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Ü - Perspektivwechsel

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Im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes erschien 2010 eine weitere Studie zur Analyse alltäglicher<br />

Diskriminierung aus subjektiver Sicht der Betroffenen, rekonstruiert im Rahmen von biographisch-narrativen Interviews.<br />

Die Studie setzte sich zum Ziel, die bisher nicht thematisierten multiplen Dimensionen von Diskriminierung<br />

sowohl im subjektiven als auch im rechtlichen Kontext zu erörtern und kritisch zu reflektieren. Hier berichteten die<br />

meisten Interviewpartner/-innen, Diskriminierung in Form von schlechter Behandlung, Abwertung, Demütigung,<br />

Belästigungen oder in Form verbaler und physischer Gewalt entlang gemischter Benachteiligungsdimensionen wie<br />

z.B. Geschlecht und Herkunft, sexuelle Orientierung und Geschlecht direkt erlebt zu haben (vgl. Dern et al., 2010).<br />

Diskriminierung kann daher als Erfahrung verstanden werden, in der sich viele „Achsen der Ungleichheit“ gleichzeitig<br />

überkreuzen können. „Alle Menschen haben ein Geschlecht, eine sexuelle Identität, eine Herkunft etc., und nehmen<br />

entlang dieser Achsen hinsichtlich aller Kategorisierungen unterschiedliche soziale Positionen ein. So hängen z.<br />

B. an der Benachteiligung von alten Menschen Vorstellungen über Beweglichkeit, aber auch über Geschlechterrollen<br />

und sexuelle Identitäten; Benachteiligungen von Frauen hängen eng mit Alter, Ethnizität oder auch Behinderung<br />

zusammen...Ein eindimensionales Verständnis von Diskriminierung, das sich nur auf eine Kategorisierung bezieht,<br />

„stereotypisiert, verzerrt und verkürzt die Probleme, um die es eigentlich geht.“ (Bauer et al., 2010, S. 4).<br />

Diskriminierung muss folglich nicht spektakulär sein: Sie manifestiert sich auch durch Verweigerung von Grundrechten<br />

und Bedürfnissen wie die der Anerkennung und Inklusion. Häufig resultiert sie aus indirekt institutionalisierter<br />

Praxis – aus Vorkehrungen, die bestimmte Gruppen überproportional negativ treffen und ihre Verwirklichungspotenziale<br />

verhindern. Je nach theoretischem Deutungsansatz gibt es unterschiedliche Erklärungen zu der Frage nach<br />

den Ursachen, Mechanismen und Funktionen von Diskriminierung. Ausgrenzendes und diskriminierendes Verhalten<br />

kann aus Vorurteilen resultieren; allerdings steht dieses Verhalten in keinerlei unmittelbarem Zusammenhang mit<br />

„schiefen“ Einstellungen, da Diskriminierung auch aus gesetzlichen Regelungen oder allgemeinen gesellschaftlichkulturellen<br />

Normen hervorgehen kann.<br />

Um komplexe Diskriminierungsprozesse zu verstehen, arbeitet der Anti-Bias-Ansatz mit einem erfahrungsbasierten<br />

Diskriminierungsmodell. Dem Modell zufolge kann es zur Benachteiligung kommen, „wenn ein gesellschaftlichideologischer<br />

oder persönlicher ‚Bias‘ 10 mit einem gewissen Spielraum an Definitions- und Handlungsmacht zusammentrifft.<br />

Der Begriff ‚Bias‘ soll dabei aussagen, dass zwischen Eigenem und Fremdem eine exakte Differenzierung<br />

erfolgt und diese stark emotional besetzt wird.“ (Maier, 2010, S. 52). Dazu gehört sowohl das subjektive als auch<br />

theoretische Verständnis von Diskriminierung gleichermaßen. Das Ziel dieses Diskriminierungsverständnisses ist<br />

nicht der inflationäre Gebrauch des Begriffs, sondern die Anerkennung der Sicht der Betroffenen und der kritische<br />

Blick auf diskriminierende Strukturen.<br />

Die Arbeit am Thema Diskriminierung wird hier weiterhin von der Annahme getragen, dass Benachteiligung unterschiedliche<br />

Formen – mittelbare wie unmittelbare – annehmen und auf verschiedenen Ebenen – durch Individuen,<br />

Gruppen oder Gesetze – erfolgen kann. Kein Lebensbereich bleibt davon ausgenommen: Diskriminierung betrifft<br />

Menschen auf der ideologisch-diskursiven Ebene in politischen und sozialen Diskursen, im interpersonellen Kontakt<br />

sowie im strukturellen Kontext zum Beispiel im Bildungs-, Gesundheits- oder Versicherungswesen. Der komplexe<br />

Zusammenhang zwischen diesen Formen und Ebenen reicht in vielen Fällen tief hinein in die institutionellen, rechtlichen<br />

und organisatorischen Rahmenbedingungen des Alltags und des (pädagogischen) Handelns.<br />

Vor diesem Hintergrund arbeitet der Anti-Bias-Ansatz systemisch und eröffnet ein breites Spektrum für die Analyse<br />

des Ineinandergreifens unterschiedlicher Diskriminierungsformen und -ebenen. Das Grundprinzip ist es, alle<br />

Ausgrenzungs- und Diskriminierungsdimensionen ohne Hierarchisierung zueinander in Beziehung zu setzen, wohlwissend,<br />

dass jede Diskriminierungs- und Unterdrückungskategorie eine eigene „Handschrift“ aufweist. So ist es<br />

beispielsweise wichtig, die spezifischen Unterschiede in der Diskriminierung verschiedener Gruppen, insbesondere<br />

bei mehrfacher Benachteiligung, wahrzunehmen und zu würdigen.<br />

_______________<br />

10<br />

engl.Voreingenommenheit/Schieflage.<br />

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