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Untitled, 2001, © Maurizio Cattelan, Foto: Attilio Maranzano, Courtesy des Künstlers<br />

Maurizio CaTTELaN<br />

8. 6. – 6. 10. 2013<br />

FONDATION BEYELEr<br />

SaaLTExT


Francesco Bonami<br />

Maurizio CaTTELaN<br />

KapuTT priMavEra<br />

(1)<br />

ÜBeRLeBeNsINsTINKT<br />

»Haben sie nie daran gedacht«, sagte ich, »daß die schwedische Landschaft<br />

eine Landschaft mit dem Charakter des Pferdes ist?« Prinz eugen<br />

lächelte. »Kennen sie die Pferdezeichnungen von Carl Hill, die ›häster‹<br />

von Carl Hill? Carl Hill«, setzte er hinzu, »war verrückt: er glaubte, daß die<br />

Bäume grüne Pferde seien.« »Carl Hill«, entgegnete ich, »malte Pferde,<br />

als ob es Landschaften seien. …«<br />

Auf diesen Dialog bin ich in Kaputt gestossen, einem Roman von Curzio<br />

Malaparte. Die Figuren, die dieses Gespräch führen, sind der Autor<br />

selbst und Prinz eugen von schweden. Der erste Teil des Romans<br />

trägt den Titel »Die Pferde«, und allein schon dies würde ausreichen,<br />

um Maurizio Cattelans Pferde verstehen zu lernen. Auf magische Weise<br />

schreibt Malaparte darin über Pferde und lässt immer und immer wieder<br />

an all die Pferde denken, die uns aus Cattelans Werk bekannt sind.<br />

Maurizio Cattelan, Untitled, 2007, Foto: Axel schneider, Courtesy Maurizio Cattelan’s Archive<br />

Die verwesende stute in einem schlammloch erinnert zum Beispiel deutlich<br />

an Untitled, 2009, Cattelans Pferd, in dessen geblähten Rumpf ein<br />

Pfahl mit einem schild gerammt ist, das die Aufschrift »INRI« trägt. Oder<br />

die während des Zweiten Weltkriegs im zugefrorenen Ladogasee in Finnland<br />

eingeschlossenen Pferde, von denen nur noch die Köpfe herausragen<br />

und deren Augen starr vor entsetzen sind. Malaparte erzählt, wie sich<br />

soldaten auf die gefrorenen Köpfe wie auf einen Hocker setzten, um ihre<br />

Zigaretten und Pfeifen zu rauchen. Und er erzählt von dem fürchterlichen<br />

Gestank der verwesenden Kadaver, als mit Beginn des Frühlings das eis<br />

schmolz und die aufgedunsenen toten Pferde auf der Wasseroberfläche<br />

trieben. es klingt grausig und entsetzlich, doch Malapartes sprache ist<br />

Cattelans Bildsprache tatsächlich sehr ähnlich, ist irgendwo zwischen<br />

dem Magischen und dem Poetischen, dem Harten und dem Lyrischen<br />

angesiedelt. Wiederum scheint Prinz eugen dies einfach, aber perfekt<br />

auszudrücken: »La guerre même n’est qu’un rêve.« Der Krieg selbst ist<br />

nichts als ein Traum. Maurizio Cattelans Werk ist nichts als ein Traum<br />

– ein verstörender Traum vielleicht, aber nichtsdestoweniger ein Traum.<br />

Der Titel dieses Textes lautet Kaputt Primavera. er verweist sowohl auf<br />

Malapartes Roman und seine Beschreibung des Frühlings an den Ufern<br />

des finnischen sees als auch, merkwürdig genug, auf Botticellis Frühling.<br />

Keine zwei Darstellungen könnten weniger gemeinsam haben als die der<br />

mitten in einem brutalen Krieg aus dem eis herausragenden gefrorenen<br />

Pferdeköpfe und Botticellis zuckersüsse dekorative allegorische Vision.<br />

Dennoch glaube ich, dass beide in den fünf Pferden, die kopflos von der<br />

Wand in der <strong>Fondation</strong> <strong>Beyeler</strong> herabhängen, perfekt zusammenlaufen.<br />

Angst, Verzweiflung, Tragödie und Allegorie sind in Cattelans sensitivität<br />

miteinander kombiniert, einer sensitivität, die ihn weit gebracht hat, von<br />

einem schlichten esel, mit dem er sich gleichsetzte, zu einem eingeschlossenen<br />

Pferd, in das er sich einfühlte. eigentlich bräuchten wir, wie<br />

bereits gesagt, nichts weiter als Malapartes Roman, um ein Verständnis<br />

für Cattelans Kunst zu erlangen. Ich könnte hier leicht einen schlusspunkt<br />

setzen. Ich will jedoch stattdessen der Versuchung erliegen, einen<br />

ungleichen Wettbewerb mit Malaparte einzugehen und meinen eigenen<br />

Weg zu Cattelans fünf Pferden zu bahnen – eine persönliche Chronologie<br />

sandro Botticelli, Frühling, um 1482<br />

© 2013. Foto scala, Florenz, Courtesy Ministero Beni e Att. Culturali<br />

mit sehr persönlichen Bezügen, die mit einer gelehrten Abhandlung über<br />

Cattelans Kunst rein gar nichts zu tun haben wird. Wie ein Gelehrter über<br />

Cattelan zu sprechen, wäre für mich ein Oxymoron. Meine Geschichte<br />

verläuft nicht linear und ist grob in fünf kurze Kapitel unterteilt. In jedem<br />

dieser Kapitel wird ein Kunstwerk besprochen, von dem ich glaube, dass<br />

es uns dem Verständnis von Cattelans Parade hängender Pferde näher<br />

bringt. Die fünf Pferde sind irgendwie anders als die einzelnen Pferde,<br />

die Cattelan in der Vergangenheit präsentiert hat. Das einsame Pferd<br />

ist eine Art Versuch, dem Gefühl der einsamkeit zu entkommen, gegen<br />

das der Künstler ständig ankämpft. Der sprung, die Tat ist wahnhaft und<br />

doch heroisch. Die fünf Pferde verwandeln Wahn in Panik, sie fliehen in<br />

wilder Flucht; die Tat eines einzelnen geht in die Aktion einer aufgewühlten<br />

Menge über. Was wir hier zu sehen bekommen, ist ein exodus, keine<br />

suche nach Freiheit. Wie Malapartes Pferden, die in Finnland aus dem<br />

brennenden Wald in den gefrorenen see fliehen, geht es auch Cattelans<br />

Pferden nicht um Freiheit, sondern ums Überleben.<br />

(2)<br />

FÜNF GesCHICHTssTUFeN<br />

Wintersonnenuntergang mit einem Reiter und einem sich aufbäumenden<br />

Pferd ist ein Gemälde von Carl Fredrik Hill (1849–1911), dem oben erwähnten<br />

schwedischen Maler. Ich weiss nicht, wo dieses Gemälde hängt<br />

und wann der Künstler es malte. Wir brauchen jedoch nur die Haltung<br />

des Pferdes zu kennen, und der Himmel wird zu Cattelans Wand: eine<br />

Wand, die die Grenze zwischen Winter und Frühling ist, zwischen Tod<br />

und neuem Leben. Man kann so viel hineinlesen, wie man will, oder<br />

auch gar nichts. Ist es einfach nur ein Zufall? Andererseits, wenn Kunst<br />

einfach nur Zufall ist, wozu dann das Ganze? Maurizio Cattelan will uns<br />

verunsichern, und das gelingt ihm auch, auf seine ganz eigene Weise.<br />

Die Wand ist auch eine Grenze zwischen dem Historischen und dem<br />

Alltäglichen, zwischen dem souvenir und der Trophäe, der erinnerung<br />

und der Anekdote. Alle diese elemente treffen an dieser offensichtlichen<br />

und doch unsichtbaren Grenze zusammen. Cattelan streicht den sonnenuntergang,<br />

den Reiter, nur die sich aufbäumenden Pferde bleiben,<br />

enthauptet, oder vielleicht auch nicht. Wir betrachten die Tiere durch<br />

eine eisschicht hindurch und warten geduldig auf die Ankunft des Frühlings,<br />

auf dass er uns befreie.<br />

1994. In der Chauvet-Höhle bei Vallon-Pont-d’Arc in südfrankreich werden<br />

einige der frühesten Höhlenmalereien der Menschheitsgeschichte<br />

entdeckt. eines der berühmtesten Gemälde zeigt vier Pferdeköpfe. es<br />

ist, als ginge Cattelan in die Vergangenheit zurück, 32.000 Jahre zurück,<br />

um nach den Köpfen seiner Pferde zu suchen. 1994. New York. Daniel<br />

Newburg Gallery. Warning! Enter at your own risk, Do not touch, Do not<br />

feed, No smoking, No photographs, No dogs, Thank you. (Warnung! Betreten<br />

auf eigene Gefahr, Nicht anfassen, Nicht füttern, Rauchen verboten,<br />

Fotografieren verboten, Hunde nicht gestattet, Vielen Dank.) Das ist<br />

der Titel der ersten Ausstellung Cattelans in New York. ein Fehlschlag.<br />

Ihm zufolge fühlte er sich wie ein esel, da zwei zuvor vorgeschlagene<br />

Projekte abgelehnt worden waren. er zeigte den esel, den Vetter des<br />

Pferdes. Die fünf Pferde sind vielleicht der Abschluss dieses langen<br />

Fehlschlags, der vor fast zwanzig Jahren begann. Die New Yorker Galerie<br />

Carl Fredrik Hill, Wintersonnenuntergang mit einem Reiter<br />

und einem sich aufbäumenden Pferd, 1877<br />

war Cattelans Höhle. Die erste Felswand, an die er mit dem Kopf schlug,<br />

in die er seinen Kopf gerne versteckt oder vergraben hätte. Der esel,<br />

nicht edel genug oder nicht bereit, unter der Wand der Angst geopfert<br />

zu werden.<br />

Venedig. Markusdom. An der Fassade die Kopien von vier Kupferpferden.<br />

Die Originale befinden sich geschützt im Inneren der Basilika. Vier<br />

Pferde. Wie in Chauvets Höhle. Immer scheint es ein Pferd zu wenig zu<br />

sein. Wo ist das fünfte? Die Pferde von san Marco kamen 1204 nach der<br />

Plünderung Konstantinopels als Kriegsbeute nach Venedig. Ursprünglich<br />

stammten sie aus Griechenland. Niemand kann mit sicherheit sagen,<br />

wer der Bildhauer war, möglicherweise war es Lysippos. 1797 brachte<br />

Napoleon sie nach Paris und stellte sie auf den Arc de Triomphe du<br />

Carrousel. 1815, nach der schlacht bei Waterloo, kehrten sie nach Venedig<br />

zurück. Die venezianischen Pferde machen einen aufgewühlten eindruck;<br />

sie spüren, dass sie am falschen Ort sind. Konstantinopel, Venedig,<br />

Paris… sie sind nicht zu Hause, sie gehören woandershin, auf eine<br />

griechische Insel. es war nicht ihre ursprüngliche Bestimmung, Kriege,<br />

kaiserliche siege oder Niederlagen zu feiern. Cattelans fünf Pferde teilen<br />

dieses Gefühl mit diesen nur vier, aber edleren Pferden. sie gehören woandershin.<br />

entwurzelte Kunst kann sich nie voll entfalten. Wie die Pferde<br />

von san Marco vermittelt auch Cattelans Werk den eindruck, irgendwie<br />

entwurzelt zu sein, und aus der aus diesem Zustand hervorgehenden<br />

Unruhe gewinnt es Kraft, gewinnt es Leben.<br />

1800–1803. Jacques-Louis David. Bonaparte beim Überschreiten der<br />

Alpen. Mag sein, dass Napoleon 1799 mit seinem weissen Araberhengst<br />

in den Alpen war, doch die vier Pferde von san Marco hatten die Alpen<br />

schon zwei Jahre zuvor überquert. David schuf fünf Versionen dieses<br />

Gemäldes. Die Kraft der Komposition liegt nicht in der Darstellung<br />

Jacques-Louis David, Bonaparte beim Überschreiten der Alpen, 1800<br />

© RMN-Grand Palais (Château de Versailles)/Gérard Blot<br />

des ersten Konsuls und zukünftigen Kaisers, sondern in der Balance<br />

seines Pferdes, oder dessen Unwillen, die Felswand – den Grossen<br />

sankt Bernhard Pass – zu erklimmen. Napoleon befindet sich nicht<br />

auf dem Rückzug, sondern setzt seine eroberung europas fort. Was<br />

macht Cattelan? Zieht er sich zurück oder schreitet er voran? Die Pferde<br />

der Chauvet-Höhle, die Pferde des Markusdoms, Napoleons Pferd<br />

und jetzt Cattelans Pferd und Pferde. Die Reise führt durch ein komplexes<br />

Panorama – ein von der europäischen Zivilisation gezeichnetes<br />

Panorama, das einerseits auf einen paläolithischen Ursprung und andererseits<br />

auf Byzanz oder einen noch tiefer in Asien zu suchenden<br />

Ort zurückgeführt wird und an die legendären Pferde Attilas erinnert.<br />

Wohin führt das alles, oder wo endet es oder beginnt es immerfort?<br />

Rom 1969. Galleria l’Attico. Zwölf lebende Pferde betreten den Raum.<br />

sie sind die exponate der Ausstellung, die Jannis Kounellis dort zeigt.<br />

Der surrealistische Dichter André Breton sprach einmal über die<br />

Idee, etwas Unmögliches möglich zu machen, wie etwa die Tataren<br />

ihre Pferde aus den Brunnen von Versailles trinken zu lassen. Genau<br />

das tut Kounellis: er macht das Unmögliche möglich. In einer Garage<br />

überschreitet die Geschichte mehrere Grenzen gleichzeitig. Und dort<br />

nähert sich unsere Geschichte ihrem ende. Von der Brutalität des<br />

schicksals der toten Pferde mit entsetztem Blick im Ladogasee, von<br />

denen Malaparte erzählt, bis hin zur herrlichen Geste einer in einen<br />

industriellen Raum in Rom einziehenden Parade lebender Pferde.<br />

Von schierer Vernichtung zu schierer Verherrlichung. Was bleibt<br />

nun von all dem, wenn nicht die fünf Pferde von Cattelan, die weder<br />

lebendig noch wahrhaft tot sind, die vielmehr in einem Zustand des<br />

staunens schweben, sie kreuzen die Vernichtung, überschreiten die<br />

Verherrlichung und enden nirgendwo. sie sind auf der suche nach<br />

einer anderen Dimension, einem anderen Raum, einer anderen Zeit,<br />

weit jenseits von allem, was wir uns je vorgestellt haben.<br />

In Henri-Georges Clouzots Film Le Salaire de la peur (Lohn der Angst,<br />

1953) ruft eine der Figuren, Mario (Yves Montand), seinem schwer<br />

verletzten Freund Jo (Charles Vanel) ihre gemeinsamen erinnerungen<br />

an ein Pariser Viertel an der Rue Galande ins Gedächtnis. Darin kommt<br />

ein Zaun vor. »Ich habe nie gewusst, was sich dahinter befindet«, meint<br />

Jo röchelnd. »Na ja, da gibt es nichts«, antwortet Mario. Als hätte er<br />

es nicht gehört fragt Jo nochmals: »Was war auf der anderen seite des<br />

Zauns?« »Nichts, sage ich dir, nichts.« »Da gibt es nichts«, wiederholt<br />

ein sterbender Mann mit aufgerissenen Augen, als würde er bereits das<br />

Jenseits sehen.<br />

Der unter Cattelans Pferden stehende Betrachter wird an die armen<br />

Tiere die gleiche Frage haben, bevor es zu spät ist.<br />

»Was seht ihr auf der anderen seite der Wand?«<br />

»Nichts«, oder vielleicht: »Nur einen esel.«<br />

Maurizio Cattelan, Warning! Enter at your own risk, Do not touch,<br />

Do not feed, No smoking, No photographs, No dogs, Thank you, 1994,<br />

Foto: Lina Bertucci, Courtesy Maurizio Cattelan’s Archive<br />

FONDATION BEYELEr<br />

Baselstrasse 101, CH-4125 Riehen / Basel,<br />

www.fondationbeyeler.ch

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