorff (1992 - 1997) und Carl<br />

Woebcken (ab 2004), wie e<strong>in</strong> neoliberales<br />

Satyrspiel über blühende Landschaften<br />

an.<br />

In den 45 Jahren ihres Bestehens hat<br />

die DEFA über 2000 Filme aller möglichen<br />

Genres hergestellt, darunter 1250<br />

Spielfilme für K<strong>in</strong>o und Fernsehen, von<br />

denen (<strong>in</strong> klug ausgewählten rund 100<br />

Beispielen) das vorliegende Buch alle<strong>in</strong><br />

berichtet. Dazu zählen aber auch Dokumentarfilme,<br />

Kurz- und Animationsfilme,<br />

die Reihe „Stacheltiere“ und nicht<br />

zu vergessen die Wochenschau „Der<br />

Augenzeuge“, die ab 1946 gegen die Propagandatradition<br />

<strong>der</strong> Nazis antreten<br />

sollte, bis auch sie zur Ankündigungstafel<br />

e<strong>in</strong>er Diktatur wurde.<br />

Man kann e<strong>in</strong>e Filmproduktion von<br />

über vier Jahrzehnten nicht mit wenigen<br />

Worten skizzieren. Und doch drängen<br />

sich jedem, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Auswahl von<br />

DEFA-Filmen gesehen hat, übere<strong>in</strong>stimmende<br />

Merkmale <strong>auf</strong>, wie bei <strong>der</strong><br />

Wahrnehmung <strong>der</strong> DDR selbst. Ihre<br />

Filme sche<strong>in</strong>en <strong>in</strong> vielfacher H<strong>in</strong>sicht<br />

„deutscher“ als die Westprodukte aus jenen<br />

Tagen.<br />

<strong>Die</strong> Westdeutschland erfassende Amerikanisierung<br />

wurde von <strong>der</strong> offiziellen<br />

Staatsdoktr<strong>in</strong> <strong>der</strong> sich formenden DDR<br />

vehement schon aus politischen Gründen<br />

wie auch aus Profilierungsgründen<br />

abgelehnt (mit allen Konsequenzen für<br />

das kollektive Unbewusste ihrer Bürger).<br />

Außerdem entsprach diese Ablehnung<br />

auch den Anschauungen <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

SED <strong>auf</strong>gegangenen Sozialdemokraten;<br />

genauso aber auch jenen <strong>der</strong> abseits verharrenden<br />

bürgerlichen Kreise. Das Bildungsideal<br />

des zu Monument und Leitfigur<br />

erhobenen Arbeiters war und blieb<br />

<strong>in</strong> mehr o<strong>der</strong> weniger verbürgerlichtem<br />

Aussehen das Bildungsideal <strong>der</strong> DDR.<br />

Zusammen mit dem etatistischen Kulturverständnis<br />

wurde <strong>der</strong> ambitionierte<br />

DEFA-Spielfilm selbst da, wo er sozialdynamische<br />

Entlastungsfunktion hatte


o<strong>der</strong> haben sollte, immer auch als e<strong>in</strong>e<br />

Schöpfung von deutlich kultureller Bedeutung<br />

verstanden. So musste (o<strong>der</strong><br />

durfte) er neben se<strong>in</strong>en möglicherweise<br />

libid<strong>in</strong>ösen Ansätzen, die K<strong>in</strong>o so herrlich<br />

machen, zum<strong>in</strong>dest partiell immer<br />

auch als Kulturgut verstanden und empfunden<br />

werden. In vielen Fällen war dieser<br />

Doppelcharakter die Rettung <strong>der</strong> Filmemacher<br />

und ihrer Filme vor Parteiwillkür<br />

und Verboten.<br />

Das Erfreuliche an <strong>der</strong> Kunstproduktion<br />

à la DEFA ist das immanente gesellschaftliche<br />

Verantwortungsbewusstse<strong>in</strong>.<br />

Bedenklich h<strong>in</strong>gegen ist <strong>in</strong> vielen Filmen,<br />

selbst jenen, die Freiheit, e<strong>in</strong> Sich-<br />

Ausleben, e<strong>in</strong> Abweichen von Regeln<br />

vermitteln wollen, e<strong>in</strong>e Restriktion <strong>der</strong><br />

Stimmung, sogar e<strong>in</strong> Abschnüren.<br />

Anstatt Szenen ausschw<strong>in</strong>gen, Figuren<br />

sich verselbstständigen zu lassen, endet<br />

im DEFA-Film oft die E<strong>in</strong>stellung wie<br />

abgeschnitten. Brechts Schwierigkeiten<br />

beim Schreiben <strong>der</strong> Wahrheit s<strong>in</strong>d da mit<br />

Händen zu greifen. Fragen des Filmes <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> DDR waren von Anfang an hochsensible<br />

Staatsangelegenheiten, die auch<br />

außerhalb jedes Instanzenzuges die<br />

höchsten Gremien beschäftigten. Entsprechend<br />

brutal schlug zeitweise – und<br />

oft von außen kaum erklärbar – die Repression<br />

von den allerhöchsten Stellen<br />

bis ganz nach unten durch <strong>in</strong> die Filmstudios.<br />

Der Band <strong>Die</strong> Spur <strong>der</strong> Filme ist e<strong>in</strong>e<br />

Oral History, ausgewählt aus rund 400<br />

Stunden Aufzeichnungen von Gesprächen,<br />

die vornehmlich im Filmmuseum<br />

Potsdam mit Autoren, Regisseuren,<br />

nisch-adm<strong>in</strong>istrativen Stabes stattfanden<br />

(zum Teil im Fernsehen bereits ausgestrahlt).<br />

Geführt wurden diese Unterhaltungen<br />

<strong>in</strong> den neunziger Jahren. In<br />

den Selbstzeugnissen wird e<strong>in</strong>e doppelte<br />

Innenansicht geboten: Innenansicht <strong>der</strong><br />

DEFA, aber auch Innenansicht <strong>der</strong><br />

gerade Sprechenden.<br />

<strong>Die</strong> beiden Herausgeber vermeiden<br />

den Fehler, den so viele „Filmbücher“<br />

begehen, nämlich film-immanent zu<br />

bleiben, sei es unter ästhetischen, biografischen<br />

o<strong>der</strong>, bei Film ke<strong>in</strong> Verbrechen,<br />

auch nur tratschorientierten Gesichtspunkten.<br />

Sie kennen ihre DEFA<br />

von <strong>in</strong>nen ganz genau und wissen, dass<br />

Filmproduktion immer auch Kulturpolitik<br />

ist. Im Westen, wo es sich ebenso<br />

verhält, wird dies allerd<strong>in</strong>gs meist camoufliert;<br />

als ob h<strong>in</strong>ter den Projektentscheidungen<br />

Hollywoods nicht auch das<br />

Kalkül <strong>der</strong> politischen Machtdynamik<br />

stünde, und dies mutatis mutandis noch<br />

heute.<br />

Poss und Warnecke stellen jedem Abschnitt<br />

e<strong>in</strong>e kultur- und filmpolitische<br />

Erläuterung <strong>der</strong> Epoche voran. So entsteht<br />

e<strong>in</strong>e Darstellung, die weit mehr<br />

bietet als e<strong>in</strong>e pure Materialsammlung.<br />

Der Band ist nicht nur überzeugend <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Auswahl, son<strong>der</strong>n auch bemerkenswert<br />

gut redigiert und ediert. E<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger<br />

Wunsch bleibt offen: e<strong>in</strong> Sach- und<br />

Filmregister noch zusätzlich zum Personenregister.<br />

Anfangs entstanden Spielfilme, die Antwort<br />

zu geben suchen <strong>auf</strong> die Fragen jener<br />

ersten Nachkriegsjahre, Fragen <strong>der</strong><br />

Schuld und Verstrickung,<br />

aber auch<br />

schon <strong>der</strong> aktuellen<br />

Probleme e<strong>in</strong>er geteilten<br />

Stadt (übrigens<br />

lange vor dem Mauerbau,<br />

<strong>der</strong> selbst ja bezeichnen<strong>der</strong>weise<br />

bei<br />

<strong>der</strong> DEFA tabuisiert<br />

blieb). Westdeutschland<br />

wurde ebenfalls<br />

nicht ausgespart. Gewiss<br />

konnten viele<br />

Themen wie deutsche<br />

Flucht und Vertreibung,Problematik<br />

<strong>der</strong> Besatzung,<br />

wirtschaftliche Realität<br />

im Nachkriegsdeutschland<br />

(Ost und<br />

West) nicht e<strong>in</strong>mal<br />

angedeutet werden.<br />

Der Slogan „Von <strong>der</strong><br />

Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“<br />

ist <strong>in</strong> manchen Filmen früh zu ahnen.<br />

Was durchaus als listiges Ausspielen russischer<br />

Großzügigkeit gegen die eigenen<br />

kle<strong>in</strong>bürgerlich-hun<strong>der</strong>tfünfzigprozentigen<br />

Genossen durchgehen konnte – und<br />

so auch mehrfach bestens funktionierte.<br />

<strong>Die</strong> meisten <strong>der</strong> damals realisierten<br />

Filme s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> heutiger Term<strong>in</strong>ologie<br />

Genrefilme, viele davon Problemfilme,<br />

wie man damals <strong>in</strong> Westdeutschland<br />

gesagt hat. In dem Maße, <strong>in</strong> dem die<br />

selbst von den Kommunisten noch lange<br />

gehegte Erwartung <strong>auf</strong> e<strong>in</strong> – natürlich<br />

unter sozialistischem Vorzeichen – wie<strong>der</strong>zuvere<strong>in</strong>igendes<br />

Deutschland verloren<br />

g<strong>in</strong>g, verdichteten sich die Anweisungen<br />

<strong>der</strong> SED an die überaus wichtige,<br />

reichhaltige, so viele Möglichkeiten <strong>der</strong><br />

Bee<strong>in</strong>flussung enthaltende Film<strong>in</strong>dustrie,<br />

das heißt an die DEFA.<br />

Aus <strong>der</strong> ersten Periode heben Poss und<br />

Warnecke Filme hervor wie Das Beil von<br />

Wandsbek (1951), dann bezeichnen<strong>der</strong>weise<br />

bereits e<strong>in</strong>e Literaturverfilmung,<br />

Der Untertan (1951), <strong>in</strong>szeniert<br />

von Wolfgang Staudte, die aber über<br />

e<strong>in</strong>e grelle Karikatur nicht h<strong>in</strong>ausreicht.<br />

Sodann unter an<strong>der</strong>en den im Westen<br />

spielenden Film Das verurteilte Dorf<br />

(1952) über e<strong>in</strong> Dorf, das e<strong>in</strong>em amerikanischen<br />

Militärflugplatz weichen soll.<br />

O<strong>der</strong> sie behandeln das zweiteilige offiziöse<br />

Porträt Ernst Thälmann (1954<br />

bis 1955). Von diesem distanziert sich<br />

se<strong>in</strong> Regisseur Kurt Maetzig nicht nur<br />

post festum, son<strong>der</strong>n er betont auch, dass<br />

er schon zur Zeit <strong>der</strong> Realisierung Bedenken<br />

gehabt habe.<br />

Schauspielern und Mitglie<strong>der</strong>n des tech- Günther Simon <strong>in</strong> Ernst Thälmann – Sohn se<strong>in</strong>er Klasse<br />

Fotos: Poss, Warnecke, <strong>Die</strong> Spur <strong>der</strong> Filme<br />

99


100<br />

Eva-Maria Hagen <strong>in</strong> Vergeßt mir me<strong>in</strong>e Traudel nicht<br />

<strong>Die</strong> zweite Periode beg<strong>in</strong>nt an<strong>der</strong>s als<br />

im übrigen Ostblock nicht mit Stal<strong>in</strong>s<br />

Tod und dem anschließenden Tauwetter.<br />

Der 17. Juni 1953 und die Tatsache,<br />

dass die DDR stets e<strong>in</strong> von westlichen<br />

E<strong>in</strong>flüssen <strong>der</strong>selben Kultur und Nation<br />

umworbener Frontstaat war, verh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten<br />

damals die Liberalisierung. Filmgeschichte<br />

<strong>der</strong> DEFA <strong>in</strong> diesen Jahren<br />

bleibt weith<strong>in</strong> Parteigeschichte <strong>der</strong><br />

SED, die Geschichte des geschickten<br />

Umgehens <strong>der</strong> Repression.<br />

Erst 1956, und zwar mit den Chruschtschow’schen<br />

Enthüllungen von Stal<strong>in</strong>s<br />

Schreckensregime, konnte sich auch die<br />

DDR nicht mehr e<strong>in</strong>er zum<strong>in</strong>dest graduellen<br />

Lockerung ihres Kulturlebens<br />

entgegenstemmen. Was vorher <strong>in</strong> Polen<br />

o<strong>der</strong> auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sowjetunion – man<br />

denke an Andrzej Wajdas Filmschaffen<br />

ab 1954 – schon lange Tauwetter hieß,<br />

erreichte Ostberl<strong>in</strong> und Babelsberg verspätet<br />

und <strong>in</strong> sehr abgeschwächter Form.<br />

Stellvertretend soll uns hier vor allem<br />

das Schicksal des Films Sonnensucher<br />

(1958) <strong>in</strong>teressieren. Inszeniert von jemandem<br />

aus <strong>der</strong> absoluten DDR-Prom<strong>in</strong>enz,<br />

nämlich Konrad Wolf, dem<br />

Sohn des Dramatikers Friedrich Wolf<br />

und Bru<strong>der</strong> des späteren Stasi-Chefs<br />

Markus Wolf. Sonnensucher befasst sich<br />

mit dem Uranabbau <strong>der</strong> „Wismut“, <strong>der</strong><br />

Sowjetisch-Deutschen Bergbau-AG im<br />

Erzgebirge. Der Film ist erheblich „filmischer“,<br />

reichhaltiger, begabter und<br />

flirren<strong>der</strong>, als es jedem Agitprop-Be<strong>auf</strong>tragten<br />

lieb se<strong>in</strong> könnte, ist m<strong>in</strong>destens<br />

so sehr Liebesgeschichte wie Epos <strong>der</strong><br />

Arbeit. Beides <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>eswegs idealer<br />

Beleuchtung: Schmuddeliges und Destruktives,<br />

ja Gefährliches spielen e<strong>in</strong>e<br />

große Rolle.<br />

<strong>Die</strong> Realisierung des Films fiel <strong>in</strong> die<br />

Phase e<strong>in</strong>er gewissen Rat- und Hilflosigkeit<br />

<strong>der</strong> DDR-Führung nach dem<br />

Ungarn<strong>auf</strong>stand und <strong>der</strong> für die DDR<br />

viel nachhaltigeren Fronde Gomulka-<br />

Polens gegen Moskau. Doch nicht e<strong>in</strong>mal<br />

das Prestige Konrad Wolfs reichte<br />

aus, dass <strong>der</strong> Film auch gezeigt werden<br />

konnte – dies geschah erst 1972, und da<br />

fast heimlich. Gegen e<strong>in</strong>en Präsidenten<br />

<strong>der</strong> Akademie <strong>der</strong> Künste, <strong>der</strong> Konrad<br />

Wolf damals schon lange war, konnte<br />

man eben nicht unbegrenzt Obstruktion<br />

betreiben.<br />

Der Film Vergeßt mir me<strong>in</strong>e Traudel<br />

nicht (1957), <strong>auf</strong> e<strong>in</strong>er wahren Begebenheit<br />

beruhend, hatte dessen ungeachtet<br />

wegen <strong>der</strong> Hauptfigur, „ebenso raff<strong>in</strong>iert<br />

wie naiv, verlogen wie treuherzig“,<br />

Schwierigkeiten mit <strong>der</strong> Zulassung,<br />

obwohl o<strong>der</strong> vielleicht gerade weil er<br />

e<strong>in</strong>e Komödie war. Hierzu Regisseur<br />

Kurt Maetzig nach 1989:<br />

Vergeßt mir me<strong>in</strong>e Traudel nicht war e<strong>in</strong>e <strong>der</strong><br />

wenigen erfolgreichen DEFA-Komödien.<br />

Man kann sich heute nicht mehr vorstellen,<br />

<strong>auf</strong> welche Schwierigkeiten e<strong>in</strong> Komödienstoff<br />

stieß. Ohne das Prestige von Kuba [Drehbuchautor<br />

Kurt Bartel, Anm. O.H.] und mir<br />

hätten wir den Film wahrsche<strong>in</strong>lich kaum<br />

durchsetzen können.<br />

E<strong>in</strong>e Komödie durchbricht ja notwendigerweise<br />

Tabus. Daß da <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Szene die Hauptdarsteller<strong>in</strong><br />

Eva-Maria Hagen nur mit e<strong>in</strong>em<br />

Handtuch bekleidet war, empfanden viele, die<br />

darüber zu bef<strong>in</strong>den hatten, als moralisch<br />

anrüchig. (…) <strong>Die</strong> DDR war ja überhaupt<br />

schwach <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Brust, was Komik und Komödien<br />

betraf. (S. 124)<br />

<strong>Die</strong> dritte Phase <strong>der</strong> DEFA setzte mit<br />

<strong>der</strong> sche<strong>in</strong>bar paradoxen Konsolidierung<br />

des Arbeiter- und Bauernstaates<br />

nach dem Bau <strong>der</strong> Mauer 1961 e<strong>in</strong>. <strong>Die</strong><br />

Machthaber hatten erkannt, dass sie das<br />

Volk nur dann halbwegs <strong>auf</strong> ihrer Seite<br />

halten konnten, wenn sie dessen Lebensbed<strong>in</strong>gungen<br />

verbesserten.<br />

In den Führungsetagen <strong>der</strong> DEFA fand<br />

e<strong>in</strong> Generationenwechsel statt, e<strong>in</strong>e<br />

gerechtere Gehaltsstruktur für das<br />

künstlerische Personal (das ja durchweg<br />

festangestellt war) wurde e<strong>in</strong>geführt,<br />

künstlerische Arbeitsgruppen bildeten<br />

sich, <strong>in</strong> denen offen diskutiert wurde,<br />

zahllose neue Ideen verdankten sich neu<br />

gefasstem Mut. Trotzdem sollte diese<br />

Periode des Aufschwungs <strong>in</strong> <strong>der</strong> größten<br />

Katastrophe enden, die dem DEFA-<br />

Film überhaupt wi<strong>der</strong>fuhr: im 11. Plenum<br />

des Zentralkomitees <strong>der</strong> SED im<br />

Dezember 1965. Der Kurs jener liberaleren<br />

Wirtschaftspolitik, den man vier<br />

Jahre gesteuert hatte, führte offenbar <strong>in</strong><br />

den unmittelbaren materiellen Ru<strong>in</strong> des<br />

Staates. Der Oberbürokrat <strong>der</strong> zweiten<br />

SED-Generation, Erich Honecker, fand<br />

nun <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kulturpolitik und beson<strong>der</strong>s<br />

im Film se<strong>in</strong>en Sündenbock.<br />

Honecker beklagte ‚Ersche<strong>in</strong>ungen <strong>der</strong> amerikanischen<br />

Unmoral und Dekadenz‘, ‚antihumanistische<br />

Darstellungen‘, die Schil<strong>der</strong>ung<br />

von Brutalitäten und die Reduzierung<br />

‚menschlichen Handelns <strong>auf</strong> sexuelle Trieb-


haftigkeit‘ <strong>in</strong> den Sendungen des Fernsehfunks,<br />

<strong>in</strong> Filmen und Zeitschriften. (…) Er<br />

sprach davon, daß ‚westliche Dekadenz‘ e<strong>in</strong>gedrungen<br />

sei, geißelte den ‚Skeptizismus‘ von<br />

Künstlern ebenso wie er ‚saubere Le<strong>in</strong>wände‘<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ‚sauberen Staat‘ for<strong>der</strong>te. (…) Es gab<br />

wütende Ausfälle gegen die beiden DEFA-<br />

Filme Das Kan<strong>in</strong>chen b<strong>in</strong> ich von Kurt Maetzig<br />

und Denk bloß nicht, ich heule von Frank<br />

Vogel. (S. 146 f.)<br />

Was hier an soeben fertiggestellten o<strong>der</strong><br />

gerade im Dreh bef<strong>in</strong>dlichen Filmen verboten,<br />

zurückgestellt, <strong>in</strong> den legendären<br />

Keller verbannt wurde, gehört zu den<br />

besten und <strong>in</strong>teressantesten Leistungen<br />

von 40 Jahren DEFA-Film überhaupt.<br />

So ganz beson<strong>der</strong>s Spur <strong>der</strong> Ste<strong>in</strong>e von<br />

1966. Frank Beyer (1932 - 2006) hat den<br />

Film nach dem Roman von Erich<br />

Neutsch, e<strong>in</strong>em damals <strong>in</strong> <strong>der</strong> DDR<br />

weitverbreiteten Buch, <strong>in</strong>szeniert. Es<br />

geht um e<strong>in</strong>en neuen Parteisekretär <strong>auf</strong><br />

e<strong>in</strong>er Großbaustelle, um <strong>in</strong>kompetente<br />

Bauleiter und e<strong>in</strong>e tüchtige ‚Brigade‘ von<br />

Bauarbeitern unter dem Urviech Hannes<br />

Balla (gespielt vom jungen Manfred<br />

Krug), e<strong>in</strong>em erfolgreichen Individual-<br />

Anarchisten, Alphamännchen und Sexprotz.<br />

Freiheitsgefühl als libid<strong>in</strong>öse Aufmüpfigkeit.<br />

Hier wird tüchtig und gar<br />

nicht mehr mit geballter Faust <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Tasche Dampf abgelassen. Der Film<br />

br<strong>in</strong>gt sich mit se<strong>in</strong>er sich verhed<strong>der</strong>nden<br />

Liebeshandlung gegen Ende etwas<br />

um die Wucht, die das thematische<br />

Potenzial eigentlich böte. Das haben<br />

auch se<strong>in</strong>e wütenden und kundigen Verteidiger,<br />

die bis Konrad Wolf h<strong>in</strong><strong>auf</strong> noch<br />

e<strong>in</strong> halbes Jahr mit <strong>der</strong> Staatsspitze um<br />

e<strong>in</strong>e Freigabe gerungen haben, durchaus<br />

gesehen.<br />

In ihrer vierten Phase, ab <strong>der</strong> Schreckstarre<br />

nach dem 11. Plenum bis <strong>in</strong> den<br />

Herbst 1989, haben die Kreativen <strong>der</strong><br />

DEFA e<strong>in</strong>e Art Frieden o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest<br />

Waffenstillstand mit ihrer Obrigkeit<br />

geschlossen. An die Stelle des Bekenntnishaften<br />

tritt das Verklausulierte.<br />

Goya, nach Aussage des Szenenbildners<br />

Alfred Hirschmeier <strong>der</strong> teuerste Film,<br />

den die DEFA je produziert hat (1971,<br />

Regie Konrad Wolf), brauchte 7 Jahre,<br />

um von <strong>der</strong> SED Zustimmung zu erwirken.<br />

Er ist <strong>in</strong>telligent, auch opulent hergestellt<br />

(die Außen<strong>auf</strong>nahmen „Madrids“<br />

alle <strong>in</strong> Dubrovnik gedreht), aber<br />

„nur“ e<strong>in</strong> Kostümfilm, <strong>der</strong> es mit <strong>der</strong><br />

Intensität <strong>der</strong> fast gleichzeitig gedrehten<br />

historischen Sch<strong>in</strong>ken e<strong>in</strong>es Visconti<br />

o<strong>der</strong> Antonioni nicht <strong>auf</strong>nehmen könn-<br />

Manfred Krug (Mitte) <strong>in</strong> Spur <strong>der</strong> Ste<strong>in</strong>e<br />

te und auch, da er sich eng an Lion<br />

Feuchtwangers Roman Goya o<strong>der</strong> <strong>der</strong> arge<br />

Weg <strong>der</strong> Erkenntnis hält, biografisch<br />

wenig motiviert <strong>in</strong> Goyas Lebensmitte<br />

endet.<br />

Darunter, Stichwort Literaturverfilmung,<br />

<strong>in</strong>des e<strong>in</strong> Edelste<strong>in</strong>, wie er selten<br />

vorkommt, und prompt auch <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zige<br />

Hollywood-Oscar, <strong>der</strong> jemals e<strong>in</strong>em<br />

DEFA-Film zuteil wurde: Jakob <strong>der</strong> Lügner<br />

(1975, Regie <strong>der</strong> nach langem wie<strong>der</strong><br />

rehabilitierte Frank Beyer). Natürlich<br />

nach <strong>der</strong> Geschichte Jurek Beckers, <strong>der</strong><br />

auch das Drehbuch verfasst hat. Sieht<br />

man diesen Film heute, dann kann man<br />

nur sagen, Benignis Erfolg von 1997<br />

(Das Leben ist schön) wäre nur halb so<br />

groß gewesen, hätte das westliche K<strong>in</strong>opublikum<br />

Frank Beyers Film besser gekannt:<br />

die diskreteste und zugleich anrührendste<br />

Art, etwas so Schwieriges wie<br />

e<strong>in</strong>e heitere Darstellung jüdischer Todeserwartung<br />

und zugleich absur<strong>der</strong><br />

Hoffnung im Film zu zeigen.<br />

Auf e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Weise das <strong>in</strong>stitutionelle<br />

Misstrauen unterl<strong>auf</strong>en hat <strong>der</strong><br />

Film <strong>Die</strong> Legende von Paul und Paula<br />

(1973, Regie He<strong>in</strong>er Carow, Drehbuch<br />

Ulrich Plenzdorf), mit <strong>der</strong> h<strong>in</strong>reißenden<br />

Angelica Domröse <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rolle ihres<br />

Lebens, den größten Publikumserfolg<br />

101


e<strong>in</strong>es DEFA-Films überhaupt erobernd.<br />

Hier mag die Prom<strong>in</strong>enz <strong>der</strong> Beteiligten<br />

Schutz geboten haben, vielleicht aber<br />

noch viel eher das unglaubliche Tempo<br />

des Films. Denn <strong>der</strong> nicht nur erotische<br />

Witz und die Bissigkeit, die bei genauerem<br />

H<strong>in</strong>gucken jedem <strong>auf</strong>fallen müssten,<br />

zeigen das ganze subversive Potenzial<br />

dieser Legende, bei <strong>der</strong> ja schon die<br />

Bezeichnung verräterisch ist. Wie wohltuend<br />

dabei die quasi nichtaristotelische<br />

Dramaturgie mit all den Zwischentiteln,<br />

die Brechts Gestus des Zeigens so frech<br />

zitieren. Das er<strong>in</strong>nert an frühe Filme <strong>der</strong><br />

DEFA, an e<strong>in</strong>e Tradition, die von <strong>der</strong><br />

Pantoffelhaftigkeit des Illusionsk<strong>in</strong>os<br />

von Hollywood bis <strong>in</strong>s realsozialistische<br />

Babelsberg systemübergreifend erstickt<br />

wurde.<br />

Über 500 Seiten Oral History, unterbrochen<br />

durch verb<strong>in</strong>dende Texte <strong>der</strong><br />

Herausgeber, die uns kulturpolitisch<br />

den Kopf periodisch zurechtrücken.<br />

Ganz wichtig s<strong>in</strong>d zudem die „Spielräume“<br />

genannten Zwischenkapitel,<br />

<strong>der</strong>en Bezeichnung nicht näher erklärt<br />

wird; aber offensichtlich s<strong>in</strong>d es die<br />

Spielräume, die <strong>der</strong> ‚Filmschaffende‘ <strong>in</strong><br />

diesem System gefunden hat.<br />

102<br />

DEFA-Geschichte ist e<strong>in</strong>e verhaltene<br />

Triumph- und e<strong>in</strong>e erkennbare Leidensgeschichte.<br />

Manch e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Beteiligten<br />

hat das früh erkannt o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest beizeiten<br />

zurückprojiziert. Kurt Maetzig,<br />

e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong>väter <strong>der</strong> DEFA, darüber,<br />

wie sich se<strong>in</strong> Geschöpf entwickelte,<br />

entwickeln musste:<br />

Anfang <strong>der</strong> fünfziger Jahre sollte dieser<br />

Sturzbach frischer Ideen <strong>in</strong> die engen Röhren<br />

e<strong>in</strong>er stal<strong>in</strong>istischen Kulturpolitik kanalisiert<br />

werden. Plötzlich wurden Vorgaben gemacht:<br />

ästhetische, thematische, politische. Das bekam<br />

dem Film außerordentlich schlecht, denn<br />

beson<strong>der</strong>s e<strong>in</strong>e Krankheit griff um sich, das<br />

war <strong>der</strong> soziologische Schematismus, <strong>der</strong> die<br />

Gestalten ihrer Individualität beraubte und sie<br />

als Sprachrohre e<strong>in</strong>er bestimmten sozialen<br />

Schicht o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Klasse o<strong>der</strong><br />

Gruppe darstellen wollte. (...) Das hat dem<br />

DEFA-Film beim Publikum außerordentlich<br />

viele Sympathien gekostet, und es zeigte ihm<br />

dar<strong>auf</strong> die kalte Schulter.“ (S. 73 f.)<br />

Über die historisch vermutlich e<strong>in</strong>malige<br />

Situation bei <strong>der</strong> Vorbereitung <strong>der</strong><br />

Legende von Paul und Paula berichtet Ulrich<br />

Plenzdorf:<br />

W<strong>in</strong>fried Glatze<strong>der</strong>, Angelica Domröse <strong>in</strong> <strong>Die</strong> Legende von Paul und Paula<br />

Es f<strong>in</strong>g damit an, daß da Anfang <strong>der</strong> siebziger<br />

Jahre so e<strong>in</strong>e Zeit war, die e<strong>in</strong>zige Zeit, wo wir<br />

solch e<strong>in</strong>en Film drehen konnten. <strong>Die</strong> Situation<br />

war ja auch mehr o<strong>der</strong> weniger zufällig<br />

entstanden; <strong>der</strong> Stoff war nicht etwa vorher<br />

fertig. Da gab es dieses berühmte Loch <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Kulturpolitik, als ke<strong>in</strong>er so richtig wußte, was<br />

kommt denn nun, nachdem Ulbricht weg und<br />

Honecker noch nicht so richtig da war. Wir<br />

haben die Gunst <strong>der</strong> Stunde genutzt für diese<br />

Story, die sonst bei <strong>der</strong> DEFA nicht machbar<br />

gewesen wäre. (S. 283)<br />

Für die zahlreichen Resümees, die nach<br />

1989 im Rückblick <strong>auf</strong> das Ganze gezogen<br />

wurden, mögen abschließend zwei<br />

Stimmen stehen, die e<strong>in</strong>es Mannes und<br />

die e<strong>in</strong>er Frau.<br />

Zunächst <strong>der</strong> Regisseur Lothar<br />

Warnecke (1936 - 2005):<br />

Zuerst möchte ich etwas dazu sagen, wie dieser<br />

Begriff „dokumentarer Spielfilm“ [sic]<br />

überhaupt entstand. Ich bilde mir e<strong>in</strong>, daß<br />

diese Filme, die aus <strong>der</strong> DEFA kamen, zwar<br />

alles Filme mit neuem Inhalt waren. Das<br />

heißt, sie waren antifaschistisch, sie versuchten,<br />

sozialistisches Gedankengut zu verwirklichen.<br />

Aber das taten sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Firma, die seit<br />

Jahrzehnten e<strong>in</strong>e ganz bestimmte<br />

Art Filme machte, nämlich Ufa-<br />

Filme. Der Film, <strong>der</strong> damals entstand,<br />

war <strong>der</strong> Ufa-Film mit sozialistischen<br />

Inhalten. (...) Das Problem<br />

waren dann nicht diese theoretischen<br />

Angriffe, die diese Arbeit erfuhr,<br />

son<strong>der</strong>n das Problem war das<br />

Studio. Das Studio war e<strong>in</strong>e Filmfirma,<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> ganz bestimmte Technologien<br />

herrschten, und zwar seit<br />

fünfzig Jahren. Seit das Studio existierte,<br />

waren Technologien entwickelt<br />

worden, und diese Technologien<br />

h<strong>in</strong>gen mit <strong>der</strong> Art und Weise<br />

zusammen, <strong>in</strong> Ateliers zu drehen<br />

und zu schm<strong>in</strong>ken und Licht zu<br />

machen. (S. 268)<br />

Schließlich Erika Richter, die<br />

Dramaturg<strong>in</strong> und Filmwissenschaftler<strong>in</strong>:<br />

Aber ich muß zugeben, daß ich <strong>in</strong><br />

me<strong>in</strong>em Denken etwas reduziert war<br />

und mir im H<strong>in</strong>blick <strong>auf</strong> die DDR<br />

etwas vorgemacht habe. Ich habe die<br />

Grenzen dieser Gesellschaft, ihre<br />

Beschränktheit nicht scharf genug<br />

gesehen. Aber ich denke wie<strong>der</strong>um,<br />

daß man nur so arbeiten konnte,<br />

wenn man nicht <strong>in</strong> große Konflikte<br />

geraten wollte. Deshalb gab es ja


auch nur partielle Proteste von e<strong>in</strong>zelnen, <strong>in</strong><br />

speziellen Fällen, nie geme<strong>in</strong>same. Je<strong>der</strong><br />

wollte weiterarbeiten. Ke<strong>in</strong>er dachte daran,<br />

daß es zu Ende gehen würde. Ich konnte mich<br />

auch nie spalten, <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne: So denke ich<br />

wirklich, und so denke ich, wenn ich arbeite.<br />

Insofern war ich e<strong>in</strong> relativ geschlossener<br />

Mensch, aber eben auch etwas bescheuert, e<strong>in</strong>geschränkt,<br />

bl<strong>in</strong>d. Das mache ich mir rückblickend<br />

zum Vorwurf. (S. 490)<br />

<strong>Die</strong> Antwort dar<strong>auf</strong> hätte man <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> kostbarsten Filme dieser Provenienz<br />

f<strong>in</strong>den können, von e<strong>in</strong>em ihrer<br />

mächtigsten und auch künstlerisch<br />

glücklichsten Männer realisiert. Es ist<br />

<strong>der</strong> rätselhafte Satz: „Der Schlaf <strong>der</strong> Vernunft<br />

gebiert Ungeheuer.“ Goya natürlich,<br />

Titel e<strong>in</strong>es Caprichos.<br />

„He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>e. Wer war er wirklich?“<br />

Der Buchtitel wirkt anmaßend<br />

und irreführend zugleich. Anmaßend,<br />

weil er vorgibt, Antworten <strong>auf</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Frage zu enthalten, die sich <strong>in</strong> fünfzig<br />

Jahren mo<strong>der</strong>ner He<strong>in</strong>e-Forschung als<br />

unbeantwortbar herausgestellt hat.<br />

Irreführend, weil Loss<strong>in</strong>s Thema e<strong>in</strong><br />

ganz an<strong>der</strong>es ist: <strong>Die</strong> Suche nach He<strong>in</strong>es<br />

jüdischer Identität; nach se<strong>in</strong>er<br />

Stellung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte des Judentums.<br />

Wer vom 670-Seiten-Wälzer des<br />

israelischen Journalisten, He<strong>in</strong>e-Amateurs<br />

und -Kenners Yigal Loss<strong>in</strong> die<br />

def<strong>in</strong>itive Lösung des Rätsels He<strong>in</strong>e<br />

erwartet, <strong>der</strong> wird enttäuscht. Wie Loss<strong>in</strong><br />

mit se<strong>in</strong>em Thema umgeht und wie<br />

<strong>auf</strong>schlussreich se<strong>in</strong>e Ergebnisse s<strong>in</strong>d,<br />

darüber kann man geteilter Me<strong>in</strong>ung<br />

se<strong>in</strong>.<br />

Doch das Buch verdient Aufmerksamkeit<br />

aus e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Grund:<br />

Wegen <strong>der</strong> durchschlagenden Wirkung,<br />

die es bei se<strong>in</strong>em Ersche<strong>in</strong>en im<br />

Jahr 2000 <strong>in</strong> Israel hatte. 23 Wochen<br />

lang stand es – so <strong>der</strong> Verlag – dort <strong>auf</strong><br />

<strong>der</strong> Bestsellerliste. Se<strong>in</strong>e erstaunliche<br />

Breitenwirkung hat dazu beigetragen,<br />

dass <strong>der</strong> Boykott <strong>auf</strong>gehoben wurde,<br />

mit dem He<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Israel von Anfang an<br />

belegt war. Zur Unperson erklärt worden<br />

war er durch das Junktim politisch<br />

e<strong>in</strong>flussreicher orthodoxer Funktionäre.<br />

Weil er, e<strong>in</strong> Deutscher jüdischer<br />

He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>e und die Folgen<br />

Eigentlich hätte man so e<strong>in</strong>e Behauptung<br />

verbieten müssen. Auch noch 1971<br />

unter dem Meridian von Berl<strong>in</strong>, Hauptstadt<br />

<strong>der</strong> DDR. Denn so gut wie je<strong>der</strong><br />

DEFA-Film bezeugt, wie wahr dieser<br />

Satz Goyas ist.<br />

Dass dies und vieles Ähnliche aber<br />

nicht geschah, das ist das eigentliche<br />

Wun<strong>der</strong> des abgeschlossenen Son<strong>der</strong>sammelgebiets<br />

DEFA: Deutsche Filmaktiengesellschaft<br />

Berl<strong>in</strong> und Babelsberg<br />

1946 - 1992.<br />

Oskar Holl<br />

Ingrid Poss, Peter Warnecke (Hrsg.), <strong>Die</strong><br />

Spur <strong>der</strong> Filme. Zeitzeugen über die<br />

DEFA, 568 Seiten, 24,90 Euro<br />

Ch. L<strong>in</strong>ks Verlag, Berl<strong>in</strong> 2006<br />

Wirkungen e<strong>in</strong>es Buches<br />

Herkunft, <strong>der</strong> <strong>auf</strong> Deutsch schrieb, sich<br />

se<strong>in</strong>erzeit, <strong>in</strong> den Jahren <strong>der</strong> Metternich’schen<br />

Restauration, aus Gründen<br />

<strong>der</strong> Assimilation hatte protestantisch<br />

t<strong>auf</strong>en lassen. Und mit <strong>der</strong> T<strong>auf</strong>e hatte<br />

er – nach orthodoxer Lehrme<strong>in</strong>ung –<br />

se<strong>in</strong> Judentum verraten. E<strong>in</strong>e Verordnung<br />

von 1942 verbietet es <strong>in</strong> Israel bis<br />

heute, Straßen nach get<strong>auf</strong>ten Juden zu<br />

benennen.<br />

Loss<strong>in</strong>s Buch hat e<strong>in</strong>e öffentliche<br />

Debatte über den S<strong>in</strong>n dieses Boykotts<br />

ausgelöst und den Bann <strong>auf</strong>gehoben,<br />

<strong>der</strong> <strong>auf</strong> He<strong>in</strong>e lag. Im Jahr nach se<strong>in</strong>em<br />

Ersche<strong>in</strong>en, am 13. Dezember 2001,<br />

He<strong>in</strong>es 204. Geburtstag, wurde <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> schönsten Viertel von Jerusalem<br />

e<strong>in</strong>e Straße nach ihm benannt und<br />

unter <strong>in</strong>ternationaler Anteilnahme e<strong>in</strong>geweiht.<br />

Welches unter den Abertausenden<br />

von He<strong>in</strong>e-Büchern kann sich<br />

e<strong>in</strong>er vergleichbar konkreten politischen<br />

Wirkung rühmen?<br />

Seit 2006 liegt das Buch <strong>auf</strong> Deutsch<br />

vor, übersetzt von se<strong>in</strong>em hiesigen Verleger<br />

Abraham Melzer. Es hat sich nun<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Kulturraum und <strong>auf</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Buchmarkt zu behaupten, für die weniger<br />

diese aktuell politischen als vielmehr<br />

literarische und wissenschaftliche<br />

Kriterien gelten. <strong>Die</strong>sen genügt es nicht<br />

durchweg.<br />

Loss<strong>in</strong>s Thema ist ke<strong>in</strong>esfalls neu. Der<br />

Frage nach He<strong>in</strong>es jüdischer Identität<br />

s<strong>in</strong>d schon an<strong>der</strong>e, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sache und den<br />

Möglichkeiten ihrer Darstellung kompetentere<br />

He<strong>in</strong>e-Spezialisten nachgegangen.<br />

Und so bleiben die hier mit viel<br />

Enthusiasmus und nicht ganz so viel<br />

Know-how zusammengetragenen Ergebnisse<br />

zum<strong>in</strong>dest partiell unbefriedigend,<br />

jedenfalls für e<strong>in</strong> He<strong>in</strong>e-kundiges<br />

deutsches Publikum. Wer präzise Analysen,<br />

fundierte Thesen und schlüssige<br />

Antworten erwartet, <strong>der</strong> wird sie nicht<br />

f<strong>in</strong>den. <strong>Die</strong> von bunt ane<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gereihten<br />

Zitaten überbordende Darstellung<br />

schreckt we<strong>der</strong> vor den alten Klischees<br />

<strong>der</strong> He<strong>in</strong>e-Biografik zurück<br />

noch vor so problematischen Vere<strong>in</strong>fachungen<br />

wie <strong>der</strong>, He<strong>in</strong>e sei <strong>der</strong> erste<br />

Prophet des Holocaust gewesen.<br />

Gänzlich ausgeblendet bleibt die<br />

neuere europäische und das heißt <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Regel die deutschsprachige He<strong>in</strong>e-Forschung.<br />

Loss<strong>in</strong> nimmt we<strong>der</strong> die<br />

He<strong>in</strong>e-Biografien zur Kenntnis, die <strong>in</strong><br />

Deutschland und Frankreich <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

He<strong>in</strong>e-Renaissance <strong>der</strong> letzten Jahrzehnte<br />

entstanden s<strong>in</strong>d, noch die Spezialuntersuchungen<br />

zu se<strong>in</strong>em Thema,<br />

He<strong>in</strong>es Judentum. Ja, nicht e<strong>in</strong>mal die<br />

beiden großen historisch-kritischen<br />

He<strong>in</strong>e-Editionen, die Grundlage aller<br />

neueren Interpretation, werden systematisch<br />

genutzt und <strong>in</strong> den Quellen<br />

angeführt. Reich vertreten dagegen ist<br />

die israelische und die transatlantische<br />

Literatur. Wohl, weil sie sich als Zeugnis<br />

für das ganz <strong>auf</strong> israelische Verhältnisse<br />

abzielende Rehabilitations-Unternehmen<br />

He<strong>in</strong>e besser eignet.<br />

Ob Loss<strong>in</strong> damit e<strong>in</strong> breiteres deutsches<br />

Lesepublikum gew<strong>in</strong>nen kann,<br />

bleibt fraglich. Denn die hiesigen Leser<br />

leben <strong>in</strong> Sachen He<strong>in</strong>e bekanntlich nicht<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Diaspora, son<strong>der</strong>n s<strong>in</strong>d seit den<br />

Jahren <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>gutmachung antisemitischer<br />

He<strong>in</strong>e-Verfolgung und Hei<br />

ne-Verachtung heute mit He<strong>in</strong>e-Büchern,<br />

He<strong>in</strong>e-Kongressen, He<strong>in</strong>e-Universitäten,<br />

He<strong>in</strong>e-Schulen und He<strong>in</strong>e-<br />

Straßen wohl eher überfüttert als<br />

unterversorgt. Aber dass es Loss<strong>in</strong>s Buch<br />

gelungen ist, Israel mit se<strong>in</strong>em verlorenen<br />

Sohn He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>e zu versöhnen,<br />

ist Verdienst genug. Wie komplex, kompliziert<br />

und ambivalent dessen Verhältnis<br />

zum Judentum auch immer gewesen<br />

se<strong>in</strong> mag.<br />

Edda Ziegler<br />

Yigal Loss<strong>in</strong>: He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>e. Wer war er<br />

wirklich?, Neu-Isenburg: Melzer Verlag<br />

2006. 671 S., 24, 95 Euro<br />

103


Der Spiegel-Redakteur Gabor Ste<strong>in</strong>gart<br />

ist, um es <strong>in</strong> Anlehnung an e<strong>in</strong>en Schlager<br />

von Marlene <strong>Die</strong>trich zu sagen, von<br />

Kopf bis Fuß <strong>auf</strong> Panikmache und Untergangsbeschwörung<br />

e<strong>in</strong>gestellt. Das<br />

ist das Rezept jener Art von sogenannten<br />

Sachbüchern, die sich – wie die Elaborate<br />

des FAZ-Herausgebers Frank<br />

Schirrmacher – aus <strong>der</strong> Ane<strong>in</strong>an<strong>der</strong>reihung<br />

von Talk-Show-Gerede und<br />

Stammtischweisheiten zusammensetzen,<br />

garniert mit Lebkuchenversen und<br />

B<strong>in</strong>senwahrheiten. Intensives Market<strong>in</strong>g<br />

und Vorabdrucke <strong>in</strong> <strong>der</strong> Boulevardpresse<br />

garantieren den Verk<strong>auf</strong>serfolg.<br />

Im Falle von Ste<strong>in</strong>garts Buch handelt es<br />

sich nur um e<strong>in</strong>e zum Buch <strong>auf</strong>geblähte<br />

Version <strong>der</strong> Spiegel-Serie vom Frühsommer.<br />

Angeblich geht es um die Analyse <strong>der</strong><br />

Globalisierung – ihre Entstehung und<br />

ihre Folgen. Aber das ist nur <strong>der</strong> Aufhänger.<br />

Der analytische und empirisch<br />

belegte Gehalt <strong>der</strong> Serie wie des Buches<br />

ist verschw<strong>in</strong>dend ger<strong>in</strong>g gegenüber dem<br />

apokalyptisch beschwörenden und prognostischen<br />

Getöse. Ste<strong>in</strong>gart sieht unentwegt<br />

Nie<strong>der</strong>gänge, Abstiege, Abschiede<br />

o<strong>der</strong> Zeitwenden und begibt sich<br />

<strong>in</strong> praktisch jedem Kapitel <strong>in</strong> die dünne<br />

Luft re<strong>in</strong>er Spekulationen, die bis <strong>in</strong>s Jahr<br />

2035 o<strong>der</strong> gar 2050 reichen.<br />

Im Gegenzug zu diesen forschen Ausritten<br />

<strong>in</strong>s Bodenlose sieht Ste<strong>in</strong>gart gern<br />

und oft <strong>in</strong> „den Rückspiegel <strong>der</strong><br />

Geschichte“ und verkündet danach se<strong>in</strong>e<br />

104<br />

Globalisierungskritik<br />

Lebkuchenverse<br />

Lehren für die Gegenwart. E<strong>in</strong>e des Öfteren<br />

wie<strong>der</strong>kehrende Lehre läuft so: Es ist,<br />

so Ste<strong>in</strong>gart, e<strong>in</strong> „populärer Irrtum“ zu<br />

glauben, <strong>in</strong>tensive wirtschaftliche Beziehungen<br />

zwischen den Staaten würden<br />

diese friedlicher stimmen.<br />

Der „Historiker“ <strong>in</strong> ihm ahnt, dass wir<br />

immer <strong>auf</strong> e<strong>in</strong>em Vulkan leben und es<br />

nur e<strong>in</strong>e Frage <strong>der</strong> Zeit ist, bis wir wie<strong>der</strong><br />

bei e<strong>in</strong>em „Sarajewo“ ankommen, denn<br />

„das Virus e<strong>in</strong>es Weltkriegs“ ist immer<br />

aktiv. Der geniale E<strong>in</strong>fall bedarf <strong>der</strong><br />

Rückversicherung durch die souveräne<br />

Weisheit des Hahns <strong>auf</strong> dem Mist, <strong>der</strong><br />

immer schon wusste, dass sich das Wetter<br />

än<strong>der</strong>t o<strong>der</strong> bleibt, wie es ist: „<strong>Die</strong> Law<strong>in</strong>e<br />

kann sich morgen lösen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong> paar<br />

Monaten o<strong>der</strong> auch erst <strong>in</strong> Jahren.“<br />

Ste<strong>in</strong>garts Beleg für se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>sichten<br />

aus dem „Rückspiegel <strong>der</strong> Geschichte“ist<br />

dies: Japan griff am 7. Dezember 1941<br />

die US-Flotte <strong>in</strong> Pearl Harbour an. „Statt<br />

<strong>der</strong> bis dah<strong>in</strong> üblichen Öllieferungen<br />

schickten die USA per Luftfracht nun<br />

zwei Atombomben nach Japan.“ O<strong>der</strong><br />

auch: Deutschland, Korea und Jugoslawien<br />

wurden geteilt, „obwohl ihre Territorien<br />

durch Warenaustausch verknüpft<br />

und verknotet waren wie orientalische<br />

Teppiche“.<br />

Der Lebkuchenvers aus solchen „historischen“<br />

E<strong>in</strong>sichten lautet: „Lieferverträge<br />

s<strong>in</strong>d nun e<strong>in</strong>mal nicht viel wert,<br />

wenn die Panzer vorfahren.“ <strong>Die</strong> rund<br />

400 Jahre europäischer Kolonisation endeten<br />

nach dieser resolut schlichten<br />

Geschichtsphilosophie „am Ende doch<br />

nur wie<strong>der</strong>“ <strong>in</strong> „Krieg und Zerstörung“<br />

<strong>der</strong> beiden Weltkriege mit 75 Millionen<br />

Toten und dem vorübergehenden Aufstieg<br />

<strong>der</strong> USA zur „Weltmacht“. Aber<br />

Wash<strong>in</strong>gton empfiehlt er mit e<strong>in</strong>em Mal,<br />

die „Schlussbilanz“ <strong>auf</strong>zumachen zum<br />

„amerikanischen Jahrhun<strong>der</strong>t“.<br />

Denn jetzt kommen die Ch<strong>in</strong>esen und<br />

die an<strong>der</strong>en asiatischen „Angreiferstaaten“.<br />

<strong>Die</strong> USA gehören „im Weltkrieg<br />

um Wohlstand“ jetzt schon zu den Verlierern<br />

wie Europa und Russland – Afrika<br />

und Late<strong>in</strong>amerika existieren <strong>auf</strong> Ste<strong>in</strong>garts<br />

Landkarte nicht. <strong>Die</strong> „L<strong>auf</strong>richtung<br />

<strong>der</strong> Geschichte“ än<strong>der</strong>te sich mit<br />

<strong>der</strong> Industrialisierung Japans, Indiens<br />

und <strong>der</strong> Tigerstaaten sowie mit <strong>der</strong><br />

Mo<strong>der</strong>nisierung Ch<strong>in</strong>as unter Deng Xiaop<strong>in</strong>g<br />

nach 1976. <strong>Die</strong>se Staaten schlugen<br />

„die Abschiedsgesellschaften“ mit „<strong>der</strong>en<br />

eigenen Waffen“ – <strong>der</strong> ökonomischen<br />

Effizienz.<br />

Insbeson<strong>der</strong>e für Ch<strong>in</strong>a und Indien ist<br />

diese Effizienz sektoral nicht zu bestreiten.<br />

Auf die Gesamtwirtschaft bezogen<br />

ist sie bedeutungslos. <strong>Die</strong> nicht-<strong>in</strong>dustrialisierten<br />

Teile Ch<strong>in</strong>as und Indiens –<br />

also 80 Prozent des Landes – gehören zu<br />

den ärmsten Landstrichen <strong>der</strong> Welt. Das<br />

kann selbst Ste<strong>in</strong>gart nicht ganz übersehen.<br />

Der Relativierung solcher maßlosen<br />

Übertreibungen gelten zahlreiche Sätze,<br />

die stereotyp mit „noch“ beg<strong>in</strong>nen und<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel <strong>auf</strong> e<strong>in</strong>en Wi<strong>der</strong>ruf <strong>der</strong> eben<br />

<strong>auf</strong>gestellten großspurigen These h<strong>in</strong>ausl<strong>auf</strong>en.<br />

Im letzten Kapitel des Buches fragt<br />

Ste<strong>in</strong>gart nach „Strategien <strong>der</strong> Gegenwehr“<br />

für die eben für halb tot erklärten<br />

„erschöpften Kont<strong>in</strong>ente“ Europa und<br />

Nordamerika. <strong>Die</strong> Rezepte s<strong>in</strong>d nicht<br />

gerade neu. Er for<strong>der</strong>t e<strong>in</strong> „europäisches<br />

Wirtschaftskab<strong>in</strong>ett“ und längerfristig<br />

e<strong>in</strong>e Fusion von EU und USA, die allerd<strong>in</strong>gs<br />

<strong>auf</strong>rüsten müssten für den weltweiten<br />

„Handelskrieg“. Den versteht er als<br />

Fortschreibung <strong>der</strong> „Waffenbrü<strong>der</strong>schaft<br />

im Kalten Krieg“ als Allianz im „Weltwirtschaftskrieg“.<br />

Aus „wirtschaftspolitischen Pazifisten“,<br />

die den Freihandel predigten, sollen nun<br />

robuste Wohlstandskrieger werden, die<br />

mit „sanfter Abschottung“, Zöllen, E<strong>in</strong>fuhrquoten<br />

und ähnlichen Mitteln zum<br />

f<strong>in</strong>alen Halali blasen gegen die asiatischen<br />

„Angreiferstaaten“. Ganz so kriegerisch,<br />

wie es sich anhört, me<strong>in</strong>t es<br />

Ste<strong>in</strong>gart freilich nicht: „Das Drohen mit<br />

Quoten, Zöllen und E<strong>in</strong>fuhrverboten ist<br />

dabei wichtiger als <strong>der</strong> Vollzug.“ Statt<br />

strategischer Wirtschaftspolitik mit e<strong>in</strong>gebauten<br />

Mechanismen <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung<br />

und Hilfe für unterentwickelte Regionen<br />

möchte Ste<strong>in</strong>gart e<strong>in</strong>fach bei e<strong>in</strong>er an <strong>der</strong><br />

eigenen Wohlstandssicherung orientierten<br />

„Handelspolitik“ bleiben, die er als<br />

„Pokerspiel“ versteht. Sonntagabends <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Talkshow, montags im Spiegel, <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Boulevardpresse sowie am Tresen kommt<br />

<strong>der</strong>lei Euro-Chauv<strong>in</strong>ismus wohl gut an.<br />

Rudolf Walther<br />

Der Text ist die erweiterte Fassung <strong>der</strong><br />

Rezension, die am 11. Oktober <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Frankfurter Rundschau erschienen ist.


Hubertus Mynarek hat e<strong>in</strong> Papst-Buch<br />

vorgelegt und musste wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>mal erfahren,<br />

dass fundierte Kirchenkritik <strong>in</strong><br />

Deutschland mit Problemen verbunden<br />

ist. Das Ersche<strong>in</strong>en des Buches zum avisierten<br />

Zeitpunkt, dem Tod von Johannes<br />

Paul II., fand nicht statt, jedenfalls<br />

nicht beim Auftraggeber, dem Fischer<br />

Taschenbuch Verlag. Es war zwar druckfertig,<br />

wurde aber im letzten Moment<br />

zurückgezogen. Das Buch erschien dann<br />

mit zeitlicher Verzögerung beim Ahriman<br />

Verlag <strong>in</strong> Freiburg, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Reihe<br />

„Unerwünschte Bücher zur Kirchenund<br />

Religionsgeschichte“. Im Vorwort<br />

erklärt Mynarek se<strong>in</strong> Unverständnis über<br />

den Rückzug des Fischer Verlags und<br />

vermutet kirchliche Manipulationen, bei<br />

Fischer äußert man sich nicht – man<br />

habe sich mit dem Autor schon gee<strong>in</strong>igt.<br />

Vom großen Fischer zum kle<strong>in</strong>en Ahriman,<br />

das bedeutet weniger Publikum<br />

und somit weniger Aufmerksamkeit für<br />

e<strong>in</strong> Buch, das gewiss ke<strong>in</strong> Schnellschuss<br />

<strong>in</strong> Sachen Papstliteratur ist. Es gehört<br />

zum raren Genre kirchenkritischer Literatur,<br />

die ihr Dase<strong>in</strong> nicht nur <strong>der</strong> erklärten<br />

Opposition zur katholischen Kirche<br />

verdankt, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>schlägiger Sachkenntnis<br />

und detaillierter Vermittlung<br />

komplexer Zusammenhänge. Prof. Dr.<br />

Hubertus Mynarek (geb. 1929 <strong>in</strong> Oberschlesien)<br />

war selbst e<strong>in</strong> Kirchenmann,<br />

<strong>in</strong> Polen studierter Theologe, geweihter<br />

Priester, Professor <strong>in</strong> Bamberg und Dekan<br />

<strong>der</strong> Theologischen Fakultät <strong>der</strong> Universität<br />

Wien. Er hat allerd<strong>in</strong>gs die Theologie<br />

etwas eigenwillig verstanden, geriet<br />

mit dem Dogmatismus <strong>in</strong> Konflikt, trat<br />

im Jahr 1972 aus <strong>der</strong> katholischen Kirche<br />

aus, wurde sogleich zwangspensioniert<br />

und beendete damit se<strong>in</strong>en „langen<br />

Marsch durch die Institution Kirche“.<br />

1973 veröffentlichte er se<strong>in</strong> kirchenkritisches<br />

Buch <strong>Die</strong> Herren und Knechte <strong>der</strong><br />

Kirche, schon dieses Debüt hat e<strong>in</strong>e<br />

Publikationsgeschichte. Nachdem es<br />

trotz 50000-DM-Vorschuss, medienwirksamer<br />

Bewerbung und externer<br />

Vorprüfung – man hatte es schließlich<br />

mit <strong>der</strong> Kirche zu tun – vom Auftraggeber<br />

Bertelsmann Verlag zurückgezogen<br />

worden war, erschien es bei Kiepenheuer<br />

& Witsch. Der dortige Verleger Re<strong>in</strong>hold<br />

Neven DuMont hat dann auch teilweise<br />

an Julius Campe er<strong>in</strong>nernde Maß-<br />

Bilanz e<strong>in</strong>es Pontifikats<br />

<strong>Die</strong> Fülle <strong>der</strong> Offenbarung<br />

nahmen gegen kirchliche Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungsversuche<br />

ergriffen, <strong>der</strong> Anfang als freier<br />

Autor hat Mynarek dennoch wirtschaftlich<br />

ru<strong>in</strong>iert. Zum e<strong>in</strong>en überzogen ihn<br />

die Vertreter <strong>der</strong> Kirche jahrelang mit<br />

über e<strong>in</strong>em Dutzend hochdotierter Beleidigungsklagen<br />

vor bayerischen Gerichten,<br />

die relativ harmlose D<strong>in</strong>ge wie<br />

die angebliche Fistelstimme e<strong>in</strong>es höheren<br />

Klerikers o<strong>der</strong> die Bezeichnung Zappelphilipp<br />

ahndeten – nicht jedoch die<br />

sehr lesenswerten Tatbestände aus den<br />

Untiefen des klerikalen Systems. Zum<br />

an<strong>der</strong>en verlangte Bertelsmann den Vorschuss<br />

zurück, was wie<strong>der</strong> langwieriges<br />

Prozessieren bedeutete – <strong>der</strong> Konzern<br />

war allerd<strong>in</strong>gs nicht so erfolgreich wie die<br />

beleidigten Kleriker.<br />

Mynarek berichtet über diese und weitere<br />

Erfahrungen (Telefonterror, Zerstechen<br />

von Reifen, Hassbriefe, Pfändungen<br />

durch den eigenen Anwalt, Leben<br />

<strong>auf</strong> Sozialhilfeniveau) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er erweiterten<br />

Neu<strong>auf</strong>lage von Herren und Knechte<br />

<strong>der</strong> Kirche (Historia Verlag 2002). Auch<br />

diese existenzielle Erfahrung ist lesenswert<br />

und erklärt manches am religiösen<br />

Fanatismus <strong>in</strong> Deutschland, vor allem<br />

die ganz und gar unbarmherzigen Strategien<br />

<strong>der</strong> Kirche, die ihre spezielle Heilsgeschichte<br />

doch gerade mit christlicher<br />

Barmherzigkeit fundieren. Der zweite<br />

Aspekt, die Missionierung, sche<strong>in</strong>t effektiver<br />

zu l<strong>auf</strong>en, die Unterdrückung <strong>der</strong><br />

Kritiker jedenfalls, beson<strong>der</strong>s wenn diese<br />

aus den eigenen Reihen kommen und<br />

wissen, wovon sie schreiben.<br />

Der Autor ersche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en autobiografischen<br />

Perspektiven jedoch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

rhetorisch wohlkalkulierten Opferperspektive,<br />

die – bei allem Respekt für das<br />

durchstandene Leid – e<strong>in</strong> wenig märtyrerhaft<br />

kl<strong>in</strong>gt. In <strong>der</strong> mit mehreren Vorund<br />

Begleitwörtern reichlich bestückten<br />

Neuausgabe von Herren und Knechte<br />

schreibt er dazu:<br />

„Wer mir unter H<strong>in</strong>weis <strong>auf</strong> den<br />

Umstand, dass manche Fakten dieses<br />

Buches mit me<strong>in</strong>em Leben eng verbunden<br />

s<strong>in</strong>d, den Vorwurf des Subjektivismus<br />

machen möchte, möge bedenken,<br />

dass e<strong>in</strong> solcher Vorwurf gegen die Struktur<br />

und Abfolge engagierten, hart an <strong>der</strong><br />

Sache bleibenden Denkens und Schreibens<br />

überhaupt gerichtet wäre. Denn es<br />

ist nun e<strong>in</strong>mal so, dass man erst am eige-<br />

nen Leib die Ungerechtigkeit e<strong>in</strong>es autoritären<br />

Systems erfahren haben muss, um<br />

ganz offen und sensibel für die Repressionen<br />

zu se<strong>in</strong>, die es an<strong>der</strong>en zufügt.“<br />

<strong>Die</strong> Erfahrung <strong>der</strong> Unterdrückung „am<br />

eigenen Leib“ ist hier auch die Unterdrückung<br />

e<strong>in</strong>er nicht gerade naiv verfolgten<br />

theologischen Elitekarriere. Und das<br />

weckt den Verdacht, dass im Zeichen von<br />

theologischer Dissidenz und Zwangspensionierung<br />

allzu persönliche Geschichten<br />

ausgetragen werden, e<strong>in</strong> privater<br />

Rachefeldzug, <strong>der</strong> vielleicht den Boulevard<br />

<strong>in</strong>teressieren sollte und weniger<br />

die öffentliche Kritik. Wenn es dafür<br />

Indizien gibt, wären es jene persönlichen<br />

Angriffe, die <strong>der</strong> Spiegel damals <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Rezension <strong>der</strong> Herren und Knechte auch<br />

dankbar kolportiert hat. In se<strong>in</strong>en späteren<br />

Publikationen hat Mynarek jedoch<br />

<strong>der</strong>lei polemische Petitessen weise unterlassen,<br />

blieb „hart an <strong>der</strong> Sache“ <strong>der</strong> Kirchenkritik,<br />

publizierte weiterh<strong>in</strong> bei Verlagen<br />

wie Goldmann, Kiepenheuer &<br />

Witsch, Ullste<strong>in</strong>, Eichborn und Econ<br />

und beschritt auch neue religiöse Wege,<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>schlägigen Kreisen als Öko-Religion<br />

o<strong>der</strong> auch ökologischer Humanismus<br />

bekannt. Mynareks neue Religion<br />

und ihre ideologischen Implikationen<br />

und Koalitionen können hier nicht weiter<br />

verfolgt werden, publizistisch liegt er<br />

damit <strong>in</strong>zwischen im Abseits solcher Verlage<br />

wie <strong>Die</strong> Blaue Eule, Das Weiße Pferd<br />

o<strong>der</strong> dem Historia-Fachverlag für Kirchenkritik.<br />

Hier soll es um die Frage<br />

gehen, ob Mynareks Papstbuch dieses<br />

Abseits auch verdient hat.<br />

Der polnische Papst ist e<strong>in</strong> sprechen<strong>der</strong><br />

Titel. Er enthält Mynareks Kernthese<br />

über Karol Wojtyla als Papst Johannes<br />

Paul II: Bei Wojtyla sei das nationalreligiöse<br />

Attribut immanent, <strong>der</strong> Katholizismus,<br />

<strong>der</strong> se<strong>in</strong>e Karriere motivierte, habe<br />

<strong>in</strong> dieser Form nur <strong>in</strong> Polen überlebt, und<br />

Johannes Paul II. als polnischer Papst sei<br />

se<strong>in</strong> Produkt. <strong>Die</strong>sen Papst trage e<strong>in</strong>e von<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne unberührte Glaubensdoktr<strong>in</strong>.<br />

Sie basiere <strong>auf</strong> Thomas von Aqu<strong>in</strong>,<br />

<strong>auf</strong> dem Dogma von e<strong>in</strong>em allwissenden,<br />

allmächtigen und allgütigen Gott, <strong>auf</strong><br />

dem mariologischen Pr<strong>in</strong>zip von <strong>der</strong><br />

Unschuld <strong>der</strong> Gottesmutter, vor allem<br />

aber <strong>auf</strong> <strong>der</strong> spezifisch katholischen Idee<br />

von <strong>der</strong> universalen Erbsünde, <strong>der</strong> man<br />

nur mithilfe spezifisch katholischer Religionsausübung<br />

beikommen kann. Mynarek<br />

charakterisiert Wojtylas Glaubensdoktr<strong>in</strong><br />

folgen<strong>der</strong>maßen:<br />

Vor uns steht e<strong>in</strong> komplexes, unter musealarchäologischen<br />

Gesichtspunkten sogar hoch<br />

105


<strong>in</strong>teressantes Glaubensgebäude, dessen e<strong>in</strong>zelne<br />

Elemente (Dogmen, Glaubens-Wahrheiten)<br />

<strong>in</strong> gar ke<strong>in</strong>er Weise <strong>der</strong> Wirklichkeit entsprechen,<br />

son<strong>der</strong>n mythisch-legendäre Vorstellungen<br />

aus längst vergangenen Epochen<br />

darstellen, die von den Päpsten bzw. kirchlichen<br />

Konzilien dogmatisiert wurden. Das ‚Verdienst’<br />

o<strong>der</strong> ‚Werk’ des polnischen Papst besteht<br />

lediglich dar<strong>in</strong>, die dogmatische Lehre se<strong>in</strong>er<br />

Vorgänger fortgesetzt und mit e<strong>in</strong>igen Farbtupfern,<br />

z.B. <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mariologie, versehen zu haben.<br />

Das Kapitel über diesen polnischkatholischen<br />

Himmel-und-Hölle-<br />

Glauben ist zentral und die exklusive<br />

Leistung von Mynareks theologisch fundierter<br />

Systemkritik. Beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong>formativ<br />

für Laien s<strong>in</strong>d die Darstellung <strong>der</strong><br />

theologischen Konzepte und die Genese<br />

dieser Ideen. Das Problem mit dem polnischen<br />

Papst sei eben, dass sie für ihn<br />

unumstößliche Glaubenswahrheiten<br />

s<strong>in</strong>d, „ewig“ und universal gültig und<br />

über allen an<strong>der</strong>en Glaubensformen stehend.<br />

<strong>Die</strong>se Geisteshaltung e<strong>in</strong>es Oberklerikers<br />

im 21. Jahrhun<strong>der</strong>t, diese totalitäre,<br />

polnische Theologie sieht<br />

Mynarek <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nachkriegsgeschichte<br />

verankert:<br />

Sowohl <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er dogmatisch-ideologischen<br />

Gestalt wie <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en hierarchisch-autoritären<br />

Strukturen stand <strong>der</strong> Katholizismus nirgendwo<br />

<strong>in</strong> Europa <strong>der</strong>art unangefochten da<br />

wie im kommunistischen Ostblockland Polen<br />

[und] noch heute lebt die polnische katholische<br />

Theologie weitgehend von ihrem langjährigen<br />

monolithischen monopolistischen<br />

Gegensatz zur kommunistischen Ideologie,<br />

obwohl es diese als beachtenswerte Strömung<br />

<strong>in</strong> Polen gar nicht mehr gibt.<br />

Dass es diese Ideologie <strong>in</strong> Osteuropa<br />

heute nicht mehr gibt, betrachtet Mynarek<br />

als e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> wesentlichen Ergebnisse<br />

des Wojtyla-Papstes. Indizien für diese<br />

Mitwirkung kommen durchaus ans<br />

Licht. Dazu gehört <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie die<br />

politische, logistische und f<strong>in</strong>anzielle<br />

Unterstützung des treuesten Papstdieners,<br />

des Erzkatholiken Lech Walesa.<br />

Hier weist Mynarek <strong>der</strong> katholischen<br />

Kirche auch jenen erheblichen Selbstwi<strong>der</strong>spruch<br />

nach, dass unter dem Chef<br />

<strong>der</strong> Glaubenskongregation (früher:<br />

Inquisition) Kard<strong>in</strong>al Ratz<strong>in</strong>ger jegliches<br />

politische Mandat für unkirchlich<br />

befunden wurde – namentlich im Fall<br />

<strong>der</strong> Befreiungstheologie und <strong>der</strong> Kirche<br />

für die Armen <strong>in</strong> Südamerika, während<br />

aber alle antikommunistischen Helfershelfer<br />

von Chile bis nach Polen fleißig<br />

106<br />

protegiert wurden. Der stramme Antikommunismus<br />

<strong>der</strong> Päpste und ihre<br />

Koalitionen mit dem Faschismus s<strong>in</strong>d<br />

spätestens seit Karlhe<strong>in</strong>z Deschners <strong>Die</strong><br />

Politik <strong>der</strong> Päpste im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

bekannt, und auch Mynarek bezieht aus<br />

dieser Quelle erhebliches Vorwissen,<br />

wobei er mit Wojtylas Regierungsamt<br />

das historische Ende dieser antikommunistischen<br />

Papstpolitik erkennt. Heute<br />

beunruhigt die vitale Weltpolitik <strong>der</strong><br />

katholischen Kirche, <strong>der</strong> Wojtyla die<br />

Wege bereitet hat und <strong>der</strong>en Funktionsweisen<br />

Mynarek plausibel erklärt.<br />

Beispiele s<strong>in</strong>d Wojtylas Politik gegen<br />

die Internationale Konferenz für Bevölkerung<br />

und Entwicklung im Jahr 1994<br />

<strong>in</strong> Kairo, wo sich merkwürdige Allianzen<br />

mit islamischen Staaten gegen das<br />

Recht <strong>auf</strong> Abtreibung ergaben, o<strong>der</strong><br />

gegen die Vierte Weltfrauenkonferenz<br />

<strong>der</strong> UN im Jahr 1995 <strong>in</strong> Pek<strong>in</strong>g, wo alle<br />

Hebel gegen die Selbstbestimmunsgrechte<br />

<strong>der</strong> Frauen und die Verhütung<br />

von Schwangerschaft und Aids durch<br />

Präservative <strong>in</strong> Gang gesetzt wurden.<br />

Man beobachtete <strong>auf</strong> dieser riesigen<br />

Konferenz auch e<strong>in</strong>en Konflikt mit<br />

katholischen Frauen, die sich vehement<br />

gegen die dogmatische Politik ihrer Führer<br />

zur Wehr setzten, und im Zitat e<strong>in</strong>es<br />

päpstlichen Delegierten führt uns<br />

Mynarek das tiefere Wesen von vatikanischem<br />

Selbstverständnis und Machtgewissheit<br />

vor: „<strong>Die</strong> Fülle <strong>der</strong> göttlichen<br />

Offenbarung wurde <strong>der</strong> katholischen<br />

Kirche anvertraut, die die Autorität hat,<br />

zu gewährleisten, dass Recht und<br />

gerechte Gesetze formuliert und durchgesetzt<br />

werden.“<br />

Derlei allerhöchste Irrationalität<br />

drängt sich unnachgiebig und unverschämt<br />

<strong>in</strong> die vor<strong>der</strong>sten Reihen <strong>der</strong><br />

Weltgeme<strong>in</strong>schaft – <strong>der</strong> Vatikan ist<br />

tatsächlich als e<strong>in</strong>zige religiöse Körperschaft<br />

mit e<strong>in</strong>em festen Sitz bei <strong>der</strong><br />

UNO vertreten. Man begnügt sich ke<strong>in</strong>eswegs<br />

mit <strong>der</strong> hierarchischen Societas<br />

perfecta im katholischen Kirchenraum,<br />

wo man die weniger perfekte Volkskirche,<br />

Kirche von unten etc. unterdrücken<br />

kann und alles, was dann <strong>in</strong> <strong>der</strong> globalen<br />

Perspektive von „göttlicher Offenbarung“<br />

nichts weniger als <strong>der</strong> gesamten<br />

Weltbevölkerung entspricht. Hubertus<br />

Mynarek schließt se<strong>in</strong>e Bilanz so ab:<br />

Doktr<strong>in</strong>alisierung und Dogmatismus, Legalismus<br />

und Institutionalismus, Patriarchalismus<br />

und Antifem<strong>in</strong>ismus <strong>der</strong> Herren <strong>der</strong> Kirche<br />

sowie Infantilismus <strong>der</strong> Gläubigen im<br />

S<strong>in</strong>ne k<strong>in</strong>dlichen Gehorsams und k<strong>in</strong>dlicher<br />

Unterordnung unter die Mutter Kirche und<br />

den Heiligen Vater als unfehlbare Über<strong>in</strong>stanz,<br />

die auch noch die Bischöfe, die „Nachfolger<br />

<strong>der</strong> Apostel“ zu Marionetten degradierte – das<br />

s<strong>in</strong>d die Stichworte, mit denen sich das Pontifikat<br />

dieses Papstes und se<strong>in</strong>e Ziele am adäquatesten<br />

charakterisieren lassen. Aber dieser<br />

mobilste Papst <strong>in</strong> <strong>der</strong> gesamten Geschichte des<br />

Papsttums hat außerordentlich wenig bewegt.<br />

Es sche<strong>in</strong>t allerd<strong>in</strong>gs so zu se<strong>in</strong>, dass er<br />

gerade <strong>in</strong> dieser Unbewegtheit sehr viel<br />

bewirkt hat. Er hat die Machtverhältnisse<br />

im Vatikan verän<strong>der</strong>t, das zeigt<br />

Mynarek <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er umfassenden Darstellung<br />

des sektiererischen Geheimbundes<br />

Opus Dei; „heilige Unnachgiebigkeit,<br />

heiliger Zwang, heilige Unverschämtheit“<br />

heißt dort die Devise, und hier<br />

bleibt <strong>der</strong> E<strong>in</strong>druck, dass sich im Vatikan<br />

offenbar reaktionärste Kreise so fest<br />

etabliert haben, dass man von dort vorläufig<br />

ke<strong>in</strong>e religiösen Impulse o<strong>der</strong> spirituellen<br />

Erneuerungen befürchten<br />

muss. Von jenen Herrschaften mit dem<br />

starken Interesse an E<strong>in</strong>flusspositionen<br />

<strong>in</strong> allen Bereichen des wirtschaftlichen<br />

und öffentlichen Lebens allerd<strong>in</strong>gs noch<br />

Schlimmeres.<br />

Hubertus Mynarek hat sich mit dem<br />

gegenwärtigen Zensurmodell nicht e<strong>in</strong>gerichtet,<br />

er schreibt weiter kirchenkritische<br />

Bücher. Der polnische Papst gehört<br />

zu jenen, die e<strong>in</strong>e angemessen kritische<br />

Annäherung an das Phänomen katholische<br />

Kirche ermöglichen. Es ist sauber<br />

recherchiert, sachlich im Ton und überzeugend<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesamtkonzeption, die<br />

erklärte „philosophisch-soziologische<br />

Deduktion“ lässt jedoch Fragen offen.<br />

Philosophisch ist wohl Mynareks ökoreligiöser<br />

Humanismus, <strong>der</strong> den Alternativansätzen<br />

im Schlusskapitel zugrundeliegen<br />

mag, die soziologische Methodik<br />

bleibt unbenannt, psychologisch<br />

gestützt ist die Analyse <strong>der</strong> klerikalen<br />

Persönlichkeit <strong>auf</strong> psychoanalytische<br />

o<strong>der</strong> tiefenpsychologische Konzepte.<br />

Wer die mo<strong>der</strong>nen sozial- und/o<strong>der</strong> geisteswissenschaftlichen<br />

Paradigmen und<br />

auch die kirchenkritischen Diskurse e<strong>in</strong><br />

wenig kennt, lernt <strong>in</strong> diesem Feld nichts<br />

Neues, <strong>auf</strong> jeden Fall aber viel über den<br />

von uns gegangenen Karol Wojtyla und<br />

das, was von ihm bleibt.<br />

Mart<strong>in</strong> Zähr<strong>in</strong>ger<br />

Hubertus Mynarek: Der polnische Papst.<br />

Bilanz e<strong>in</strong>es Pontifikats, Ahriman-Verlag,<br />

Freiburg im Breisgau 2005, 191 Seiten,<br />

19,80 Euro


Aber dieser korrekte dunkle Anzug – gab es<br />

e<strong>in</strong>en Anzug von üblerer Vorbedeutung?<br />

(Celia Freml<strong>in</strong>, Wer hat Angst<br />

vorm schwarzen Mann?)<br />

Neulich, es ist e<strong>in</strong> mil<strong>der</strong> Herbstnachmittag,<br />

trotte ich mit me<strong>in</strong>em alten<br />

Hund den üblichen Spazierweg entlang,<br />

da zischt jemand vorbei, und e<strong>in</strong>e Bugwelle<br />

von Aggression brandet an – ungefähr<br />

so, als hätte ich <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Autobahn<br />

nicht schnell genug die Überholspur<br />

freigegeben, sobald e<strong>in</strong> BMW mit <strong>auf</strong>geblendetem<br />

Fernlicht heranrauscht. Bevor<br />

ich noch (mental) den Mittelf<strong>in</strong>ger<br />

ausstrecken kann, geschieht etwas Überraschendes:<br />

Der Zischer, e<strong>in</strong> Radfahrer<br />

um die dreißig <strong>in</strong> Anzughose und <strong>auf</strong><br />

Hochglanz geputzten Schuhen, tritt<br />

vorne beim – k<strong>in</strong><strong>der</strong>leeren – K<strong>in</strong><strong>der</strong>spielplatz<br />

plötzlich <strong>auf</strong> die Bremse,<br />

spr<strong>in</strong>gt ab, parkt das Fahrrad, lehnt se<strong>in</strong>e<br />

teure schwarze Aktenmappe dagegen<br />

und beg<strong>in</strong>nt, hektisch die Arme nach<br />

oben zu reißen, abwechselnd den l<strong>in</strong>ken<br />

und den rechten. Ich schaue fasz<strong>in</strong>iert<br />

zu, bis ich begreife: Momentchen, das<br />

sollen Dehnungsübungen se<strong>in</strong>! So unlocker,<br />

wie <strong>der</strong> Typ die macht, holt er<br />

sich allerd<strong>in</strong>gs höchstens e<strong>in</strong>e ausgekugelte<br />

Schulter. Sollte ich ihm empfehlen,<br />

se<strong>in</strong>en Tra<strong>in</strong>er zu wechseln? Aber<br />

womöglich, überlege ich, lenkt ihn ja<br />

Schmerz e<strong>in</strong> wenig ab von <strong>der</strong> Wut, die<br />

ihn so offensichtlich quält.<br />

Kopfschüttelnd gehe ich weiter, und<br />

mir wird bewusst, dass ich bisher viel zu<br />

selten über das Aggressionspotenzial von<br />

Männern <strong>in</strong> Hosen mit Bügelfalten<br />

nachgedacht habe. Das war vielleicht e<strong>in</strong><br />

Fehler. Denn das s<strong>in</strong>d schließlich genau<br />

die Knilche, die mir den Kredit verweigern,<br />

wenn ich <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Bank ausnahmsweise<br />

mehr will als die üblichen überhöhten<br />

Gebühren abdrücken. <strong>Die</strong> mir<br />

im Fernsehen erzählen, dass es gegen<br />

Gammelfleisch lei<strong>der</strong> gar ke<strong>in</strong>e besseren<br />

Kontrollen gibt, dass die Bevölkerung<br />

durch die Panne im AKW zu ke<strong>in</strong>em<br />

Zeitpunkt gefährdet war und dass Benz<strong>in</strong><br />

vor den Ferien teurer werden muss,<br />

weil die Weltlage zufällig immer dann<br />

ganz mies aussieht – was sich natürlich<br />

Marg<strong>in</strong>alien<br />

Müssen wir vor Männern <strong>in</strong> Anzügen<br />

Angst haben?<br />

<strong>auf</strong> das Ölgeschäft auswirkt, nicht wahr.<br />

Deshalb ziehen auch gleich die Strompreise<br />

an, sagen die Anzughe<strong>in</strong>is mit <strong>der</strong>selben<br />

ernsten Miene, mit <strong>der</strong> sie sonst<br />

verkünden, dass schon wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Krieg<br />

„ausgebrochen“ ist.<br />

Nun werden Sie e<strong>in</strong>wenden: <strong>Die</strong> Verbrechen<br />

<strong>der</strong> Macht haben doch nichts<br />

mit dem Dresscode zu tun! Ach ja?<br />

Natürlich gibt es neben all den Nieten <strong>in</strong><br />

Nadelstreifen und Arschlöchern <strong>in</strong> Armani<br />

fe<strong>in</strong>e ältere Herren, die e<strong>in</strong>en<br />

Anzug tragen, weil sie’s nicht an<strong>der</strong>s kennen,<br />

und die <strong>in</strong> egal welchen Klei<strong>der</strong>n<br />

das WahreGuteSchöne verteidigen würden.<br />

Und selbstverständlich kennen wir<br />

jüngere Wendehälse, denen we<strong>der</strong> <strong>in</strong><br />

Jeans noch im Dreiteiler zu trauen ist,<br />

Joschka Fischer ist da e<strong>in</strong> hübsches Beispiel.<br />

Auch richtig ist, dass e<strong>in</strong>ige <strong>der</strong><br />

gefährlichsten Männer <strong>der</strong> Welt Röcke<br />

tragen: die Taliban, <strong>der</strong> Papst, Mullahs,<br />

Ölscheichs, Condoleezza Rice ... Aber<br />

ich will mir hier ganz normale weiße,<br />

westliche Anzugträger näher anschauen.<br />

Nicht die Ackermännchen und auch<br />

nicht ihre bösen Brü<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Rüstungs-,<br />

Energie- o<strong>der</strong> Pharma<strong>in</strong>dustrie,<br />

son<strong>der</strong>n nur die <strong>auf</strong> den Ebenen darunter.<br />

Aber hör mal, gibt me<strong>in</strong>e Schwiegermutter<br />

zu bedenken, das ist eben so,<br />

wenn man erwachsen wird. Da wächst<br />

man re<strong>in</strong>. Genau!, erwi<strong>der</strong>e ich: <strong>Die</strong>se<br />

Art von „erwachsen se<strong>in</strong>“ <strong>in</strong>teressiert<br />

mich. In eurer Generation s<strong>in</strong>d die belastbaren,<br />

anpassungsfähigen und nicht<br />

ganz dummen Jungs <strong>in</strong> die SS-Uniform<br />

„re<strong>in</strong>gewachsen“. In unserer Zeit machen<br />

sie mit solchen Eigenschaften zum<br />

Beispiel bei e<strong>in</strong>em dieser überregionalen<br />

Unternehmensberater Karriere, <strong>der</strong>en<br />

Uniform das gute Tuch ist. Ich habe die<br />

Kerle <strong>in</strong> Aktion erlebt, wie sie durch das<br />

Verlagshaus schwärmten, für das ich<br />

damals arbeitete. Alle zitterten vor<br />

ihnen, von <strong>der</strong> Sekretär<strong>in</strong> (<strong>in</strong>zwischen<br />

müsste man wahrsche<strong>in</strong>lich Assistent<strong>in</strong><br />

sagen) bis zum Chef vom <strong>Die</strong>nst. Ich war<br />

zu jung, um Schiss zu haben, aber das<br />

Ende vom Lied war, Sie ahnen es: <strong>Die</strong><br />

Abteilung, die mir Aufträge erteilte,<br />

wurde <strong>auf</strong>gelöst. Hat lange gedauert, bis<br />

ich wie<strong>der</strong> etwas Ähnliches gefunden<br />

habe, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Werbung (o<strong>der</strong> glauben Sie,<br />

man kann von Artikeln wie diesem hier<br />

leben?).<br />

Viel später erst erfuhr ich von den sektenartigen<br />

Strukturen, <strong>in</strong> die solche Rationalisierungs-Schwadronen<br />

gepresst<br />

werden, damit sie ihre seelenlosen<br />

Schandtaten überhaupt durchziehen<br />

können – denn wer nicht mithält, fliegt<br />

selbst, schneller als er „dieser Bereich des<br />

Unternehmens arbeitet unproduktiv“<br />

sagen kann. <strong>Die</strong> Anzüge, die sich so<br />

jemand für den Job gek<strong>auf</strong>t hat, kann er<br />

dann bei den nächsten Vorstellungsgesprächen<br />

anziehen und später als GEZ-<br />

Spitzel noch e<strong>in</strong>e Weile <strong>auf</strong>tragen mit<br />

dem Gefühl, „dazu“zugehören. Hm.<br />

Wozu gehört er denn eigentlich? Wenn<br />

man’s genau nimmt: zu jener Schicht<br />

„überflüssiger“ junger Männer, die früher<br />

<strong>in</strong> Kriegen „verheizt“ wurde (nicht<br />

me<strong>in</strong>e These; unser Dick-Denker Sloterdijk<br />

hat sie gerade wie<strong>der</strong> im „Philosophischen<br />

Glashaus“, o<strong>der</strong> wie se<strong>in</strong>e<br />

Fernseh-Talkshow gleich wie<strong>der</strong> heißt,<br />

ausgebreitet). Heute dienen sie „<strong>der</strong><br />

Wirtschaft“: Männer, die (im besten<br />

Fall) nichts tun o<strong>der</strong> produzieren, was<br />

irgendjemand braucht. Vielleicht s<strong>in</strong>d<br />

sie deshalb so wütend.<br />

Man f<strong>in</strong>det sie überall, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verwaltung,<br />

an <strong>der</strong> Börse, bei Fernsehsen<strong>der</strong>n,<br />

<strong>in</strong> Werbeagenturen und natürlich <strong>in</strong> den<br />

Mischkonzernen, denen Waschmittel,<br />

Modelabels und Zeitungen gehören. Sie<br />

halten e<strong>in</strong>e Masch<strong>in</strong>erie von <strong>auf</strong>geblasenen<br />

Nichtigkeiten am L<strong>auf</strong>en und gehen<br />

am Ende des Monats mit e<strong>in</strong>em hübschen<br />

Sümmchen nach Hause. Sie können<br />

ke<strong>in</strong>en Nagel <strong>in</strong> die Wand schlagen,<br />

aber überteuerte Mieten zahlen und mit<br />

albernen Fotohandys herumspielen und<br />

sich spritfressende SUVs k<strong>auf</strong>en und<br />

Flugreisen <strong>in</strong> Gegenden <strong>der</strong> Welt, wo<br />

man sich noch wünschen wird, nie von<br />

ihnen entdeckt worden zu se<strong>in</strong>. O<strong>der</strong> sie<br />

besorgen sich noch so e<strong>in</strong>en Anzug für<br />

die Arbeit o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> hochkarätiges Geschenk<br />

für die Sorte Frau, die sich mit<br />

ihnen abgeben mag. E<strong>in</strong> Stockwerk<br />

höher nimmt ihnen das Besorgen dann<br />

schon e<strong>in</strong>e Sekr-, e<strong>in</strong>e Assistent<strong>in</strong> ab.<br />

Also ist die auch <strong>in</strong> Lohn und Brot.<br />

Wenn’s noch besser läuft, be<strong>auf</strong>tragt <strong>der</strong><br />

Anzugmann e<strong>in</strong>e Ich-AG, die <strong>in</strong>s Büro<br />

kommt und ihm Sandwiches br<strong>in</strong>gt<br />

o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Massage verabreicht, und<br />

e<strong>in</strong>en „Personal Shopper“, also jemand,<br />

107


<strong>der</strong> davon lebt, dass unser Kerlchen<br />

ke<strong>in</strong>e Zeit mehr zum E<strong>in</strong>k<strong>auf</strong>en hat. Das<br />

s<strong>in</strong>d meistens Frauen, also schon wie<strong>der</strong><br />

e<strong>in</strong> paar, die sich an ihm zwei Drittel<br />

e<strong>in</strong>er goldenen Nase verdienen (denn<br />

Frauen kriegen nie so viel Geld wie Männer,<br />

auch wenn sie etwas tun o<strong>der</strong> produzieren,<br />

was alle wollen. Seltsamerweise<br />

bekommen sie sogar für das, was alle im<br />

Moment am dr<strong>in</strong>glichsten for<strong>der</strong>n –<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> kriegen, Kranke pflegen, sich um<br />

Alte kümmern und so Zeug – am wenigsten).<br />

Da liegt doch irgendwie <strong>der</strong> Schluss<br />

nahe: Wir Frauen s<strong>in</strong>d schon mit schuld<br />

daran, wenn unsere Welt von Anzugträgern<br />

versifft wird. Ich male mir gerade<br />

spaßeshalber aus, was alles passieren<br />

108<br />

denkräume<br />

könnte, wenn die Eva Hermans und all<br />

die an<strong>der</strong>en, nicht so prom<strong>in</strong>enten Marketen<strong>der</strong><strong>in</strong>nen<br />

des Kriegs <strong>der</strong> Märkte<br />

von heute <strong>auf</strong> morgen beschließen würden,<br />

diesen Nichtsnutzen ihre Unterstützung<br />

zu entziehen – na gut, Mann<br />

und Job wären dann weg. (Und ich<br />

müsste wie<strong>der</strong> versuchen, von Artikeln<br />

wie diesem zu leben.) Nur: Arbeitslos<br />

und S<strong>in</strong>gle s<strong>in</strong>d auch jetzt schon viele,<br />

die durchaus bereit wären, sich anzustrengen,<br />

fleißig und lieb zu se<strong>in</strong>. Und<br />

das mit dem K<strong>in</strong><strong>der</strong>kriegen ist ebenfalls<br />

bereits ziemlich aus <strong>der</strong> Mode; bei <strong>der</strong><br />

Vorstellung, so e<strong>in</strong>en Anzugträger <strong>in</strong> spe<br />

großzuziehen, empf<strong>in</strong>de ich persönlich<br />

auch ke<strong>in</strong>erlei freudige Erregung. Wenn<br />

wir jetzt noch die Frauenzeitschriften<br />

und Tommy-Hilf<strong>in</strong>ger-Jeans <strong>in</strong> die<br />

3./4. Februar 2007<br />

Kreativität und Philosophie: <strong>Die</strong> Kunst des Denkens<br />

E<strong>in</strong> Projekt <strong>in</strong> Kooperation mit dem bildenden Künstler Henry Kistner<br />

Artificium, Ehrstädt bei Heidelberg<br />

Tonne treten würden – ach, das wäre e<strong>in</strong><br />

Heulen und Zähneklappern. Da müsste<br />

sich <strong>auf</strong> lange Sicht das ganze Land neu<br />

organisieren.<br />

Ke<strong>in</strong>e Bange, so weit wird’s nicht kommen.<br />

Man wird die nächste Generation<br />

Mädchen e<strong>in</strong>fach wie<strong>der</strong> damit kö<strong>der</strong>n,<br />

dass auch sie Bundeskanzler<strong>in</strong> o<strong>der</strong><br />

M<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> für Frauensachen o<strong>der</strong> me<strong>in</strong>etwegen<br />

auch Vorstandsvorsitzende <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Auto<strong>in</strong>dustrie werden kann (wäre<br />

sogar günstiger für die Allgeme<strong>in</strong>heit,<br />

weil die Puffbesuche wegfielen). Wenn<br />

sich die fleißigen Lieschen nur lange<br />

genug doppelt so sehr anstrengen wie die<br />

Anzugmänner – und dabei noch richtig<br />

lieb zu denen s<strong>in</strong>d. Dass die meisten<br />

„Karrierefrauen“ <strong>auf</strong> dem ste<strong>in</strong>igen Weg<br />

2.-4. März 2007<br />

Wirtschaft und Weisheit. wie Unternehmer von Philosophen profitieren können.<br />

Akademie Sandkrughof <strong>in</strong> Zusammenarbeit mit Dr. Christoph Quarch<br />

12./13. April 2007<br />

Tag <strong>der</strong> Entscheidung. Intensivworkshop.<br />

Orientierung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Entscheidungslandschaft<br />

Hotel Wildland, Wietze, <strong>in</strong> Kooperation mit Thomas Stammwitz<br />

10.-12. Juni 2007<br />

S<strong>in</strong>n macht Arbeit. Arbeit macht S<strong>in</strong>n.<br />

Kreativworkshop für e<strong>in</strong> s<strong>in</strong>nvoll gestaltetes Arbeitsleben<br />

Akademie Sandkrughof <strong>in</strong> Zusammenarbeit mit Nils Schmidt<br />

Anmeldung und Informationen: Dr. Ina Schmidt<br />

Tel. 040/728 137 46, 0172-411 37 73<br />

<strong>in</strong>a.schmidt@denkraeume.net; www.denkraeume.net,<br />

denkraeume.blogspot.com


zur Macht o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>em sechsstelligen<br />

Jahresgehalt stolpern und <strong>in</strong> den<br />

Armen e<strong>in</strong>es Versicherungsmaklers im<br />

Peek&Cloppenburg-Anzug landen werden,<br />

müssen wir ihnen ja nicht <strong>auf</strong>s operativ<br />

begradigte Näschen b<strong>in</strong>den, o<strong>der</strong>?<br />

Und wenn sie Glück haben, verprügelt<br />

<strong>der</strong> sie nicht (dieser „Frauen-Notruf“,<br />

<strong>der</strong> jeden Tag im Service-Kästchen <strong>der</strong><br />

Tageszeitung steht, gleich neben <strong>der</strong><br />

Telefonnummer vom Roten Kreuz und<br />

den Anonymen Alkoholikern, sei doch<br />

Ich komme langsam <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Alter, <strong>in</strong><br />

dem es nicht mehr ‚die an<strong>der</strong>en’ s<strong>in</strong>d,<br />

son<strong>der</strong>n me<strong>in</strong>e Bekannten, me<strong>in</strong>e<br />

Freunde und ich, denen D<strong>in</strong>ge passieren,<br />

die D<strong>in</strong>ge passieren lassen, die<br />

früher eben den unbestimmten, entfernt<br />

bekannt an<strong>der</strong>en passiert s<strong>in</strong>d.<br />

Als K<strong>in</strong>d hörte man immer von Bekannten<br />

<strong>der</strong> Eltern, Verwandten von<br />

Freunden, K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>der</strong> Nachbarschaft,<br />

dass sie schreckliche Schicksale e<strong>in</strong>holten,<br />

ihnen Väter und Söhne starben,<br />

Freunde sich <strong>in</strong> viel zu früh ausgehobene<br />

Gräber tranken, junge, vielversprechende<br />

Leben verglühten o<strong>der</strong> achtlos<br />

beiseite gelebt wurden.<br />

Es gab Geschichten von armen Wesen,<br />

die man vielleicht, e<strong>in</strong> zweimal im Leben<br />

gesehen hatte, <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Straße, beim E<strong>in</strong>k<strong>auf</strong>,<br />

die Wochen, Monate, vielleicht<br />

Jahre später, am Mittagstisch wie<strong>der</strong> <strong>auf</strong>erstanden,<br />

als tragische Figuren im Lebenskarussell,<br />

von denen berichtet wurde,<br />

dass ihnen jetzt erneut e<strong>in</strong>e Frau<br />

davongel<strong>auf</strong>en, e<strong>in</strong> Haus abgebrannt<br />

war o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Krankheit ihnen ihre sieben<br />

S<strong>in</strong>ne nahm. An<strong>der</strong>e Menschen wie<strong>der</strong>um,<br />

die die ersten K<strong>in</strong><strong>der</strong>heitser<strong>in</strong>nerungslandschaften<br />

bevölkerten, s<strong>in</strong>d,<br />

so hörte man, <strong>der</strong> Liebe, dem Kummer,<br />

dem Suff verfallen, o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er Komb<strong>in</strong>ation<br />

aus all diesen D<strong>in</strong>gen und noch<br />

mehr, und nichts und niemand wird sie<br />

mehr vom Leben überzeugen können.<br />

Und man wird sich er<strong>in</strong>nern, dass man<br />

sie noch häufig traf, sie aber immer weni-<br />

Zwei Skizzen<br />

eher was für Unterschichtler, glaubt me<strong>in</strong><br />

Lebensgefährte), son<strong>der</strong>n geht <strong>in</strong>s Fitness-Studio<br />

o<strong>der</strong> macht Lockerungsübungen<br />

am – k<strong>in</strong><strong>der</strong>leeren – K<strong>in</strong><strong>der</strong>spielplatz.<br />

Was an sich schon wahns<strong>in</strong>nig<br />

zivilisiert ist von ihm, angesichts <strong>der</strong><br />

Wut, die sich mit <strong>der</strong> Zeit <strong>in</strong> so e<strong>in</strong>em<br />

Mann anstaut, wenn er begreift, dass<br />

(und wie!) er verarscht worden ist. Ne<strong>in</strong>,<br />

wir brauchen ke<strong>in</strong>e Angst zu haben vor<br />

Männern <strong>in</strong> Anzügen. Erst mal.<br />

Eva Herold<br />

<strong>Die</strong> an<strong>der</strong>en, das s<strong>in</strong>d jetzt wir<br />

und<br />

Zufallstreffen<br />

ger wurden, immer seltsamer und man<br />

sich von ihnen, dem Bild, das man von<br />

ihnen hatte, langsam verabschiedete –<br />

dabei sagte man nicht unbed<strong>in</strong>gt Auf<br />

Wie<strong>der</strong>sehen zu diesem, e<strong>in</strong>em Menschen,<br />

son<strong>der</strong>n eher zu se<strong>in</strong>er Statistenrolle,<br />

die er spielte, und die man ihm <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>em Leben zugewiesen hatte.<br />

Dann die Nachbarschaft. Alle vertraut,<br />

e<strong>in</strong>e bewohnte Oberflächlichkeit, h<strong>in</strong>ter<br />

<strong>der</strong>en Fassade man nie blicken konnte,<br />

und von <strong>der</strong> man annahm, dass ihre<br />

Äußerlichkeit, ihre hübsche, von e<strong>in</strong>er<br />

ebenso hübschen Innerlichkeit gestützt<br />

wurde. Aber dann, mit zunehmenden<br />

Jahren, wird aus <strong>der</strong> so<br />

freundlichen Nachbar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e unglücklich<br />

geprügelte Frau, <strong>der</strong> so<br />

tüchtige Ehemann e<strong>in</strong> seelenkranker<br />

Mensch, die junge Dame von<br />

gegenüber, e<strong>in</strong>st so hoffnungsvoll<br />

beim Plausch über den Gartenzaun,<br />

im Munde ihre Mutter geführt,<br />

scheitert kläglich an <strong>der</strong> Illusion<br />

ihrer künstlerischen A<strong>der</strong>. Sie sucht<br />

und sucht, und f<strong>in</strong>det nicht, we<strong>der</strong><br />

sich, noch Erfüllung. Ihre Träume<br />

werden begraben, ihr Leben gleich<br />

mit, und sie endet, gescholten und<br />

unglücklich, bei e<strong>in</strong>er Bürotätigkeit.<br />

Anfänglich noch sich und die<br />

an<strong>der</strong>en mit ihren Wünschen belügend,<br />

scheitert sie – langfristig –<br />

von da ab fast täglich bereits beim<br />

Versuch des morgendlichen Aufstehens.<br />

Am Ende verliert sie Büro und<br />

e<strong>in</strong>en letzten Resthalt. Man wendet sich<br />

ab, sie taucht, als Talent, als lebensunfähiges,<br />

ab <strong>in</strong> die Vergessenheit und wird<br />

nur mehr als Ran<strong>der</strong>sche<strong>in</strong>ung, als frühe<br />

Hoffnung und späterer Absturz geführt.<br />

Dann gab es e<strong>in</strong>en väterlichen Freund,<br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en als K<strong>in</strong>d kurzfristig sicher<br />

durch das Leben geleitete, <strong>der</strong> stark und<br />

übermächtig schien, <strong>der</strong> so laut lachte,<br />

dass man me<strong>in</strong>te, im Zimmer, ja im<br />

ganzen Haus sei nicht Platz genug, um<br />

dieses Lachen zu beherbergen. Später<br />

heißt es auch von diesem Menschen, e<strong>in</strong><br />

armer Hund, e<strong>in</strong> armer! Weitere Erklärungen<br />

werden we<strong>der</strong> gegeben, noch<br />

als nötig empfunden: auch er verschw<strong>in</strong>det<br />

e<strong>in</strong>fach, wird zu traurigen Anekdote.<br />

Und jetzt ist man es selber, die Hoffnung<br />

und das Scheitern, die verpasste<br />

Chance, das e<strong>in</strong>gewechselte Glück. Jetzt<br />

ist <strong>der</strong> eigene Freundeskreis voll von<br />

Müttern ohne Väter, obwohl doch genau<br />

diese Freund<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>stmals schworen:<br />

Ne<strong>in</strong>, mir wird dies nie passieren!, platzt<br />

<strong>der</strong> Kreis aus allen Nähten mit: ich wollt,<br />

ich wünscht, ich war e<strong>in</strong>mal. <strong>Die</strong> Künstler<br />

unter ihnen, die planten, bauten,<br />

schrieben, auch sie, manche nach kurzen<br />

Ausflügen <strong>in</strong> ihre Traumwelten, zurück,<br />

am Boden, meist mit <strong>der</strong> Nase vornean.<br />

O<strong>der</strong> auch lächelnd, ne<strong>in</strong>, ne<strong>in</strong>, das war<br />

damals, ich b<strong>in</strong> jetzt e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er! Gescheiterte<br />

Existenzen, Unpässlichkeiten,<br />

<strong>auf</strong>geräumte Traumgebilde, gibt es<br />

plötzlich auch <strong>in</strong> nächster Nähe, Geldsorgen,<br />

Arbeitslosigkeit, für immer zerbrochene<br />

Herzen und zertrümmerte<br />

Seelen liegen brach und so nah, ganz<br />

ohne den Schutz bekanntschaftlicher<br />

109


Distanz. Und es gibt ke<strong>in</strong>e Ausreden.<br />

Ke<strong>in</strong> vollmundig beschriebenes Morgen<br />

und Dann, Später! Immer mehr läuft<br />

man <strong>in</strong> vorgezeichneten Spuren, immer<br />

mehr wird man zu dem und das, was<br />

e<strong>in</strong>stmals all die an<strong>der</strong>en waren, die<br />

Menschen, die man nie werden wollte,<br />

nie me<strong>in</strong>te se<strong>in</strong> zu können.<br />

Letzten Freitag traf ich durch Zufall –<br />

es war e<strong>in</strong> bisserl e<strong>in</strong> forcierter – me<strong>in</strong><br />

Buch. Es war deswegen e<strong>in</strong> Zufall, weil<br />

ich eigentlich nicht mehr damit gerechnet<br />

hatte und forciert daher, weil ich es<br />

letztlich dar<strong>auf</strong> angelegt hatte. – Denn,<br />

nur weil man e<strong>in</strong> Buch geschrieben hat,<br />

noch dazu e<strong>in</strong> langweiliges, so e<strong>in</strong> Sachbuch,<br />

also ke<strong>in</strong> fe<strong>in</strong>es, eigens erfundenes,<br />

wo man tagelang h<strong>in</strong>- und herüberlegt,<br />

ob jetzt <strong>der</strong> Protagonist e<strong>in</strong> leidenschaftlicher<br />

Hutträger ist, ob se<strong>in</strong>e<br />

Mutter aus Nie<strong>der</strong>sachsen kommen darf<br />

o<strong>der</strong> besser doch aus Oberammergau,<br />

und wo man sich nächtelang im Bett<br />

wälzt, weil e<strong>in</strong>em ke<strong>in</strong>e passende K<strong>in</strong><strong>der</strong>krankheit<br />

für die Geliebte des Antihelden<br />

e<strong>in</strong>fallen mag, also so e<strong>in</strong>e, die<br />

110<br />

irgendwie Mitschuld am Zerbrechen <strong>der</strong><br />

leidenschaftlichen Beziehung haben<br />

könnte – so e<strong>in</strong> Buch war es nicht, nur so<br />

e<strong>in</strong>e irgendwie doch sehr bodenständige<br />

Biographie, über e<strong>in</strong>en verstorbenen<br />

israelischen Menschen, den ich persönlich<br />

nicht kannte, und mit zunehmen<strong>der</strong><br />

E<strong>in</strong>arbeitung <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Leben auch nicht<br />

hätte kennen lernen wollen. Also, nur<br />

weil man so e<strong>in</strong> Buch geschrieben hat,<br />

heißt das noch lange nicht, dass man se<strong>in</strong><br />

Buch auch bekommt.<br />

Gewusst, dass me<strong>in</strong> Buch jetzt <strong>auf</strong> <strong>der</strong><br />

Welt ist, das habe ich schon, aber auch<br />

das nur, weil ICH bei me<strong>in</strong>em englischen<br />

Verlag angerufen habe und gefragt<br />

hab: Wie schaut es aus? Gibt’s jetzt so<br />

e<strong>in</strong>e Buchpräsentation o<strong>der</strong> nicht? Da<br />

me<strong>in</strong>te die Nathalie, die kümmert sich,<br />

bzw. kümmert sich eben nicht um die<br />

PR, dass sie Really sorry! sei, aber das<br />

könne sie noch nicht absehen. Aber<br />

me<strong>in</strong> Buch sähe ganz schön aus! Wie?,<br />

schrie ich, ja, gibt’s des jetzt schon? Yes,<br />

me<strong>in</strong>te sie. Und so schön wär es geschrieben.<br />

How does it look, and how does it<br />

smell?, schrie ich weiter <strong>in</strong> die Telefonleitung<br />

nach London, Chelsea, Draycott<br />

Avenue, 4. Stock. Absolutely fabulous!,<br />

plärrte Nathalie zurück. Ich fragte dann<br />

noch, ob ich me<strong>in</strong>e englische Verleger<strong>in</strong><br />

kurz sprechen könnte, wegen me<strong>in</strong>er<br />

Belegexemplare. Aber die war nicht im<br />

Haus. <strong>Die</strong> ist und war, wenn ich mich<br />

recht ents<strong>in</strong>ne, eigentlich nie mehr im<br />

Haus, seit ich vergangenes Jahr me<strong>in</strong><br />

Manuskript term<strong>in</strong>gerecht abgegeben<br />

habe. Egal.<br />

Ich hab dann me<strong>in</strong> Buch wie<strong>der</strong> vergessen.<br />

Bis ich e<strong>in</strong>e Mail von e<strong>in</strong>em Freund<br />

aus Wien erhielt. Er hätte me<strong>in</strong> Buch vor<br />

zwei Wochen bestellt und heute bekommen.<br />

Potztausend!, dachte ich, im Internet<br />

gibt es jetzt me<strong>in</strong> Buch auch schon!<br />

Dann e<strong>in</strong>es Abends e<strong>in</strong> Anruf. E<strong>in</strong>e<br />

Freund<strong>in</strong> aus Brüssel. Me<strong>in</strong> Buch würde<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> örtlichen englischen Buchhandlung<br />

stehen, sehr hübsch würde es das<br />

tun! Schau an, schau an, dachte ich! In<br />

Brüssel gibt es me<strong>in</strong> Buch jetzt auch<br />

schon!<br />

Da langte es mir, und ich rief wie<strong>der</strong> <strong>in</strong><br />

London an. Ob me<strong>in</strong>e Verleger<strong>in</strong> zu<br />

sprechen ist? No, I am sorry, me<strong>in</strong>te Nathalie.<br />

Du, Nathalie, weißt was, dann<br />

sagst ihr e<strong>in</strong>fach, dass ich jetzt komm,<br />

gell? But she won’t be here, L<strong>in</strong>da, wiegelte<br />

Nathalie ab. Das ist mir egal!


ehauptete ich, legte <strong>auf</strong> und buchte e<strong>in</strong>en<br />

Flug. – Falls übrigens e<strong>in</strong>er hier von<br />

Ihnen me<strong>in</strong>t, mit e<strong>in</strong>em Sachbuch e<strong>in</strong><br />

Geld verdienen zu können, vergessen Sie<br />

es! – Am angedrohten Freitag stand ich<br />

vor <strong>der</strong> Türe <strong>in</strong> Chelsea, kl<strong>in</strong>gelte und –<br />

me<strong>in</strong>e Verleger<strong>in</strong> öffnete mir die Türe. In<br />

ihrer Hand vier me<strong>in</strong>er Bücher. Ich<br />

nahm me<strong>in</strong>e Belegexemplare, fragte<br />

noch: Der letzte Scheck ist sicherlich<br />

schon zu mir unterwegs, gell? (Das war<br />

auch e<strong>in</strong> bisserl e<strong>in</strong> zäher Punkt gewesen.)<br />

Da lächelte me<strong>in</strong>e Verleger<strong>in</strong> ihr<br />

größtes Lächeln und me<strong>in</strong>te nur: Genau,<br />

schon unterwegs!<br />

Dann verabschiedeten wir uns, also<br />

me<strong>in</strong>e Bücher und ich, stiegen <strong>in</strong> die<br />

Circle L<strong>in</strong>e und ließen uns nach Westm<strong>in</strong>ster<br />

schaukeln. Dort stiegen wir<br />

dann aus, liefen Richtung Green Park,<br />

befreiten e<strong>in</strong>e Bank von Vogeldreck und<br />

setzten uns dar<strong>auf</strong>. Den ganzen Nachmittag<br />

saßen wir <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Bank, schauten<br />

den Touristen beim Schwäne- und Entenfüttern<br />

zu, verscheuchten wir kle<strong>in</strong>e<br />

„E<strong>in</strong> normales Gespräch ist nicht<br />

möglich. Selbst wenn die Schlagbohrer<br />

abgestellt s<strong>in</strong>d, muss ich die K<strong>in</strong><strong>der</strong> und<br />

Jugendlichen anschreien. Sie haben<br />

allesamt Hörprobleme, viele <strong>der</strong> Älteren<br />

s<strong>in</strong>d fast taub. Aber was heißt hier<br />

Ältere? Nach und nach erhalte ich H<strong>in</strong>tergrund<strong>in</strong>formationen,<br />

die mich schockieren.<br />

<strong>Die</strong> Lebenserwartung <strong>der</strong><br />

Interviewten liegt bei 35 bis 38 Jahren,<br />

und bei genauerem H<strong>in</strong>sehen stelle ich<br />

fest, dass viele <strong>der</strong> Menschen, die <strong>in</strong>zwischen<br />

um mich herumstehen, nicht<br />

mehr alle zehn F<strong>in</strong>ger an ihren Händen<br />

haben. Abgerissene F<strong>in</strong>ger s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e<br />

Seltenheit. Das Schwarzpulver für die<br />

Sprengladungen wird mit Metallstäben<br />

verdichtet. Da sprengt es e<strong>in</strong>em schon<br />

mal die Hand weg, wenn <strong>der</strong> Stab, am<br />

Ste<strong>in</strong> reibend, Funken geschlagen hat.“<br />

So schrieb ich vor Jahren <strong>in</strong> me<strong>in</strong><br />

Tagebuch, als ich das erste Mal <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Ste<strong>in</strong>bruch <strong>in</strong> Süd<strong>in</strong>dien war, <strong>der</strong> für<br />

den Export nach Deutschland produziert.<br />

Ste<strong>in</strong>metze aus Freiburg, mittelständische<br />

Betriebe, die vor <strong>der</strong> Globalisierung<br />

nicht kapitulieren wollten,<br />

hatten bei mir, dem K<strong>in</strong><strong>der</strong>arbeitex-<br />

Importe<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>, die sich mit schmutzigen F<strong>in</strong>gern<br />

uns näherten und verweigerten<br />

e<strong>in</strong>em alten ch<strong>in</strong>esischen Ehepaar, sich<br />

neben uns zu setzten: Sorry, all seats<br />

taken. Danach waren wir noch essen, so<br />

zu fünft, und als ich abends <strong>in</strong>s Bett g<strong>in</strong>g,<br />

g<strong>in</strong>g ich nicht alle<strong>in</strong>.<br />

Kurz vor dem E<strong>in</strong>schlafen traute ich<br />

mich erstmals <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Buch zu lesen.<br />

Und nach nur fünf M<strong>in</strong>uten entdeckte<br />

ich bereits zwei Fehler und e<strong>in</strong>e Formulierung,<br />

von denen ich me<strong>in</strong>te, erstere<br />

nicht gemacht, und letztere nicht so<br />

geme<strong>in</strong>t zu haben. Auf me<strong>in</strong>em Rückflug<br />

nach München fiel mir dann e<strong>in</strong>,<br />

dass ich wohl künftig e<strong>in</strong>e gewisse Aversion<br />

gegen erzwungene Zufälle haben<br />

werde. Aber wurscht, Hauptsache, me<strong>in</strong><br />

Buch gibt es jetzt auch <strong>in</strong> München.<br />

Mit freundlicher Genehmigung des Verlags<br />

aus: L<strong>in</strong>da Benedikt, Gedanken über die Liebe<br />

und an<strong>der</strong>e Absurditäten, Franz Schiermeier<br />

Verlag, München, Dezember 2006<br />

Grabste<strong>in</strong>e aus K<strong>in</strong><strong>der</strong>hand<br />

perten des bischöflichen Hilfswerks<br />

Misereor, nachgefragt, ob es vielleicht<br />

dort irgendwelche „Schwe<strong>in</strong>ereien“ bei<br />

<strong>der</strong> Produktion gebe. Großimporteure<br />

überschwemmen seit Ende <strong>der</strong> 90er<br />

Jahre Deutschland mit Billigware aus<br />

Indien. Inzwischen kommen e<strong>in</strong> bis<br />

zwei Drittel aller Grabste<strong>in</strong>e von dort.<br />

Den deutschen Ste<strong>in</strong>metzen bleibt oft<br />

nur die Wahl, entwe<strong>der</strong> bankrottzumachen<br />

o<strong>der</strong> ebenfalls die <strong>in</strong>dische Ware<br />

anzubieten. Schnell hatte ich mich <strong>in</strong>formiert<br />

und herausgefunden, dass mit<br />

45 Kilo schweren Schlagbohrern 20 bis<br />

40 Tonnen schwere Rohblöcke <strong>in</strong> den<br />

Ste<strong>in</strong>brüchen abgesprengt werden, dass<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> dort nichts zu suchen haben<br />

und dass diese Art von Arbeit gänzlich<br />

unmöglich für K<strong>in</strong><strong>der</strong> sei. Dennoch,<br />

ich wollte mir selber e<strong>in</strong> Bild machen:<br />

In allen Ste<strong>in</strong>brüchen, die ich unangekündigt<br />

besuchte, traf ich K<strong>in</strong><strong>der</strong> an.<br />

Oft waren mehr als die Hälfte <strong>der</strong><br />

Arbeitenden weniger als 16 Jahre alt.<br />

<strong>Die</strong> Idee, e<strong>in</strong> Prüfsiegel e<strong>in</strong>zuführen,<br />

das es dem europäischen Endkunden<br />

ermöglicht, zwischen e<strong>in</strong>em Grabste<strong>in</strong><br />

mit und e<strong>in</strong>em ohne K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Skla-<br />

venarbeit zu unterscheiden, ist <strong>in</strong>zwischen<br />

<strong>in</strong> die Realität umgesetzt. XertifiX<br />

hat unabhängige Kontrolleure vor<br />

Ort im E<strong>in</strong>satz, die unangekündigt diejenigen<br />

Ste<strong>in</strong>brüche besuchen, die sich<br />

verpflichtet haben, ohne K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und<br />

Sklavenarbeit zu produzieren und M<strong>in</strong>deststandards<br />

des Arbeitsschutzes und<br />

Arbeitsrechts e<strong>in</strong>zuhalten.<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>, die täglich ungeschützt dem<br />

Ste<strong>in</strong>staub ausgesetzt s<strong>in</strong>d, erkranken<br />

später häufig an Ste<strong>in</strong>staublunge und<br />

sterben daran. Auch Arbeitsunfälle s<strong>in</strong>d<br />

ke<strong>in</strong>e Seltenheit. Bei den Sprengungen<br />

werden kle<strong>in</strong>ere, abgesprengte Trümmerste<strong>in</strong>e<br />

oft so weit herumgeschleu<strong>der</strong>t,<br />

dass sie die Arbeiter im Nachbarste<strong>in</strong>bruch<br />

treffen, die sich nicht <strong>in</strong><br />

Sicherheit br<strong>in</strong>gen konnten.<br />

XertifiX geht es nicht nur darum, dem<br />

Konsumenten <strong>in</strong> Europa e<strong>in</strong> gutes Gewissen<br />

beim E<strong>in</strong>k<strong>auf</strong> e<strong>in</strong>es Grabste<strong>in</strong>s<br />

o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er Küchenplatte aus Granit zu<br />

verschaffen. XertifiX möchte vor allem<br />

auch an<strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>in</strong> Indien die<br />

Möglichkeiten geben, ihre fundamentalen<br />

Grundrechte wahrzunehmen.<br />

Das Recht <strong>auf</strong> Unversehrtheit zum Beispiel<br />

und das Recht <strong>auf</strong> Bildung. Oft<br />

gibt es aber gar ke<strong>in</strong>e Schulen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Nähe <strong>der</strong> Exportste<strong>in</strong>brüche, und so arbeitet<br />

XertifiX heute eng mit dem<br />

Hilfswerk Misereor zusammen, das se<strong>in</strong>e<br />

Anstrengungen <strong>in</strong> Bezug <strong>auf</strong> Bildungsprogramme<br />

für die K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> den<br />

Ste<strong>in</strong>brüchen <strong>in</strong> den vergangenen Jahren<br />

stark ausgebaut hat.<br />

Das Innovative daran: XertifiX ist ausschließlich<br />

mit ehrenamtlichem Engagement<br />

<strong>in</strong> die Tat umgesetzt worden. Es<br />

geht nicht darum, noch mehr Bürokratie<br />

und e<strong>in</strong>en großen Apparat <strong>auf</strong>zubauen,<br />

son<strong>der</strong>n mit Begeisterung und<br />

Tatkraft denjenigen K<strong>in</strong><strong>der</strong>n, die aus<br />

dieser Form <strong>der</strong> Sklaverei befreit werden<br />

konnten, Schulbildung und die<br />

Möglichkeit e<strong>in</strong>er Berufsausbildung zu<br />

geben. Für die Endverbraucher wird<br />

<strong>der</strong> XertifiX-Ste<strong>in</strong> ohne verbotene K<strong>in</strong><strong>der</strong>-<br />

und Sklavenarbeit gerade mal zwei<br />

Prozent teurer. Nur bei Ste<strong>in</strong>en mit<br />

dem XertifiX-Siegel können sie sicher<br />

se<strong>in</strong>, dass er unter legalen Bed<strong>in</strong>gungen<br />

hergestellt wurde. E<strong>in</strong>ige kürzlich <strong>auf</strong>getauchte<br />

Selbstbesche<strong>in</strong>igungen <strong>der</strong><br />

Exporteure s<strong>in</strong>d das Papier nicht wert,<br />

<strong>auf</strong> das sie geschrieben wurden. Wer<br />

besche<strong>in</strong>igt sich schon gern selbst, dass<br />

er bestehende Gesetze verletzt?<br />

Benjam<strong>in</strong> Pütter<br />

111


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HEFTKRITIK<br />

GAZETTE global<br />

E<strong>in</strong> leichtes Heft. Gerade bei schweren Themen.<br />

Hier ist alles aus e<strong>in</strong>em Guss. Und das ohne Bleiwüsten<br />

o<strong>der</strong> überlange Artikel.<br />

Wer vierteljährlich ersche<strong>in</strong>t, muss Themen und<br />

Artikel sehr sorgfältig planen. Das ist <strong>in</strong>sgesamt<br />

sehr gelungen. Und das gleich mehrfach; thematisch<br />

bietet die Herbstausgabe <strong>der</strong> GAZETTE e<strong>in</strong>e<br />

Reihe von Volltreffern.<br />

Lange bevor das Wort Prekariat seit diesem Herbst<br />

auch Nicht-Soziologen leicht über die Lippen g<strong>in</strong>g,<br />

wurde das Heft vorbereitet. Das Interview mit dem<br />

Wirtschaftsweisen Professor Dr. Peter Bof<strong>in</strong>ger<br />

antizipierte die Diskussion über die Studie <strong>der</strong><br />

Friedrich-Ebert-Stiftung ebenso wie die folgende<br />

Dokumentation über das Bamberger Forschungsprojekt<br />

GLOBALIFE. Das passt zusammen, und<br />

auch für fachfremde Leser s<strong>in</strong>d die spannenden<br />

Stellungnahmen und Thesen gut verständlich.<br />

Von <strong>der</strong> Theorie geht’s <strong>in</strong> die Praxis. Und um die<br />

Welt. Den zeitlich und regional so nahen Libanon-<br />

Konflikt <strong>in</strong> dieser Form zu thematisieren zeigt die<br />

engagierte Perspektive <strong>der</strong> Blattmacher. Mona Sarkis’<br />

Reportage bietet e<strong>in</strong>e ungewöhnliche Sicht <strong>auf</strong><br />

den Konflikt; sie ist aus E-Mails montiert. Gut,<br />

wenn e<strong>in</strong> Verleger sich hier formal was traut – und<br />

e<strong>in</strong>en Standpunkt bezieht. <strong>Die</strong> Mails rufen den<br />

Leser quasi aus dem Konflikt an. Subjektiv und ohne<br />

beschönigende Floskeln. Alles, was e<strong>in</strong>e Reportage<br />

braucht. <strong>Die</strong> dazugehörige Fotostrecke zeigt<br />

grauenvolle Bil<strong>der</strong>. Sie zu zeigen war absolut richtig.<br />

Aber gut, dass die <strong>in</strong>terne Diskussion darüber schon<br />

im Editorial verhandelt wird.<br />

Dass diese GAZETTE erneut so global ist, zeigen<br />

auch die beiden Artikel über Afrika. Sie könnten unterschiedlicher<br />

nicht se<strong>in</strong>. Auch das e<strong>in</strong> Zeichen für<br />

die Vielfalt des Heftes. E<strong>in</strong> Konzept, dass <strong>auf</strong>geht.<br />

E<strong>in</strong>e Beson<strong>der</strong>heit, die es so wohl nur <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

GAZETTE gibt, s<strong>in</strong>d die Fundsachen. Auch sie e<strong>in</strong>e<br />

Reise um die Welt <strong>in</strong> je 80 Zeilen. Wo sonst erfährt<br />

<strong>der</strong> geneigte Leser von evangelikal-fundamentalistisch<br />

angehauchten Ballerspielen? <strong>Die</strong> Nüchternheit<br />

<strong>der</strong> <strong>auf</strong>gespießten nordkoreanischen Protestnote<br />

beschreibt besser als manch e<strong>in</strong> Kommentar,<br />

wie banal und bürokratisch Kim Jong Ils Diktatur<br />

funktioniert. Da braucht es eben ke<strong>in</strong>en Autor.<br />

Und etwa mit Annette Schwarz hat man e<strong>in</strong>e Autor<strong>in</strong>,<br />

<strong>der</strong>en fiktionale Geschichte „H<strong>in</strong>terhof“ e<strong>in</strong>e<br />

ganz an<strong>der</strong>e Tristesse schil<strong>der</strong>t. <strong>Die</strong> Mischung<br />

macht’s bei <strong>der</strong> GAZETTE: Geschichte und Geschichten.<br />

Reportage und Reim.<br />

Zwei weitere publizistische Leckerbissen zeigen,<br />

wie fe<strong>in</strong> verwoben man die Themen dieser Ausgabe<br />

lesen kann. Klaus Podaks „Spott als Freiheit des<br />

Geistes“ nähert sich <strong>auf</strong> e<strong>in</strong>e angenehm <strong>in</strong>tellektuelle<br />

Weise dem – je nach Lesart – Dialog / Clash <strong>der</strong><br />

Kulturen. <strong>Die</strong>smal erzählt aus e<strong>in</strong>er historischen<br />

Sichtweise. Philosophiegeschichte mit Anb<strong>in</strong>dung<br />

an die Postmo<strong>der</strong>ne.<br />

Me<strong>in</strong> persönlicher Liebl<strong>in</strong>g aber ist Zé do Rocks<br />

„Schrö<strong>der</strong> liegt <strong>in</strong> Brasilien“.<br />

Der Autor schafft es, zum Nachdenken über das<br />

Bild vom An<strong>der</strong>en anzuregen. Na klar: Auch mit<br />

Spott. Hier hält <strong>der</strong> 57-Jährige uns den Spiegel vor.<br />

Beweisen zu wollen, dass die Deutschen es s<strong>in</strong>d, die<br />

trotz massivster Verelendung fröhlich feiernd ihr<br />

Leben <strong>auf</strong> dem Sonnendeck <strong>der</strong> Favela leben, das ist<br />

ganz großes Tennis! Wen wun<strong>der</strong>t’s, dass deutsche<br />

Fernsehsen<strong>der</strong> den Dokumentarfilm nicht produzieren<br />

wollten. Als das Heft mit dem Artikel über<br />

das Projekt an den Kiosken liegt, wird gerade Sacha<br />

Baron Cohens Satire „Borat“ von den Feuilletons <strong>in</strong><br />

höchsten Tönen gelobt. E<strong>in</strong> Multitalent, das ähnliche<br />

Überspitzungen benutzt, als Autor zu gew<strong>in</strong>nen,<br />

beweist Weitsicht und Witz.<br />

Auch hier war die GAZETTE brandaktuell. Noch<br />

dazu mit e<strong>in</strong>em Text, <strong>der</strong> voller Sprachspiele ist, verfasst<br />

<strong>in</strong> do Rocks „ultradoitsh“.<br />

Do Rock hatte Recht: „mucho haha, mucho<br />

yuhu“ – und bei fast jedem Artikel des Heftes<br />

„mucho aha!“<br />

Thomas Kletschke<br />

Thomas Kletschke studierte Geschichts- und Sozialwissenschaften.<br />

Er recherchierte und schrieb für die<br />

Rhe<strong>in</strong>ische Post, die Frankfurter Allgeme<strong>in</strong>e Zeitung<br />

sowie www.op<strong>in</strong>io.de. Seit 2005 volontiert er bei <strong>der</strong><br />

Programmzeitschrift Gong.<br />

113


114<br />

AUTOREN UND FOTOGRAFEN<br />

Tarik Ahmia: geb. 1966 <strong>in</strong> Algier. Studium <strong>der</strong><br />

Volkswirtschaft, arbeitet als Redakteur im Ressort<br />

Wirtschaft und Umwelt <strong>der</strong> tageszeitung sowie als<br />

Hörfunkautor <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>.<br />

Dr. Michael von Brück ist Professor am Institut für<br />

Missions- und Religionswissenschaft <strong>der</strong> Ludwig-<br />

Maximilians-Universität München und Initiator des<br />

<strong>in</strong>terfakultären Studiengangs Religionswissenschaft.<br />

Alexan<strong>der</strong> Cammann, geb. 1973, von 2000 bis 2005<br />

verantwortlicher Redakteur <strong>der</strong> gesellschaftspolitischen<br />

Zeitschrift vorgänge, lebt als freier Kritiker und Publizist <strong>in</strong><br />

Berl<strong>in</strong>.<br />

Matthias Falke: freier Schriftsteller. Zahlreiche<br />

Zeitschriftenbeiträge. Buchveröffentlichung: <strong>Die</strong><br />

Symphonie zwischen Schumann und Brahms (2006).<br />

http://www.matthiasfalke.de.<br />

Kar<strong>in</strong> Fuchs-Gamböck: Market<strong>in</strong>g- und CSR-Berater<strong>in</strong> für<br />

Unternehmen und Non-Profit-Organisationen. Autor<strong>in</strong><br />

von Corporate Responsibility für den Mittelstand<br />

(economica Verlag 2006). http://www.csr-network.de.<br />

François Gorand ist e<strong>in</strong> Pseudonym.<br />

Harald Hauswald: lebt seit 1978 als Fotograf <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>.<br />

Bundesverdienstkreuz 1997, E<strong>in</strong>heitspreis <strong>der</strong><br />

Bundeszentrale für Politische Bildung 2006.<br />

Dr. Oskar Holl ist freier Rundfunk- und Fernsehjournalist<br />

für mehrere Sen<strong>der</strong> (<strong>in</strong> Deutschland und Österreich). Lebt<br />

als Filmemacher und Medienberater <strong>in</strong> München.<br />

Sudhir Kakar: geb. 1938, praktizieren<strong>der</strong> Psychoanalytiker<br />

<strong>in</strong> Neu-Delhi. Lehr<strong>auf</strong>träge <strong>in</strong> Harvard, Pr<strong>in</strong>ceton,<br />

Chicago, Wien und Melbourne. Goethe-Medaille (1998).<br />

Dr. <strong>Die</strong>trich Krusche war bis 1997Professor für <strong>in</strong>terkulturelle<br />

Hermeneutikan <strong>der</strong> Universität München; freier<br />

Autor, u.a. Englisch fürTiger (2005).<br />

Dr. Herfried Münkler ist Professor für Politikwissenschaft<br />

an <strong>der</strong> Berl<strong>in</strong>er Humboldt-Universität. Schwerpunkt:<br />

Ideengeschichte. Herausgeber von Geme<strong>in</strong>s<strong>in</strong>n und<br />

Geme<strong>in</strong>wohl.<br />

Dr. Stefanie Oswalt: Historiker<strong>in</strong>, freie Autor<strong>in</strong> und<br />

Ausstellungsmacher<strong>in</strong> <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>. Zuletzt Ausstellung über<br />

die Weltbühne, Buchpublikation Juden <strong>in</strong> Rhe<strong>in</strong>sberg<br />

(2005) und Mitarbeit am Projekt „Schrumpfende Städte“.<br />

Christoph Petras: geb. 1966, Studium <strong>der</strong> Fotografie <strong>in</strong><br />

Leipzig und Glasgow, seit 1999 selbstständiger Fotograf <strong>in</strong><br />

Berl<strong>in</strong>.<br />

Benjam<strong>in</strong> Pütter ist K<strong>in</strong><strong>der</strong>arbeitexperte bei Misereor<br />

und ehrenamtlicher Geschäftsführer von XertifiX.<br />

Siehe http://www.XertifiX.de.<br />

Lutz Rathenow: geb. 1952, seit 1977 (nach zeitweiser Haft<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> DDR als Dissident) als freier Schriftsteller <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>.<br />

Autor u.a. von Ost-Berl<strong>in</strong> (mit Harald Hauswald, 2005).<br />

Dr. Siegl<strong>in</strong>de Tömmel ist Soziolog<strong>in</strong> und<br />

Psychoanalytiker<strong>in</strong> <strong>in</strong> München. Autor<strong>in</strong> u.a. von<br />

Wer hat Angst vor Sigmund Freud? (2006)<br />

Das nächste Heft <strong>der</strong> GAZETTE, Nummer 13 / Frühjahr 2007, ersche<strong>in</strong>t am 15. März 2007<br />

Impressum<br />

DIE GAZETTE Verlags GmbH<br />

Postfach 44 02 11, 80751 München, Tel. 089-360 39 666<br />

Fax 089-360 39 667, www.gazette.de und www.gazette.at<br />

HERAUSGEBER: Dr. Fritz R. Glunk (Glunk@gazette.de)<br />

REDAKTION: L<strong>in</strong>da Benedikt, Nikolai Podak, Dr. Edda Ziegler<br />

(redaktion@gazette.de)<br />

ART DIRECTOR: Manfred Adams<br />

SCHLUSSKORREKTUR: Eva Wendel, „die Schreibstube“<br />

REDAKTIONSBEIRAT: Eva Herold-Münzer, Volker Isfort,<br />

Andreas Odenwald, Hans Pfitz<strong>in</strong>ger, Christiane Wimmer,<br />

Frank T. Zumbach<br />

CONSULTING: Günter P. Elfe, Dr. Gernot Sittner<br />

KOMMUNIKATION, PR: Anne-Marie de Jonghe<br />

ANZEIGENLEITUNG: Angelika Güttel, Tel. 08443-91 64 98,<br />

Fax: 08443-91 90 26, Mail: gazette@kastner.de<br />

Dr. Rudolf Walther: Studium <strong>der</strong> Geschichte und <strong>der</strong><br />

Philosophie. Redakteur des Lexikons „Geschichtliche<br />

Grundbegriffe“ 1977-94, seither freier Autor.<br />

Manfred Wien<strong>in</strong>ger: Studium <strong>der</strong> Germanistik und<br />

Pädagogik; arbeitet im Bürgermeisteramt von St. Pölten;<br />

Autor zahlreicher Erzählungen und Radiofeatures.<br />

Andreas Zumach ist <strong>in</strong>ternationaler Korrespondent <strong>der</strong> taz<br />

<strong>in</strong> Genf sowie Mitarbeiter des NETS (Network for<br />

European and Transatlantic Security) und des PENN<br />

(Project for European Nuclear Nonproliferation).<br />

ABO- UND EINZELHEFTBESTELLUNG:<br />

Verlagshaus Kastner, Schlosshof 2-6, 85283 Wolnzach<br />

Tel. 08442-92 53 0, Fax 08442-2289<br />

(auch unter www.gazette.de und gazette@kastner.de)<br />

ERSCHEINT vierteljährlich. E<strong>in</strong>zelheft D: 8 Euro, A: 9 Euro,<br />

CH: 14 Fr; 4-Nummern-Abo: 30 Euro EU, <strong>in</strong>kl. Porto<br />

und Versand; übriges Europa: 35 Euro, Übersee: 40 Euro;<br />

Studentenabo EU: 20 Euro; außerhalb EU: 25 Euro<br />

Das Abonnement kann bis e<strong>in</strong>en Monat vor Abl<strong>auf</strong> gekündigt<br />

werden, bevor es sich um e<strong>in</strong> weiteres Jahr verlängert.<br />

ANZEIGENPREISE: Preisliste 1, gültig seit 1. 3. 2004<br />

DRUCK UND VERTRIEB: Kastner AG – das medienhaus,<br />

Schlosshof 2-6, 85283 Wolnzach

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