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Welchen Wert hat Erinnerung?<br />
Wen Hui, Sie sind in Yunnan, China, geboren, haben Ihre<br />
professionelle Ausbildung in traditionellem chinesischem<br />
Tanz an der Yunnan Art School begonnen und im Jahr<br />
1989 an der Beijing Dance Academy abgeschlossen. Was<br />
ist eigentlich traditioneller chinesischer Tanz?<br />
Welche Erinnerungen haben Sie an diese Phase Ihrer<br />
Ausbildung?<br />
Traditioneller chinesischer Tanz umfasst klassischen<br />
Tanz und chinesischen Volkstanz. Ich habe mit<br />
dem professionellen Tanztraining begonnen, als ich<br />
dreizehn Jahre alt war. »Professionell« bedeutete<br />
damals, dass wir acht Stunden täglich trainierten, von<br />
morgens bis zum Nachmittag. Das Training war sehr<br />
streng und intensiv. Weil ich mit meinen Klassenkameraden<br />
gut auskam, erinnere ich mich heute gern an<br />
diese Zeit. Aber ich bin die Einzige, die heute noch auf<br />
der Bühne tanzt. Bei dieser Art des Trainings haben<br />
wir zwar gutes Handwerk erlernt, aber die Fähigkeiten,<br />
uns zu »entspannen« und zu »öffnen«, haben wir verloren<br />
– und leider auch das Gefühl, den Tanz zu lieben.<br />
Nach dem Abschluss haben Sie als Choreografin in Beijing<br />
gearbeitet und dann Tanz und Theater in New York studiert,<br />
wo Sie in den Techniken von José Limón und Trisha<br />
Brown unterrichtet wurden. Auch haben Sie Techniken<br />
nach der Folkwangschule Essen und Pina Bausch kennengelernt.<br />
Im Jahr 1994 gründeten Sie zusammen mit Ihrem<br />
Partner, dem Dokumentarfilmer, Autor und Performer Wu<br />
Wenguang, in Beijing die unabhängige Performancegruppe<br />
Living Dance Studio (LDS). Was hat Sie motiviert,<br />
eine eigene Company zu gründen, und wie würden Sie den<br />
Prozess beschreiben, durch den Sie, nachdem Sie so<br />
unterschiedliche Ausbildungs- und Kultursysteme kennengelernt<br />
hatten, eine eigene Sprache fanden?<br />
Es war mein großer Traum, ein eigenes Performancestudio<br />
zu gründen, wo die Art von Arbeit entstehen<br />
konnte, nach der ich suchte. In der Anfangsphase des<br />
Living Dance (1994 – 1999) ging es langsam los, wir<br />
konnten nur ein paar kleine Stücke produzieren. Wu<br />
und ich traten gemeinsam auf, und ein paar Freunde<br />
halfen hier und da. Dann bekamen wir im Jahr 1999<br />
erstmals eine Förderung für »Report on Giving Birth«,<br />
das Geld kam vom Prince Claus Fund in den Niederlanden.<br />
Zum ersten Mal hatten wir Geld, einen Probenraum<br />
anzumieten und andere Tänzer und Künstler<br />
einzuladen, mit uns zu arbeiten. Danach wurden die<br />
meisten Tanzstücke des LDS von Performance-Organisationen<br />
in Europa und den Vereinigten Staaten unterstützt.<br />
Sie traten zum Beispiel als Koproduzenten auf.<br />
Als wir im Jahr 1994 zum Kunstenfestivaldesarts nach<br />
Brüssel reisten, war es das erste Festival außerhalb<br />
Chinas, zu dem wir fuhren, und das war für uns beide<br />
eine großartige Chance. Dort wurden uns in gewisser<br />
Hinsicht »die Augen geöffnet« – darüber, dass Tanz<br />
nicht nur die Bewegung von Körpern ist, dass es viel<br />
mehr Möglichkeiten gibt. Was den Prozess der Erfindung<br />
angeht, so koppeln wir unsere Arbeit an die<br />
Alltagsrealität und kombinieren Performance mit unterschiedlichen<br />
Medien, zum Beispiel mit Video,<br />
Installation und der Stimme des Tänzers. Unsere Herangehensweise<br />
unterscheidet sich stark von unserer<br />
Tanzausbildung und einem kulturellen System, das<br />
Tanz nicht mit dem echten Leben oder mit der Gesellschaft<br />
in Verbindung bringt.<br />
Im Jahr 2005 haben Sie mit Wu Wenguang den unabhängigen<br />
Kunstraum CCD Workstation in Beijing gegründet.<br />
Wie ist er strukturiert, finanziert, und was ist Ihr<br />
Anliegen?<br />
CCD Workstation dient vor allem als Atelier für Living<br />
Dance und für Wu Wenguangs Dokumentarfilme. Zur<br />
Grundidee eines solchen Raums gehört, ihn auch für<br />
junge Leute zu öffnen, für Studenten oder Künstler, die<br />
sich für zeitgenössischen Tanz, Theater und Dokumentationen<br />
interessieren. Jedes Jahr stellen wir ein<br />
Programm auf die Beine: Es gibt Workshops, Vorlesungen,<br />
Diskussionen und den Austausch zwischen<br />
Künstlern. Das Programm enthält Langzeitprojekte,<br />
die darauf abzielen, eine unabhängige Performancekunst<br />
und einen unabhängigen Dokumentarfilm zu<br />
entwickeln. Zum Beispiel das Young Choreographer<br />
Project, das es inzwischen seit 2006 gibt, und das<br />
Young Documentary Filmmaker Project. Außerdem<br />
organisieren wir zwei jährlich stattfindende Festivals:<br />
das May Festival im Mai und das Crossing Festival im<br />
Oktober.<br />
Betrachten Sie Beijing als Quelle Ihres ästhetischen und<br />
narrativen Ansatzes?<br />
Ja, oft spüren wir hier in Beijing einen stärkeren<br />
Antrieb für die Performance-Arbeit. Beijing ist eine<br />
Stadt, in der sich sehr unterschiedliche Dinge mischen.<br />
Man nennt die Stadt auch »den empfindlichen Nerv<br />
Chinas«. Sehr interessante Lebensgeschichten entwickeln<br />
sich in dieser Gesellschaft, und daraus ziehen<br />
wir unsere Ideen. Die Stadt ist immer eine reiche<br />
Quelle für den Zusammenhang von Realität und Kunst.<br />
MEMORY handelt von der Epoche der Kulturrevolution,<br />
die im Jahr 1966 begann. Im Stück geht es um individuelle<br />
Erinnerungen an diese Zeit. Damals waren<br />
Sie sechs Jahre alt. Können Sie etwas zur Handlung<br />
sagen, zum Thema Erinnerung und zu Ihrer<br />
Motivation für diese Arbeit?<br />
MEMORY bezieht sich auf die Periode der »Kulturrevolution«<br />
zwischen 1966 und 1976. Das waren Jahre, die<br />
für meine Entwicklung sehr wichtig waren. Meine<br />
Gedanken, auch die Art, wie ich später Kunst machte,<br />
sind durch diese Zeit sehr stark geprägt. Die Frage, die<br />
MEMORY vorausging, war die, welchen Wert die<br />
Erinnerung hat, vor allem für das heutige China. Die<br />
meisten Menschen schauen lieber nach vorn, wir<br />
jedoch wollten zurückschauen, um darüber nachzudenken,<br />
welche Erfahrungen und Lehren wir aus dieser<br />
Zeit mitnehmen können.<br />
Von Ihrem Stück gibt es zwei Versionen, eine ist sechzig<br />
Minuten lang, die andere dauert knapp acht Stunden.<br />
Wie kam es zu den beiden Versionen? Von welchem Punkt<br />
sind Sie ausgegangen? Können Sie den Rechercheprozess<br />
und die Entstehung anhand der verschiedenen Schichten<br />
des Stückes beschreiben? Es gibt Video, Animation, Text,<br />
Musik und Tanz.<br />
Als wir zu proben anfingen, dachten wir, wir machen<br />
ein normal langes Stück für das Theater, ungefähr eine<br />
Stunde. Wir wollten das Stück im Jahr 2008 bei der<br />
Biennale de la Danse in Lyon zeigen, und das war der<br />
Rahmen, der dort möglich war. Aber während der<br />
Proben und der Recherche (die Vorbereitung dauerte<br />
ungefähr ein Jahr) fiel mir eine Menge Material in die<br />
Hände, darunter viele persönliche Geschichten und<br />
Erinnerungen aus den sechziger und siebziger Jahren,<br />
viele alte Revolutionsbilder, -postkarten, -lieder und<br />
Propagandafilme, die sich als Hintergrund des Stückes<br />
anboten. Außerdem wollte ich Wus Dokumentarfilm<br />
MEINE ZEIT BEI DER ROTEN GARDE in die Auf führung<br />
integrieren. Der Film war seit seiner Entstehung im<br />
Jahr 1993 nicht öffentlich gezeigt worden. Nach unserer<br />
Auf führung in Lyon bot sich die Gelegenheit, das<br />
Stück in unserem Theater in der CCD Workstation zu<br />
zeigen. Die Version für unsere eigene Bühne konnte<br />
beliebig lang sein. Ich hatte mir diese Arbeit im Grunde<br />
nicht als Auf führung gedacht, sondern als Möglichkeit,<br />
acht Stunden mit ein paar Leuten zu verbringen, die<br />
unsere Erinnerungen mit uns teilen wollten. Drei Performer<br />
befinden sich auf der Bühne: Als Tänzerin und<br />
Choreografin wollte ich die Erinnerung durch meinen<br />
Körper herauf beschwören. Die zweite Tänzerin, Feng,<br />
die auch Autorin ist, holte die Erinnerung durch ihr<br />
Buch zurück, das von ihrem Leben während der Kulturrevolution<br />
handelt. Der dritte Performer, Wu, bringt<br />
seinen Film auf die Bühne, aber auch Geschichten, die<br />
mit seinem Leben in den sechziger Jahren zu tun<br />
haben und damit, wie seine Filme entstehen.<br />
Das Gespräch führte Christine Peters<br />
IhREn hERzEn<br />
Werkschau 13