Ü - Perspektivwechsel
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Das Verständnis des eigenen kulturellen Bezugssystems wirkt identitätsstiftend. Es ist ein wichtiger Referenzrahmen,<br />
der unsere Erwartungen, Normen und Wertvorstellungen maßgeblich mitbestimmt und zugleich der Verständigung<br />
innerhalb der Wir-Gruppe, aber auch der Grenzziehung dient. Die Interaktion mit Anderen findet häufig<br />
im Rahmen „enger“ Referenzhorizonte statt, die durch soziokulturelle Konventionen und Machtbeziehungen in<br />
der Gesellschaft geprägt sind. Pointiert formuliert:<br />
Was wir vertraut oder fremd finden, wofür wir offen sind, was uns als selbstverständlich erscheint und wofür<br />
wir kein Verständnis haben – all das wird sowohl durch individuelle Prägungen bestimmt als auch von den gesellschaftlichen<br />
Leitsätzen mitgestaltet, unter deren Einfluss wir stehen.<br />
Das eigene kulturelle Bezugssystem lässt sich vor allem in der Sprache erkennen. Ohne beispielsweise den Begriff<br />
„Inländer“ aktiv zu verwenden, werden die Grenzen der Wir-Gruppe durch die Definition der „Ausländer“ indirekt<br />
ausgehandelt. Der Begriff „Ausländer“ ist mittlerweile so stark fremd besetzt, dass „…in Deutschland geboren zu<br />
sein, keine eigene Relevanz bekommt“ (Schneider, 2001, S. 227). Die vermeintliche kulturelle Distanz zu den sogenannten<br />
„Ausländern“, die in vielen Fällen in Deutschland geboren sind, bestimmt die Gruppenabgrenzung und<br />
erklärt bzw. rechtfertigt die Unterschiede zu Anderen: „… Die einen stehen kulturell näher, sie sind zwar anders,<br />
aber vertraut; die anderen sind kulturell weiter entfernt, und die … Unterschiede gelten … als so groß, dass sie<br />
praktisch nicht überbrückt werden können“ (Schneider, 2001, S. 213).<br />
„…In Zeiten der Globalisierung ist die sozio-ethno-kulturelle Mehrfachzugehörigkeit grundsätzlich möglich. Doch<br />
diese Art der Mehrdeutigkeit und Unübersichtlichkeit im Vergleich zu einer ständischen Sozialordnung, welche die<br />
gesellschaftliche Platzierung der Menschen ausschließlich an deren lokale und soziale Herkunft koppelt, bringt vor<br />
allem eines mit sich: eine enorme Herausforderung für die Bildung“ (Maier, 2010, S. 50).<br />
Der Anti-Bias-Ansatz greift diese <strong>Ü</strong>berlegungen auf und verweist darauf, dass die soziokulturelle Zugehörigkeit<br />
aus vielen Identitäten gleichzeitig besteht und nicht nur national definiert werden kann. Der Ansatz arbeitet auf<br />
der Grundlage eines offenen und dynamischen Kulturbegriffs, der nicht auf einer vermeintlich allgemeingültigen<br />
Nationalkultur basiert und die soziokulturelle Prägung von Menschen – ihre Lebensweisen und Lebensauffassungen<br />
– im Rahmen individuell biografischer Sozialisationsprozesse in den Herkunftsfamilien beschreibt. Das Ziel<br />
besteht darin, die Sackgassen der Kulturalisierung und Ethnisierung zu entschärfen, die Einsicht in die multiplen<br />
Klassifikationsmöglichkeiten zu ermöglichen und eine systemische Wahrnehmung von Anderen auch außerhalb<br />
ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen Gruppenzugehörigkeiten zu stärken. Unter dieser Prämisse geht es nicht<br />
darum, die sogenannten Minderheiten als Fremde zu studieren, sondern darum, die „vertrauten“ Wahrnehmungsmuster<br />
der sogenannten Mehrheiten kritisch zu hinterfragen und zu verändern.<br />
DIE ANDEREN<br />
„In den Seminaren hat man wirklich so einen Ausschnitt von sich selbst und von Anderen bekommen.<br />
Menschen, die bereits versuchen, ein bisschen offener zu sein, merken immer wieder,<br />
dass sie an ihre Grenzen stoßen. Wir merken, dass wir genauso in Vorurteilen verhaftet<br />
sind. Da muss man sagen: „Schau noch einmal genau hin.“ 6<br />
Eines der wichtigen Anti-Bias-Themen ist die Reflexion der zum Teil unsichtbaren, aber im Denken tief verankerten<br />
Vorstellungen von Anderen mit dem Ziel, die Reflexion der eigenen, zum Teil im starren Dualismus gefangenen Vorurteilsstrukturen<br />
anzuregen und alternative Handlungsoptionen zu entwickeln. In diesem Zusammenhang setzen<br />
Anti-Bias-Methoden auf die kritische Analyse der kollektiven Fremdbilder, die das Machtgefüge zwischen Mehrheits-<br />
und Minderheitsperspektiven zulassen und aufrechterhalten.<br />
Bei Anderen ist es also gar nicht erforderlich, sich auf ein konkret existierendes Gegenüber zu beziehen: Der Fremde<br />
kann sinngemäß ausschließlich in unserer inneren Welt existieren. Zur Orientierung werden eigene internalisierte<br />
Fremdbilder aktiviert und zum Maßstab der Differenz erhoben. Diese Differenzen bleiben selten neutral und gehen<br />
mit Negativ- wie Positivzuschreibungen einher. So wird das positive Verhalten einer Fremdgruppe eher situativ<br />
gedeutet, das negative Verhalten derselben hingegen ihrem „Wesen“ oder „Charakter“ zugeschrieben (vgl. Auernheimer,<br />
2005). Derartige Einstellungen gegenüber Individuen lassen sich oftmals durch persönliche Begegnungen<br />
korrigieren. Klischeehafte Vorstellungen von Nationen, Kulturen oder Gruppen sind hingegen resistent und oft<br />
Jahrhunderte alt. Wichtig erscheint hierbei, dass unsere Vorstellungen von Anderen nicht rein individueller Natur,<br />
sondern gesellschaftlich überliefert und vermittelt sind.<br />
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6<br />
Ausschnitt aus dem Interview mit Annett Wenzel, Tommy Kleiber, Christian Uthe, Claudia Penzold, Matthias Wolf, „<strong>Perspektivwechsel</strong> - Theorien, Praxis, Reflexionen“, S. 60.<br />
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